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Kein freier Wille? Warum die Neurowissenschaften unser Menschenbild nicht umstürzen. Michael Pauen entwickelt eine Konzeption von Willensfreiheit, die grundlegenden Intuitionen unseres Selbstverständnisses entspricht und die Erkenntnisse der Hirnforschung berücksichtigt. Außerdem bietet sie wichtige Ansatzpunkte für eine genauere Klärung von Schuld und Verantwortung im juristischen Sinne. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)
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Seitenzahl: 347
Michael Pauen
Illusion Freiheit?
Mögliche und unmögliche Konsequenzen der Hirnforschung
FISCHER E-Books
Stellen Sie sich vor, was es bedeuten würde, einmal wirklich frei zu handeln. Zunächst denken Sie sicher an die Lösung von äußeren Zwängen und Erwartungen. Hierzu gehören zweifellos die Einschränkungen, die Ihnen Beruf und Familie auferlegen, ganz zu schweigen von finanziellen Verpflichtungen und den vielfältigen Erwartungen, die von außen an Sie gerichtet sind. Nehmen wir einmal an, Sie könnten sich von all diesen Einschränkungen und Zwängen lösen – wären Sie dann schon wirklich frei? Ist es mit der Lösung von äußeren Zwängen getan? Vermutlich gehört doch mehr dazu: Freiheit kann nämlich nicht nur von außen, sondern auch von innen bedroht werden. Offenbar können auch Ihre Wünsche, Bedürfnisse und Überzeugungen Ihren Freiheitsspielraum einschränken. Dies gilt insbesondere dann, wenn diese Wünsche und Bedürfnisse das Produkt von psychischen oder physischen Abhängigkeiten sind. Einen Nikotin- oder Alkoholabhängigen würden wir kaum als frei bezeichnen, selbst wenn sich seinen Wünschen keine äußeren Hindernisse in den Weg stellen. Die bloße Beseitigung äußerer Hindernisse reicht also nicht, vielmehr kann unsere Freiheit zumindest dann durch unsere eigenen Wünsche und Bedürfnisse in Frage gestellt werden, wenn diese einen zwang- oder gar krankhaften Charakter annehmen.
Doch wie sieht es aus mit jenen Wünschen und Bedürfnissen, die Sie nicht als zwang- oder krankhaft empfinden – diese scheinen Ihre Freiheit doch offenbar nicht einzuschränken. Bei näherer Betrachtung regen sich auch hier Zweifel. Stellen Sie sich vor, Sie hätten gerade Abitur gemacht und stünden nun vor der Wahl, welches Fach Sie studieren sollen. Ihr Abitur ist so gut, dass Ihnen alle Studiengänge offen stehen, andere äußere Hindernisse gibt es nicht, und auch psychische oder physische Abhängigkeiten spielen keine Rolle. Doch bedeutet das schon, dass Sie wirklich frei sind? Kann es nicht sein, dass die Überzeugungen, Bedürfnisse und Wünsche, die Ihre Wahl bestimmen, das Produkt Ihrer Anlagen, Ihrer Erfahrung, Ihrer Erziehung und anderer sozialer Einflüsse sind? Auch wenn Sie sich vielleicht frei fühlen – müsste man nicht zugeben, dass Sie mit Ihrer Entscheidung für ein bestimmtes Studium nur ausführen, was eigentlich längst festliegt?
Wenn das stimmt, dann führt offenbar kein Weg daran vorbei, sich wirklich radikal von allen Zwängen, allen Erwartungen, allen Gewohnheiten, aber auch von allen Bedürfnissen und Überzeugungen zu lösen, die unser Handeln im Alltag bestimmen. Wirkliche Freiheit, so scheint es, kann nur darin bestehen, einen radikalen Neuanfang zu setzen, noch einmal ganz von vorne anzufangen – ohne alle externen Zwänge, aber auch unabhängig von allen Wünschen, Bedürfnissen und Überzeugungen, die man sich üblicherweise zuschreibt, die aber in Wirklichkeit nur die Produkte von Anlagen und Umwelt sind. Wenn man sich in einer solchen Situation für eine bestimmte Option entscheidet, dann scheint wirkliche Freiheit vorauszusetzen, dass man sich unter genau den gleichen Bedingungen auch für eine andere Option hätte entscheiden können.
Selbst wenn man etwas weniger anspruchsvolle Vorstellungen hat: Eine grundlegende Bedingung scheint unverzichtbar. Von Freiheit kann nur die Rede sein, wenn man in einer gegebenen Situation auch anders hätte handeln können, als man tatsächlich gehandelt hat. Doch offenbar gibt es solche Alternativen in einer von deterministischen Naturgesetzen bestimmten Welt nicht. Freiheit und Determination scheinen einander auszuschließen – eine Behauptung, die sich sogar der Duden zu eigen macht.[1]
Vor diesem Hintergrund ist es nicht weiter überraschend, dass die Erfolge der Hirnforschung in den letzten Jahren erheblich zur Skepsis gegenüber der Willensfreiheit beigetragen haben. Natürlich benötigt die Behauptung, dass wir in einer determinierten Welt leben, keine unmittelbare Bestätigung durch die Hirnforschung: Wenn die Welt außerhalb unseres Kopfes determiniert ist, dann ist kaum zu erwarten, dass das Gehirn eine Enklave der Unbestimmtheit bildet. Dennoch macht es sicherlich einen Unterschied, ob es sich hier nur um eine abstrakte These handelt oder ob wir die Prozesse, die unseren Entscheidungen und Handlungen zugrunde liegen, konkret beschreiben und in empirischen Untersuchungen entschlüsseln können: Wenn wir erkennen, warum wir uns so und nicht anders entschieden haben, dann besitzen wir einen handfesten Grund, daran zu zweifeln, dass wir auch ebenso gut etwas ganz anderes hätten tun können.
Es kommt hinzu, dass vielfach unterstellt wird, ein wirklich freier Wille setze einen immateriellen Geist voraus, der den Naturgesetzen entzogen sei, selbst aber auf materielle Prozesse einwirken könne. Sollte es solche Einflüsse eines immateriellen Geistes geben, dann müsste die Hirnforschung irgendwann einmal auf neuronale Prozesse stoßen, die unter solchen Einflüssen stehen und daher naturgesetzlich nicht zu erklären sind. Bislang haben sich keine Belege für solche Einwirkungen gefunden; die wenigen konkreten Versuche in dieser Richtung sind fehlgeschlagen, und es wäre zumindest überraschend, sollten solche Belege plötzlich auftauchen.
