Ihr wollt es dunkler - Stephen King - E-Book

Ihr wollt es dunkler E-Book

Stephen King

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Beschreibung

Nach einer außerweltlichen Begegnung in den Wäldern von Maine machen zwei Freunde urplötzlich große Karriere; ihr Geheimnis nehmen sie mit in den Tod. Danny träumt von einer Leiche, die er dann tatsächlich findet; in den Augen der Polizei kann nur er der Mörder sein. Vic macht Ferien in Florida, wo er eine verschrobene alte Frau kennenlernt; eine Bekanntschaft, die in einem Horrorstrudel endet. Das sind nur drei von zwölf neuen Storys, die Stephen King in Ihr wollt es dunkler versammelt – viele Genres umspannende Geschichten über das gegenwärtige Amerika, über finstere Mächte und existenzielle Fragen. Seine Erzählsammlungen – zuletzt Zwischen Nacht und Dunkel, Basar der bösen Träume und Blutige Nachrichten – stehen regelmäßig weltweit auf den Bestsellerlisten.

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Seitenzahl: 961

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Das Buch

Nach einer außerweltlichen Begegnung in den Wäldern von Maine machen zwei Freunde urplötzlich große Karriere; ihr Geheimnis nehmen sie mit in den Tod. Danny träumt von einer Leiche, die er dann tatsächlich findet; in den Augen der Polizei kann nur er der Mörder sein. Vic macht Ferien in Florida, wo er eine verschrobene alte Frau kennenlernt; eine Bekanntschaft, die in einem Horrorstrudel endet. Das sind nur drei von zwölf neuen Storys, die Stephen King in Ihr wollt es dunkler versammelt – viele Genres umspannende Geschichten über das gegenwärtige Amerika, über finstere Mächte und existenzielle Fragen.

Stephen Kings Erzählsammlungen – zuletzt Zwischen Nacht und Dunkel, Basar der bösen Träume und Blutige Nachrichten – stehen regelmäßig weltweit auf den Bestsellerlisten.

Der Autor

Stephen King, 1947 in Portland, Maine, geboren, ist einer der erfolgreichsten amerikanischen Schriftsteller. Bislang haben sich seine Bücher weltweit über 400 Millionen Mal in mehr als 50 Sprachen verkauft. Für sein Werk bekam er zahlreiche Preise, darunter 2003 den Sonderpreis der National Book Foundation für sein Lebenswerk. 2015 ehrte Präsident Barack Obama ihn mit der National Medal of Arts. 2018 erhielt er den PEN America Literary Service Award für sein Wirken, gegen jedwede Art von Unterdrückung aufzubegehren und die hohen Werte der Humanität zu verteidigen.

Seine Werke erscheinen im Heyne-Verlag, zuletzt der Spiegel-Bestseller Holly.

STEPHENKING

IHR WOLLTES DUNKLER

Aus dem Amerikanischen vonWulf Bergner, Jürgen Bürger, Karl-Heinz Ebnet,Gisbert Haefs, Marcus Ingendaay,Bernhard Kleinschmidt, Kristof Kurz,Gunnar Kwisinski, Friedrich Sommersbergund Sven-Eric Wehmeyer

Die Originalausgabe erscheint unter dem Titel

YOULIKEITDARKER

bei Scribner, New York.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Copyright © 2024 by Stephen King

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe byWilhelm Heyne Verlag, München,in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung:Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich,unter Verwendung von Motiven von © Shutterstock.com(Galushko Sergey, Tanor, bro_tarasari, Ton Photographer)

Satz: Schaber Datentechnik, Austria

ISBN978-3-641-31513-9V001

Für die Zwillinge Thomas und Edward

Inhalt

Zwei begnadete Burschen

Der fünfte Schritt

Willie der Wirrkopf

Danny Coughlins böser Traum

Finn

Auf der Slide Inn Road

Das rote Display

Ein Fachmann für Turbulenzen

Laurie

Klapperschlangen

Die Träumenden

Der Antwortmann

Nachwort

Zwei begnadete Burschen

1

Mein Vater – mein berühmter Vater – starb 2023 mit neunzig. Zwei Jahre vor seinem Tod bekam er eine E-Mail von einer freien Journalistin namens Ruth Crawford mit der Bitte um ein Interview. Ich las sie ihm vor, denn ich erledigte damals bereits seine gesamte private und berufliche Korrespondenz, weil er aufgehört hatte, seine elektronischen Geräte zu benutzen – erst seinen PC, dann seinen Laptop und zuletzt sein geliebtes Handy. Sein Sehvermögen blieb bis zuletzt gut, aber er behauptete, vom Display des iPhones bekomme er Kopfschmerzen. Auf dem Empfang nach seiner Beisetzung erzählte Doc Goodwin mir, Papa habe vermutlich eine Reihe von Mini-Schlaganfällen gehabt, die zu dem letzten großen geführt hätten.

Ungefähr zu der Zeit, wo er auf sein Handy verzichtete – das wäre fünf oder sechs Jahre vor seinem Tod gewesen –, ging ich als Schulinspektor von Castle County in den vorgezogenen Ruhestand und begann in Vollzeit für meinen Vater zu arbeiten. Zu tun gab es reichlich. Er hatte eine Haushälterin, deren Arbeit ich jedoch nachts und an den Wochenenden übernehmen musste. Ich half ihm morgens beim Anziehen und abends beim Ausziehen. Ich kochte meistens und machte gelegentlich sauber, wenn Papa es mitten in der Nacht nicht mehr auf die Toilette geschafft hatte.

Wir hatten auch einen Hausmeister, aber Jimmy Griggs ging inzwischen selbst auf die achtzig zu, sodass ich das übernehmen musste, was Jimmy nicht mehr hinbekam – vom Mulchen von Papas geliebten Blumenrabatten bis zum Hantieren mit dem Pümpel, wenn Abflüsse verstopft waren. Über betreutes Wohnen wurde nie gesprochen, obwohl mein Vater es sich weiß Gott hätte leisten können: Das Dutzend Megabestseller, das er in vierzig Jahren geschrieben hatte, hatte ihn zu einem schwerreichen Mann gemacht.

Der letzte dieser »fesselnden Türstopper« (Donna Tartt, New York Times) war erschienen, als Papa zweiundachtzig war. Er absolvierte die obligatorischen Interviews, ließ die obligatorischen Fotos von sich machen und verkündete dann, er trete in den Ruhestand. Von der Presse verabschiedete er sich liebenswürdig, mit seinem »charakteristischen Humor« (Ron Charles, Washington Post). Zu mir sagte er: »Gott sei Dank, dass der Blödsinn vorbei ist.« Abgesehen von dem informellen Interview am Gartenzaun, das er Ruth Crawford gab, äußerte er sich nie wieder in den Medien. Er erhielt viele Interviewanfragen, lehnte jedoch mit der Begründung ab, er habe alles gesagt, was er zu sagen gehabt habe, darunter auch einiges, was er wohl besser für sich behalten hätte.

»Wenn man genügend Interviews gibt, dann ist es unvermeidlich, dass man auch in ein paar Fettnäpfchen tritt«, erklärte er mir einmal. »Das sind dann genau die Zitate, die einem im Gedächtnis bleiben, und je älter man wird, desto wahrscheinlicher werden sie.«

Trotzdem verkauften sich seine Bücher weiter, womit auch das Geschäftliche weiterging. Ich besprach mit ihm Vertragsverlängerungen, Coverentwürfe und gelegentliche Film- oder Fernsehoptionen und las pflichtbewusst die eingehenden Interviewanfragen, als er das selbst nicht mehr konnte. Er wies immer alle ab, und das galt auch für die von Ruth Crawford.

»Wimmle sie einfach mit der Standardbegründung ab, Mark – schmeichelhafte Bitte, aber trotzdem lieber nicht.« Er zögerte jedoch ein wenig, weil die Anfrage diesmal etwas anders war als sonst.

Crawford wollte einen Artikel über meinen Vater und seinen lebenslänglichen Freund David »Butch« LaVerdiere schreiben, der bereits 2019 gestorben war. Zu seinem Begräbnis an der Westküste waren mein Vater und ich mit einer gecharterten Gulfstream geflogen. Papa war immer knauserig mit seinem Geld – nicht geizig, aber knauserig –, und die Riesensumme, die Hin- und Rückflug kostete, sagte viel über seine Gefühle für den Mann aus, den ich als Kind Onkel Butch genannt hatte. Diese Gefühle waren stark gewesen, obwohl die beiden Männer sich seit zehn Jahren oder noch länger nicht mehr gesehen hatten.

Mein Vater wurde gebeten, bei der Trauerfeier eine Rede zu halten. Ich bezweifelte zunächst, dass er das tun würde – seine Abneigung gegen öffentliches Aufsehen galt für viele Gebiete, nicht nur für Interviews –, aber er sprach tatsächlich. Er ging allerdings nicht nach vorn ans Rednerpult, sondern stand einfach nur auf seinen Gehstock gestützt da. Er war immer ein guter Redner gewesen, und daran hatte sich im Alter nichts geändert.

