IHRE TRÄNEN WAREN DER TOD - EIN FALL FÜR ANTONY MAITLAND - Sara Woods - E-Book

IHRE TRÄNEN WAREN DER TOD - EIN FALL FÜR ANTONY MAITLAND E-Book

Sara Woods

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Beschreibung

Sir Nicholas Harding hat einen besonderen Fall übernommen: Dorothy Selden, seine Klientin, ist ein Medium. Ihr wird vorgeworfen, eine Bankiersgattin systematisch in den Selbstmord getrieben zu haben. Sein Neffe, der Londoner Staranwalt Antony Maitland, recherchiert im Auftrag von Sir Nicholas und fördert Dinge zutage, die allen Beteiligten höchst unangenehm sind. So ist z.B. die Tochter der Toten nicht davon abzubringen, dass ihre Mutter ermordet wurde...

 

Der Roman Ihre Tränen waren der Tod der britischen Schriftstellerin Sara Woods (eigtl. Lana Hutton Bowen-Judd - * 07. März 1922; † 05. November 1985) erschien erstmals im Jahr 1980; eine deutsche Erstveröffentlichung folgte im Jahr 1982.

Der Signum-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur.

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Veröffentlichungsjahr: 2022

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SARA WOODS

 

 

Ihre Tränen waren der Tod

 

 

 

 

Roman

 

 

 

 

Signum-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

IHRE TRÄNEN WAREN DER TOD 

ERSTER TEIL 

ZWEITER TEIL 

DRITTER TEIL 

Das Buch

 

 

Sir Nicholas Harding hat einen besonderen Fall übernommen: Dorothy Selden, seine Klientin, ist ein Medium. Ihr wird vorgeworfen, eine Bankiersgattin systematisch in den Selbstmord getrieben zu haben. Sein Neffe, der Londoner Staranwalt Antony Maitland, recherchiert im Auftrag von Sir Nicholas und fördert Dinge zutage, die allen Beteiligten höchst unangenehm sind. So ist z.B. die Tochter der Toten nicht davon abzubringen, dass ihre Mutter ermordet wurde... 

 

Der Roman Ihre Tränen waren der Tod der britischen Schriftstellerin Sara Woods (eigtl. Lana Hutton Bowen-Judd - * 07. März 1922; † 05. November 1985) erschien erstmals im Jahr 1980; eine deutsche Erstveröffentlichung folgte im Jahr 1982. 

Der Signum-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur. 

  IHRE TRÄNEN WAREN DER TOD

 

 

 

 

 

»Was ist ihm Hekuba, was ist er ihr, dass er um sie soll weinen?« 

Shakespeare, Hamlet,

2. Akt, 2. Szene

 

 

»Jede Erzählung, deren Figuren von gleichförmiger Vortrefflichkeit wären, müsste man schon aus diesem Grund allein als unbeschreiblich langweilig bezeichnen. Deshalb kann für die Niederträchtigkeit oder Torheit der Personen in diesem Buch keine Entschuldigung nötig sein. Es spricht außerordentlich wenig dafür, dass sie einer wirklichen lebenden oder toten Person ähneln. Jede solche Ähnlichkeit ist völlig unbeabsichtigt und ohne jeden bösen Vorsatz.«

S.W.

 

 

 

 

  ERSTER TEIL

 

 

 

Dienstag, 14. März 1972

 

 

Teil I

 

 

»Antony«, sagte Sir Nicholas ernst, »deine Aura ist nicht gut.«

Antony Maitland, sein Neffe, zuckte so heftig zusammen, dass sein Kaffee in die Untertasse überschwappte. Er sah eher erschrocken zu seiner noch ziemlich neu angeheirateten Tante, Lady Vera Harding, hinüber, die ganz gelassen in der Sofaecke beim Sessel ihres Mannes saß.

»Glaub nicht, dass er plötzlich den Verstand verloren hat, Antony«, erklärte sie freundlich. »Das heißt, wenn es so wäre, merke ich zum ersten Mal etwas davon.«

Jenny Maitland, in der anderen Sofaecke zusammengerollt, behandelte die Angelegenheit praktischer.

»Was für eine Farbe hat seine Aura denn, Onkel Nick?«, fragte sie. »Und welche Farbe sollte sie haben?«

»Sie ist von mattem Schokoladenbraun«, stellte Sir Nicholas fest, dessen Aufmerksamkeit noch immer seinem Neffen galt. »Soviel ich weiß, bedeutet das eine ernste Störung irgendwelcher Art, entweder körperlich oder seelisch. Vielleicht ist er gallenkrank, aber dann wäre die Farbe vielleicht doch wohl Gelb.«

»Onkel Nick, du weißt, dass Antony nie mit der Galle zu tun hat!«

»Oder, was wahrscheinlicher ist und ich noch sagen wollte, meine liebe Jenny, angesichts deiner ausgezeichneten Küche, dass seine Gedanken diese sehr beunruhigende Ausstrahlung hervorrufen.«

»Was für Gedanken denn?«, sagte Jenny, entschlossen, der Sache auf den Grund zu gehen.

»Ungesunde«, sagte Sir Nicholas mit irreführender Aufrichtigkeit.

»Du hast Jenny nicht gesagt, was für eine Farbe es sein sollte, Onkel Nick«, betonte Antony.

»Ach, alles, was klar und aufheiternd ist«, erwiderte Sir Nicholas. Sein Neffe war ziemlich sicher, dass die Verschwommenheit einen totalen Wissensmangel kaschierte. »Es ist die – die Unreinheit, die mir nicht gefällt.«

»Zufällig bist du vollkommen im Irrtum«, erklärte Antony. »Ich dachte, es wäre dir aufgefallen, dass ich heute Abend besonders guter Stimmung bin.«

»Es hat gewisse Anzeichen für Euphorie gegeben«, meinte Sir Nicholas nachdenklich. »Aber angesichts der Aura, von der ich sprach, glaubte ich da einem Irrtum zu unterliegen.«

»Ganz und gar nicht. Mallory hat heute ein Mandat für mich abgelehnt...«

»Ich hätte angenommen, das sei Anlass zu Bedauern und nicht zur Freude«, sagte sein Onkel, der eine ziemlich genaue Vorstellung von der finanziellen Lage der Maitlands hatte – geordnet, aber nicht rosig, hätte Antony gesagt, obwohl die Frage zwischen ihnen natürlich nie erörtert wurde.

