TANZ DER KRÄHEN - Sara Woods - E-Book

TANZ DER KRÄHEN E-Book

Sara Woods

0,0
5,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Der englische Rechtsanwalt Antony Maitland reist in die USA, um Ferien zu machen. Nebenbei will er den betagten Erben eines riesigen Vermögens von seinem Glück in Kenntnis setzen.

Doch der Alte stirbt in Maitlands Beisein, und auch dessen Tochter kann das Erbe nicht antreten: Sie wird kurz danach im Kofferraum eines Autos tot aufgefunden...

Sara Woods (eigtl. Lana Hutton Bowen-Judd, * 7. März 1922 Bradford, Yorkshire, England; † 5. November 1985 Toronto, Ontario, Kanada) war eine britische Kriminal-Schriftstellerin.

Der Roman Tanz der Krähen erschien erstmals im Jahr 1971; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte im gleichen Jahr.

Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2020

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



 

 

 

 

SARA WOODS

 

 

Tanz der Krähen

 

Roman

 

 

 

 

Apex Crime, Band 123

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

 

TANZ DER KRÄHEN 

Erstes Kapitel 

Zweites Kapitel 

Drittes Kapitel 

Viertes Kapitel 

Fünftes Kapitel 

Sechstes Kapitel 

Siebtes Kapitel 

Achtes Kapitel 

Neuntes Kapitel 

Zehntes Kapitel 

Elftes Kapitel 

Zwölftes Kapitel 

Dreizehntes Kapitel 

Vierzehntes Kapitel 

Fünfzehntes Kapitel 

Sechzehntes Kapitel 

Epilog 

 

 

Das Buch

 

Der englische Rechtsanwalt Antony Maitland reist in die USA, um Ferien zu machen. Nebenbei will er den betagten Erben eines riesigen Vermögens von seinem Glück in Kenntnis setzen.

Doch der Alte stirbt in Maitlands Beisein, und auch dessen Tochter kann das Erbe nicht antreten: Sie wird kurz danach im Kofferraum eines Autos tot aufgefunden...

 

Sara Woods (eigtl. Lana Hutton Bowen-Judd, * 7. März 1922 Bradford, Yorkshire, England; † 5. November 1985 Toronto, Ontario, Kanada) war eine britische Kriminal-Schriftstellerin.

Der Roman Tanz der Krähen erschien erstmals im Jahr 1971; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte im gleichen Jahr.  

Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.

   TANZ DER KRÄHEN

 

 

 

 

 

 

 

 

  Erstes Kapitel

 

 

»Du hast gut lachen«, sagte Geoffrey Horton. Es klang steif, aber die Stimme verriet auch einen Unterton von Belustigung, den er nicht ganz verbergen konnte.

»Mein lieber Geoffrey, was bleibt einem anderes übrig?« Antony Maitland hatte auf der Schreibtischkante gesessen, stand aber nun auf und wanderte kurz durch das Büro, bevor er wieder zurückkam und sagte: »Genau wie in einem viktorianischen Melodrama - Die Vergeltung oder Der bestrafte Übeltäter.

»Ich meine es aber völlig ernst.«

»Ich weiß. Das ist ja das Herrliche. Da haben wir diesen alten Herrn...«

»Ein alter und hochgeschätzter Klient«, meinte Geoffrey streng.

»Ja, das sagtest du schon. Ein alter und hochgeschätzter Klient von dir stirbt mit dreiundneunzig Jahren, und du erklärst, er sei ermordet worden. Oh, meine Bürger, welch ein Fall war das. Ich habe dich immer für einen der normalsten Menschen meiner Bekanntschaft gehalten.«

»Ich gebe zu«, sagte Horton, und jetzt schwang in seiner Stimme mehr als nur eine Spur Sarkasmus mit, »dass die ausgefallenen Ideen meistens von dir kommen. In diesem Fall aber...«

»Er ist eine Treppe hinuntergestürzt und hat sich das Hüftgelenk gebrochen. Bei alten Leuten kommt so etwas häufig vor. Mitsamt den - den nachfolgenden Komplikationen.«

»Das weiß ich. Der Arzt hatte keinerlei Bedenken, und die Polizei ist überhaupt nicht zugezogen worden.«

»Ja, was glaubst du dann eigentlich, was ich tun könnte?«

»In dieser Beziehung nichts.«

Maitland schlenderte ans Fenster, schaute einen Augenblick auf die hastenden Passanten und den fast stehenden Verkehr hinunter und kam wieder an den Schreibtisch zurück.