»Als Jungen sind Butch und ich vor dem Zweiten Weltkrieg in eine Zwergschule mit nur einem Klassenzimmer gegangen. Wir sind in einer Kleinstadt ohne Verkehrsampel und mit ungeteerten Straßen aufgewachsen, haben reparierte Schrottautos gefahren, Sport getrieben und später Mannschaften trainiert. Als Männer haben wir in der Stadtpolitik mitgemischt und auf der städtischen Mülldeponie für Ordnung gesorgt – zwei ganz ähnliche Jobs, wenn ich jetzt darüber nachdenke. Wir haben geangelt und gejagt, wir haben im Sommer Grasbrände gelöscht und im Winter auf den Straßen Schnee geräumt. Haben dabei auch jede Menge Briefkästen umgefahren. Ich kannte ihn schon, als jenseits eines Umkreises von zwanzig Meilen noch niemand seinen Namen – oder meinen – gehört hatte. Ich hätte ihn in diesen letzten Jahren besuchen sollen, aber ich war zu sehr mit meinen eigenen Angelegenheiten beschäftigt. Ich dachte, dafür sei noch Zeit. Das denken wir immer, glaube ich. Dann läuft die Zeit ab. Butch war ein großer Künstler, aber auch ein guter Mensch. Das ist wichtiger, finde ich. Manche hier denken vielleicht anders darüber, aber das ist in Ordnung, das ist in Ordnung. Wichtig ist, dass ich ihm immer den Rücken freigehalten habe und er mir immer meinen.«

Mit gesenktem Kopf machte er nachdenklich eine Pause.

»In meiner Kleinstadt in Maine gibt es einen Ausdruck für solche Freunde. Wir waren dicke miteinander.«

Ja, das waren sie, und dazu gehörte auch, dass sie ihre Geheimnisse miteinander teilten.

Meine Überprüfung ergab, dass Ruth Crawford einiges vorzuweisen hatte. Sie hatte Artikel, vor allem Kurzporträts, in einem Dutzend Zeitschriften veröffentlicht, von denen viele lokale oder regionale Bedeutung hatten (Yankee, Downeast, New England Life), aber auch in überregionalen Zeitschriften, darunter einen Artikel im New Yorker über die gottverlassene Kleinstadt Derry. Was Laird Carmody und Dave LaVerdiere betraf, hatte sie durchaus einen guten Aufhänger für die Story, die sie schreiben wollte. Ihr Thema deutete sich schon in ihren älteren Artikeln über meinen Vater oder Onkel Butch an, aber nun wollte sie sich wohl ernstlich damit befassen: zwei befreundete Männer aus demselben unscheinbaren Nest, die es aber auf unterschiedlichen künstlerischen Gebieten zu großer Berühmtheit brachten. Und nicht nur das: Carmody und LaVerdiere waren beide erst mit Mitte vierzig berühmt geworden – in einem Alter, wo die meisten Männer und Frauen die Ambitionen ihrer Jugend längst aufgegeben hatten. Die, wie mein Vater es einmal ausdrückte, sich eine Furche gegraben und angefangen hatten, sie zu möblieren. Ruth wollte ergründen, wie es zu diesem unwahrscheinlichen Zufall gekommen war … falls es denn einer war.

»Muss es denn einen Grund geben?«, sagte Papa, nachdem ich ihm Ms. Crawfords Brief vorgelesen hatte. »Will sie darauf hinaus? Vermutlich hat sie nie von den Zwillingsbrüdern gehört, die in unterschiedlichen Bundesstaaten am selben Tag einen hohen Lottogewinn eingestrichen haben.«

»Na ja, das war vielleicht kein vollständiger Zufall«, sagte ich. »Natürlich unter der Voraussetzung, dass du dir die Story nicht eben erst ausgedacht hast.«

Ich gab ihm Gelegenheit zu einem Kommentar, aber er bedachte mich nur mit einem Lächeln, das alles bedeuten konnte. Oder nichts. Also fasste ich nach.

»Ich meine, die Zwillinge könnten in einer Familie aufgewachsen sein, wo Glücksspiele eine große Sache waren. Das würde alles etwas weniger unwahrscheinlich machen, richtig? Und wie steht’s außerdem mit all den gekauften Losen, die Nieten waren?«

»Ich weiß nicht, worauf du hinauswillst, Mark«, sagte Papa. Immer noch mit diesem schwachen Lächeln. »Worum geht’s dir überhaupt?«

»Nur darum, dass ich verstehe, warum die Frau so an der Tatsache interessiert ist, dass Dave und du, beide aus dem hinterletzten Kaff, in der Mitte eures Lebens berühmt geworden seid.« Ich hob die Hände neben den Kopf, als rahmte ich eine Schlagzeile ein. »War es wirklich … Schicksal?«

Papa rieb mit einer Hand über die weißen Bartstoppeln im tief zerfurchten Gesicht und dachte nach. Ich glaubte tatsächlich, er würde gleich seine Meinung ändern und das Interview zusagen. Dann schüttelte er den Kopf. »Schreib ihr einfach einen deiner netten Briefe. Teil ihr mit, dass ich bedaure und ihr für ihre weitere Arbeit alles Gute wünsche.«

Ich tat also wie geheißen, obwohl mir etwas an der Art, wie Papa dabei ausgesehen hatte, im Gedächtnis blieb. Das war der Blick jemandes gewesen, der viel darüber hätte erzählen können, wie sein Freund Butch und er zu Ruhm und Reichtum gelangt waren … es aber vorzog zu schweigen. Der den Deckel draufhalten wollte.

Für Ruth Crawford war Papas Weigerung, sich interviewen zu lassen, vermutlich eine Enttäuschung, aber sie gab ihr Projekt trotzdem nicht auf. Das tat sie nicht einmal, als auch ich ein Interview mit der Begründung verweigerte, ich könne keines geben, nachdem er abgesagt habe, und wisse außerdem nur, dass mein Vater immer ein großer Geschichtenliebhaber gewesen sei. Er las viel und ging nirgends hin, ohne sich ein Taschenbuch in die Gesäßtasche gestopft zu haben. Er hatte mir wundervolle Gutenachtgeschichten erzählt, von denen er einige in Notizbüchern mit Spiralbindung aufgeschrieben hatte. Und Onkel Butch? Er hatte in meinem Kinderzimmer eine Wand bemalt – Jungen, die Ball spielten, Jungen, die Glühwürmchen fingen, Jungen mit Angelruten. Ruth wollte das Wandgemälde natürlich sehen, aber es war schon vor längerem übertüncht worden, als ich für solche Kindereien zu alt geworden war. Als erst mein Vater und dann Onkel Butch ihren Raketenstart hinlegten, studierte ich an der University of Maine Pädagogik, um später Lehrer ausbilden zu können. Getreu der alten Sottise, dass die Unfähigen unterrichten und jene, die selbst das nicht können, Lehrer ausbilden. Ich teilte ihr mit, dass mich der Erfolg meines Vaters und seines besten Freundes überrascht habe wie alle anderen Bürger unserer kleinen Stadt. Dabei fällt mir eine weitere alte Redensart ein, nämlich die, was könne aus Nazareth schon Gutes kommen.

Das alles schrieb ich Ms. Crawford in einem Brief, weil ich mich – jedenfalls ein bisschen – schlecht fühlte, ihr kein Interview gewährt zu haben. Wie die meisten hätten sie Träume verfolgt, schrieb ich, die sie eben wie die meisten für sich behalten hätten. Ich hätte angenommen, die Geschichten meines Vaters und Onkel Butchs fröhliche Bilder seien nur Hobbys wie Schnitzen oder auf der Gitarre klimpern, bis schließlich das große Geld reingekommen sei. Unter den getippten Text setzte ich handschriftlich: Wie schön für die beiden!

In Castle County gibt es siebenundzwanzig eingetragene Gemeinden. Castle Rock ist die größte, Gates Falls die zweitgrößte. Harlow, wo ich als Sohn von Laird und Sheila Carmody aufgewachsen bin, gehört nicht einmal zu den Top Ten. Seit meiner Kindheit ist es jedoch erheblich gewachsen, und Papa – der ebenfalls sein ganzes Leben in Harlow verbracht hat – sagte manchmal, er erkenne es kaum noch wieder. Er ging in eine Zwergschule mit nur einem Klassenzimmer; ich war in einer mit vier Räumen (für jeweils zwei Klassen); heute gibt es eine Schule mit acht Klassenzimmern, die mit Erdwärme beheizt und gekühlt werden.

In Papas Kindheit war in Harlow nur eine einzige Straße asphaltiert: die Route 9, die Portland Road. Als ich geboren wurde, waren nur die Deep Cut und die Methodist Road noch unbefestigt. Heutzutage sind alle asphaltiert. In den Sechzigerjahren gab es bei uns nur ein Lebensmittelgeschäft, Brownie’s, in dem alte Männer tatsächlich um ein Gurkenfass herumsaßen. Heute gibt es zwei oder drei und eine Art Innenstadt (wenn man sie so nennen will) entlang der Quaker Hill Road. Wir haben eine Pizzeria, zwei Friseure und – kaum zu glauben, aber wahr – einen Nagelsalon, der zu florieren scheint. Allerdings keine Highschool, da hat sich nichts geändert. Kinder aus Harlow haben die Wahl zwischen drei Schulen: Castle Rock High, Gates Falls High oder Mountain View Secondary, besser als Christer Academy bekannt. Wir hier draußen sind typische Landeier: Pick-up fahrende, Countrymusic liebende, Kaffeelikör trinkende, zu den Republikanern tendierende Hinterwäldler. Es gibt nicht viel, was einen für uns einnähme, wären da nicht die zwei Männer von hier: mein Vater und sein Freund Butch LaVerdiere. Zwei begnadete Burschen, wie Papa es in seinem kurzen Gespräch über den Zaun hinweg mit Ruth Crawford formulierte.

Ihre Eltern haben ihr ganzes Leben hier verbracht, könnte ein Großstädter fragen, und dann haben SIE Ihr ganzes Leben dort verbracht? Was sind Sie? Verrückt?

Ach was.

Robert Frost hat gesagt, Heimat sei der Ort, wo sie einen aufnehmen müssen, wenn man zurückkommt. Außerdem ist sie der Ort, wo man seinen Weg beginnt, und wenn man zu den Glücklichen gehört, ist sie der Ort, wo man sein Leben beschließt. Butch ist in Seattle gestorben, als Fremder in einem fremden Land. Vielleicht war das für ihn in Ordnung, aber ich frage mich doch, ob er zuletzt nicht eine unbefestigte schmale Straße und den sogenannten 30-Meilen-Wald am Seeufer vorgezogen hätte.