»Nicht in diesem Fall. Der Angeklagte sollte wegen obszöner Verleumdung verteidigt werden, das gefiel mir gar nicht. Aber das Schöne an der Sache ist, dass Mallory glaubte, er sei mir ungefällig, wenn er den Fall ablehne.« Der alte Mr. Mallory war Sir Nicholas’ Kanzleivorstand, und Antony arbeitete bei seinem Onkel, seit er vor vielen Jahren sein Studium abgeschlossen hatte.

»Da steckt wohl eher der junge Willett dahinter«, sagte Sir Nicholas. »Ihr beide kommt noch einmal in Schwierigkeiten.« John Willett war einer der jüngeren Anwaltsgehilfen und engagierte sich voll und ganz für Maitland. Im Lauf der Jahre hatte er Methoden entwickelt, Mr. Mallorys Entscheidungen zu steuern, etwas, wofür Antony gar nicht dankbar genug sein konnte.

»Das glaube ich nicht«, sagte der jetzt ernst. »Er bewahrt mich davor, völlig verrückt zu werden, das ist alles. Ich meine, wenn ich alle die Fälle übernehmen sollte, die Mallory mir aufhalsen will...«

»Er ist älter als du und welterfahrener«, erklärte Sir Nicholas belehrend. »Du könntest Schlechteres tun, als auf seinen Rat zu hören.«

Das war eine Streitfrage, aber Antony hatte in seinem ganzen Leben niemals Mr. Mallorys Ansichten zu irgendeinem Punkt übernommen, so wenig wie Mr. Mallory je in seiner missbilligenden Haltung dem Neffen seines Arbeitgebers gegenüber schwankend wurde. Ob diese Gefühle nun gleichzeitig entstanden waren, oder ob eines das andere verursacht hatte, war eine Frage, über die nachzudenken Sir Nicholas bei Gelegenheit Anlass fand... meistens zum Nachteil seines Neffen. Antony, der langsam das Gefühl bekam, das Gespräch laufe in die verkehrte Richtung, stellte vorsichtig seine Tasse ab und ließ sich in dem zweiten Lehnsessel seinem Onkel gegenüber nieder.

»Was weißt du eigentlich über die Aura, Onkel Nick?«, fragte er interessiert.

»Nun, wenn du es wissen willst, bis jetzt nicht sehr viel, Antony. Aber bis ich die Akten studiert habe...«

»Onkel Nick! Du wirst doch keine Akten lesen, die verlangen, dass du irgendetwas über die Aura weißt.«

»Ganz im Gegenteil, mein Lieber, ich werde das Gefühl nicht los, dass sich die Kenntnisse als sehr wertvoll erweisen dürften. Es wundert mich aber, dass dein Freund und Verbündeter Willett dich auf diesen Fall nicht aufmerksam gemacht hat. Ich dachte, er hält dich mit jedem Klatsch auf dem Laufenden.«

Antony ging darauf nicht ein.

»Das kann nur mit Spiritismus zusammenhängen«, sagte er. »Aber heutzutage wird doch kein Medium mehr belangt, wenn du davon redest«, wandte er ein. »Sie sind – sie sind geachtet.«

»Das Gesetz über betrügerische Medien von 1951...«

»Ja. Das weiß ich alles. Aber das wird doch nicht mehr angewendet«, wiederholte Maitland. »Oder doch?«, fragte er, plötzlich argwöhnisch geworden.

»In diesem Fall ganz gewiss.«

Antony stand auf und holte den Cognac.

»Ich komme da nicht mit«, sagte er, während er herumging und eingoss. »Es kann sich doch bloß um eine kleine Sache handeln. Weshalb gibst du dich damit ab?«

»Es gibt interessante Punkte«, sagte sein Onkel gereizt.

Antony beendete die Runde, stellte die Flasche an ihren Platz und trat auf den Kaminvorleger neben den Kamin.

»Weißt du etwas davon, Vera?«, fragte er scharf.

»Gar nichts«, erwiderte Vera ruhig. »Ich bin so neugierig wie du. Und wie Jenny«, fügte sie lächelnd hinzu.

»Natürlich bin ich das«, sagte Jenny. »Wenn jemandem die Zukunft geweissagt wird und er nicht zufrieden ist...«

»Keine Spur davon. Hier geht es um eine richtige Séance«, stellte Sir Nicholas fest. »Meine Klientin ist, was man, glaube ich, ein Trancemedium nennt.«

»Aber um alles in der... hör mal, Onkel Nick, bist du sicher, dass du dich darauf einlassen willst? Ich kann mir vorstellen, dass es möglich ist, einen Betrug zu beweisen, wenn er stattgefunden hat, aber wie in aller Welt könntest du dartun, dass eine Erscheinung – wie sie auch ausgefallen sein mag – echt gewesen ist?«

»Das Problem ist mir bereits aufgefallen«, antwortete Sir Nicholas. »Andererseits muss es einen konkreten Beweis für Betrug geben, weißt du. Das heißt, es muss dargetan werden, dass das Beanstandete – in diesem Fall eine Botschaft aus der sogenannten Geisterwelt – ohne Glauben an seine Wahrheit oder sogar vorsätzlich oder ohne die erforderliche Sorgfalt vorgebracht worden ist, gleichgültig, ob richtig oder falsch.«

»Du spricht vom Zivilrecht. Das ist also keine Strafsache?«

»Nein, eine Privatklage.« Er machte eine Pause und schlürfte seinen Cognac, während er sich in der Runde umsah, als sei er erfreut darüber, ungeteilte Aufmerksamkeit registrieren zu können. Vera, die er gegen Ende der sommerlichen Sitzungsperiode geheiratet hatte, saß zurückgelehnt auf dem Sofa, die Hände im Schoß, offenbar durchaus willens, auf jede Erklärung zu warten, die zu geben er bereit war. Sie war eine hochgewachsene Frau, ziemlich kräftig gebaut, mit ergrauenden Haaren, die anscheinend nicht so zu bändigen waren, dass sie länger als zwei Minuten geordnet blieben, und einer Vorliebe für sackartige Kleider, die ihre Eheschließung überdauert hatte; der einzige Unterschied war der, dass die Säcke jetzt gut geschneidert und die Farben fröhlicher als die gedämpften waren, die sie früher bevorzugt hatte. Jenny, in der anderen Sofaecke, war offenkundig ganz erpicht darauf zu hören, was Onkel Nick ihnen zu erzählen hatte, während Antony beinahe so neugierig war wie seine Frau, obwohl er das nie im Leben zugegeben hätte.