Es ist daher kein Wunder, wenn gerade Vertreter der Neuro- und Kognitionswissenschaften in den letzten Jahren immer wieder darauf hingewiesen haben, dass die – in der Tat beeindruckenden – Erfolge ihrer Disziplinen uns früher oder später geradezu zwingen würden, überkommene Auffassungen von Willensfreiheit aufzugeben. So meint Wolfgang Prinz, dass »die Idee eines freien menschlichen Willens … mit wissenschaftlichen Überlegungen prinzipiell nicht zu vereinbaren« sei. »Für mich ist unverständlich, dass jemand, der empirische Wissenschaft betreibt, glauben kann, dass freies, also nicht-determiniertes Handeln denkbar ist.«[2] Hans Markowitsch behauptet, »dass eine Person einen freien Willen … überhaupt nicht besitzt«,[3] und Wolf Singer spricht davon, dass »die Annahme zum Beispiel, wir seien voll verantwortlich für das, was wir tun, weil wir es ja auch hätten anders machen können, … aus neurobiologischer Perspektive nicht haltbar« sei. »Neuronale Prozesse sind deterministisch.«[4] Nicht zuletzt weil sie die Willensfreiheit widerlege, betreibe die Neurowissenschaft einen »Frontalangriff auf unser Selbstverständnis und unsere Menschenwürde«.[5]
Die Annahme, dass menschliches Handeln determiniert sei, stellt nicht den einzigen Grund für die Zweifel an der Willensfreiheit dar; genauso wenig sind die Zweifel an der Willensfreiheit der einzige Grund für die Vermutung, dass wir vor einer fundamentalen Revision unseres Selbst- und Menschenbildes stehen. Dennoch handelt es sich hier zweifellos um Schlüsselprobleme: Wenn es für uns wirklich niemals irgendwelche Handlungsalternativen gibt, dann scheint die menschliche Freiheit kaum zu retten. Und wenn es sich herausstellen sollte, dass wir prinzipiell nicht in der Lage sind, frei und verantwortlich zu handeln, dann stünden wir sicher vor einer einschneidenden Revision unseres Selbst- und Menschenbildes. Es ist einfach zentral für unser Selbstverständnis, dass wir zumindest in wichtigen Fragen bewusste und verantwortliche Entscheidungen treffen können und dass man uns für diese Entscheidungen auch zur Rechenschaft ziehen kann. Dies zeigt sich schon daran, dass unsere Gesellschaft es vor allem von dieser Fähigkeit abhängig macht, ob sie eine Person als Erwachsenen oder als Jugendlichen behandelt bzw. ob sie eine Person eventuell entmündigt.
Zur Diskussion steht hier also nicht etwa die Veränderung einer mehr oder minder diffusen Vorstellung, die wir von uns selbst haben; auf dem Spiel stehen vielmehr ganz konkrete praktische Konsequenzen. Diese Konsequenzen betreffen zum einen unseren alltäglichen Umgang, insbesondere unsere Praxis, menschliches Verhalten zu bewerten, es zu loben oder zu tadeln, zu belohnen oder zu bestrafen. Offenbar hängt diese Praxis in wesentlichen Punkten von der Annahme ab, dass Menschen für ihr Handeln verantwortlich sind: Wir würden normalerweise eine Person nicht für Handlungen bestrafen, für die sie nicht verantwortlich war, weil sie sie gar nicht unterlassen konnte. Ebenso wenig würden wir üblicherweise jemanden loben, wenn ihm gar nichts anderes übrig blieb, als eine eigentlich verdienstvolle Tat auszuführen. Wenn wir erfahren würden, dass jemand nur durch Zwang dazu gebracht werden konnte, für einen guten Zweck zu spenden, dann hätte dies gravierende Auswirkungen auf unsere Einschätzung der Verdienste, die er sich damit erworben hat. Ähnliches gilt bei tadelnswerten oder gar strafbaren Handlungen: Ob wir einer Person einen Vorwurf aus einer solchen Handlung machen können, hängt nicht zuletzt davon ab, ob die Person auch anders hätte handeln können, ob sie also frei war.
Tatsächlich erstrecken sich die Auswirkungen der Diskussion um die Willensfreiheit nicht nur auf unsere alltägliche Praxis des Lobens und Tadelns, sondern auch auf die staatliche Praxis des Strafens. Nach konsistenter höchstrichterlicher Rechtsprechung ist Strafe an Schuld und Schuld wiederum an Freiheit gebunden; Strafe wird als eine rechtlich geregelte Vergeltung (Retribution) für eine schuldhafte Tat begriffen. Auch hier besteht keine ausschließliche Beziehung: In unsere Strafpraxis gehen neben dem Schuldvorwurf auch Gesichtspunkte der Verhütung künftiger Straftaten mit ein; dennoch bilden Schuld und Freiheit eine notwendige Bedingung dafür, dass eine Person für eine Handlung bestraft werden kann.
Wenn also eine Handlung nur frei sein kann, sofern sie nicht determiniert ist, dann erbringen die Neurowissenschaften in dem Maße, wie sie die Determinanten des menschlichen Handelns offen legen, auch den Nachweis dafür, dass diese Handlungen nicht frei sind, und wenn Freiheit einen zentralen Bestandteil unseres Selbstverständnisses bildet, dann wäre damit auch ein wissenschaftlicher Beweis dafür erbracht, dass unser Selbstverständnis ebenso wie wichtige Bereiche unserer alltäglichen und juristischen Praxis grundlegend revisionsbedürftig sind.
Es könnte daher der Eindruck entstehen, es komme hier nur noch auf die Erkenntnisse der empirischen Wissenschaften an. Philosophische Erkenntnisse dagegen seien von untergeordnetem Interesse, weil die Naturwissenschaften früher oder später ohnehin eine Lösung jener Rätsel präsentieren würden, an denen sich Philosophen und andere Geisteswissenschaftler jahrhundertelang die Zähne ausgebissen haben.
Dass dies nicht so ist, zeigt sich spätestens dann, wenn man die skizzierten Prognosen etwas genauer unter die Lupe nimmt. Natürlich enthalten solche Prognosen zum einen Tatsachenbehauptungen darüber, dass unsere Welt insgesamt bzw. die menschlichen Entscheidungsprozesse im Einzelnen determiniert sind. Diese Behauptungen basieren auf empirischen Daten, wie sie durch die Physik oder die Neurobiologie erhoben werden. Philosophen können sich auf solche Daten berufen, alles andere ist Spekulation; hoffnungslos wäre es insbesondere, wollten sie versuchen, irgendwo in einer determinierten Welt doch noch Reste von Unbestimmtheit aufzuspüren. Ein solcher Versuch wäre nicht nur wenig aussichtsreich, vielmehr würde er letztlich am Ziel einer philosophischen Auseinandersetzung mit dem Problem der Willensfreiheit vorbeigehen. Ich werde daher im Folgenden auch keine Annahmen darüber machen, ob unsere Welt determiniert ist oder nicht.