»Wenn ich mich recht erinnere, hast du doch davon gesprochen, dass ich dir in einer kleinen Angelegenheit behilflich sein könnte.«

»Stimmt. So etwas von Ungeduld ist mir noch nicht vorgekommen.«

»Mit dem Tod des alten Herrn hat es also nichts zu tun?«

»Nein. Davon habe ich dir nur erzählt, um dich ins Bild zu setzen.«

»Aha. Wer hat ihn denn eigentlich, deiner Theorie nach, hinuntergestoßen? Sein Erbe? Hatte der alte Herr überhaupt etwas zu hinterlassen, wofür es sich lohnte?«

»Sein Privatvermögen beläuft sich nach Zahlung der Erbschaftssteuer auf etwa eine halbe Million Pfund Sterling.« Maitland pfiff leise durch die Zähne und setzte sich wieder auf die Schreibtischkante. »Was die Frage angeht, wer für seinen Tod verantwortlich war - nun eine ganze Reihe von Personen rechnete damit, bedacht zu werden, aber feststeht, dass der eigentliche Erbe nichts damit zu tun hatte.«

»Na bitte! Wenigstens genießt der Mörder nicht die Früchte seiner Tat.«

»Wenn du mich vielleicht endlich erzählen lassen würdest«, sagte Horton verstimmt.

»Also gut. Du musst aber zugeben, Geoffrey, es kommt nicht oft vor, dass du mir gegenüber im Nachteil bist. Du darfst es mir nicht übelnehmen, dass ich die Gelegenheit ausnutze.«

»Ich nehme dir gar nichts übel, wenn du endlich zuhörst.«

»Sprich«, sagte Maitland und faltete die Hände um das Knie. Er war heute entspannter als sonst, aber seltsamerweise hatten seine Bewegungen gleichzeitig etwas Ruheloses an sich. Er lächelte Horton aufmunternd zu und setzte eine Miene konzentrierter Aufmerksamkeit auf. Geoffrey warf ihm einen argwöhnischen Blick zu.

»Du hast von Edwin Daventry gehört«, begann er.

»Der Name kommt mir irgendwie bekannt vor.«

»Sollte er auch. Früher war Daventry-Erdöl ein Begriff, aber vor fünfzehn Jahren verkaufte Daventry seine Anteile.«

»Und das ist der alte Herr, der angeblich ermordet worden ist?«

»Lass das jetzt mal«, sagte Geoffrey gereizt.

»Schon gut«, meinte Maitland nachsichtig. »Es war ja nicht meine Idee.« Horton warf ihm einen Blick zu, den man als unfreundlich hätte bezeichnen können, aber offenkundig beschloss er, die Bemerkung nicht zu beachten.

»Es handelt sich um eine alte Familie«, sagte er. »Sie hat in Westhampton einen Besitz. Doch worauf ich hinauswill, ist folgendes: Das Vermögen hat ausschließlich er erworben, so dass er sich wohl berechtigt fühlte, es zu verteilen, wie es ihm beliebt.«

»Er hat eines von diesen ausgefallenen Testamenten gemacht, und du sitzt jetzt in der Tinte«, erklärte Antony, dem plötzlich alles klar war. Er war ein hochgewachsener Mann mit dunklem Haar, legerer Art und einem humorvollen Ausdruck um die Augen; und er genoss die Situation, die er als Umkehrung der gewohnten Ordnung der Dinge begriff, aber eine Spur von Vorsicht war nicht zu übersehen.