Ruth Crawfords Recherchen – ihre Investigationen – konzentrierten sich hauptsächlich auf Harlow, wo ihre beiden Zielpersonen aufgewachsen waren, aber hier gab es keine Motels, nicht einmal ein Bed and Breakfast, sodass ihre Operationsbasis das Gateway Motel in Castle Rock war. In Harlow gibt es allerdings tatsächlich ein Seniorenheim, und dort interviewte Ruth einen gewissen Alden Toothaker, der mit meinem Vater und seinem Freund zur Schule gegangen war. Es war Alden, der ihr verriet, wie Dave zu seinem Spitznamen gekommen war. Er hatte immer eine Tube Lucky Tiger Butch Wax in der Gesäßtasche und verwendete die Brillantine ausgiebig, damit sein Bürstenhaarschnitt vorn gut stand. So trug er sein Haar (oder was davon übrig war) sein Leben lang. Das wurde sein Markenzeichen. Ob er das Zeug weiter benutzte, nachdem er berühmt geworden war, kann ich beim besten Willen nicht sagen. Ich weiß nicht einmal, ob es noch hergestellt wird.

»Sie waren schon in der Grundschule befreundet«, erzählte Alden ihr. »Nur zwei Jungs, die gern angeln oder mit ihren Daddys auf die Jagd gingen. Sie wuchsen mit harter Arbeit auf und erwarteten nie etwas anderes. Sie könnten mit Leuten in meinem Alter reden, die Ihnen erzählen, diese Jungs wären sichtbar zu Höherem bestimmt gewesen, aber zu denen gehöre ich nicht. Sie waren gewöhnliche Burschen, bis sie’s plötzlich nicht mehr waren.«

Laird und Butch besuchten die Gates Falls High. Sie wurden für Kurse eingeteilt, die damals »Allgemeinbildung« vermittelten und für Schüler bestimmt waren, die nicht vorhatten, aufs College zu gehen. Niemand behauptete, dafür seien sie nicht intelligent genug; das wurde einfach angenommen. Sie lernten Mathe für den Alltag und Berufskunde, wofür es ein Lehrbuch gab, in dem auf mehreren Seiten mit Zeichnungen erklärt wurde, wie man einen Geschäftsbrief richtig faltete. Sie verbrachten viel Zeit in der Tischlerei und der Autowerkstatt. Beide spielten Football und Basketball, wobei mein Vater meistens die Ersatzbank drückte. Die beiden beendeten die Schule mit guter Durchschnittsnote und erhielten am 8. Juni 1951 gemeinsam ihr Abschlusszeugnis.

Dave LaVerdiere stieg bei seinem Vater ein, einem Installateur. Laird Carmody und sein Vater setzten draußen auf der Familienfarm Autos instand und verkauften sie dann an den Wagenhändler Peewee in Gates Falls. Außerdem unterhielten sie an der Portland Road einen Gemüsestand, der gutes Geld einbrachte.

Onkel Butch und sein Vater kamen nicht besonders gut miteinander aus, sodass Dave sich irgendwann selbständig machte und in Gates Falls und Castle Rock Abflüsse reinigte, Leitungen verlegte und manchmal Brunnen schlug. (Sein Vater beherrschte den Markt in Harlow und dachte nicht daran, mit ihm zu teilen.) 1954 gründeten die beiden Freunde die Firma L&D Transporte, die vor allem damit ausgelastet war, den Müll der Sommergäste zur Abfallhalde zu bringen. 1955 kauften sie dann die Deponie, und die Stadt war froh, sie auf diese Weise loszuwerden. Die beiden räumten sie auf, legten kontrollierte Brände, rotteten Schädlinge aus und begannen ein primitives Recyclingprogramm. Die Stadt gewährte ihnen einen Zuschuss, der ein nettes Zubrot zu ihrem Verdienst war. Metallschrott, vor allem Kupferdraht, brachte weitere Einnahmen. Bei ihren Mitbürgern waren sie als die Müll-Zwillinge bekannt, aber Alden Toothaker und weitere Oldtimer mit intaktem Gedächtnis versicherten Ruth Crawford, diese Hänselei habe man harmlos gemeint und sie sei auch so aufgefasst worden.

Die Deponie war gut zwei Hektar groß und von einem hohen Bretterzaun umgeben. Dave bemalte ihn großflächig mit Dorfszenen, die er jedes Jahr durch neue ergänzte. Obwohl der Zaun längst nicht mehr steht (die Deponie ist aufgefüllt worden), gibt es noch Fotos davon. Daves Wandgemälde erinnern manche Leute an seine späteren Arbeiten. Da gab es Nähkränzchen, die in Basketballspiele übergingen, und Basketballspiele, die ihrerseits in Karikaturen längst verstorbener Harlower Mitbürger übergingen, sowie Darstellungen von Frühjahrsaussaat und Herbsternte. Jeder Aspekt des Kleinstadtlebens war repräsentiert, dem Onkel Butch zudem Jesus mit den Aposteln hinzufügte (als Letzter in der langen Reihe war Judas mit einem dämlichen Grinsen dargestellt). Keine der Szenen war wirklich bemerkenswert, aber sie waren von überschwänglicher Freude. Sie waren Vorboten, könnte man sagen.

Kurz nach Onkel Butchs Tod wurde ein LaVerdiere, auf dem Elvis Presley und Marilyn Monroe Hand in Hand über einen mit Sägemehl bestreuten Rummelplatz einer Kleinstadt schlendern, für drei Millionen Dollar verkauft. Es war tausendmal besser als seine Zaunbilder, aber es hätte dort hingepasst: derselbe schräge Sinn für Humor mit einer deutlichen Unterströmung von Verzweiflung und – vielleicht – Verachtung. Daves Zaunbilder waren die Knospen gewesen; Elvis & Marilyn war die Blüte.

Onkel Butch heiratete nie. Papa natürlich schon. Seine Jugendliebe Sheila Wise ging nach der Schule fort, um am Vermont State College auf Lehramt zu studieren. Als sie zurückkam, um die erste und zweite Klasse an der Harlower Grundschule zu unterrichten, stellte mein Vater erfreut fest, dass sie immer noch ledig war. Er warb um sie, und sie nahm seinen Antrag an. Als die beiden im August 1957 heirateten, war Dave LaVerdiere Papas Trauzeuge. Im Jahr darauf kam ich zur Welt, und Papas bester Freund wurde mein Onkel Butch.

In einer Besprechung von Das Blitzgewitter, dem ersten Buch meines Vaters, hieß es: »Auf den ersten ungefähr hundert Seiten von Mr. Carmodys spannender Erzählung passiert nicht viel, aber der Leser wird trotzdem gefesselt, weil Geigenklänge zu hören sind.«

Ich fand das sehr clever ausgedrückt. Für Ruth Crawford gab es hier nur wenige Geigen zu hören; das Hintergrundbild, das Alden und andere aus der Gegend ihr vermittelten, betraf zwei Männer, aufrecht und anständig und dabei auf gleicher Höhe, was ihre Tugenden anging. Sie waren Landbewohner, die ein Landleben führten. Der eine verheiratet, der andere »ein eingefleischter Junggeselle«, wie man damals sagte, aber ohne auch nur die Andeutung eines Skandals in Bezug auf sein Privatleben.

Daves jüngere Schwester Vicky hatte sich bereit erklärt, ein Interview zu geben. Sie erzählte Ruth, Dave sei manchmal »in die Stadt« gefahren – womit sie Lewiston meinte –, um die Musikschuppen hinten in der Lisbon Street aufzusuchen. »Party in der Holly machen«, sagte sie und meinte damit die alte Holiday Lounge (inzwischen längst dicht). »Am liebsten ist er hingefahren, wenn Little Jonna Jaye dort aufgetreten ist. Gott, war der in die verknallt. Er hat sie – ein Pech aber auch! – nie abschleppen können, was allerdings nicht heißt, dass er immer unbegleitet heimgekommen ist.«

Wie Ruth mir später erzählte, machte Vicky an dieser Stelle eine Pause und fügte dann hinzu: »Ich weiß, was Sie vermutlich denken, Miss Crawford, das tun heutzutage fast alle, wenn ein Mann sein Leben ohne eine langjährige Beziehung zu einer Frau verbringt, aber das trifft nicht zu. Mein Bruder mag ein berühmter Künstler geworden sein, aber schwul war er todsicher nicht.«

Die beiden Männer waren beliebt, das sagten alle. Und sie waren nachbarschaftlich hilfsbereit. Als Philly Loubird zur Halbzeit der Heuernte bei heraufziehendem Gewitter einen Herzanfall hatte, fuhr mein Vater ihn rüber nach Castle Rock ins Krankenhaus, während Onkel Butch ein paar seiner Schrottsammler zusammentrommelte und mit ihnen das Heu einfuhr, bevor die ersten Tropfen fielen. Als Mitglieder der freiwilligen Feuerwehr bekämpften sie Grasbrände und löschten manchmal auch brennende Häuser. Musste mein Vater nicht zu viele Autos reparieren oder auf der Deponie arbeiten, begleitete er meine Mutter, wenn sie für den damals so bezeichneten Armenfonds sammelte. Sie trainierten Jugendmannschaften. Beim Frühlingsfest der freiwilligen Feuerwehr kümmerten sie sich Seite an Seite um den Schweinebraten, und so beteiligten sie sich auch an dem Hähnchengrillen, mit dem der Sommer zu Ende ging.

Landbewohner, die ein Landleben führten.

Ohne Geigenklänge.

Bis ein ganzes Orchester erklang.