Zweitens enthalten solche Prognosen jedoch auch Maßstäbe dafür, was es bedeutet, frei zu handeln. Solche Maßstäbe werden auch von einer scheinbar rein objektiven, naturwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Problem der Willensfreiheit zugrunde gelegt. Zwei häufig verwendete Maßstäbe wurden bereits genannt: Zum einen die Annahme, dass man von Freiheit nur sprechen kann, wenn die fragliche Handlung nicht determiniert war, und zweitens die Forderung, dass der Handelnde die Möglichkeit besessen haben muss, auch anders zu handeln.
Auch wenn diese Kriterien mehr oder minder selbstverständlich erscheinen mögen – es handelt sich um Maßstäbe. Diese Maßstäbe sind ihrerseits rechtfertigungsbedürftig, und diese Rechtfertigung ist Sache der Philosophie. Selbstverständlich treten vergleichbare Probleme auch in anderen Bereichen der empirischen Forschung im Allgemeinen und der Hirnforschung im Besonderen auf. So muss man klären, was man unter Furcht oder unter Schmerz versteht, wenn man die neuronalen Korrelate von Furcht- oder Schmerzzuständen untersuchen will. Doch während die Festlegung der relevanten Kriterien bei Furcht- oder Schmerzzuständen vergleichsweise unproblematisch durch die empirischen Wissenschaften selbst geschehen kann, ist dies bei den Kriterien von freien Handlungen nicht möglich. Dies dürfte zum einen daran liegen, dass Freiheit eine komplexere Eigenschaft ist. Bei Furcht- und Schmerzzuständen sind die Kriterien zumindest aus der subjektiven Perspektive intuitiv klar.[6] Ganz anders dagegen bei der Frage, ob eine Handlung frei ist oder nicht: Hier stehen uns einfach keine eindeutigen Kriterien zur Verfügung. Egal ob wir die Perspektive der ersten Person oder die Perspektive der dritten Person einnehmen; es ist keineswegs offensichtlich, welchen Maßstäben eine Handlung genügen muss, damit wir sie als »frei« bezeichnen können. Auch die beiden eingangs genannten Kriterien: Indeterminismus und die Möglichkeit, anders zu handeln, sind alles andere als unumstritten. Ein zweiter Punkt ergibt sich aus der großen Bedeutung von Freiheit für unser Selbstverständnis. Schon allein deswegen haben wir immer schon ein gewisses Vorverständnis davon, was denn eine freie Handlung ist – auch wenn dieses Vorverständnis in der Regel diffus und möglicherweise auch inkohärent ist.
Genau hier liegt die Aufgabe der Philosophie: Sie besteht darin, aus jenen diffusen und inkohärenten vorwissenschaftlichen Vorstellungen von Freiheit eine kohärente Konzeption zu entwickeln, die unsere zentralen vorwissenschaftlichen Intuitionen erfasst, sich gegen die wichtigsten philosophischen Einwände verteidigen lässt und gleichzeitig möglichst klare Kriterien für die Beurteilung von Handlungen im Alltag, für die Einschätzung von empirischen Befunden und schließlich auch für unsere Rechtspraxis liefert. Nicht zuletzt aber sollte eine solche systematische Konzeption eine Antwort auf die Frage nach dem Verhältnis von Freiheit und Determination geben: Sind diese Kriterien in einer determinierten Welt erfüllbar, dann sind Freiheit und Determination miteinander vereinbar, ansonsten sind sie es nicht.
Das alles hört sich sehr schön an – doch wenn unsere vorwissenschaftlichen Intuitionen wirklich so unklar und widersprüchlich sind – wie soll die Philosophie dann aus ihnen ein kohärentes Modell hervorzaubern? Stellen sich hier nicht hinterrücks wieder eben jene Willkür und Beliebigkeit ein, die man durch den Rückgriff auf unsere vorwissenschaftlichen Vorstellungen loszuwerden meinte?
Das Problem rührt an den Nerv jeder philosophischen Analyse der Willensfreiheit. Eine Analyse, der es nicht gelingt, die Beliebigkeit unserer vorwissenschaftlichen Vorstellungen von Freiheit zu überwinden, wäre von vornherein zum Scheitern verurteilt. Tatsächlich gibt es hier jedoch einen Ausweg. Während es nämlich sehr schwierig sein dürfte, sich auch nur auf ein unstrittiges positives Beispiel für eine wirklich freie Handlung zu einigen, wird man ohne größere Probleme einen Konsens darüber herstellen können, was freie Handlungen nicht sind. Eine Lösung der oben skizzierten Schwierigkeiten wäre dann möglich, wenn man aus diesen negativen Intuitionen ein hinreichend anspruchsvolles Modell freier Handlungen entwickeln könnte.
Sichtbar werden diese »negativen« Intuitionen daran, dass man freie Handlungen nach zwei Seiten hin abgrenzen muss. Zum einen unterscheiden wir freie Handlungen von erzwungenen Geschehnissen. Eine Handlung, die unter Zwang zustande kommt, würden wir sicher nicht als frei bezeichnen – genau dies ergibt sich ja auch aus den Überlegungen, die zu Beginn dieser Einleitung angestellt wurden.
Freie Handlungen müssen jedoch zweitens auch gegenüber einem anderen Typ von Geschehnissen abgegrenzt werden. Auch zufällige Geschehnisse würden wir niemals als freie Handlungen bezeichnen. Der entscheidende Unterschied scheint darin zu bestehen, dass sich freie Handlungen anders als zufällige Geschehnisse einer Person zuschreiben lassen. Diese Zuschreibung ist nicht zuletzt deshalb wichtig, weil wir Personen für freie Handlungen im Positiven wie im Negativen verantwortlich machen: Wir loben und wir tadeln, wir belohnen, und wenn es sein muss, dann bestrafen wir auch. Doch wie sollten wir eine Person für eine Handlung zur Verantwortung ziehen, die gar nicht von ihr abhing, sondern rein zufällig zustande kam?
Offenbar handelt es sich hier um Minimalbedingungen, denen jede Konzeption von Freiheit gerecht werden muss. Jede Theorie der Willensfreiheit, unabhängig davon, wie anspruchsvoll oder anspruchslos sie ansonsten sein mag, muss imstande sein, Freiheit von Zwang und von Zufall abzugrenzen.
