Im Gleichschritt, Ossis kehrt! - Volkmar Tietz - E-Book

Im Gleichschritt, Ossis kehrt! E-Book

Volkmar Tietz

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Beschreibung

Die Familie Hinz ist in zweifacher Hinsicht Ossi geprägt. Aus Pommern geflohen, wird sie über das dänische Flüchtlingslager nach Thüringen ausgesiedelt. Der Vater ist im Krieg geblieben. Der jüngste Sohn hat die Fluchtstrapazen nicht überlebt. In der sowjetischen Besatzungszone kämpft die Mutter mit ihren vier Kindern ums Überleben, in der DDR vom ersten Tag an um Sozialisierung. Die beiden Mädchen entfliehen aus wirtschaftlichen und religiösen Gründen diesen Mühsalen. Sie wandern nach Amerika aus. Die beiden Jungen, Ernst und Christoph, studieren nach Umwegen der Handwerkerlehre und Abiturnachholung, der ältere Natur-, der jüngere Geisteswissenschaften. Die ideologieträchtige Fachrichtung Germanistik/Slawistik/Romanistik stellt Christoph vor hohe Herausforderungen. In der DDR muß er sich vielfältiger Nötigungen erwehren. Die stabile Solidargemeinschaft und der pommersche Widerstandsgeist helfen ihm, sie zu überstehen. Er schafft es zum Hochschullehrer. Für die westdeutschen Eiferer in der Wendezeit ist diese Berufsstellung ein Brandmal von DDR-Hinterlassenschaft, die schnell loszuwerden erstes Bestreben jedes aufrechten Demokraten sein muß. Leute wie Christoph haben schlimme Taten mit gutem Gewissen vollbracht und die dabei angefallenen Leichen im Keller vergraben. Überprüfungen werden scheindemokratisch angeordnet, natürlich unter westdeutscher Hoheitsmacht. Offenbaren sich statt der Leichen fachliche Kompetenz, Integrität, Rechtschaffenheit und ein heimatbezogenes Wertebewußtsein, wird das Ergebnis einfach ignoriert und mit fein gesponnenen Intrigen, Mobbing, findigen Rechtsbrüchen, Lug und Trug, Machtarroganz dem geplanten Ziel der Entledigung zugeführt. Das Buch, in 14 Kapiteln gegliedert, zu einer Hälfte in der DDR-Wirklichkeit angesiedelt, zu anderer in der bundesdeutschen Anschlußgesellschaft, ist intentioniert politische Tendenzdichtung. In ihr wird ein Fülle repräsentativer Episoden erzählt, die das Leben, wie es wirklich war, im Grunde selbst geschrieben hat. Der Leser kann an ihnen nacherleben, warum die Ostdeutschen in so großer Zahl ein eigenes Demokratieverständnis entwickelt haben und ihnen der praktizierte Rechtsstaat reichlich fernliegt. Sie lassen sich nicht unterkriegen. Sie sind nicht die gebrandmarkten Jammerlappen. Sie packen an und leben selbstbestimmt nach eigenen - ostdeutschen - Werten.

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INHALT

Heimisch werden im fremden Osten

Leben neu lernen

Schulleben. Langeweile und Ärger ohne Ende

Beruf ohne Berufung

Ankommen im Sozialismus

Patriotischer Quantensprung

Vom Ich zum Wir und zurück

Berufung im Beruf

In der Nische des Unrechts

Wendezeit – Wenderecht

Arbeit oder Freiheit. Wohin sich wenden?

Freiheit ohne Arbeit. Was tun?