Vieles davon wusste ich bereits. Weitere Einzelheiten teilte mir Ruth Crawford im Korner Koffee Kup gegenüber dem Gateway Motel persönlich mit, nur etwa eine Straße vom Postamt entfernt. Dorthin bekam mein Vater seine Post – meist einen ziemlichen Stapel –, und wenn ich alles abgeholt hatte, machte ich immer im Korner Koffee Kup halt. Der Kaffee dort ist nichts Besonderes, aber die Blaubeermuffins? Bessere bekommt man nirgends.

Ich war dabei, die Post zu sortieren, um die Spreu vom Weizen zu trennen, als jemand mich ansprach: »Darf ich mich zu Ihnen setzen?«

Es war Ruth Crawford, die schlank und rank in weißen Slacks, einem ärmellosen Oberteil in Pink und gleichfarbiger Maske – wir waren im zweiten Coronajahr – vor mir stand. Sie glitt bereits auf die andere Bank der Sitznische, worüber ich lachen musste. »Sie geben nie auf, was?«

»Kleinmut hat einer schönen Maid noch nie den großen Gewinn gebracht«, sagte sie und nahm die Maske ab. »Wie ist der Kaffee hier?«

»Nicht schlecht. Wie Sie wissen müssten, wenn Sie sich gleich gegenüber einquartiert haben. Die Muffins sind eindeutig besser. Ich gebe übrigens weiterhin kein Interview. Sorry, Ms. Crawford, es geht einfach nicht.«

»Kein Interview, verstanden. Was wir hier reden, ist strikt inoffiziell, okay?«

»Was bedeutet, dass Sie nichts davon verwenden dürfen.«

»Genau das bedeutet es.«

Die Bedienung – Suzie McDonald – kam zu uns an den Tisch. Ich erkundigte mich, ob sie immer noch die Abendschule besuche. Sie lächelte unter ihrer Maske und bejahte die Frage. Ruth und ich bestellten Kaffee und Blaubeermuffins.

»Sie kennen in den drei Städtchen wohl jeden, oder?«, sagte Ruth, nachdem Suzie gegangen war.

»Nicht jeden, nein. Früher habe ich mehr Leute gekannt, sogar ziemlich viele, als ich noch Schulinspektor war. Strikt inoffiziell, richtig?«

»Absolut.«

»Suzie hat mit siebzehn ein Kind bekommen, und ihre Eltern haben sie rausgeworfen. Fanatische Gläubige, Kirche Christi des Erlösers. Sie ist dann bei ihrer Tante in Gates Falls untergekommen. Seither hat sie den Highschoolabschluss nachgeholt und besucht Kurse an der hiesigen Abendschule, die mit dem Bates College zusammenarbeitet. Sie will Tierärztin werden. Ich glaube sogar, dass sie das schaffen wird, und ihre kleine Tochter gedeiht prächtig. Und was ist mit Ihnen? Amüsieren Sie sich gut? Erfahren Sie viel über meinen Vater und Onkel Butch?«

Sie lächelte. »Ich habe erfahren, dass Ihr Vater ein ziemlich wilder Autofahrer war, bevor er Ihre Mutter geheiratet hat – mein Beileid zu Ihrem Verlust.«

»Danke.« Allerdings war meine Mutter in jenem Sommer schon seit fünf Jahren tot.

»Ihr Dad hat sich mal mit dem Dodge eines alten Farmers überschlagen und musste seinen Führerschein ein Jahr lang abgeben. Wussten Sie das?«

Ich gestand ein, dass ich das nicht gewusst hatte.

»Ich habe herausgefunden, dass Dave LaVerdiere eine Vorliebe für die Bars in Lewiston hatte und in eine dort auftretende Sängerin verknallt war, die sich Little Jonna Jaye nannte. Ich habe erfahren, dass er nach der Watergate-Affäre aus der Republikanischen Partei ausgetreten ist, was Ihr Vater dagegen nie getan hat.«

»Richtig. Mein Vater wählt bis an sein Lebensende die Republikaner, aber …« Ich beugte mich über den Tisch. »Weiterhin inoffiziell?«

»Total!« Sie lächelte, aber ihre Augen glitzerten vor Neugier.

Ich sprach noch leiser, beinahe flüsternd. »Beim zweiten Mal hat er nicht für Trump gestimmt. Er konnte sich nicht dazu überwinden, Biden zu wählen, aber er hatte die Nase voll von Donald. Ich verlasse mich darauf, dass Sie das mit ins Grab nehmen.«

»Ehrenwort. Ich habe herausgefunden, dass Dave ab 1960 den jährlichen Wettbewerb im Kuchenessen gewonnen hat, bis er sich 1966 daraus zurückgezogen hat. Ich habe erfahren, dass Ihr Vater bis 1972 beim Heimatfest auf dem Tauchstuhl gesessen hat. Es gibt amüsante Fotos von ihm in einem dieser altmodischen Badeanzüge und mit Melone als Kopfbedeckung … wasserfest, nehme ich an.«

»Das war total peinlich«, sagte ich. »Bin in der Schule dafür ganz schön aufgezogen worden.«

»Als Dave nach Westen aufgebrochen ist, habe ich gehört, hat er alles, was er zu brauchen glaubte, in die Satteltaschen seiner Harley-Davidson gepackt und ist einfach davongebraust. Ihre Eltern haben seinen restlichen Besitz auf einem Hofflohmarkt verkauft und ihm das Geld geschickt. In seinem Auftrag hat Ihr Vater auch sein Haus verkauft.«

»Zu einem recht guten Preis, was sehr nützlich war«, sagte ich. »Onkel Butch hatte damals schon angefangen, in Vollzeit zu malen, und er hat das Geld zum Überleben gebraucht, bis er seine Bilder verkaufen konnte.«

»Und zum damaligen Zeitpunkt hat auch Ihr Vater bereits in Vollzeit geschrieben.«

»Ja, und er hat daneben weiter die Müllkippe betrieben, bis er sie Anfang der Neunziger an die Stadt zurückverkauft hat. Danach ist sie planiert worden.«

»Er hatte auch Peewee gekauft und schließlich weiterverkauft. Den Gewinn hat er der Stadt gespendet.«

»Im Ernst? Das hat er mir nie erzählt.« Auch meine Mutter nicht, obwohl sie das bestimmt gewusst hatte.

»Aber so war es – und warum auch nicht? Er brauchte das Geld ja nicht mehr. Damals war das Schreiben sein Beruf und das ganze städtische Zeug nur ein Hobby.«

»Gute Werke«, sagte ich, »sind nie ein Hobby.«

»Hat Ihr Vater Sie das gelehrt?«

»Meine Mutter.«

»Was hat sie denn zu der plötzlichen Veränderung Ihrer Vermögensverhältnisse gemeint? Ganz zu schweigen von Onkel Butchs plötzlichem Reichtum?«

Ich dachte über ihre Frage nach, während Suzie unsere Muffins und den Kaffee servierte. Dann sagte ich: »Darüber möchte ich eigentlich nicht reden, Ms. Crawford.«

»Sie können gern Ruth zu mir sagen.«

»Dann also Ruth … aber ich möchte trotzdem nicht darüber reden.«

Sie bestrich ihren Muffin mit Butter. Dabei musterte sie mich mit einer Art strenger Fassungslosigkeit – ich weiß keinen besseren Ausdruck dafür –, was bewirkte, dass ich mich unwohl fühlte.

»Mit dem Material, das ich habe, kann ich eine gute Story schreiben und an die Yankee verkaufen«, sagte sie. »Einen langen Artikel voller Lokalkolorit und amüsanter Anekdoten. All dem Maine-Scheiß, den die Leute so lieben, viel jawollja und da küss ich mir ’n Ferkel. Ich habe Fotos von Dave LaVerdieres Gemälden auf dem Deponiezaun. Ich habe Fotos, auf denen Ihr Vater – der berühmte Autor – einen Badeanzug im Stil der Zwanzigerjahre trägt, während seine Mitbürger darin wetteifern, ihn in ein Wasserbecken plumpsen zu lassen.«

»Zwei Dollar für drei Würfe auf den großen Hebel zum Eintunken. Der Gewinn ging an verschiedene Wohltätigkeitsorganisationen. Die Leute haben jedes Mal gejohlt und geklatscht, wenn er reingeplumpst ist.«

»Ich habe Fotos von ihnen, wie sie Touristen und Sommergästen Grillhähnchen verkaufen – beide mit einer hohen Kochmütze und einer Schürze mit der Aufschrift Sie dürfen den Koch küssen.«

»Das haben viele Frauen getan.«

»Ich habe Anglergeschichten, Jägerlatein, Berichte über gute Taten wie das für den Mann mit dem Herzanfall eingebrachte Heu. Ich habe die Story, wie Laird mit Alkohol am Steuer erwischt wurde und den Führerschein abgeben musste. Ich habe das alles – und eigentlich doch nichts. Jedenfalls nichts Substanzielles. Die Leute erzählen liebend gern Geschichten über sie: Ich hab Laird Carmody damals gekannt, ich hab Butchie LaVerdiere damals gekannt, aber keiner kann mir erklären, was sie geworden sind. Verstehen Sie, worauf ich hinauswill?«

Ich sagte, das sei mir klar.

»Sie müssen einiges wissen, Mark. Scheiße, was ist damals passiert? Können Sie mir das nicht verraten?«

»Da gibt es nichts zu erzählen«, sagte ich. Was natürlich gelogen war, und ich glaube, das war ihr bewusst.

Ich erinnere mich an einen Anruf, den ich im Herbst 1978 bekam, wo die Wohnheimmutter (diese Funktion gab es damals tatsächlich) in den zweiten Stock von Roberts Hall heraufgekeucht kam, um mir zu sagen, meine Mutter sei am Telefon und klinge sehr aufgeregt. Ich hastete in Mrs. Hathaways kleine Wohnung hinunter und befürchtete das Schlimmste.