Man kann diesen Bedingungen sehr leicht gerecht werden, indem man Freiheit in »Selbstbestimmung« übersetzt. Zu sagen, dass eine Handlung selbstbestimmt ist, impliziert einfach, dass die Handlung nicht erzwungen ist – dann wäre sie nämlich nicht selbst-, sondern fremdbestimmt. Die Abgrenzung gegen Zwang ergibt sich also fast automatisch. Dasselbe gilt für die Unterscheidung der Freiheit vom Zufall: Wir würden eine Handlung nicht selbstbestimmt nennen, wenn sie das Produkt eines Zufalls wäre. Selbstbestimmung heißt trivialerweise, dass der Handelnde selbst und nicht etwa der Zufall bestimmt, was passiert. Wenn Sie also selbst der festen Überzeugung sind, dass Diebstahl verwerflich ist, und wenn Sie aufgrund dieser Überzeugung die Waren in Ihrem Einkaufskorb an der Kasse bezahlen, dann handeln Sie damit aller Wahrscheinlichkeit nach selbstbestimmt und damit frei.
Zwei Konsequenzen aus einer solchen »Übersetzung« erscheinen mir besonders wichtig: Erstens werden damit gravierende Zweifel an der Unvereinbarkeit von Freiheit und Determination aufgeworfen. Selbstbestimmung impliziert nicht nur Autonomie gegenüber externen Einflüssen, sondern auch die Abhängigkeit der Handlung von ihrem Urheber – nur so können wir den Akteur für sein Tun verantwortlich machen. Dann aber kann freies Handeln nicht mehr einfach unbedingtes Handeln sein, wie es in einer determinierten Welt in der Tat nicht möglich ist. Handlungen, die nicht durch die Überzeugungen, Wünsche und Bedürfnisse ihres Urhebers bestimmt sind, können offenbar auch keine selbstbestimmten Handlungen sein. Insofern wäre es verfehlt zu erwarten, Freiheit und Selbstbestimmung ließen sich steigern, indem man die Abhängigkeit einer Handlung von ihrem Urheber lockert oder gar aufhebt. Das Gegenteil ist der Fall: Zwar muss die Handlung nicht in einem strikten Sinne durch den Handelnden determiniert werden, doch wenn Freiheit wirklich Selbst-Bestimmung ist, dann kann die Aufhebung jeglicher Abhängigkeit der Handlung vom Handelnden den Freiheitsspielraum nicht erweitern, vielmehr stellt sie die Fähigkeit einer Person in Frage, ihr Handeln selbst zu bestimmen: Ihre Fähigkeit zur Selbstbestimmung würde eingeschränkt, wenn ein Zufall dazu führte, dass Sie entgegen Ihrer Überzeugung doch einen Diebstahl begehen würden.
Insofern sind die eingangs skizzierten Beispiele auch in einem gewissen Sinne einseitig: Sie werden nur einer der beiden Minimalbedingungen gerecht, nämlich der Autonomie freier Handlungen gegenüber Zwang und äußeren Einflüssen. Natürlich kann eine Person aus ihrer subjektiven Perspektive den Eindruck haben, sie entscheide sich gegen eigene Wünsche und Bedürfnisse. Doch wenn es sich hier nicht um bloße Zufallsprodukte, sondern um selbstbestimmte Entscheidungen handeln soll, dann muss die Person andere Überzeugungen, Wünsche und Bedürfnisse haben, die sie dazu veranlassen, eine solche Entscheidung zu treffen. Diese müssen der Person nicht in jedem Falle bewusst sein; insofern kann aus der Perspektive der ersten Person sehr wohl der Eindruck der Grundlosigkeit entstehen.
Unbedingtes, voraussetzungsloses Handeln, unabhängig von allen eigenen Überzeugungen und Bedürfnissen, ist keine Freiheit, sondern gleicht der grundlosen Beliebigkeit eines Münzwurfs. Wenn ein Ereignis nicht bestimmt ist, dann kann es auch nicht durch die Person bestimmt sein; dies gilt für Handlungen ebenso wie für Entscheidungen. Undeterminierte Ereignisse lassen sich nicht beeinflussen, ganz gleich wo sie auftreten.
Eine der zentralen Thesen, für die ich in diesem Buch argumentieren werde, lautet daher, dass die erste der beiden oben genannten Annahmen falsch ist: Entgegen dieser Annahme ist Freiheit auch in einer determinierten Welt möglich. Solange man Freiheit als Selbstbestimmung versteht und sich dabei an den beiden genannten Bedingungen orientiert, also der Abgrenzung gegen Zwang und der Abgrenzung gegen Zufall, kommt es nicht darauf an, ob eine Handlung determiniert ist, entscheidend ist vielmehr, wodurch sie bestimmt wird: Ist sie durch den Handelnden selbst bestimmt, dann ist sie eben selbstbestimmt und damit frei; hängt sie dagegen von äußeren Einflüssen oder von Zufällen ab, dann ist sie nicht selbstbestimmt und daher auch nicht frei.
Doch wie steht es mit der zweiten Annahme: Kann man allen Ernstes behaupten, dass man in einer determinierten Welt anders hätte handeln können, als man tatsächlich gehandelt hat? Man kann! Dies zeigt die zweite wichtige Folgerung, die man aus der Übersetzung von Freiheit in Selbstbestimmung ableiten kann. Notwendig ist auch hier wieder eine Verständigung darüber, was es eigentlich heißt, dass jemand anders hätte handeln können. Erst wenn man die entscheidenden Bedingungen geklärt hat, kann man feststellen, ob sie in einer determinierten Welt erfüllt werden können oder nicht.
Einen ersten Hinweis bietet schon unsere Alltagssprache. Tatsächlich reden wir häufig davon, dass jemand etwas hätte tun können, auch wenn es eindeutig determiniert war, dass er es nicht tun würde. Wir sagen z.B. von einem besonders ausdauernden Läufer, dass er noch viel länger hätte laufen können, auch wenn von vornherein feststand, dass der Lauf nur über eine bestimmte Distanz gehen und daher zu dem fraglichen Zeitpunkt beendet sein würde.