»So ungefähr«, gab Geoffrey zu. »Edwin, selbst kinderlos, hatte zwei Brüder und eine Schwester, die alle jünger als er waren. Der Zweitälteste, Charles, ging nach irgendeinem Skandal mit zwanzig Jahren nach Amerika, und bis vor drei Monaten hatte man nichts mehr von ihm gehört... jedenfalls keines der überlebenden Familienmitglieder. Edwin scheint zu Anfang Verbindung mit ihm gehabt zu haben. Die anderen beiden Geschwister von Edwin sind tot: Robert, der zwei Söhne, Martin und Andrew, und eine Anzahl von Enkeln hinterließ; und Margaret, deren Tochter vor ihr starb, aber zwei Kinder hatte, Miles und Cecily, also Margarets Enkel.«

»Muss ich mir das alles merken?«

»Hm, nur die vier Personen, die ich erwähnt habe: Martin und Andrew Daventry sowie Miles und Cecily Landon. Sie alle hofften zu erben.«

»Und die anderen Enkel? Die von Robert, meine ich.«

»Martin hat erst später geheiratet, und seine Kinder sind noch klein. Andrew ist Junggeselle.«

»Das zeichne ich mir lieber auf.« Er zog einen alten Briefumschlag aus der Tasche und kritzelte einige Zeit fleißig darauf herum, drehte sich, damit er ihn auf den Schreibtisch legen konnte, und murmelte dabei vor sich hin. »So!«, sagte er zufrieden, als er fertig war. »Ich glaube, das habe ich richtig erfasst.«

»Ziemlich genau«, sagte Horton beinahe widerstrebend, erwähnte aber keine Korrektur, die ihm nötig erschienen wäre. »Eine seltsame Situation«, fügte er in herausforderndem Ton hinzu.

»Du wirst mir wohl erzählen, dass Charles entgegen allen Erwartungen der anderen das Ganze geerbt hat. Deinen Worten habe ich jedenfalls entnommen, dass er noch am Leben ist.«

»Ja.«

»Wann starb Edwin Daventry?«

»Am fünfzehnten April.«

»Und Charles wurde entdeckt, von dir oder deinem Beauftragten in den Staaten...«

»Vor drei Monaten. Es war im Grunde gar nicht schwer«, berichtete Geoffrey. »Du gehst mir aber zu schnell vor. Du hast mich nicht gefragt, warum.«

»Warum hat Edwin sein Vermögen Charles hinterlassen?«, erkundigte sich Maitland gehorsam.

»Es war eigentlich sehr merkwürdig.« Wieder schien Horton auf Widerspruch zu warten. »Er hatte ihn an die siebzig Jahre nicht gesehen und verstand sich offenbar mit den anderen Familienmitgliedern recht gut.«

»Dass das merkwürdig ist, räume ich ein. Mach es nicht so spannend, Geoffrey. Komm zum Höhepunkt.«

»Es gibt keinen. Das Haus hätte Charles sowieso geerbt, gleichfalls das kleine Einkommen, das damit verbunden ist; nicht genug, um das Haus instand zu halten, so wie die Dinge heutzutage liegen. Das Bargeld ist das Entscheidende, und Martin und die anderen glaubten natürlich, dass sie es bekommen würden. Edwin scheint aber Gewissensbisse gehabt zu haben wegen der schlechten Behandlung seines Bruders vor vielen Jahren, und seine Entscheidung stellte eine Art Wiedergutmachung dar. Das Geld fällt an Charles oder seine gesetzlichen Erben, vorausgesetzt, dass der Anspruch binnen sechs Monaten nach Edwins Tod geltend gemacht wird. Das heißt also, bis zum fünfzehnten Oktober. Um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, sind Martin Daventry und Miles Landon als Testamentsvollstrecker bestimmt worden.«

»Nicht gerade taktvoll. Immerhin, wie du schon gesagt hast, eine seltsame Situation«, erklärte Antony höflich. »Ich frage mich, wer das Geld bekommt, wenn kein Anspruch geltend gemacht wird.«

»Die vier Personen, die ich schon erwähnt habe, zu beinahe gleichen Teilen.« Geoffrey machte eine Pause und fügte dann eindrucksvoll hinzu: »Die Frist läuft in genau sechs Wochen ab.«