»Mama? Alles in Ordnung?«

»Ja. Nein. Ich weiß es nicht. Deinem armen Vater ist auf ihrem Jagdausflug im 30-Meilen-Wald irgendwas zugestoßen.« Dann als eine Art Nachtrag: »Und Butch auch.«

Mein Magen sackte ab; meine Hoden schienen entgegengesetzt aufzusteigen. »Hat’s einen Unfall gegeben? Sind sie verletzt? Ist jemand …?« Ich traute mich nicht, den Satz zu Ende zu bringen, als könnte die Frage, ob jemand tot sei, einen Tod bewirken.

»Nein, ihnen fehlt nichts. Jedenfalls nicht körperlich. Aber ihnen ist irgendwas zugestoßen. Dein Vater sieht aus, als hätte er ein Gespenst gesehen. Und Butch … nicht viel anders. Sie haben mir erzählt, sie hätten sich verlaufen, aber das ist Stuss. Die beiden kennen den 30-Meilen-Wald doch wie ihre Westentasche. Ich möchte, dass du heimkommst, Mark. Nicht gleich sofort, aber am Wochenende. Vielleicht kriegst du was aus ihnen heraus.«

Aber als ich fragte, bestand Papa darauf, sie hätten sich nur verlaufen, schließlich zum Jilasi Creek (eine verwaschene, amerikanisierte Version des Micmac-Worts für hallo) zurückgefunden und wären dann heil und gesund hinter dem Friedhof Harlow rausgekommen.

Ich nahm ihm diesen Scheiß so wenig ab, wie Mama es getan hatte. Ich fuhr ins College zurück, wo sich noch vor den Weihnachtsferien eine schreckliche Idee in meinem Kopf festsetzte: Einer von ihnen hatte einen anderen Jäger erschossen – solche Fälle kamen in der Jagdsaison öfter vor –, und die beiden hatten ihn irgendwo im Wald verscharrt.

An Heiligabend brachte ich, nachdem Mama ins Bett gegangen war, endlich den Mut auf, ihn zu meiner Vermutung zu befragen. Wir saßen ihm Wohnzimmer und betrachteten den Baum. Papa wirkte zunächst verblüfft … dann lachte er. »Gott, nein. Wäre etwas in der Art passiert, hätten wir’s gemeldet und die Folgen getragen. Wir haben uns nur verlaufen. Das kann den Besten passieren, mein Junge.«

Mir fiel ein, was Mama dazu gesagt hatte, und ich sprach das Wort beinahe aus: Stuss.

Mein Vater besaß einen trockenen Sinn für Humor, der sich niemals besser zeigte als an dem Tag, wo sein Steuerberater aus New York heraufkam – damals war sein letzter Roman gerade erschienen – und ihm mitteilte, sein Nettovermögen liege bei knapp über zehn Millionen Dollar. Nicht mit J. K. Rowling zu vergleichen (oder auch nur mit James Patterson), aber trotzdem beachtlich. Papa überlegte kurz, dann sagte er: »Bücher tun anscheinend doch einiges mehr, als nur ein Zimmer zu möblieren.«

Der Steuerberater wirkte verständnislos, aber ich verstand den Hinweis und lachte.

»Ich lasse dich also nicht mittellos zurück, Markey«, sagte mein Vater.

Er musste gesehen haben, wie ich zusammengezuckt war, oder begriff erst jetzt die Bedeutung des Gesagten. Er beugte sich zu mir herüber und tätschelte meine Hand, wie er das immer getan hatte, wenn mich als Kind etwas bedrückt hatte.

Ich war kein Kind mehr, aber ich war allein. Im Jahre 1988 heiratete ich Susan Wiggins, eine in der County-Verwaltung angestellte Juristin. Sie sagte, sie wolle Kinder, schob dieses Vorhaben aber immer wieder auf. Kurz vor unserem zwölften Hochzeitstag (für den ich ihr eine Perlenkette gekauft hatte) erklärte sie mir, sie verlasse mich für einen anderen Mann. Zu der Geschichte gehört noch viel mehr, wie das vermutlich immer der Fall ist, aber mehr braucht man nicht zu wissen, immerhin handelt die Geschichte hier nicht von mir – nicht so ganz. Als mein Vater also feststellte, er lasse mich nicht mittellos zurück, dachten wir vermutlich beide daran, wem ich die zehn Millionen, oder was davon übrig bliebe, wohl hinterließe, wenn einmal meine Zeit käme.

Vermutlich dem Schulverwaltungsbezirk 19 in Maine. Schulen brauchen immer Geld.

»Sie müssen es wissen«, sagte Ruth an jenem Tag im Korner Koffee Kup zu mir. »Unbedingt. Strikt inoffiziell, okay?«

»Offiziell oder inoffiziell, ich weiß es wirklich nicht«, sagte ich. Ich wusste nur, dass Papa und Onkel Butch im November 1978 auf ihrem jährlichen Jagdausflug etwas zugestoßen war. Danach wurde mein Vater der Autor gewichtiger Bestseller von der Art, die Kritiker früher gern Wälzer nannten, und Dave LaVerdiere wurde erst als Illustrator und dann als Maler berühmt, »der den Surrealismus Frida Kahlos mit der amerikanischen Romantik Norman Rockwells vereinigt« (ArtReview).

»Vielleicht sind sie zur Kreuzung runtergegangen«, sagte sie. »Sie wissen schon, wie Robert Johnson es getan haben soll. Wo sie einen Pakt mit dem Teufel geschlossen haben.«

Ich lachte, aber ich würde lügen, wenn ich nicht zugäbe, dass ich diese Idee schon selbst gehabt hatte – meist in gewittrigen Sommernächten, wenn langes Donnergrollen mich nicht schlafen ließ. »Wenn sie das getan haben, muss der Pakt weit länger als sieben Jahre gegolten haben. Das erste Buch von meinem Vater erschien 1980, und im selben Jahr schaffte es Onkel Butchs Porträt von John Lennon auf die Titelseite von Time.«

»Also fast vierzig Jahre für LaVerdiere«, sagte sie nachdenklich. »Und Ihr Vater ist auch im Ruhestand noch sehr rüstig.«

»Rüstig ist vielleicht etwas übertrieben«, sagte ich und dachte an die eingenässte Bettwäsche, die ich erst an diesem Morgen gewechselt hatte, bevor ich nach Castle Rock aufgebrochen war. »Aber er hält sich einigermaßen. Wie steht’s mit Ihnen? Wie lange wollen Sie noch hier in unserer Gegend bleiben, um Schmutz über Carmody und LaVerdiere auszugraben?«

»Irgendwie ist das eine beschissene Art, meine Arbeit zu beschreiben.«

»Entschuldigung. Schlechter Scherz.«

Sie hatte ihren Muffin gegessen (die waren wie gesagt sehr gut) und nahm jetzt ein paar letzte Krümel mit dem Zeigefinger auf. »Noch ein, zwei Tage. Ich will noch mal ins Altenheim in Harlow, vielleicht noch mal mit LaVerdieres Schwester reden, wenn sie dazu bereit ist. Das Endergebnis ist dann eine Story, die sich gut verkaufen lässt, aber nicht im Entferntesten die Story, die ich schreiben wollte.«

»Vielleicht wollten Sie etwas, was nicht zu finden ist. Vielleicht soll Kreativität ein Mysterium bleiben.«

Sie rümpfte die Nase und sagte: »Sparen Sie sich Ihr metaphysisches Geplänkel. Darf ich Sie einladen?«

»Nein.«

In Harlow kennt jeder unser Haus in der Benson Street. Manchmal kommen auswärtige Fans von Papas Büchern vorbei, um es sich anzusehen, wenn sie zufällig in der Nähe sind, und sind dann oft enttäuscht, weil es nur eine für Neuengland typische Saltbox in einer Kleinstadt voller ähnlicher Gebäude ist. Etwas größer als die meisten, von der Straße durch eine mit Blumenbeeten gesprenkelte zweite Rasenfläche abgesetzt. Meine Mutter hatte die von ihr angelegten Beete bis zu ihrem Tod gepflegt. Heute werden sie von Jimmy Griggs, unserem Hausmeister, gegossen und gepflegt. Das heißt bis auf die Taglilien am Staketenzaun zur Straße hin. Um die kümmert Papa sich selbst, weil sie Mamas Lieblingsblumen waren. Wenn er sie gießt oder auch nur ihre Reihe entlanggeht, wobei er sich hinkend auf seinen Stock stützt, tut er das vermutlich, um sich an die Frau zu erinnern, die er stets »meine liebe Sheila« genannt hat. Manchmal beugt er sich hinunter, um eine der Blüten zu liebkosen – die Blütenstände auf Stängeln mit nur bodennahen langen Laubblättern. Die Blüten sind gelb, rosa und orange, aber er hat eine Vorliebe für die roten, die ihn an ihre Wangen erinnerten, sagt er, wenn sie errötete. Sein öffentliches Image war das eines rustikalen und leicht zynischen Mannes, wozu sein trockener Humor kam. Aber im Herzen blieb er ein Romantiker, der ein bisschen kitschig sein konnte. Mir erzählte er einmal, er halte diesen Aspekt verborgen, weil der leicht verwundbar sei.

Ruth wusste natürlich, wo unser Haus stand. Ich hatte sie mehrmals in ihrem kleinen Corolla vorbeifahren sehen, und einmal hatte sie sogar angehalten, um ein paar Fotos zu machen. Bestimmt wusste sie auch, dass mein Vater meistens am Spätvormittag unseren Staketenzaun entlangging, um die Taglilien zu bewundern, und wenn inzwischen nicht jedem klar sein sollte, dass sie eine sehr zielstrebige Dame war, habe ich sie schlecht geschildert.