»Es ist ein ziemlich merkwürdiger Fall«, sagte Sir Nicholas, entschlossen, sich nicht drängen zu lassen. »Ich habe noch nicht nach Präzedenzfällen geforscht, aber ich bezweifle, dass es welche gibt. Der Kläger ist ein gewisser Daniel Walpole. Er ist Aufsichtsratsvorsitzender von Bramley’s Bank. Seine Frau Emily hat vor ungefähr einem Monat Selbstmord begangen.«

»Das erklärt aber gar nichts«, warf Jenny ein.

»Ich komme darauf, meine Liebe. Die Walpoles hatten zwei Kinder, einen Sohn Michael und eine Tochter Sally.«

»Hatten?«, fragte Antony. Er drehte sich um und griff nach seinem Cognacglas auf dem Kaminsims, richtete den Blick aber sofort wieder auf das Gesicht seines Onkels.

»Ganz richtig. Eines ist tot, der Sohn Michael. Er flog während der Weihnachtsferien mit einem Freund zum Skifahren nach Kanada. Eine Lawine begrub sie beide.«

»Hat Mrs. Walpole sich deshalb umgebracht?«, fragte Jenny, wie immer zu Mitgefühl bereit. Antony warf einen Blick auf sie und sah, dass ihre heitere Gemütsruhe vorübergehend gestört war. »Ich meine, sie tut mir natürlich schrecklich leid«, erläuterte sie, »aber musste Sie nicht auch an die Tochter denken, neben dem Ehemann?«

»Das ist soweit richtig«, gab Sir Nicholas zu. »Aber nicht so ganz einfach, wie es aussieht. Sehr gegen Daniel Walpoles Wünsche begann Mrs. Walpole, die den Tod ihres Sohnes nicht verwunden zu haben schien, an Séancen teilzunehmen. So lernte sie Mrs. Dorothy Selden, meine Klientin, kennen, die, wie ich hörte, in übersinnlichen Kreisen gut bekannt ist.«

»Wenn du diesen zungenbrecherischen Satz klar und deutlich aussprechen kannst, brauchst du mehr Cognac, glaube ich«, sagte Antony. Sein Onkel antwortete nicht, legte aber vielsagend eine Hand auf das Glas. »Du bist immer noch nicht zur Sache gekommen, weiß du«, fügte Maitland hinzu. »Wenn ich hier der Erzähler wäre, würdest du dich schon über den Mangel an Zusammenhang beklagen.«

Vera warf ihm einen belustigten Blick zu.

»Geduld, Antony«, riet sie. »Ich habe das Gefühl, dass gleich alles klar sein wird.«

»Das ist fein«, sagte Antony, bereit, sich von seinem Einwand abbringen zu lassen.

»Während der rund sechs Wochen zwischen dem Tod ihres Sohnes und ihrem eigenen«, sagte Sir Nicholas, von diesem Wortwechsel gänzlich unberührt, »besuchte Mrs. Walpole Mrs. Selden mehrmals. Zuerst nahm sie an einer Gruppensitzung teil, dann an einer privaten. Mrs. Selden ist Berufsmedium. Damit meine ich – falls du Zweifel gehabt haben solltest, Antony – dass jedes Mal Geld den Besitzer wechselte. Bei der letzten Sitzung – ich glaube, das ist der richtige Ausdruck – war auch Maurice Selden, der Ehemann des Mediums, anwesend. Mrs. Selden verfiel in Trance und übermittelte eine Botschaft, die angeblich von Michael Walpole stammte.«

»Aber das war doch wohl das, was Mrs. Walpole wollte«, warf Jenny ein. »Es sei denn, es wurde etwas Schreckliches gesagt, versteht sich.«

»Schrecklich genug«, bestätigte Sir Nicholas. »Er sagte, er sei an einem finsteren, gespenstischen Ort und könne dort nicht hinausfinden. Überall seien Schatten, andere Leute, die er nicht erkennen könne, aber jeder fände einen Führer und könne weiterziehen. Jenseits gäbe es einen Ort des Lichts, zu dem er unbedingt wolle, aber wenn seine Mutter nicht zu ihm käme und sie gemeinsam weitergingen, sei er dazu verdammt, zu bleiben, wo er sich befinde.«

»Ich glaube, diese Geschichte gefällt mir nicht«, sagte Jenny schaudernd. »Das war grausam, so etwas zu sagen.«

»Aber Mrs. Selden behauptet, sie wisse nichts von den Botschaften, die auf diese Weise über sie vermittelt werden.«

»Hätte ihr Mann nicht dazwischenfahren können?«, fragte Vera.

»Das ist das letzte, was er getan hätte. Offenbar ist es überaus gefährlich, ein Medium aus der Trance zu reißen. Aber Mrs. Selden kam von selbst zu sich, kurz bevor Mrs. Walpole das Haus verließ.«

»Und fuhr heim und brachte sich um? Diese Emily Walpole, meine ich«, sagte Jenny.

»Nicht sofort, drei Tage später.«

»Wie hat sie es gemacht?«, fragte Maitland.

»Kohlenmonoxidvergiftung.«

»Das ist etwas ungewöhnlich, oder?«

Es gab keinen Zweifel, dass Sir Nicholas Gefallen an seiner Geschichte fand und nicht in Eile war, sie zu Ende zu bringen.