»Ich begreife langsam...«

»Das habe ich mir gedacht.«

»Trotzdem... du sagst, du hast ihn gefunden. Wo wohnt er?«

»In einem Ort namens Amity, im Bundesstaat Virginia. Eigentlich ist das eher eine Beschreibung, wie man dort hingelangt, als eine Adresse.« Horton blickte auf einen Brief vor sich, der ziemlich lang zu sein schien. »Er wohnt in einer Art Hütte in den Bergen, etwa zwei Meilen vor der Stadt. Briefe beantwortet er nicht. Ich möchte wetten, dass er sie gar nicht bekommt. Deshalb dachte ich, weil du sowieso in die Staaten fährst, könntest du die Gelegenheit benutzen und ihn aufsuchen.«

»Deine Beauftragten...«

»Schultz and Ridley.«

»Wären das nicht die richtigen Leute dafür?«

»Es ist so«, sagte Geoffrey. Dies hätte der Auftakt zu einer Entschuldigung sein können, aber er gab sich große Mühe, seiner Stimme nicht anmerken zu lassen, dass er sich dessen bewusst war. »Schultz ist selbst nach Amity gefahren, hat festgestellt, wo der alte Knabe lebt, und ist hinaufgegangen, um ihn zu besuchen. Es gibt keine Straße dort hinauf, nur einen sehr schmalen, ziemlich steilen Weg.«

»Enormes Pflichtgefühl.«

»Das hat ihm nichts ausgemacht, glaube ich. Gehört alles zur Arbeit.« Er machte eine Pause und warf Maitland einen forschenden Blick zu, als überlege er sich, wie er seine Erklärung am besten formulieren sollte.

»Der alte Knabe war nicht da, als er ankam«, sagte Antony, der ihm behilflich sein wollte.

»Nichts dergleichen. Er war da. Schultz schreibt, er trage einen ellenlangen Bart«, antwortete Geoffrey.

»Was ging dann schief?«

»Er wollte nicht zuhören.«

»Aber...«

»Schuld daran war wohl, dass von Geld gesprochen wurde. Er schien zu glauben, Schultz habe etwas mit der Sozialversicherung zu tun, und sagte, er lasse sich nicht wie ein Sträfling nummerieren, nicht in seinem Alter. Schließlich griff er nach einer alten Flinte.« Ein Lächeln erhellte für einen Augenblick Geoffreys ernstes Gesicht. »Schultz sagte, er habe keine Ahnung, ob sie geladen gewesen sei, aber er wollte nicht bleiben, um sich zu vergewissern.«

»Es ist zweifellos vergnüglich, über die Möglichkeit nachzudenken, dass sie funktioniert, wenn ich eintreffe«, meinte Maitland nachdenklich.

»Dann fährst du also hin.« Hortons Schlussfolgerung war vielleicht ein wenig voreilig.

»Ich habe nicht gesagt...«

»Warum nicht? Du willst doch im Land herumfahren. Die Landschaft in Virginia ist in der ganzen Welt für ihre Schönheit berühmt«, sagte Horton, der von dem Thema, über das er so schamlos improvisierte, keine Ahnung hatte.

»Alles schön und gut. Wir sind mit Freunden unterwegs, es hängt von ihnen ab...«

»Ich wusste nicht, dass du Freunde in Amerika hast.« Geoffrey schien für den Augenblick seine Probleme vergessen zu haben.

»Sam Henderson. Seine Frau kenne ich nicht. Und ihn habe ich fast zwanzig Jahre nicht mehr gesehen.«

»Ich dachte, du hältst nicht besonders viel von solchen Treffen«, meinte Horton und begriff sofort, dass er etwas Falsches gesagt hatte, als er sah, wie sich Maitlands Miene verfinsterte.

»Sam gehört nicht zu den Leuten, die dauernd sagen: Erinnerst du dich noch?«, erklärte Antony kurz. Dann brach sein Sinn für das Lächerliche durch, er entspannte sich, und seine Augen funkelten belustigt. »Außer, wenn es um Dinge wie eine ganz bestimmte Nacht im russischen Sektor geht.«

»Ich wusste gar nicht, dass du Russisch sprichst.«

»Ich kann es auch nicht. Es hätte sowieso nichts genutzt, weil meine Stimmbänder nach dem dritten Wodka gelähmt waren.«

»Und was passierte dann?«

»Ich weiß es nicht mehr und habe auch nur Sams Wort dafür, dass er sich noch erinnern kann. Lassen wir das. Dein Einfall...«