Selbständig sein auf ostdeutsch

Im geschichtlich Verborgenen. Die Suche nach dem Ich

HEIMISCH WERDEN IM FREMDEN OSTEN

In R., einem Flüchtlingslager an der Nordseeküste im dänischen Jütland, war zwei Jahre nach Ende des Dritten Reiches ein heißer Sommertag angebrochen. Christoph durfte mit allen Kindern, die wollten, das Lager verlassen. Die dänischen Soldaten brachten sie zum Strand. Dort wurden sie der Rettungswacht, alles Schwimmerinnen wie seine große Schwester Gritta, übergeben. Bei solchen Gelegenheiten war Christoph immer vorneweg: stundenlang baden, die Muscheln mit den Zehen aus dem Sand puhlen, Ball spielen, Drachen aus Zeitungspapier, wahre Kunstgebilde, steigen lassen. Am liebsten bauten die Kinder Sandburgen. Christoph verpaßte es nie, bei einem der Soldaten auf den am Gürtel hängenden Feldspaten zu klopfen und freundlich, aber ziemlich laut zu fragen: »Gibst du ihn mir? Du kriegst ihn auch ganz sauber wieder zurück!« Kaum anzunehmen, daß der Soldat deutsch verstand. Aber die Willensbekundung war so eindeutig, daß der eingeübte Spruch immer seine Wirkung entfaltete. Der Soldat löste den Spaten aus der Schlaufe, übergab ihn Christoph, bald mit einem Klaps, bald mit einer aufmunternden Bewegung, bald mit einem neckenden Fingerzeig, er dürfe den Spaten nicht verschlampen. Soldaten, die diesen Ritus kannten, entledigten sich schon vorher des Spielgeräts, so daß Christoph zufaßte, wo er konnte und an seine Spielkameraden verteilte. Auch heute war das so. Im Nu war ein halbes Dutzend Spaten verteilt, und man kam überein, einen Wettkampf um die größte und schönste Strandburg zu bestreiten. Christoph, einer der kleinsten, auf jeden Fall der schmächtigste dieser Gruppe, legte sofort los. Er war als erster mit dem Bau fertig. Aber noch ehe die spielende Meute in Obhut einer Rettungsschwimmerin den Sieger ermitteln konnte, hatte eine Makrowelle Christophs Burg weggeschwemmt. Vor Wut warf er sich zu Boden, mitten in die abfließende Wellenlache. Schreien konnte er nicht. Das hatte er sich auf der Flucht abgewöhnt. Stattdessen hieb er mit der rechten Handfläche auf den breiigen Sand, so daß der wie eine Fontäne emporspritzte.

Mit sich unzufrieden und körperlich völlig kaputt kehrte er ins Lager zurück. Beim Wechseln der pitschnassen Kleidung schlief er im Sitzen ein. Gritta rüttelte ihn an der Schulter: »Schluß mit dem Faulenzen. Wir gehen nach Deutschland. Endlich kommst du in die Schule, wo du längst hingehörst.« Sie schwenkte ihm eine Bratkartoffel unter der Nase vorbei und schob sie zwischen seine Zähne, als er die Augen aufmachte. Solche Extras hatte sie als vorsorgliche Lagerköchin immer vorrätig. Die Mutter strich ihm über den Kopf.

»Mein Kleiner, Gritta hat recht. Wir fahren morgen zur Oma nach Thüringen.«

»Aber warum so schnell? Dietmar hat mir vorhin gesagt, wir können noch den ganzen Sommer hier baden. Sie wollen nach Bersenbrück. Wir können doch mit ihnen zusammenfahren.«

»Nein, mein Kleiner, wir sind in einem dänischen Flüchtlingslager. Nicht wir bestimmen, wann und wohin es nach Deutschland geht, sondern die Lagerleitung.«

»Nicht einmal die! Die da oben in Kopenhagen, entscheiden das im Auftrag höherer Mächte«, belehrte Gritta

»Die Oma hat schon zweimal gemahnt, daß wir kommen sollen. Und Vati muß wissen, wo wir sind, wenn er freikommt. Ist das nicht gut so?«

Gritta schlug die Hände vors Gesicht: »Mutti, was soll das? Vati ist tot. Wo immer er war, hat er ein Lebenszeichen von sich gegeben, jeden Tag. Er hat sogar davor gewarnt, in Omas Haus zurückzukehren. Jetzt sind zweieinhalb Jahre vergangen.«

»Ich verbiete dir, so zu sprechen! Millionen Familien haben dieses Schicksal, und sie halten durch. Wir auch, Schluß!«

Die Mutter riss drei Koffer von den Spinten. Die Sperrholzwandungen krachten auf den Fußboden. An der Ecke eines Koffers zerfetzte die Uniformstoffverkleidung.