»Sie schob einen Schlauch über den Auspuff des Wagens – einen Daimler, wie er einem Großbankier zusteht – und leitete das Gas durch das Fenster hinein, das natürlich nur so weit geöffnet war, wie unbedingt nötig. Soviel ich weiß, ist das ein sehr angenehmer Tod«, fügte er hinzu, während sein Blick zwischen Vera und Jenny hin und her wanderte. Aber es war Jenny, die Protest erhob.

»Ich finde das grauenhaft! Es ist mir egal, wie behaglich ein Tod sein mag, denk an den Gemütszustand, in dem sie sich befunden haben muss.«

»Das ist natürlich wahr«, gab Sir Nicholas zu und verstummte wieder, offenbar, um über diesen Punkt nachzudenken.

»Wann ist sie gefunden worden?«, fragte Vera sachlich.

»Erst am nächsten Morgen. Ihr Mann war über Nacht fortgewesen, und der Chauffeur ging hinunter, um ihn mit dem Wagen am Flughafen abzuholen. Deshalb war sie vorher nicht vermisst worden.«

»Wohnt Sally Walpole denn nicht zu Hause?«

»Doch, aber als sie heimkam, nahm sie an, ihre Mutter sei schon zu Bett gegangen und schlafe möglicherweise schon. Sie wusste also gar nicht, dass ihr Zimmer leer und das Bett nicht berührt war.«

»Was geschah dann?«, fragte Vera.

»Alles, was üblich ist, eingeschlossen natürlich eine gerichtliche Voruntersuchung. Die Jury kam zu dem Spruch, sie hätte in gestörtem Geisteszustand Selbstmord verübt. Ein Urteil, wie es für Daniel Walpoles Zwecke nicht besser hätte ausfallen können.«

»Er sucht die Schuld bei deiner Klientin?«

»Allerdings. Er zog Paul Collingwood zu Rate, der ihm, völlig korrekt, mitteilte, dass eine Klage zulässig sei. Alle Vorbereitungen sind getroffen...«

»Augenblick! Von wem bekommst du das Mandat, Onkel Nick?«

»Von Geoffrey Horton. Man kann sich, wie gesagt, darauf verlassen, dass alles richtig gemacht worden ist.«

»Wie geht Collingwood vor?«

»Es gibt verschiedene Wege, die er hätte gehen können, und dass Walpoles Wahl auf Collingwood gefallen ist, bedeutet für mich, dass er eine Privatklage wegen Mordes im Auge hatte. Es war vermutlich Collingwood, der ihn davon überzeugte, dass er hier weniger Erfolgsaussichten hätte. Er hätte Fahrlässigkeit vorwerfen können, mit der Begründung, dass kein vernünftiger Mensch so gehandelt hätte wie meine Klientin. Aber er hat beschlossen, gegen sie wegen Betrugs vorzugehen – das Gesetz von 1951 lässt keinen Zweifel, dass ihm dieser Weg offensteht –, und er fordert hohen Schadenersatz wegen Personenschadens.«

»Na, wenn das kein Knüller ist!«, sagte Antony unvorsichtigerweise. Sein Onkel sah ihn kalt an. »Auf welcher finanziellen Begründung baut er seine Forderung auf?«, fügte Maitland eilig hinzu.

»Darauf, dass er seine Ehefrau verloren hat.« Er tauschte mit Vera ein Lächeln. »Und wenn ich dir das erklären muss, Antony, ist Jenny nicht die Frau, für die ich sie gehalten habe. Auf der prosaischeren Ebene besteht die Tatsache, dass Emily Walpole eine sehr erfolgreiche Geschäftsfrau war, Teilhaberin von Verlaine und Walpole. Ich nehme an, du hast von ihnen gehört, sie sind Antiquitätenhändler.«

»Ja, ich sehe, der Mann hat etwas vorzubringen. Wer aber würde annehmen, dass eine solche Frau sich auf so etwas einlässt, du etwa?«

»Wenn du so alt bist wie ich«, sagte Sir Nicholas und verwandelte sich vor ihren Augen plötzlich zu einem zitternden Achtzigjährigen, »wirst du wissen, dass die menschliche Torheit kein Ende nimmt. Jedenfalls ist die Begründung, die Collingwood zusammengestellt hat, sehr einfallsreich. Er kann Zeugen für Emily Walpoles zunehmende Abhängigkeit von Dorothy Selden beibringen, ebenso für ihren tiefen Kummer angesichts der letzten Botschaft. Ich glaube, es kann keinen Zweifel darüber geben, dass sie bis zu einem bestimmten Grad besessen war, was ihren Sohn betraf, aber das wird man gewiss nicht an die große Glocke hängen. Es könnte Mrs. Seldens Verantwortlichkeit in der Sache mindern.«

»Und wie will dein Mr. Horton die Verteidigung aufbauen?«, fragte Vera und kam damit Antony zuvor. Als zugelassene Strafverteidigerin, die sie vor ihrer Ehe war, faszinierten diese juristischen Diskussionen sie so sehr wie die beiden Männer.

»Auf die einzig mögliche Art: dass keine Irreführung vorlag. Bisher hat niemand behauptet, Dorothy Selden sei nicht echt. Das ist wohl schon ein Grund, dankbar zu sein. Jedenfalls gibt es zusätzlich zu ihrem Ehemann noch den Geschäftsführer der Gesellschaft zur Erforschung übersinnlicher Erscheinungen und eine Frau, die, soviel ich weiß, automatisch schreibt, auch wenn ich zugeben muss, dass mir nicht ganz klar ist, was das bedeutet.«

»Deine Bildung lässt Lücken erkennen, Onkel Nick. Man setzt sich mit einem Bleistift in der Hand hin, von außen ergreift etwas Kontrolle über einen, und ohne es zu wissen, findet man eine Botschaft auf das Papier geschrieben.«

»Das klingt nicht gut«, meinte Jenny. »Unheimlich«, fügte sie hinzu, so, als sei noch irgendeine Erklärung erforderlich. »Aber kehren wir zu deinem Medium zurück. Glaubst du, dass die Verteidigung Erfolg haben wird?«

»Ich glaube, sehr viel wird von den Geschworenen abhängen. Und da trittst du auf den Plan, Antony.«

»Ich wüsste nicht, wie. Es ist schwer, ein Negativum zu beweisen«, fügte er gedehnt hinzu.