»Du machst es also?«

»Wenn der alte Mann schon neunzig ist, kann es für ihn so oder so nicht mehr von großer Bedeutung sein.«

»Nein, aber er hat eine Tochter. Schultz konnte das im Ort erfahren, aber sie ist vor Jahren von Zuhause weggegangen, und niemand weiß, wo sie sich jetzt aufhält.«

»Ehelich geboren?«

»Oh, ja, alles in bester Ordnung. Ich habe irgendwo Kopien der Dokumente. Charles Daventry, ledig, Alter einundvierzig Jahre, heiratete 1921 Emily Fairhurst, ledig, Alter vierundzwanzig Jahre. Die Tochter, Miranda, ist zwei Jahre später zur Welt gekommen.«

»Und was wurde aus der Frau?«

»Sie starb bei der Geburt.«

»In dieser - dieser Hütte in den Bergen?«

»Nein, Charles zog sich erst danach aus der Gesellschaft zurück. Bevor sie starb, lebte er im Ort und arbeitete auf einer der benachbarten Farmen.«

»Und das Kind?«

»Nahm er mit in die Wildnis. Nach allem, was Schultz mir berichtet hat, ist es ein Wunder, dass sie überlebte.«

»Bist du ganz sicher?«

»Ich weiß, dass sie in Amity zur Schule ging, als sie alt genug war, jeden Tag die vier Meilen zurückzulegen. Und irgendwann während des Krieges - niemand kann sich mehr genau erinnern - ging sie in den Laden, kaufte sich ein neues Kleid, einen Mantel und ein Paar hochhackige Schuhe, erklärte, dass sie weggehe, marschierte hinaus und bestieg den Bus. Man sah sie nie wieder.«

»Hat sie keine Briefe geschrieben?«

»Ein paar Jahre lang schon, und man bewahrte sie für den alten Mann auf, bis er gelegentlich wieder einmal in den Ort kam. Danach hörte man nichts mehr von ihr. Aber sie wäre erst siebenundvierzig; ich nehme also an, dass sie noch lebt.«

»Wovon hat Charles eigentlich die ganzen Jahre hindurch gelebt?«

»Es geht - natürlich - das Gerücht um, dass er unter dem Boden seiner Hütte einen Schatz vergraben hat. Anscheinend gibt er aber sehr wenig Geld aus - er zieht ein bisschen Gemüse, fängt ein paar Fische. Kann sein, dass er von dem lebt, was er während seines Berufslebens erspart hat.«

»Hm. Die Sache mit der Tochter ändert natürlich alles. Aber trotzdem, weshalb sollte er mich anhören?«

»Du wirkst nicht wie ein amerikanischer Beamter«, erklärte Geoffrey.

»Da er die Neigung zu haben scheint, zuerst zu schießen und erst dann Fragen zu stellen...«

»Ich glaube nicht, dass er es so ernst gemeint hat«, sagte Geoffrey tröstend. »Ganz ehrlich, Antony, ich wäre dir sehr dankbar, wenn du das übernehmen könntest.«

»Wenn ich höre, welche Pläne Sam hat - wenn es sich einrichten lässt.«

»Ja, versteht sich.« Er schien mit diesem Vorbehalt einverstanden zu sein, aber Maitlands Neugier war noch nicht befriedigt.

»Was sagen die Testamentsvollstrecker dazu?«

»Sie haben sich durchweg sehr manierlich benommen. Wir haben freie Hand, den Erben zu finden.«

»Das ist alles ganz schön, aber wäre es nicht naheliegender, wenn einer von ihnen...«

»Antony, ich habe dir schon gesagt, ich glaube nicht, dass Edwin Daventry eines natürlichen Todes gestorben ist.«

»Wen verdächtigst du?«

»Alle.«

»Gemeinsam?«

»Nein, natürlich nicht. Einer von ihnen ist es gewesen, ich weiß nur nicht, wer.«

»Aber du bevorzugst einen der Testamentsvollstrecker. Na gut, ich will dich nicht drängen. Einer von ihnen hat ihn die Treppe hinuntergestoßen, meinst du?«