Natürlich benötigen wir in der philosophischen Diskussion über die Willensfreiheit nicht nur genauere, sondern auch strengere Kriterien als im alltäglichen Sprachgebrauch. Zumindest ein Kriterium wird sich jedoch als unzutreffend erweisen: Es ist weder erforderlich noch sinnvoll, aus der Forderung nach alternativen Handlungsmöglichkeiten abzuleiten, dass unter identischen Bedingungen und damit unabhängig von den Bedürfnissen, Wünschen und Überzeugungen der Handelnden sowohl die eine als auch die andere Option möglich sein muss. In diesem Falle hinge es offenbar nicht mehr von der Handelnden ab, welche Option realisiert wird, vielmehr wäre dies eine Sache des Zufalls. Doch dann wird man nicht mehr davon sprechen können, dass hier eine Person anders hätte handeln können; man könnte nur noch sagen, dass zufällig etwas anderes hätte passieren können.
Die Übersetzung von Freiheit in Selbstbestimmung liefert eine wesentlich sinnvollere Interpretation der Forderung nach alternativen Handlungsmöglichkeiten. Wenn eine Handlung nämlich wirklich von dem Handelnden abhängig ist, dann ist es berechtigt, vor der Handlung zu sagen, dass es an dem Akteur liegt, ob er die Waren stiehlt oder bezahlt. Und dies bedeutet nichts anderes, als dass der Handelnde sowohl stehlen als auch bezahlen kann. Dann aber kann man nach dem Vollzug der Handlung noch sagen, dass er die Waren hätte stehlen können, auch wenn er sie faktisch bezahlt hat.
Entgegen dem ersten Eindruck kann man also offenbar auch in einer determinierten Welt davon sprechen, dass eine Person anders hätte handeln können, als sie faktisch gehandelt hat. Dies liegt nicht daran, dass es findigen Philosophen doch noch gelungen wäre, eine kleine Lücke im naturgesetzlichen Determinationszusammenhang aufzuspüren. Als entscheidend erweisen sich auch in diesem Falle wieder die Maßstäbe, die erfüllt sein müssen, damit man davon sprechen kann, dass eine Person anders hätte handeln können.
Natürlich sind damit nur die Umrisse der im Folgenden zu entwickelnden Konzeption von Freiheit skizziert. Dies gilt nicht nur für viele offene Fragen, die etwa das Problem der alternativen Handlungsmöglichkeiten betreffen; zu klären ist auch, unter welchen Voraussetzungen es überhaupt gerechtfertigt ist, einer Person eine Handlung zuzuschreiben. Was ist also das »Selbst«, das sich hier selbst bestimmt? Welche Fähigkeiten benötigt eine Person, um ihr Handeln selbst zu bestimmen, und welche Rolle spielen dabei die Wünsche, Überzeugungen und Bedürfnisse, die die Person faktisch besitzt?
Dennoch sieht es so aus, als könnte man auf der Basis der genannten Minimalbedingungen eine in sich kohärente Konzeption entwickeln, die zeigt, dass Freiheit und Determination miteinander vereinbar sind. Nun ist diese These nicht sonderlich neu – sie findet sich zusammen mit einigen wesentlichen Argumenten in Grundzügen schon bei Augustinus und ist dann in der philosophischen Tradition immer wieder aufgegriffen und weiter entwickelt worden. Einige dieser Vorschläge werde ich im Folgenden diskutieren. In der letzten Zeit sind auch in Deutschland z.B. von Beckermann[7] und Bieri[8] wichtige Konzeptionen entwickelt worden, die diese These vertreten.
Das entscheidend Neue des hier vorgelegten Ansatzes besteht also – natürlich – nicht in der Behauptung, dass Freiheit als Selbstbestimmung expliziert werden kann und daher mit Determination vereinbar ist; das entscheidend Neue besteht vielmehr in der Entwicklung dieser Behauptung aus den beiden genannten, praktisch unumstrittenen Minimalbedingungen. Ich werde daher die hier vorgestellte Theorie der personalen Freiheit als eine Minimalkonzeption bezeichnen. Es wird sich aber herausstellen, dass diese Konzeption nicht etwa »schwächer« ist als Freiheitskonzeptionen, die eine Aufhebung der Determination verlangen: Solche Konzeptionen, so wird zu zeigen sein, sind nämlich letztlich inakzeptabel, weil sie gegen eine der genannten Minimalbedingungen verstoßen. Personale Freiheit in dem hier skizzierten Sinne ist also alles, was man verlangen muss, aber auch alles, was man verlangen kann, wenn man unseren vorwissenschaftlichen Intuitionen und den relevanten philosophischen Argumenten in einer kohärenten Konzeption gerecht werden will.
Nehmen wir einmal an, alles bislang Gesagte würde zutreffen und die Existenz freier bzw. selbstbestimmter Handlungen hinge nicht davon ab, ob unsere Welt determiniert ist oder nicht. Selbst dann könnten wir nicht sicher sein, dass es hier jemals auch nur eine freie Handlung gegeben hat. Bislang ging es nämlich nur um die Kriterien, die eine Handlung erfüllen muss, damit wir sie als frei bezeichnen können. Außerdem wurde behauptet, dass die Abwesenheit von Determination nicht zu diesen Kriterien zählt. Ob es jedoch Handlungen gibt, welche die verbleibenden Kriterien erfüllen, kann nur die empirische Forschung zeigen.
Insofern sind die Erkenntnisse der empirischen Wissenschaften auch von philosophischem Interesse. Gerade wenn man akzeptiert, dass philosophische Überlegungen in der Freiheitsdebatte der Klärung der Maßstäbe für freies Handeln dienen, dann müssen Philosophen sich dafür interessieren, ob menschliche Handlungen diese Maßstäbe erfüllen. Der Schluss vom Sollen aufs Sein ist nicht weniger verfehlt als der vom Sein aufs Sollen. Otfried Höffes Verweis darauf, dass die Philosophie es mit der »Welt des Sollens« zu tun habe, die mit empirischen Untersuchungen über die »Welt des Seins« nicht aus den Angeln zu heben sei, überzeugt daher nicht.[9] Natürlich werden Normen nicht schon dadurch ungültig, dass sie verletzt werden; aber hier geht es zuerst einmal nur um die Frage, ob sie verletzt werden, ob menschliche Handlungen also faktisch die Norm freien Handelns erfüllen, und das ist offenbar eine empirische Frage.