»Ganz gewiss. Andererseits liegt die Beweislast wie gesagt beim Kläger.«

»Das erklärt immer noch nicht meine Beteiligung«, gab Antony zurück.

»Horton bringt die Frau morgen Vormittag zu einer Besprechung in die Kanzlei mit«, sagte Sir Nicholas. »Ich fände es nett, wenn du daran teilnehmen würdest.«

Maitland zog die Brauen hoch. Es hätte seinem Onkel ähnlicher gesehen, seine Anwesenheit zu fordern.

»Zeit habe ich auf jeden Fall«, sagte er. »Hat Mallory dir gesagt, dass der Fall Carling außergerichtlich beigelegt worden ist? Aber du kannst deine Stiefel verwetten, dass Geoffrey das Ganze im kleinen Finger hat. Mich brauchst du nicht.«

Sir Nicholas schloss kurz die Augen.

»Ich begreife nicht, warum du es für notwendig hältst, derart gewöhnliche Ausdrücke zu gebrauchen«, sagte er. Seine Heirat hatte vorübergehend besänftigend auf ihn gewirkt, allmählich aber wurde er wieder der alte. »Was ich von dir will, ist ganz einfach: Ich möchte nur deine Meinung über meine Klientin hören.«

»Aber, Onkel Nick! Nein, im Ernst, wenn du dir nicht selbst eine über sie bilden kannst...«

»Sie macht mir Sorgen«, sagte Sir Nicholas, plötzlich von seinem hohen Ross herabsteigend.

»Warum?«

»Ich halte von dem ganzen Unsinn nichts. Aber ich bin mit der Dame zusammengetroffen, habe mit ihr gesprochen und bin durchaus nicht sicher, dass sie selbst an das glaubt, was sie tut.«

»Verstehe. Aber meine Meinung... tja, das wird eben nur meine Meinung sein, weißt du.«

»Sehr viel wert«, meinte Vera knurrig. »Scharfsichtig«, fügte sie hinzu und schaute sich um, als wolle sie ihre Zuhörer herausfordern, misszuverstehen, was sie meinte.

»Na ja, ich helfe natürlich, wenn ich kann.« Maitland sagte das jetzt zu Vera. »Aber wenn Onkel Nick mit all seiner Erfahrung sich nicht schlüssig werden kann, begreife ich nicht, was du von mir erwartest.«

»Es geht nicht darum, dass du etwas tust«, sagte Jenny, »sondern du sollst nur sagen, was du denkst.«

»Tja, wenn ihr beiden euch einig seid, wer bin ich, dass ich widersprechen könnte?«, meinte Antony hilflos. »Gut, Onkel Nick, wann kommt sie? Und wird sie persönliche Bemerkungen über meine Aura machen?«

»Das kann ich dir nicht sagen.« Sir Nicholas wurde wieder zugänglich, nachdem er sich durchgesetzt hatte. »Komm gegen zehn Uhr in mein Arbeitszimmer, dann können wir uns unterhalten, bevor sie eintreffen. Dich interessiert vielleicht, was Horton mir geschickt hat. Schließlich ist das ein ungewöhnlicher Fall.«

 

 

 

Teil II

 

 

»Wenn ich nur wüsste, ob ich das bei ihm für bare Münze nehmen soll«, sagte Antony später zu Jenny, als die beiden anderen gegangen waren, »oder ob das ein diabolischer Plan von Onkel Nick ist, mich in die Sache hineinzuziehen.«

Jenny stellte Gläser und Tassen auf ein Tablett. Er betrachtete sie zufrieden –, den einen festen Punkt in einer Welt, die sich manchmal ganz unerwartet auf den Kopf stellte.

»Gegen deinen Willen kann er das nicht«, sagte sie. »Außerdem spielt das doch keine Rolle, es ist ja nur ein Zivilprozess.«

»Medien«, sagte Antony angewidert. »Spiritisten! Leute, die automatisch schreiben!«

»Da hat es ein Buch gegeben«, meinte Jenny.

»Das Cambridge-Experiment... ich weiß. War auch sehr eindrucksvoll. Aber wenn Onkel Nick sich nicht schlüssig werden kann, ob die Frau ehrlich ist oder nicht, sehe ich nicht, was ich dabei tun soll.«

»Du kennst dich mit Menschen aus«, sagte Jenny schlicht.

»Wenn ich da nur so sicher wäre wie du, mein Schatz.« Er lachte plötzlich. »Na ja, man lernt nie aus«, meinte er. »Was Onkel Nicks Absichten angeht, meine ich. Glaubst du, wir hätten eine liebe kleine Frau für ihn finden sollen, die völlig hirnlos ist, Jenny? Ich weiß nicht, wie du es erträgst, dass noch ein Jurist mehr im Haus ist.«

Aber Jenny lächelte nur. Sie war die Fachsimpelei gewohnt und genoss sie sogar. Und sie wusste, dass Antony Vera so gern mochte wie sie auch. Ihre häufigen Zusammenkünfte hatten nur den einen Haken, dass sie keine der Kontratenor-Platten spielen konnten, die sie beide so mochten, weil sie Vera aus irgendeinem Grund auf die Nerven gingen. Antony vermutete einen Zusammenhang damit, dass sie von Natur aus ein Kontraalt war; Jenny hatte für sich eine komplizierte psychologische Begründung gefunden, die er nicht ganz zu ergründen vermochte. Aber das spielte ja auch gar keine Rolle, es gab Dinge genug, die sie alle miteinander genießen konnten, und Veras Plattensammlung, die sie aus Chedcombe mitgebracht hatte, war entschieden ein Gewinn.