Zwei Tage nach unserem inoffiziellen Gespräch im Korner Koffee Kup kam sie langsam die Benson Street heruntergefahren. Anstatt wie sonst vorbeizurollen, fuhr sie rechts heran und hielt knapp vor einem der kleinen Schilder auf beiden Seiten der Einfahrt. Auf einem steht: BITTERESPEKTIERENSIEUNSEREPRIVATSPHÄRE. Das andere verkündet: MR. CARMODYGIBTKEINEAUTOGRAMME. Ich begleitete Papa, was ich meistens tat, wenn er die Taglilien inspizierte; er war in jenem Sommer 2021 achtundachtzig geworden und geriet manchmal selbst mit Gehstock ins Straucheln.

Ruth stieg aus und näherte sich dem Zaun, machte aber keine Anstalten, das Tor zu öffnen. Hartnäckig, aber auch Grenzen beachtend. Das mochte ich an ihr. Teufel, ich mochte sie, Punktum. Diesmal trug sie eine Maske mit Blumenmuster. Papa trug nie welche, weil sie angeblich das Atmen erschwerten, aber er hatte nichts dagegen gehabt, sich wiederholt impfen zu lassen.

Papa begutachtete sie neugierig, aber auch mit einem schwachen Lächeln. Sie sah gut aus, vor allem im sommerlichen Morgenlicht. Karierte Bluse, Jeansrock, weiße Socken und Sneaker, ihr Haar wie ein Teenager zu einem Pferdeschwanz gebunden.

»Wie auf dem Schild steht, Miss, gebe ich keine Autogramme.«

»Oh, ich glaube nicht, dass sie eins will«, sagte ich. Ihre Chuzpe amüsierte mich.

»Mein Name ist Ruth Crawford, Sir. Ich habe Ihnen geschrieben und Sie um ein Interview gebeten. Sie haben abgelehnt, aber ich dachte, ich sollte es noch mal persönlich versuchen, bevor ich nach Boston zurückfahre.«

»Aha«, sagte Papa. »Butch und ich, richtig? Und glauben Sie weiter an einen glücklichen Zufall?«

»Ja. Allerdings habe ich nicht das Gefühl, jemals bis zum Kern der Materie vorgedrungen zu sein.«

»Zum Herzen der Finsternis«, sagte er und lachte. »Literarischer Scherz. Ich habe etliche davon auf Lager, obwohl sie wahrscheinlich etwas Staub angesammelt haben, seit ich aufgehört habe, Interviews zu geben. Ein Schwur, den ich zu halten gedenke, obwohl Sie eine nette Frau zu sein scheinen und ich von Mark hier höre, dass Sie die Absage gut weggesteckt haben.«

Als er im nächsten Augenblick seine Hand über den Zaun ausstreckte, war ich angenehm überrascht. Auch Ruth wirkte überrascht, aber sie schüttelte sie, wobei sie sichtlich darauf achtete, nicht zu kräftig zuzupacken.

»Danke, Sir. Ich wollte es einfach nicht unversucht lassen. Ihre Blumen sind übrigens wunderschön. Ich liebe Taglilien.«

»Im Ernst? Oder sagen Sie das nur so?«

»Ganz im Ernst.«

»Meine Frau hat sie auch geliebt. Und weil Sie so freundlich waren, mir ein Kompliment für etwas zu machen, was meine liebe Sheila geliebt hat, will ich Ihnen einen Deal wie im Märchen anbieten.« Seine Augen blitzten. Ihr gutes Aussehen – und vielleicht ihre Chuzpe – hatte ihn angeregt, wie ein Schwall Wasser die Blumen seiner lieben Sheila aufrichten konnte.

Sie lächelte. »Wie würde der aussehen, Mr. Carmody?«

»Sie haben drei Fragen frei und dürfen meine Antworten in Ihrem Artikel verwenden. Wie finden Sie das?«

Ich war begeistert, und Ruth Crawford wirkte ebenso entzückt. »Absolut wundervoll«, sagte sie.

»Fragen Sie also, junge Lady.«

»Lassen Sie mir einen Augenblick Zeit. Sie setzen mich unter Druck.«

»Stimmt, aber Druck erzeugt aus Kohle Diamanten.«

Ruth fragte nicht, ob sie seine Antworten aufnehmen dürfe, was ich clever fand. Sie tippte mit dem Zeigefinger gegen ihre Lippen und behielt dabei Blickkontakt mit Papa. »Okay, Frage eins. Was hat Ihnen an Mr. LaVerdiere am besten gefallen?«

Er überlegte nicht lange. »Loyalität. Zuverlässigkeit. Was irgendwie aufs Gleiche hinausläuft, oder beinahe. Männer können von Glück sagen, wenn sie wenigstens einen guten Freund haben. Frauen haben da vermutlich mehr … aber das wissen Sie besser als ich.«

Sie überlegte. »Ich glaube, ich habe zwei Freundinnen, denen ich jedes Geheimnis anvertrauen könnte. Nein … drei.«

»Sie Glückliche. Nächste Frage.«

Ruth zögerte, weil sie bestimmt Dutzende von Fragen im Kopf hatte und das kurze Interview an unserem Gartenzaun, auf das sie nicht vorbereitet war, ihre einzige Chance sein würde. Und Papas Lächeln – leicht sardonisch – zeigte, dass ihm bewusst war, in welche Lage er sie gebracht hatte.

»Die Zeit läuft, Miss Crawford. Bald muss ich reingehen und meine müden alten Stelzen ausruhen.«

»Also gut. Was ist die schönste Erinnerung an eine mit Ihrem Freund verbrachte Zeit? Ich wüsste gern auch die schlimmste Erinnerung, aber ich will mir meine letzte Frage gern noch aufheben.«

Mein Vater lachte. »Die Antwort dazu bekommen Sie umsonst, weil mir Ihre Hartnäckigkeit gefällt, aber auch weil Sie ein erfreulicher Anblick sind. Die schlimmste Zeit war draußen in Seattle, auf meiner wohl letzten Reise an die Westküste, als ich vor einem Sarg stehend wusste, dass er meinen alten Freund enthielt. Seine begabte Rechte würde nie wieder einen Pinsel führen.«

»Und die beste?«

»Auf der Jagd im 30-Meilen-Wald«, antwortete er prompt. »Seit unserer Jugend sind wir dort in der zweiten Novemberwoche auf die Jagd gegangen, bis Butch sein Stahlpony bestiegen hat und in den goldenen Westen aufgebrochen ist. Übernachtet haben wir in der kleinen Hütte, die mein Großvater gebaut hatte. Butch hat behauptet, sein Großvater hätte damals beim Dachdecken geholfen, was stimmen mag oder auch nicht. Sie hat ungefähr eine Viertelmeile jenseits vom Jilasi Creek gestanden. Wir hatten einen alten Willys-Jeep, mit dem wir bis vierundfünfzig oder fünfundfünfzig über die Holzbrücke gefahren sind, um auf der anderen Seite zu parken, bevor wir mit unseren Rucksäcken und Gewehren weitermarschiert sind. Später haben wir uns nicht mehr getraut, mit dem Willys über die Brücke zu fahren, weil Hochwasser sie teilweise untergraben hatte, also haben wir davor geparkt und sind zu Fuß rüber.«

Er blickte in die Ferne und seufzte.

»Nach den vielen Kahlschlägen durch die Streichholzfabrik Diamond Match und wegen der Wohnsiedlung am Dark Score Lake, wo früher das Sommerhaus von Noonan stand, ist der 30-Meilen-Wald heute eher ein 20-Meilen-Wald. Aber damals gab es noch reichlich Wald, durch den zwei Burschen … später zwei junge Männer … streifen konnten. Wir haben manchmal ein Stück Rotwild geschossen – und einmal auch einen Truthahn, der sich allerdings als alt und zäh erwiesen hat –, aber die Jagd war für uns am unwichtigsten. Uns hat es einfach nur gefallen, fünf, sechs oder sieben Tage lang auf uns allein gestellt zu sein. Ich glaube, dass viele Männer nur auf die Jagd gehen, um ungestört rauchen und trinken zu können, wenn sie nicht sogar in die Bars fahren, um dort eine Frau für eine Nacht aufzugabeln, aber das alles haben wir nie gemacht. Na ja, vielleicht haben wir ein bisschen getrunken, aber wenn wir eine Flasche Jack mitgebracht haben, hat die eine ganze Woche lang gereicht, und wir hatten zuletzt noch etwas übrig, was wir ins Feuer gekippt haben, um die Flammen hochschlagen zu sehen. Wir haben über Gott und die Red Sox und Politik geredet und darüber, wie die Welt in einem Atomkrieg untergehen könnte.

Ich weiß noch, wie wir einmal auf einem Baumstamm saßen, als ein Hirsch, der größte, den ich jemals gesehen habe, ein Achtzehnender, vielleicht der größte Hirsch, den jemals ein Mensch gesehen hat, zumindest in dieser Gegend … er hat mit sicherem Tritt das sumpfige Gelände vor uns durchquert. Ich wollte mein Gewehr hochreißen, aber Butch hat mir eine Hand auf den Arm gelegt. ›Nein‹, hat er gesagt. ›Bitte nicht. Den nicht.‹ Und ich habe nicht geschossen.

Abends haben wir im offenen Kamin Feuer gemacht und ein, zwei Gläschen Jack getrunken. Butch, der seinen Skizzenblock mitgebracht hatte, hat gezeichnet. Manchmal hat er mich gebeten, ihm dabei eine Geschichte zu erzählen. Aus einer davon ist dann später mein erstes Buch Das Blitzgewitter geworden.«

Ruth war sichtlich bemüht, sich das alles zu merken. Sie war auf eine Goldader gestoßen, und für mich handelte es sich nicht weniger um Gold. Papa sprach sonst nie über die Hütte im Wald.