Genauso wenig kann man sich mit Peter F. Strawson[10] darauf berufen, dass wir uns gar nicht vorstellen können, die Unterstellung von Freiheit aufzugeben, weil es sich hier um eine grundlegende Voraussetzung unseres Zusammenlebens handelt. Gerade dann, wenn diese Voraussetzung so wichtig ist, müssten wir doch daran interessiert sein, ob sie auch zutrifft, ob Menschen wirklich die Fähigkeiten besitzen, die wir ihnen gemeinhin unterstellen – selbst wenn wir uns gar nicht vorstellen können, von dieser Unterstellung abzulassen.[11]
Insofern lässt sich nur schwer abstreiten, dass die intensive Forschungstätigkeit auf dem Gebiet menschlicher Willenshandlungen von großer Bedeutung für eine philosophische Auseinandersetzung mit dem Problem der Willensfreiheit ist. Ich werde daher unten auf einige der wichtigsten Ergebnisse eingehen; dennoch möchte ich hier schon vorwegnehmen, dass sich aus den immer wieder genannten Experimenten von Benjamin Libet keine Widerlegung der Willensfreiheit ergibt. Libet hatte in den achtziger Jahren festgestellt, dass einfache Bewegungen durch eine unbewusste neuronale Aktivität, das so genannte Bereitschaftspotential, schon eingeleitet werden, bevor die bewusste Entscheidung gefällt wird. Vielfach wird hieraus gefolgert, dass die eigentliche Entscheidung auf der Ebene unbewusster neuronaler Prozesse getroffen wird; der nachfolgende bewusste Willensakt sei dagegen eine für den Ablauf des Geschehens bedeutungslose Begleiterscheinung.
Würden die Experimente Libets tatsächlich derart weit reichende Folgerungen rechtfertigen, dann sähe es schlecht aus um die Existenz der Willensfreiheit in unserer Welt. Ich werde jedoch argumentieren, dass dies nicht der Fall ist. Eine besondere Rolle spielt dabei, dass in Libets Experimenten keine wirkliche Entscheidung zwischen mehreren Optionen vorkam, vielmehr war durch die Instruktion von vornherein festgelegt, welche Bewegung die Versuchspersonen vollziehen würden. Es wurde also gar nicht untersucht, ob die Versuchspersonen nach Einsetzen der neuronalen Aktivität nicht noch eine ganz andere Bewegung hätten vollziehen können. Daher lassen die Experimente offen, was durch das Bereitschaftspotential eigentlich festgelegt wird. Mittlerweile gibt es hierzu Experimente, aus denen hervorgeht, dass die von Libet gemessene neuronale Aktivität den Personen immer noch einen beachtlichen Spielraum lässt – von einer Vorwegnahme der bewussten Entscheidung durch unbewusste Gehirnprozesse kann daher kaum die Rede sein.
Libets Erkenntnisse bilden jedoch nur ein Fragment in einem großen Puzzle, von dem wir bislang erst einige Teile kennen. Andere wesentliche Punkte betreffen den zeitlichen Ablauf eines Willensakts, angefangen mit der Erwägung von Alternativen über die Festlegung auf eine dieser Alternativen, die konkrete Handlungsplanung bis zur Ausführung der Handlung. Wichtig ist auch die Frage, unter welchen Bedingungen wir uns selbst eine Handlung zuschreiben; neuere Experimente haben gezeigt, dass hier systematische Fehler vorkommen. Unter bestimmten Bedingungen neigen wir also dazu, uns Handlungen zuzuschreiben, deren Urheber wir nicht sind, bzw. umgekehrt, uns Handlungen nicht zuzuschreiben, deren Urheber wir sind. Schließlich gibt es mittlerweile überzeugende Belege für die Annahme, dass Emotionen eine zentrale Bedeutung in Entscheidungsprozessen zukommt. Dies gilt nicht nur für solche Entscheidungen, von denen wir sagen würden, dass wir sie »aus dem Bauch« oder gar im Affekt getroffen haben, sondern ebenso für scheinbar rein rationale Beschlüsse, die wir mit »kühlem Kopf« gefasst haben.
Es muss nicht eigens betont werden, dass auch solche Untersuchungen Zweifel an der Existenz von Willensfreiheit aufwerfen können, allerdings wird sich zeigen, dass zumindest aus den bislang vorliegenden Ergebnissen keine prinzipiellen Einwände abzuleiten sind. Dies schließt natürlich nicht aus, dass zukünftige Experimente zu solchen Einwänden führen.
Die Folgerungen für die Frage nach den Konsequenzen der Hirnforschung sind nicht schwer zu erkennen. Wichtig ist zunächst, dass es nicht so aussieht, als würde die neurowissenschaftliche Forschung früher oder später die Arbeit der Philosophie überflüssig machen; eher ist zu vermuten, dass gerade der Erkenntnisfortschritt in Bereichen, die bislang der empirischen Forschung weitgehend entzogen waren, neue philosophische Probleme aufwirft.
Zweifellos werden wir damit neue Einsichten in die Funktionsweise unseres kognitiven Systems, aber auch in den Ablauf von Willens- und Entscheidungsprozessen gewinnen, die unser Selbstverständnis verändern werden. Von einem »Frontalangriff auf unser Selbstverständnis und unsere Menschenwürde«, wie er von Wolf Singer prognostiziert wird, kann man bei einer nüchternen Beurteilung der derzeit vorliegenden Erkenntnisse aber wohl kaum sprechen. Entscheidend ist dafür nicht etwa, dass Philosophen plötzlich bessere Prognosen über die zukünftige Entwicklung der Hirnforschung machen könnten als die Hirnforscher selbst, entscheidend ist vielmehr, dass diese Prognosen Maßstäbe und Kriterien voraussetzen, die sich bei näherem Hinsehen als problematisch erweisen. Dies betrifft insbesondere die Unterstellung, Willensfreiheit und Determination seien nicht miteinander vereinbar.
Berücksichtigt man den heutigen Kenntnisstand in der Philosophie und in den empirischen Wissenschaften gleichermaßen, dann, so möchte ich am Schluss des vorliegenden Buches zeigen, besteht kein Anlass für die Erwartung eines solchen fundamentalen Umbruchs. Natürlich wird es zu Veränderungen kommen und natürlich werden wir bestimmte Grenzen neu ziehen und anders begründen müssen. Doch der derzeitige Stand der Forschung liefert keinen belastbaren Hinweis für die Annahme, dass unser Selbstverständnis hinsichtlich der hier untersuchten Fragen irrig ist. Auch wenn die Entwicklung in den empirischen Wissenschaften und die damit einhergehenden begrifflichen Veränderungen heute nur schwer vorauszusagen sind, so besteht doch kein Anlass zu der Befürchtung, wir würden in einigen Jahren erkennen müssen, dass einige der Überzeugungen völlig verfehlt sind, die grundlegend nicht nur für unser Selbstbild, sondern auch für unsere alltägliche und juristische Praxis sind.
Wie schon in der Einleitung erwähnt, möchte ich den Versuch machen, eine Konzeption von Willensfreiheit zu entwickeln, die folgende Anforderungen erfüllt:
Sie entspricht den wesentlichen vorwissenschaftlichen Intuitionen.