 

 

Mittwoch, 15. März 1972

 

 

Antony Maitland wohnte in Sir Nicholas Hardings Haus am Kempenfeldt Square seit seinem dreizehnten Lebensjahr, und angesichts der Wohnungsknappheit zum Zeitpunkt seiner Heirat war aus den beiden oberen Stockwerken eine eigene, abgeschlossene Wohnung für ihn und Jenny geschaffen worden. Alle hatten erklärt, das sei nur zeitweilig, und es war nur natürlich, dass es Zeiten gab, in denen es für den einen oder anderen verdrießlich wurde, aber im Großen und Ganzen überwog das Praktische alle anderen Überlegungen, und im Lauf der Jahre war das zu einer ständigen Einrichtung geworden. Als Sir Nicholas jedermann (ausgenommen Jenny, wie sie sofort behauptet hätte) damit überrascht hatte, Vera Langhorne, die Strafverteidigerin, zu heiraten, zweifelte Antony an der Schicklichkeit, den Status quo aufrechtzuerhalten, obschon ihm paradoxerweise gleichzeitig zum ersten Mal aufgegangen war, wie sehr er die Vorteile schätzte, eingeschlossen die Gesellschaft seines Onkels. Aber das lag jetzt alles in der Vergangenheit, wenn Zweifel in ihm blieben, behielt er sie für sich; Vera war Teil all ihrer Traditionen geworden, und da sie der einzige Mensch war, der jemals Einfluss auf Sir Nicholas’ Hauspersonal gehabt hatte, trug sie überdies zusätzlich zu jedermanns Behaglichkeit bei.

Der Morgen nach dem Gespräch über Sir Nicholas’ neuen Fall war klar und schön, wenn auch immer noch sehr kalt. Maitland ging zu Fuß zur Kanzlei und fragte sich unterwegs, was sein Onkel wirklich von seiner neuen Mandantin hielt. Er hatte sich eine eigene Vorstellung von Dorothy Selden gebildet, eine hochgewachsene, magere Frau in fließenden, vermutlich schwarzen Gewändern. Aber als er sich vorzustellen versuchte, wie sie mit ihrem Anwalt sprach, musste er zugeben, dass die Phantasie ihn im Stich ließ. Er konnte sich nur denken, dass es das Bizarre an dem Fall war, das Sir Nicholas verlockt hatte. Er selbst hätte das Ganze am liebsten als Unfug abgetan und musste sich ins Gedächtnis rufen, dass die Frau – ob Medium oder nicht – ebenso Anspruch auf juristischen Beistand hatte wie jeder andere Mensch auch.

Sir Nicholas, der ein Taxi genommen hatte, war vor ihm am Inner Temple eingetroffen und schon hinter seinem Schreibtisch verschanzt, auf dessen Platte – vom alten Mr. Mallory vor seiner Ankunft säuberlich geordnet – ein Chaos anzurichten ihm bereits gelungen war. Er nahm die Brille ab, als sein Neffe hereinkam, und warf ihm einen verdrießlichen Blick zu.

»Du hast dich verspätet«, rügte er.

»Um drei Minuten«, sagte sein Neffe gleichmütig. In seinem Alter hatte er nicht die Absicht, sich von der Art seines Onkels aus der Ruhe bringen zu lassen, die er ohnehin auf einen gewissen Widerwillen gegen das Zusammentreffen mit seiner neuen Klientin zurückführte. »Du bereust es, das Mandat angenommen zu haben, nicht?«, sagte er und ging durch das Zimmer, um das Kaminfeuer anzufachen.

»Natürlich nicht! Wie kommst du darauf?« Sir Nicholas mochte das Gefühl haben, dass er zu vehement war, jedenfalls ließ er sich ganz untypischerweise auf eine ergänzende Erklärung ein. »Ich habe dir von der Sache nur erzählt, weil ich dachte, sie interessiert dich, weil sie zu den unwahrscheinlichen Geschichten gehört, die dir Freude machen.«

»Ich dachte, du möchtest, dass ich die liebe Dame begutachte.« Aber erwartete nicht auf Sir Nicholas’ Erwiderung, die vermutlich ätzend ausgefallen wäre. »Sag mir lieber, was Geoffrey von ihr hält«, forderte Antony ihn auf. Geoffrey Horton war Solicitor, einige Jahre jünger als Maitland, vor allem auf Strafsachen spezialisiert. Sie waren seit vielen Jahren befreundet, ohne Präjudiz – wie Horton es selbst ausgedrückt hätte – sich völlig frei zu fühlen, Maitlands Vorgehen zu missbilligen, sobald ihm das angemessen erschien.

»Er glaubt, es wird ihnen schwerfallen, die Behauptungen zu beweisen.«

»Ich weiß nicht«, meinte Maitland nachdenklich. »Also, wie du schon betont hast, wenn sie vorgegeben hat, eine Botschaft zu erhalten, würde das schon reichen, nicht? Oder wenn sie die Botschaft ohne jede Überlegung übermittelt hat, würde es keine Rolle spielen, ob sie richtig oder falsch war.«

»Michael Walpole können wir kaum vorladen«, sagte Sir Nicholas mit Bitterkeit.

»Ich sehe nicht ein, weshalb nicht. Das wäre doch wirklich eine ausgezeichnete Idee«, sagte Antony, um seinen Onkel zu ärgern. »Sie soll im Gerichtssaal in Trance verfallen...«

»Ich bezweifle, dass der Richter das erlauben würde.«

»Das war ja auch gar nicht das, was ich gemeint habe, Onkel Nick, das weißt du genau. Ich meine, was hält Geoffrey von ihr als Mensch?«

»Wenn du damit meinst, was er von unserer Klientin hält, wie soll ich das wissen? Wir haben über das Thema nicht gesprochen, es war für die Sache kaum von Belang.«

»Du bist immerhin neugierig genug gewesen, mich heute herzubitten.«

»Du wirfst mir Unlogik vor«, sagte sein Onkel, und dann, nach einem seiner überraschenden Stimmungswechsel: »Das ist ja wohl auch wahr. Verflixt noch mal, ich bin vorher noch nie mit einem Medium zusammengekommen. Ich halte das, wie gesagt, alles für Unsinn, aber diese Frau... sie hat etwas an sich, und wenn sie den ganzen Unfug selbst glaubt...«

»Ich scheine mich zu erinnern, dass du mich einmal vor Aberglauben gewarnt hast, Onkel Nick.«

»Ich sage nicht, dass wahr ist, was sie behauptet«, erwiderte sein Onkel gereizt, »sondern nur, es besteht die Möglichkeit, dass sie es selbst glaubt. Und weil du schon davon sprichst, erinnerst du dich an den Abend, als wir darüber gesprochen haben?«

»Über den Aberglauben?« Antony zog die Brauen zusammen, weil sein Gedächtnis nicht mitspielen wollte. »Hätte ich nur nicht davon angefangen«, meinte er schließlich. »An dieses Gespräch erinnere ich mich lieber nicht. Ich hatte gehofft, du hättest es inzwischen vergessen.«

»Wenn du ein wenig nachdenkst, wird dir klarwerden, dass nicht viel dafür spricht«, erklärte Sir Nicholas ätzend. »Es war, wenn ich mich recht entsinne, die einzige Gelegenheit, bei der du mir von deinen Kriegserlebnissen erzählt hast. Ich wollte sagen, offen, aber das wäre nicht ganz zutreffend. Selbst da warst du behutsam.«

Das trieb Maitland zum Fenster, wo er kurze Zeit hinausschaute.