»Oder hat einen Stolperdraht gespannt und hinterher wieder verschwinden lassen. Sie waren beide - sie waren alle im Haus.«

»Muss er nicht etwas gemerkt haben?«

»Das glaube ich nicht. Er war zwar bei Bewusstsein, aber verwirrt.«

»Trotzdem ergibt das keinen Sinn.«

»Edwin war gesund und hatte Pferdekräfte. Hundert wäre er bestimmt geworden.«

»Aber wenn sie gewartet hätten, hätte sich das Problem Charles bis zu seinem Tod wahrscheinlich von selbst erledigt. Außer sie wussten...«

»Von der Tochter wussten sie nichts. Vom Testament hatten sie keine Ahnung. Ich glaube nicht, dass Charles bei ihren Überlegungen überhaupt eine Rolle spielte.«

»Dann brauchte einer von ihnen dringend Geld. Deiner Theorie zufolge.«

»Ich weiß es nicht. Um ganz ehrlich zu sein, ich lasse Nachforschungen anstellen, um das herauszubekommen.« Zum ersten Mal wirkte Geoffrey ein wenig verlegen.

»Tatsächlich? Ich wünsche dir viel Glück, versteht sich, aber ich glaube nicht... Hör mal, Geoffrey, ich glaube nicht, dass da wirklich etwas dahintersteckt.«

Horton zeigte eine störrische Miene, aber er schien nicht zum Widerspruch aufgelegt. Er zog ein Blatt Papier aus der Schublade und begann systematisch die Punkte zu notieren, die sein Abgesandter im Gedächtnis behalten sollte. Antony beobachtete ihn, noch immer belustigt, noch immer ganz entspannt.

  Zweites Kapitel

 

 

Er erwähnte die Angelegenheit am Abend seinem Onkel gegenüber, ohne jedoch den wunden Punkt von Geoffreys Argwohn zu berühren. Sir Nicholas Harding, der Chef der Kanzlei war, der Antony als Barrister angehörte, betrachtete die Sache kurz von allen Seiten.           

»Ich setze großes Vertrauen in Hortons gesunden Menschenverstand«, meinte er schließlich.

»Was, um alles in der Welt, hat das damit zu tun?«, fragte Antony überrascht.

»Mich beschäftigt die Frage, ob es dir während deines Aufenthalts in den Staaten gelingen kann, dich aus allen Schwierigkeiten herauszuhalten«, erläuterte Sir Nicholas im liebenswürdigsten Tonfall.

»Aber Onkel Nick, wir machen doch Urlaub.«

»Mit einem ehemaligen Kollegen«, betonte Sir Nicholas. »Du weißt, was ich von deinen Kriegsbekanntschaften halte.«

»Das hat nichts damit zu tun.«

»Nein? Es gibt Leute, die zu Unfällen neigen - zu sogenannten Unfällen«, sagte Sir Nicholas mit einem kleinen Schaudern, um zu zeigen, dass er den Ausdruck geschmacklos fand, »und andere, die Ärger und Unannehmlichkeiten der verschiedensten Art geradezu magisch anziehen. Ich habe das Missgeschick zu ertragen, dass du in die zweite Kategorie fällst, ein Umstand, den ich stets auf deine Ausbildung in der Kriegszeit zurückgeführt habe.«

Vielleicht war es besser, auf diesen Hieb nicht einzugehen.

»Es handelt sich um einen kleinen, harmlosen Auftrag«, sagte Antony, und es gelang ihm ganz gut, seinen Ärger zu unterdrücken. »Wenn dadurch Sams Pläne nicht gestört werden, sehe ich nicht ein, weshalb es schaden sollte, sich um die Sache zu kümmern.«

»Das ist genau das, was ich zu Anfang zu dir gesagt habe, mein lieber Junge: Ich setze großes Vertrauen in Hortons gesunden Menschenverstand. Ich kann einfach nicht glauben, dass Horton dich bewusst in fragwürdige Manöver verwickeln würde«, erklärte Sir Nicholas so milde, als habe er nie im Leben daran gedacht, seinen Neffen zu ermahnen.