»Sie haben nicht zufällig den Essay ›Komm zurück aufs Floß, Huck, mein Schätzchen‹ gelesen, was?«

Ruth schüttelte den Kopf.

»Nein? Nein, natürlich nicht. Niemand liest mehr Leslie Fiedler, was jammerschade ist. Geschmacklos für damalige Zeiten, ein Schlächter heiliger Kühe, und das machte ihn so vergnüglich. In dem Essay argumentiert er, Homoerotik sei die Triebfeder der amerikanischen Literatur gewesen – Geschichten über Männerfreundschaften handelten in Wirklichkeit von erfolgreich unterdrückter sexueller Begierde. Natürlich alles Blödsinn und sagt vermutlich mehr über Fiedler als über männliche Sexualität aus. Weil … Weshalb? Kann mir das einer von euch sagen?«

Weil Ruth aussah, als befürchtete sie, den Bann zu brechen (in den er sich selbst und sie geschlagen hatte), ergriff ich das Wort. »Weil das oberflächlich ist. Fiedler hat Freundschaft in einen schmutzigen Witz verwandelt.«

»Zu stark vereinfacht, aber nicht falsch«, sagte Papa. »Butch und ich waren Freunde, kein Liebespaar, und in jenen Wochen im Wald haben wir diese Freundschaft in ihrer reinsten Form genossen. Die eine Art Liebe ist. Butch hat seine Ausflüge in die Stadt nicht weniger genossen – er war verrückt nach Rock and Roll, den er als Bop bezeichnete –, aber draußen im Wald blieben das Gedränge, der Lärm und der Trubel der Welt zurück.«

»Ihr wart dicke miteinander«, sagte ich.

»Allerdings. Zeit für Ihre letzte Frage, Miss.«

Sie zögerte nicht. »Was ist passiert? Wie ist es gekommen, dass Sie aus Kleinstädtern zu Männern von Welt wurden? Zu kulturellen Ikonen?«

Sein Gesichtsausdruck veränderte sich, und ich musste wieder an Mamas verzweifelten Anruf bei mir im College denken: Dein Vater sieht aus, als hätte er ein Gespenst gesehen. Falls dem so war, sah er jetzt wohl wieder eines. Dann lächelte er, und das Gespenst war verschwunden.

»Wir waren nur zwei begnadete Burschen«, sagte er. »Belassen wir’s dabei. Ich muss jetzt wieder hinein, raus aus der grellen Sonne.«

»Aber …«

»Nein«, sagte er barsch, woraufhin sie leicht zusammenzuzucken schien. »Wir sind fertig.«

»Ich finde, Sie haben mehr bekommen, als zu erwarten war«, erklärte ich ihr. »Seien Sie damit zufrieden.«

»Das sollte ich wohl. Danke, Mr. Carmody.«

Papa hob zur Bestätigung seine arthritische Hand. Ich führte ihn zum Haus zurück und half ihm die Verandastufen hinauf. Ruth Crawford blieb noch kurz stehen, dann stieg sie in ihr Auto und fuhr davon. Ich sah sie nie wieder, las aber natürlich den Artikel, den sie über Papa und Onkel Butch schrieb. Er war lebendig und voller amüsanter Anekdoten, jedoch arm an wirklicher Erkenntnis. Er erschien in der Zeitschrift Yankee und war doppelt so lang wie die sonst dort gedruckten Artikel. Sie hatte wirklich mehr als erwartet bekommen, als sie vor der Abreise bei uns vorbeischaute, und dazu gehörte der Titel: »Zwei begnadete Burschen«.

Meine Mutter – Sheila Wise Carmody, unsere Liebe Frau von den Taglilien – starb 2016 mit achtundsiebzig. Ihr Tod war ein Schock für alle, die sie kannten. Sie rauchte nicht, sie trank nur bei besonderen Anlässen ein Gläschen Wein, sie hatte weder Über- noch Untergewicht. Ihre Mutter war siebenundneunzig geworden, ihre Großmutter sogar neunundneunzig, aber Mama erlitt einen massiven Herzanfall, als sie mit einem Kofferraum voll frischer Lebensmittel aus dem IGA-Supermarkt in Castle Rock auf der Heimfahrt war. Sie fuhr auf dem Sirois Hill an den Rand, zog die Handbremse an, stellte den Motor ab, faltete die Hände im Schoß und verschwand in dem Dunkel, das den Lichtfleck umgibt, den wir Leben nennen. Der Tod seines alten Freundes Dave LaVerdiere erschütterte meinen Vater, aber der Tod seiner Frau ließ ihn untröstlich zurück.

»Sie hätte überleben sollen«, sagte er auf ihrer Beerdigung. »Irgendwer in der Buchhaltung hat einen schrecklichen Fehler gemacht.« Nicht sehr eloquent, nicht sein Bestes, aber er stand unter Schock.

Ein halbes Jahr lang schlief Papa unten auf dem Ausziehsofa. Zuletzt kehrte er auf mein Drängen in das Schlafzimmer zurück, in dem sie über 21000 Nächte gemeinsam verbracht hatten. Den größten Teil ihrer Kleidung bekam die von Mama immer geförderte Wohltätigkeitsorganisation Goodwill in Lewiston. Ihren Schmuck verteilte er unter ihren Freundinnen – mit Ausnahme ihres Verlobungs- und ihres Eherings, die er bis zu seinem Tod in der Uhrentasche seiner Jeans bei sich trug.

Das Ausräumen war ein harter Job für ihn (für uns beide), aber als es darum ging, ihr kleines Arbeitszimmer auszuräumen, das nicht viel mehr als eine Kammer neben dem Hauswirtschaftsraum war, verweigerte er die Mitwirkung.

»Ich kann nicht, Mark«, sagte er. »Ich kann einfach nicht. Es würde mir das Herz brechen. Das musst du allein machen. Pack ihre Sachen in Kartons, und schaff sie in den Keller. Ich sehe sie später durch und entscheide, was aufgehoben werden soll.«

Meines Wissens hat er die Sachen jedoch nie durchgesehen. Die Kartons stehen noch dort, wo ich sie gestapelt habe: unter der Tischtennisplatte, die nicht mehr benutzt worden ist, seit Mama und ich uns dort unten hitzige Duelle geliefert haben, wobei Mama bei jedem Schmetterball, dem sie nicht gewachsen war, anschaulich fluchte. Es war harte Arbeit, ihren kleinen Denkraum auszuräumen, wie wir ihn nannten. Die staubige Tischtennisplatte mit dem schlaff herabhängenden grünen Netz anzusehen war noch schwieriger.

Einige Tage nach Papas außergewöhnlichem Zauninterview mit Ruth Crawford fiel mir wieder ein, wie ich mich damals mit einer Valium gestärkt hatte, bevor ich mit mehreren Umzugskartons in ihren Denkraum gegangen war. Als ich zur untersten Schreibtischschublade gelangte, fand ich einen Stapel Spiralnotizbücher, und als ich eines davon aufschlug, sah ich die unverkennbar nach links geneigte Handschrift meines Vaters. Sie stammten aus der Zeit vor seinem Durchbruch, nach dem jedes seiner Bücher wie das erste ein Bestseller wurde.

Die ersten drei Romane stammen aus der Zeit, bevor die Textverarbeitung per Computer sich allgemein durchsetzte, und wurden auf einer IBM Selectric geschrieben, die er jeden Nachmittag aus der Gemeindeverwaltung Harlow nach Hause schleppte. Er ließ mich die getippten Manuskripte lesen, und ich erinnere mich sehr gut an sie. Es gab Stellen, wo er Wörter durchgestrichen und durch zwischen die Zeilen gekritzelte ersetzt hatte, und zum Textstraffen strich er ganze Absätze mit dem Füller durch – so wurde das damals vor Erfindung der Löschtaste gemacht. Manchmal verwendete er auch die X-Taste, sodass aus Ein schöner sonniger Tag beispielsweise Ein xxxxxxx sonniger Tag wurde.

Das erwähne ich nur, weil die fertiggestellten Manuskripte von Das Blitzgewitter, Die schreckliche Generation und Highway 19 nur wenige Ausstreichungen oder Überschreibungen enthielten. Dagegen waren die Notizbücher voller Durchstreichungen, einige davon so energisch, dass sie durchs Papier gegangen waren. Andere Seiten waren wie in einem Wutanfall völlig überschrieben worden. Es gab Randnotizen wie Was passiert mit Jimmy? oder an den Schreibtisch denken. Insgesamt fand ich ein Dutzend Notizbücher, und das unterste war ziemlich offensichtlich ein erster Versuch von Das Blitzgewitter. Der Text war nicht schlecht … aber eben auch nicht überwältigend.

Weil ich an Ruth Crawfords letzte Frage denken musste – und mich an Mamas verzweifelten Anruf im Jahre 1978 erinnerte –, nahm ich mir den Umzugskarton mit den alten Notizbüchern vor. Ich suchte das gewünschte Manuskript heraus und las darin im Schneidersitz unter einer nackten Glühbirne.

Ein Sturm kam!

Jason Jack stand auf der Veranda und beobachtete die von Westen heraufziehenden dunklen Wolken. Donner grollte! Blitze schlugen überall ein! schmetterten in die Erde wie feurige Rammen! Der Wind blies heftiger heulte. Jack hatte schreckliche Angst, konnte sich aber nicht losreißen. Feuer vor Regen, dachte er. FEUERVORREGEN!

Die Wörter zeichneten ein Bild, und es gab eine Erzählung, die jedoch bestenfalls abgedroschen war. Auf der nächsten Seite und den folgenden konnte ich sehen, wie Papa sich zu schildern bemühte, was er vor Augen sah. Als wüsste er, dass er nichts Besonderes schuf, und würde unablässig darum ringen, den Text zu verbessern. Es war schmerzlich zu sehen, dass er gut sein wollte … und es nicht war.