»Was hat uns bloß auf dieses Thema gebracht, zum Henker?«, sagte er schließlich und drehte sich um.

»Eine Bemerkung von dir«, betonte Sir Nicholas.

»Jedenfalls hat das alles nichts mit Spiritismus zu tun.«

»Überhaupt nicht«, bestätigte sein Onkel. »Tut mir leid, Antony, ich wollte deine Erinnerungen nicht wachrütteln. Ich hatte auch gar keine Ahnung, dass sie so knapp unter der Oberfläche liegen.« Das war eine bewusste Unwahrheit, und er verzichtete darauf, hinzuzufügen, dass das Thema der Empfindlichkeit seines Neffen auch bei ihm stets gegenwärtig war. Es gibt Narben, die nie verheilen, und Sir Nicholas hatte seinen Anteil davon, aber manchmal wünschte er sich, Antony möge seine Selbstbeherrschung aufgeben und offen über die Dinge sprechen, die ihn bedrückten.

 

Geoffrey Horton und seine Mandantin erschienen mit lobenswerter Pünktlichkeit um halb elf. Horton war ein Mann von normalerweise fröhlicher Gemütsart, der seinen Beruf nichtsdestoweniger sehr ernst nahm. Er war breitschultrig und mittelgroß, seine Haare hatten mehr als nur einen rötlichen Anflug und mehr als nur eine Neigung, sich zu kräuseln. Was Mrs. Selden anging, so warf Maitland einen Blick auf sie, und das Wesen seiner Einbildung verschwand für immer. Sie war ein kleiner Mops mit kurzen, grauen, gelockten Haaren und einem runden Gesicht, verziert mit einer runden Nickelbrille. Ihre Kleidung war unauffällig und zeugte von gutem Geschmack, eine Matrone vom Stadtrand zu Besuch in der Großstadt. Als Horton stehenblieb, um die Tür zu schließen, trat sie selbstsicher vor.

»Sir Nicholas«, sagte sie. »Mr. Horton konnte mir nicht sagen, weshalb Sie mich noch einmal sprechen wollen.«

»Ich möchte, dass Sie mir noch einige Fragen beantworten, Mrs. Selden«, sagte Sir Nicholas bedächtig. Dann wurde er genauer. »Ich möchte das Ganze noch einmal mit Ihnen durchgehen. Darf ich Sie erst einmal mit meinem Neffen Antony Maitland bekanntmachen? Mrs. Dorothy Selden, Antony.«

»Ist er auch Strafverteidiger?« Sie sah Antony an, der die Antwort selbst übernahm.

»Ja, Mrs. Selden, das bin ich, und zwar in der Kanzlei meines Onkels.«

»Manchmal ist es empfehlenswert, eine zweite Meinung zu hören«, erklärte Sir Nicholas gewandt, »deshalb habe ich ihn gebeten, anwesend zu sein. Sie müssen verstehen, Mrs. Selden, dass das ein komplizierter Fall ist.«

»Ja, das ist mir klar.« Ihr Blick war immer noch auf Antony gerichtet. Sie sah einen hochgewachsenen Mann, so groß wie sein Onkel, aber viel weniger kräftig gebaut, mit dunklen Haaren, grauen Augen, umgeben von Lachfältchen, und sensiblem Mund. »Es fällt einem nicht immer leicht«, meinte sie.

»Im Gegenteil, ich habe meinen Beruf sehr gern«, erwiderte Antony ein wenig verblüfft.

»Das mag sein, aber manchmal nehmen wir dergleichen zu ernst. Man kann nicht alle Sorgen der Welt auf sich nehmen, wissen Sie. Und es gibt Dinge... soll ich sagen, die einen verfolgen, Mr. Maitland? Ich glaube nicht, dass das zu krass ausgedrückt ist.«

Zusätzlich zu seinem Gespräch mit dem Onkel ging das zu sehr an die Nieren. Erst später wurde ihm klar, dass Sir Nicholas’ Bemerkungen Dinge an die Oberfläche gespült hatten, die er sonst unterdrückte; wenn diese Frau telepathische Fähigkeiten besaß, erklärte das viel.

Mrs. Selden hatte einen verträumten Ausdruck in den Augen.

»Ein hochgewachsener Mann, hellblond«, sagte sie. »Nein, nicht Sir Nicholas, dieser Mann ist tot. Aber ich glaube, Sie hatten Angst vor ihm, und das nicht ohne Grund.«

»Lassen Sie das!« Er gab sich Mühe, sie nicht anzufauchen, war aber nicht sehr erfolgreich.

»Aber es ist wichtig. Ich glaube, dass von Ihnen allen hier...«, ihr Blick ging kurz zu Sir Nicholas und weiter zu Geoffrey Horton, »...Sie derjenige sind, der mich am ehesten verstehen wird. Aber ich sollte Sie warnen, beschäftigen Sie sich nicht mit meinen Angelegenheiten, sie können Ihnen nur Misshelligkeiten bringen. Es ist noch ein hochgewachsener Mann beteiligt, diesmal ein älterer, fast kahlköpfig. Was haben Sie getan, dass er Sie hasst, Mr. Maitland?«

»Ich weiß nicht, wovon Sie reden«, sagte Antony, und Sir Nicholas hielt es für angebracht, einzugreifen.