Da sieht man, was du für eine Ahnung hast, dachte Maitland. Aber er sprach es nicht aus. Er selbst teilte Geoffreys Zweifel nicht, aber es war ihm völlig klar, was sein Onkel von der Sache halten würde, sollte sie jemals in seiner Gegenwart ausführlich erörtert werden.

 

 

 

 

  Drittes Kapitel

 

 

Die Maitlands hatten das Wochenende bei einer Tante von Jenny in Montreal verbracht. Dieser Besuch war ihnen aus Gründen des Familienfriedens ratsam erschienen. Deshalb trafen sie erst am folgenden Montagabend in New York ein. Der erste Eindruck beim Verlassen des Flugzeugs war verwirrend... unzählige Menschen, von denen jeder zweite nach Antonys Meinung spanisch sprach. Jenny, die nach Wochen der Aufregung während des Fluges Zeit gehabt hatte, sich zu fragen, wie die Hendersons wohl sein würden, blieb dicht neben ihrem Mann, als sie von der Flut ankommender Passagiere zum Ausgang geschwemmt wurden. Sie waren in Montreal ohne Aufenthalt durch den Zoll gelangt, was Antony auf Jennys Gelassenheit zurückführte. Jetzt war Jenny nervös, aber er vermutete, dass niemand, der sie nicht so gut kannte wie er, es bemerken würde.

Was ihn selbst betraf, so fragte er sich, ob die Reise nicht ein Fehler war. Sam war in den letzten wilden Tagen des Dritten Reiches und den ersten, noch tolleren Tagen des sogenannten Friedens, ein guter Kamerad gewesen, und sie hatten sich stets ausgezeichnet verstanden. Das war aber lange her, Antony hatte sich inzwischen verändert, jedenfalls nahm er das an, also entsprach es nur der Vernunft, davon auszugehen, dass sich auch Sam verändert haben würde.

Er sah Sam Henderson, der wie verabredet am Hertz-Mietwagen-Schalter wartete und sie noch nicht entdeckt hatte. Sam kam ihm vertraut und fremd zugleich vor - wie jemand, den er nur vom Foto her kannte. Er sagte: »Da sind sie«, obwohl er noch nicht wusste, wer Carol war und ob sie Sam überhaupt begleitet hatte; Jenny murmelte etwas wie »Oje«, aber er achtete nicht darauf  und packte nur fester ihren Arm, um sie im Gedränge nicht zu verlieren. Dann drehte sich Sam um, und ihre Blicke begegneten sich. Es gab einen Augenblick, in dem beide glaubten, sich fremd geworden zu sein, und vielleicht sogar flüchtig dachten: Er hat sich verändert. Doch das war schnell vorbei, wie meistens in solchen Fällen.

Sam Henderson war ein großer Mann und hatte seit ihrer letzten Begegnung zugenommen. Er hatte schwarzes Haar, das stark gewellt und dicht war, wenn auch der Ansatz jetzt weiter zurücklag; tiefliegende braune Augen in einem kantigen Gesicht; eine gerade, kräftige Nase. Er drückte Antonys Hand zur Begrüßung, dass sie schmerzte, ging mit der von Jenny sanfter um und drehte den Kopf, um seine Frau vorzustellen.

Carol war ein paar Jahre älter als Jenny. Sie war auch kleiner und fülliger, wirkte aber sehr elegant - ein Typ, der stets, auch nach einem langen Tag, mustergültig gepflegt aussieht. Sie war dunkelhaarig, wenn auch nicht ganz schwarz wie ihr Mann, und im Licht hatte ihr Haar einen rötlichen Schimmer. Ihre Augen waren braun und so freundlich-offen wie ihr Lächeln. Jenny behielt sich ein Urteil über Sam vor, der ihre Hand noch immer in der seinen hatte, aber Carol fand sie sofort sympathisch.

»Ich fürchte, wir haben euch warten lassen«, entschuldigte sich Antony. »Wir sind mindestens eine Stunde über Albany gekreist, weil wir auf die Landeerlaubnis warten mussten. Das behauptete jedenfalls der Pilot.«

»Kommt sehr häufig vor«, erwiderte Sam, gerade so, als sei man dazu zu beglückwünschen. Sekundenlang wirkte sein Blick abschätzend. »Ich bitte Carol, den Wagen zu holen, dann kann ich euch mit dem Gepäck helfen.«

Maitland unterdrückte ein Gefühl des Unbehagens.