Sie lässt sich gegen zentrale philosophische Einwände verteidigen.
Sie liefert Ansatzpunkte für empirische Untersuchungen.
Sie zeigt, dass Freiheit auch in einer determinierten Welt möglich ist.
Nach einer kurzen Klärung wesentlicher Begriffe im weiteren Verlauf dieses Kapitels werde ich im zweiten Kapitel auf einige wichtige Vorschläge aus der neueren Freiheitsdiskussion eingehen: Auf Chisholms Theorie der Akteurskausalität, auf die u.a. von Nagel und Galen Strawson vertretene Auffassung, dass Freiheit schon aus theoretischen Gründen unmöglich sei, auf einen sehr raffinierten Vorschlag Robert Kanes zur Lösung eines der zentralen Probleme »starker« inkompatibilistischer Freiheitstheorien und schließlich auf die Theorie der Wünsche zweiter Ordnung, wie sie Harry Frankfurt entwickelt hat. Ich werde dabei nicht nur die Probleme dieser Konzeptionen herausstellen, sondern möchte auch deutlich machen, wo Ansatzpunkte für die hier vertretene Position zu finden sind. Im zentralen dritten Kapitel werde ich dann die angekündigte Minimalkonzeption der personalen Freiheit entwerfen, die den genannten Kriterien gerecht werden soll. Im vierten Kapitel werde ich untersuchen, ob diese Minimalkonzeption nicht zu anspruchslos ist. Es wird sich jedoch herausstellen, dass eine stärkere Konzeption nicht nur nicht notwendig ist, vielmehr ist sie auch gar nicht möglich.
Das fünfte Kapitel wird sich bemühen, Bezüge herzustellen zwischen den bislang entwickelten Maßstäben für freie Handlungen und der empirischen Forschung. Im Mittelpunkt wird die Frage stehen, wie sich das hier skizzierte Modell mit psychologischen Erkenntnissen über den Ablauf willentlicher Handlungen verträgt, ich werde aber auch Erkenntnisse über die Zuschreibung und Beurteilung willentlicher Handlungen in anderen Kulturen präsentieren und auf die häufig zitierten Experimente von Benjamin Libet über das Verhältnis zwischen bestimmten neuronalen Aktivitäten und bewussten Willensakten eingehen. Im sechsten Kapitel werde ich schließlich auf die Bedeutung des Problems der Willensfreiheit für die Rechtswissenschaft, konkreter für die Zurechnung von Schuld und die davon abhängige Rechtfertigung des staatlichen Strafens, eingehen.
Es dürfte sinnvoll sein, zunächst einige begriffliche Voraussetzungen zu klären. Dies ist nicht zuletzt deshalb notwendig, weil wir immer noch kein wirklich angemessenes Vokabular für die Bezeichnung von geistigen Prozessen besitzen. Dies zwingt zum Gebrauch von metaphorischen oder verdinglichenden Redeweisen. So wird aus dem Personalpronomen der ersten Person Singular »das Ich«, aus der Eigenschaft des bewusst Seins »das Bewusstsein« und schließlich aus dem Verb »wollen« das Substantiv »Wille«. Der Gebrauch solcher Redeweisen ist häufig unvermeidlich und er ist auch unproblematisch, solange man sich ihres behelfsmäßigen Charakters bewusst ist – andernfalls kann es zu geradezu kuriosen Missverständnissen kommen, etwa der Gegenüberstellung von »meinem Ich« mit »meinem Gehirn«. Das Ich wird dann zu einem Homunkulus, einer inneren Person, die die Aktivitäten des Gehirns beobachtet und mit mehr oder minder großem Erfolg zu beeinflussen versucht, doch wenn sie Pech hat, dann kann sie durch das Gehirn zu Dingen veranlasst werden, die sie gar nicht will.
Natürlich reicht es nicht aus, sich gegen solche Missverständnisse zu wappnen. Genauso wichtig ist es, dass man im Zweifel auch genauere Angaben darüber machen kann, was sich hinter diesen Redeweisen verbirgt; man muss also die konkreten Eigenschaften oder Fähigkeiten angeben können, die eine Person besitzen muss, damit man ihr ein Ich, Bewusstsein oder eben einen Willen zuschreiben kann.
Wenn man also einer Person einen bewussten oder gar einen freien Willen zubilligt, dann sollte man nicht erwarten, dass irgendwo im Innern der Person oder ihres Gehirns ein geheimnisvolles Etwas namens »Wille« zu finden sei, von dem die Ausführung einer Handlung abhängt und das außerdem noch unmittelbar dem Bewusstsein zugänglich oder gar frei ist. Ein solches Etwas gibt es nicht, ja es ist noch nicht einmal wirklich klar, was man sich darunter vorzustellen hätte. Dennoch kann man selbstverständlich davon sprechen, dass Personen etwas wollen, und wenn sie dies tun, dann haben sie eben einen Willen – ganz ohne ein geheimnisvolles inneres Etwas.
Im Folgenden wird dieser Wille von den Wünschen einer Person unterschieden. Einen Wunsch hat eine Person dann, wenn sie eine positive Einstellung zur Realisierung eines Sachverhaltes hat. Dieses Verhältnis kann in einer emotionalen Reaktion, aber auch in einem Urteil zum Ausdruck kommen. Ein Wunsch lässt es zu, dass die Person andere, möglicherweise konkurrierende Wünsche hat. So schließt etwa der Wunsch, eine Zigarette zu rauchen, nicht aus, dass ich gleichzeitig den Wunsch habe, möglichst gesund zu leben. Unter Umständen ist es ausschließlich dieser letzte Wunsch, der mein Handeln bestimmt, so dass ich in meinem Leben faktisch keine einzige Zigarette rauche. Erst dann, wenn man sich für einen Wunsch entscheidet und ihn damit handlungswirksam werden lässt, macht man den Wunsch zu seinem Willen. Der Wille einer Person ist also ihr handlungswirksamer Wunsch.
Anders als der Wille kann sich ein Wunsch zudem auch auf solche Sachverhalte beziehen, die außerhalb des Einflussbereiches einer Person liegen: Ich kann wünschen, dass das Wetter morgen besser wird, aber ich kann mich nicht entscheiden, dass dies so sein soll, und daher auch nicht diesen Wunsch zu meinem Willen machen.[12]
Betrachtet man den konkreten psychischen Prozess, der von der Abwägung der unterschiedlichen Wünsche und der dazugehörigen Handlungsoptionen über eine Entscheidung für eine bestimmte Option bis zu deren Realisierung führt,[13] dann kann man auch von einem »Willensakt« sprechen. Willensakte sind also zeitlich bestimmbare psychische Ereignisse, die der Auswahl und Realisierung von Handlungsoptionen dienen. Diese Realisierung kann sich in einer einzigen Handlung vollziehen; man kann sich aber auch grundsätzlich für ein bestimmtes Handlungsschema entscheiden (»Ich werde nie mehr an der Haustür kaufen«), so dass die Realisierung eine Vielzahl von Handlungen umfasst.