»Soll das alles heißen, Sie möchten lieber nicht, dass ich mich mit meinem Neffen berate?«, fragte er. »Es geht nicht darum, ihn konkret zu beteiligen, aber ich möchte gern seine Meinung hören.«

»Meine Warnung war eine persönliche, Sir Nicholas. Durch seine Mitwirkung kann mir kein Schaden entstehen, aber für ihn kann ich Schwierigkeiten voraussehen.«

»Antony?«, sagte Sir Nicholas.

»Ich glaube, Mrs. Selden übertreibt vielleicht ein bisschen«, erklärte Antony, der inzwischen Zeit gehabt hatte, sich ein wenig zu erholen. »Ich möchte ganz gewiss gern hören, was sie uns über die Angelegenheit von Mrs. Walpoles Selbstmord zu sagen hat. Danach betrifft mich, wie du schon gesagt hast, die Sache nicht mehr.«

»Wie Sie wollen«, sagte sie ruhig und trat vor, um sich in dem Sessel niederzulassen, auf den er wies.

Auch die drei Männer setzten sich, Geoffrey Horton seine unvermeidliche, prall gefüllte Aktentasche neben sich. Diese Angewohnheit von ihm verwunderte Antony, weil der Solicitor stets alle Fakten, die er brauchte, im kleinen Finger zu haben schien und deshalb keinen Grund hatte, die Akten zu Rate zu ziehen, die ohne Zweifel in der Tasche steckten. Außerdem hatte er die Gewohnheit, sie von Zeit zu Zeit zu tätscheln, als sitze ein Hund neben ihm, aber vielleicht tat er das nur, um sich zu vergewissern, dass sie noch da war.

Sir Nicholas hatte jedoch keine Zeit, herumzusitzen, während sein Neffe Tagträumen nachhing.

»Ich möchte, dass Sie auf den Beginn dieser – dieser Erscheinungen zurückkommen«, sagte er zu seiner Mandantin. »Bis jetzt weiß ich über die Hintergründe sehr wenig.«

Sie sah in dem großen Ledersessel ganz verloren aus, aber auf ihre Selbstsicherheit hatte das keine Wirkung.

»Mr. Horton hat mich schon darauf hingewiesen, dass ich manche Ihrer Fragen vielleicht nicht verstehe, Sir Nicholas«, sagte sie. »Ich gebe zu, es ist schwer einzusehen, wie meine erste Berührung mit der Geisterwelt diesen Fall konkret betreffen kann.«

»Weil nach dem Vorgehen, das Mr. Walpoles Berater für angemessen halten, Ihre Glaubwürdigkeit stark zur Debatte steht, Mrs. Selden.« Wie sowohl Antony als auch Geoffrey begriffen, wollte er also wissen, wie seine Mandantin sich im Zeugenstand halten würde.

»Ich bin früher schon überprüft worden, wissen Sie«, erwiderte sie gefasst. »Es ist Ihnen natürlich klar, dass ich gegen das

Gesetz verstoßen habe, als ich meinen Beruf zum ersten Mal ausübte.«

Sir Nicholas lächelte sie an.

»Wenn es vor 1951 war, haben Sie sich der Zuwiderhandlung gegen das Hexereigesetz von 1753 schuldig gemacht«, bestätigte er. »Hatten Sie jemals Schwierigkeiten?«

»Nein, nie. Ich war damals natürlich nicht sehr bekannt. Aber was ich erklären wollte: Seit dem Gesetz gegen betrügerische Medien hat das gesamte Korps der Spiritisten mehr oder weniger selbst für Ordnung in den eigenen Reihen gesorgt. Die Gesellschaft zur Erforschung übersinnlicher Erscheinungen hat viele Versuche angestellt, und ich bin sicher, dass der Geschäftsführer, Mr. Angus Fyleman...«

»Ja, Mrs. Selden«, unterbrach Geoffrey Horton. »Ich habe Mr. Fylemans Stellungnahme, und Sir Nicholas kennt sie.«

»Dann begreife ich wirklich nicht...«

»Lassen Sie mir den Willen, Mrs. Selden«, sagte Sir Nicholas mit einem Seitenblick auf seinen Neffen, den Antony mühelos als eine Aufforderung verstand, ihn zu seiner Geduld mit dieser schwierigen Frau zu beglückwünschen.

»Nun gut.« Sie setzte sich im Sessel weit zurück, sodass ihre Zehen kaum den Boden berührten. Antony überlegte, ob man ihr ein Rückenkissen anbieten sollte, aber soviel er wusste, gab es in der ganzen Kanzlei keines, und außerdem wäre es schlecht gewesen, sie zu unterbrechen, wenn sie schon zum Reden bereit war. »Im Rückblick«, sagte Mrs. Selden, »ist mir klargeworden, dass meine Verbindung mit der Geisterwelt angefangen haben muss, lange bevor ich es wirklich gemerkt habe. Manchmal machte ich ganz beiläufig eine Bemerkung, und die Leute fragten scharf, woher ich das denn wissen könne. Erst als ich achtzehn oder neunzehn war, begann ich mich für Spiritismus zu interessieren und Bücher über das Thema zu lesen. Selbst dann hätte ich vielleicht nie an einer Séance teilgenommen, wenn ich nicht von einer Freundin dazu überredet worden wäre. Soweit ich mich entsinne, war ich damals zwanzig.«

»Hatten Sie einen besonderen Grund, sich für Spiritismus zu interessieren? Waren beispielsweise in Ihrer Familie Anzeichen für übersinnliche Kräfte aufgetreten?«

»Nein, wir waren ganz gewöhnliche Menschen. Mein Vater war Lebensmittelhändler, und meine Mutter hatte mit einer vierköpfigen Familie genug zu tun, zudem sie auch im Laden aushalf, wenn sie gebraucht wurde. Ich sollte vielleicht hinzufügen, dass ich jetzt vierundfünfzig bin. Das heißt, dass ich 1918 geboren wurde«, fügte sie hinzu, so, als könnte ihnen die Hochrechnung zu schwierig sein. »Die erst Séance, an der ich teilnahm, fand also 1938 statt.«

»Und Sie waren von dem, was Sie gesehen und gehört haben, auf der Stelle überzeugt?«