Sam Henderson wusste besser als alle anderen, dass sein rechter Arm unbrauchbar war, wenn es darum ging, Koffer zu tragen. Die Bemerkung war also ganz natürlich, aber sie passte ihm trotzdem nicht.

»Kann ich keinen Träger bekommen?«

»Versuchen Sie’s mal, mehr sage ich nicht.« Carol hatte eine sanfte Stimme und, wie er später erkannte, die gedehnte Sprechweise der Bewohner New Englands. Sie lächelte ihn an, was sein Unbehagen steigerte, weil es so aussah, als wisse sie genau, was er dachte. »Ich bin sofort wieder da«, versprach sie, bezog Jenny kurz in das Lächeln mit ein und verschwand leichtfüßig im Gedränge. Sam tätschelte Jennys Hand ein letztes Mal und gab sie frei.

»Am besten sehen wir uns mal nach den Koffern um, obwohl das noch Stunden dauern kann.« Er blickte immer noch Jenny an. »Es wäre besser gewesen, wenn ihr mit einer anderen Fluggesellschaft gekommen wärt. Es gibt bessere Flughäfen als diesen.«

»Er sieht so - unfertig aus«, sagte Jenny vorsichtig und schaute sich um. Sie hatte immer schon Amerika sehen wollen, aber nun wünschte sie sich von ganzem Herzen, dass sie nicht hergekommen wären. Sogar die Stimmen rings um sie klangen fremdartig, obwohl das eigentlich nichts Ungewöhnliches war, wenn man aus einer Weltstadt wie London kam. Aber es lag wohl daran, dass alles auf eine andere Weise fremd wirkte. Henderson bemerkte Jennys zweifelnden Ton und lachte.

»Es dauert noch ein paar Jahre, bis alles fertig ist. Das Problem besteht darin, den Flugbetrieb aufrechtzuerhalten und gleichzeitig die Neubauten zu errichten.« Er nahm ihren Arm, um sie durch das Gewühl zu steuern. Sie dachte plötzlich: Er ist sehr nett, und wahrscheinlich hat er vergessen, wie Antony es verabscheut, an Vergangenes erinnert zu werden...

»Wir haben übrigens nicht viel Gepäck«, sagte sie. »Da wir herumfahren wollen, hielten wir es für besser, mit leichtem Gepäck zu reisen.«

»Das ist ganz gut, obwohl Sie sich wundern werden, was in den Kofferraum alles hineinpasst. Wenn Carol zu packen anfängt, findet sie kein Ende mehr.« Sie hatten die Gepäckausgabe erreicht, die ersten Koffer glitten vorbei, und Sam unterbrach sich, um sie zu ermahnen, die Augen offenzuhalten.

»Die können wir gar nicht übersehen«, sagte Antony hinter ihnen. »Sie sind nagelneu.« Seine Gereiztheit schien sich gelegt zu haben, er wirkte entspannt und heiter. Sam schüttelte den Kopf über seine Bemerkung.

»Warte nur, bis du sie siehst«, meinte er.

»In Montreal waren sie noch in Ordnung.«

»Selbst auf einem so kurzen Flug...« Und tatsächlich hatten die Koffer ein paar Püffe abbekommen, deren Spuren nicht zu übersehen waren.

»Umso besser«, sagte Jenny und verbarg ihr Befremden beim Anblick der verbeulten Koffer. »Wir möchten nicht den Eindruck erwecken, als seien wir nie auf Reisen.«

Carol holte sie zwanzig Minuten später ab und setzte sich zu Antony in den Fond, während Sam ihren Platz am Steuer einnahm und Jenny es sich auf dem Beifahrersitz bequem machte. Jennys Augen glänzten, als sie den Straßenverkehr betrachtete; Antony rechnete fast damit, dass sie verlangte, ans Steuer gelassen zu werden. Er spürte, dass sie die Hendersons mochte - da er Jenny kannte, wäre er vom Gegenteil überrascht gewesen, aber er hatte nicht erwartet, dass sie sich so schnell heimisch fühlen würde.