Alltagssprachlich bezeichnen wir häufig Personen als frei. Solche Behauptungen sind jedoch in der Regel von Urteilen über die Handlungen dieser Personen abgeleitet. Offenbar kommen damit unnötige Unklarheiten ins Spiel, wenn man Freiheit in erster Linie als Eigenschaft von Personen auffasst. Ist eine Person nur dann frei, wenn sie immer frei handelt, oder muss nur ein bestimmter Anteil ihrer Handlungen frei sein? Wenn ja, wie groß sollte dieser Anteil mindestens sein? Um solche Unklarheiten zu vermeiden, werde ich im Folgenden Freiheit primär als Eigenschaft von Handlungen bzw. von Willensakten betrachten, wobei selbstverständlich unterstellt wird, dass es sich um Handlungen bzw. Willensakte von Personen handelt.
Wenn man Freiheit als eine Eigenschaft von Handlungen bestimmt, muss man natürlich etwas darüber sagen, was man unter einer Handlung versteht. Typische Beispiele von Handlungen liegen vor, wenn eine Person ein Glas zum Mund führt oder eine bestimmte politische Partei wählt. Handlungen unterscheiden sich von bloßen Widerfahrnissen, von denen man sprechen würde, wenn eine Person versehentlich ein Glas umwirft oder wenn sie stolpert.
Ohne weiter auf die Details und Streitpunkte der Handlungstheorie einzugehen, werde ich davon ausgehen, dass Handlungen Ereignisse sind, die sich gegenüber anderen Aktivitäten von Personen dadurch unterscheiden, dass sie sich durch Handlungsgründe erklären lassen.[14] Handlungsgründe setzen sich in der Regel aus Wünschen und Überzeugungen zusammen: Im einfachsten Falle hat eine Person einen Wunsch und entscheidet sich dann für diejenige Handlungsoption, die ihrer Überzeugung nach die besten Aussichten für eine Realisierung dieses Wunsches eröffnet. So könnte man davon sprechen, dass die Person das Glas zum Mund geführt hat, weil sie den Wunsch hatte, ihren Durst zu löschen, und überzeugt war, dass der Griff nach dem Glas besonders gut zur Erfüllung dieses Wunsches geeignet sei. In einem anderen Falle könnte eine Person eine Partei gewählt haben, weil sie den Wunsch nach gewissen politischen Veränderungen hatte und überzeugt war, dass die betreffende Partei genau dies bewirken werde. Erklärungen für bloße Widerfahrnisse kommen ohne einen unmittelbaren Bezug auf Gründe aus. Will man also erklären, warum eine Person ein Glas umgestoßen hat oder gestolpert ist, dann kann man z.B. darauf verweisen, dass das Glas schlecht zu sehen war, dass ein Stein im Weg lag oder die Person kurzzeitig unaufmerksam war.
Ich gehe davon aus, dass Handlungsgründe nicht notwendigerweise Gegenstände bewusster Willensakte sein müssen. Es gibt viele Aktivitäten, die wir zweifelsfrei als unsere eigenen Handlungen betrachten, ohne dass wir dazu ausdrücklich einen bewussten Willensakt vollziehen. Ein mögliches Szenario wurde bereits genannt: So könnten wir in der Vergangenheit einmal eine explizite Entscheidung getroffen haben, uns in Situationen eines gewissen Typs immer auf eine bestimmte Weise zu verhalten (»Ich werde nie mehr an der Haustür kaufen«), und diese Handlungen dann fortan ohne weitere Entscheidungen gleichsam »automatisch« ausführen. Denkbar wäre auch, dass wir uns an eine Handlungsweise gewöhnt haben, ohne dass wir uns explizit dazu entschlossen hätten, dennoch kennen wir die Konsequenzen unseres Tuns aus Erfahrung und akzeptieren sie.
Eine der zentralen Intuitionen, mit denen sich jede Diskussion über die Willensfreiheit auseinandersetzen muss, besteht in der Vorstellung, dass man nicht frei zu handeln vermag, wenn man keine Handlungsalternativen besitzt. In der Philosophie wird diese Vorstellung häufig als das »Prinzip der alternativen Möglichkeiten« bezeichnet. Frei handle ich diesem Prinzip zufolge also nur dann, wenn ich in der fraglichen Situation auch etwas anderes hätte tun können, als ich tatsächlich getan habe. Entgegen dem ersten Eindruck ist es nicht von vornherein klar, was es genau heißt, dass man etwas anderes hätte tun können. Da diese Frage von zentraler Bedeutung für jede Konzeption von Freiheit ist, werde ich sie weiter unten noch ausführlicher diskutieren.[15]
Die offenbar zentrale Bedeutung alternativer Möglichkeiten für das Urteil darüber, ob eine Handlung frei ist, hat auch Konsequenzen für die Beschreibung von Handlungen. Vielfach wird nämlich einfach nur davon gesprochen, dass eine Person eine Handlung eben hätte unterlassen können. Dies ist jedoch unzureichend, solange die zur Verfügung stehenden Alternativen nicht explizit genannt werden.
Demonstrieren lässt sich dies an der Behauptung, der Mörder habe den tödlichen Schuss unterlassen können. Offenbar macht es einen großen Unterschied, ob seine Alternative darin bestand, das Opfer nur auf eine andere Weise umzubringen, oder darin, es völlig zu verschonen. Freiheit hat also etwas mit der Größe des zur Verfügung stehenden Spielraums zu tun. Gibt es signifikante Unterschiede zwischen den verfügbaren Alternativen, dann ist der Spielraum der Freiheit groß; sind die Differenzen dagegen vernachlässigbar klein, dann wird der Spielraum eingeschränkt, bis im Extremfall faktisch nur noch eine Handlungsalternative übrig bleibt. Diese Unterschiede werden jedoch nicht erfasst, wenn man von bloßer Unterlassung spricht. Im Zweifelsfall sollte man daher die Alternativen explizit benennen. So kann man etwa darauf hinweisen, dass eine Person in einer bestimmten Situation die Freiheit besaß, x oder y zu tun, während ihr die Option z nicht zu Gebote stand.