Ich ging nach oben in Papas Arbeitszimmer und zog Das Blitzgewitter aus dem Regal mit den Belegexemplaren. Ich schlug die erste Seite auf und las:

Ein Sturm zog auf.

Mit den Händen in den Hosentaschen stand Jack Elway auf der Veranda und beobachtete, wie im Westen rauchgleich schwarze Wolken aufstiegen und nach und nach die Sterne auslöschten. Donner grollte. Blitze erhellten die Wolken, ließen sie wie Gehirne aussehen, fand er. Der Wind frischte auf. Feuer vor dem Regen, dachte der Junge. Feuer vor dem Regen. Die Vorstellung ängstigte ihn, aber er konnte sich nicht losreißen.

Als ich den schlechten (aber so verzweifelt um Qualität bemühten) handgeschriebenen Text mit der gedruckten Version verglich, musste ich unwillkürlich an Butch LaVerdieres Zaunbilder und dann an sein Gemälde von Elvis und Marilyn denken, das vor kurzem für drei Millionen Dollar versteigert worden war. Ich sagte mir wieder, die einen seien die Knospen, das andere die Blüte gewesen.

Überall in diesem Land – überhaupt auf der ganzen Welt – malen Männer und Frauen Bilder, schreiben Romane, spielen Instrumente. Manche der Möchtegerne besuchen Seminare und Workshops und Kunstkurse. Manche nehmen sogar Privatunterricht. Das Ergebnis ihrer Bemühungen wird von Freunden und Verwandten pflichtschuldig bewundert, indem sie wow, echt gut sagen, und das Ganze dann wieder schnell vergessen. Als Kind hatten mir die Geschichten meines Vaters immer gefallen. Sie hatten mich irgendwie fasziniert, und ich hatte gedacht: Wow, echt gut, Papa! Bestimmt hatten auch Leute auf der Straße an der Deponie beim Anblick von Onkel Butchs plakativen, belebten Dorfszenen wow, echt gut gedacht und waren dann wieder ihres Weges gezogen. Irgendwer malt nämlich immer Gemälde, irgendwer erzählt immer Geschichten, irgendwer spielt immer »Call Me the Breeze« auf der Gitarre. Die meisten davon kann man getrost vergessen. Einige sind recht gut. Nur ganz wenige aber sind wirklich unvergesslich. Keine Ahnung, wieso das so ist. Und wie die beiden Männer vom Land den Sprung von gut zu ziemlich gut zu genial schafften … auch davon hatte ich keinen blassen Schimmer.

Aber ich fand es heraus.

Zwei Jahre nach seinem kurzen Interview mit Ruth Crawford war Papa wieder einmal dabei, die Taglilien zu inspizieren, die unseren Zaun entlang wuchsen. Er zeigte mir, wo einzelne Triebe jenseits davon den Boden durchbrachen, sogar drüben auf der anderen Seite der Benson Street, als ich ein gedämpftes Knacken hörte. Ich dachte, er sei vielleicht auf einen herabgefallenen Zweig getreten. Er starrte mich mit weit aufgerissenen Augen und offenem Mund an, und ich dachte (daran erinnere ich mich deutlich): So hat Papa als Kleinkind ausgesehen. Dann kippte er zur Seite. Er grapschte nach dem Zaun. Ich grapschte nach seinem Arm. Wir verfehlten beide, wonach wir griffen. Er schlug längelang auf dem Rasen auf und schrie los.

Ich habe mein Handy nicht immer in der Tasche – ich gehöre nicht zu der Generation, die das Haus nicht ohne Smartphone verlässt, als handelte es sich um Unterwäsche –, aber an jenem Tag hatte ich es dabei. Ich wählte den Notruf und meldete, dass ich einen Krankenwagen in die Benson Nummer 29 brauchte, weil mein Vater einen Unfall gehabt habe.

Ich kniete mich neben Papa und versuchte, sein Bein gerade zu richten. Er kreischte auf und sagte: Nein, nein, nein, das tut weh, Markey, so weh. Sein Gesicht war weiß wie frisch gefallener Schnee, wie Moby-Dicks Bauch, wie Amnesie. Ich fühlte mich nicht oft alt, vermutlich weil der Mann, mit dem ich zusammenlebte, so viel älter war, aber in diesem Augenblick kam ich mir sehr alt vor. Ich ermahnte mich, jetzt nicht in Ohnmacht zu fallen, keinen Herzinfarkt zu erleiden. Und ich hoffte, dass der Harlower Notarztwagen (den Onkel Butch und mein Vater gespendet hatten) in der Nähe war. Ein Krankenwagen aus Gates Falls würde nämlich eine halbe Stunde brauchen und einer aus Castle Rock noch länger.

Ich kann die Schreie meines Vaters immer noch hören. Kurz bevor der Notarztwagen aus Harlow eintraf, verlor er das Bewusstsein. Das war eine Erleichterung. Sie hoben ihn mit dem Elektrolift hinten in den Wagen und brachten ihn ins St. Stephen’s, wo er stabilisiert wurde – sofern das bei einem Neunzigjährigen überhaupt möglich ist –, um dann anschließend geröntgt zu werden. Die linke Hüfte war gebrochen. Aus keinem erkennbaren Grund; es war einfach passiert. Sie war nicht nur gebrochen, erklärte mir der Orthopäde. Sie war explodiert.

»Ich bin mir über das weitere Prozedere noch nicht im Klaren«, sagte Dr. Patel. »Wäre er in Ihrem Alter, würde ich eine Hüfttransplantation vorschlagen, aber Mr. Carmody leidet an fortgeschrittener Osteoporose. Die Knochen sind alle wie Glas. Und er ist natürlich hochbetagt.« Er breitete die Hände über den Röntgenaufnahmen aus. »Sie müssen entscheiden, ob operiert werden soll.«

»Ist er wach?«

Patel telefonierte kurz. Fragte. Hörte zu. Legte auf. »Er ist von den Schmerzmitteln benommen, aber wach und imstande, Fragen zu beantworten. Er möchte Sie sprechen.«

Obwohl Corona abklang, war das St. Stephen’s übervoll. Trotzdem hatte mein Vater dort ein Einzelzimmer bekommen. Nicht nur weil er sich das leisten konnte, sondern auch weil er eine Berühmtheit war. Und in ganz Castle County beliebt. Ich hatte ihm einmal ein T-Shirt mit dem Aufdruck ROCkSTAR-AUTOR geschenkt, das er tatsächlich auch getragen hatte.

Papa war nicht mehr so weiß wie Moby-Dicks Bauch, aber er schien geschrumpft zu sein. Das ausgezehrte Gesicht glänzte von Schweiß. »Ich hab mir die gottverdammte Hüfte gebrochen, Markey«, sagte er flüsternd. »Dieser pakistanische Doktor meint, es wär ein Wunder, dass das nicht schon passiert ist, als ich zu Butchs Beerdigung gereist bin. Du erinnerst dich?«

»Natürlich tue ich das.« Ich setzte mich ans Bett und zog meinen Kamm aus der Tasche.

Er hob eine Hand, um mir mit seiner alten gebieterischen Geste Einhalt zu gebieten. »Lass das! Ich bin doch kein Baby.«

»Ich weiß, aber so siehst du wie ein Irrer aus.«

Er ließ die Hand auf die Bettdecke fallen. »Also gut. Aber nur weil ich mal deine vollgekackten Windeln gewechselt hab.«

Ich vermutete, dass das eher Mamas Job gewesen war, widersprach jedoch nicht, sondern kämmte ihn, so gut es ging. »Papa, der Orthopäde überlegt, ob du eine neue Hüfte …«

»Schweig«, sagte er. »Meine Hose hängt im Kleiderschrank.«

»Papa, du kannst jetzt nirgends …«

Er verdrehte die Augen. »Jesus Christus, das weiß ich doch. Du sollst mir nur meinen Schlüsselbund bringen.«

Den fand ich mit etwas klimperndem Kleingeld in der linken Hosentasche. Er hob ihn mit zitternder Hand dicht vor die Augen (das Zittern war ein furchtbarer Anblick), sortierte die Schlüssel und zeigte mir dann einen kleinen silbernen.

»Der sperrt die unterste Schublade an meinem Schreibtisch auf. Wenn ich den ganzen Schlamassel hier nicht überlebe …«

»Papa, du wirst be…«

Er wiederholte die alte Geste, diesmal mit der Hand mit den Schlüsseln. »Wenn ich es nicht schaffe, findest du die Erklärung für meinen Erfolg – und für Butchs – in der Schublade. Alles, was diese Frau … ihr Name fällt mir gerade nicht ein … unbedingt wissen wollte. Sie hätte es sowieso nicht geglaubt, und auch du wirst das nicht tun, aber es ist die Wahrheit. Nenn es mein letztes Sendschreiben an die Welt.«

»Gut. Ich verstehe. Aber was ist mit der Operation?«

»Na, mal sehen. So was will gut überlegt sein. Was blüht mir, wenn ich mich nicht operieren lasse? Ein Rollstuhl? Und ein Pfleger, nehme ich an. Keine hübsche Schwester, sondern ein bulliger Footballspieler mit rasiertem Schädel und billigem Aftershave. Du kannst mich jedenfalls nicht heben, nicht in deinem Alter.«

Damit hatte er wohl recht.

»Ich glaube, ich entscheide mich dafür. Gut möglich, dass ich auf dem OP-Tisch sterbe. Vielleicht komme ich aber auch durch, mache sechs Wochen Reha und breche mir dann die andere Hüfte. Oder den Arm. Oder die Schulter. Gott hat einen üblen Sinn für Humor.«