»Näh das zu! Und dann packen, aber hurtig!«

Ein unterdrücktes Schluchzen der Mutter ließen Christophs Geschwister auffahren. Gritta, davon unbeeindruckt, kommandierte: »Ernst, Irma, in diesen Koffer die Schuhe, die Mäntel, das Spielzeug und das Essen. Vergeßt nicht, die getrockneten Brotkringel von den Fäden zu ziehen! In den mittelgroßen Koffer die Pullover! Wenn ihr fertig seid, setzt ihr euch drauf, damit wir die Deckel zukriegen!

Den hier, packe ich selbst. Da hinein kommt das ganze Feinzeug, das wir mit so viel Mühe zusammengewerkelt haben. Christoph, du paßt auf, daß nichts liegenbleibt, alles auflesen!«

Es war Abend geworden. Alle zogen ihre Reisekleidung an, um sich am Grab von ihrem Jüngsten zu verabschieden. Der fünf Monate alte Daniel war an »Hungertyphus« kurz nach Ankunft im Lager gestorben. Sie stellten sich um das Grab herum, legten Feldblumen nieder, beteten, jeder für sich im Stillen, bis die Mutter laut »Amen!« sagte.

Am nächsten Morgen ging es tatsächlich los. Die Fahrt nach Gedser verlief so schnell, daß Gritta den eingeschlafenen Christoph wecken mußte. Jetzt gab es viel zu sehen, keine Zeit zum Wiedereinschlafen. Überall Wracks in der Hafenausfahrt. Wenige Bergungsschiffe arbeiteten an der Fahrtrinne. In Warnemünde mußten die Koffer zum Bahnhof bugsiert werden. Alle Flüchtlinge waren mit sich beschäftigt. Niemand half. Irma und Ernst steckten den Knauf des Regenschirms durch den Henkel des Koffers mit dem Feinzeug und trugen gemeinsam, Gritta und die Mutter die beiden anderen. Gritta hatte Christoph einen Rucksack übergestülpt, der viel zu groß über seine Schultern rutschte. Obendrein schleifte er eine Handtasche mit überlangen Henkeln hinter sich her. Gritta drohte mit einer Ohrfeige, doch die Mutter schritt ein: »Laß ihn, wir schaffen das auch so!« In schleppender Gangart erreichte die Familie als letzte den Zug. Sie mußte sich hineindrängen. Gritta zwängte sich auf einen Außenperron. Die Mutter fluchte: »Vermaledeite … , wie sollen wir so nach Thüringen kommen?«

Nach zwei Stunden hielt der Zug auf einer kleinen Station. Auf dem Bahnsteig winkten Bewaffnete, Russen und Deutsche: »Aussteigen, aussteigen, der Zug endet hier!«

Nach einer Weile ertönte das Kommando: »In Viererreihen aufstellen, rechts der Straße, wir gehen in ein Lager.«

Gritta fragte einen deutschen Uniformierten mit betont freundlicher Geste: »Wo sind wir, was sollen wir in dem Lager?«

Sie bekam sogar Antwort, wenn auch abgehackt: »In Rhena, Quarantäne, 10 bis 12 Tage, Keine Kontakte, keine Ausnahmen, Lagerordnung einhalten!«

Die Mutter atmete auf: »Das ist doch ganz in der Nähe von Hertha und Anton.«

Bald kamen die Baracken in Sicht, von außen heruntergekommen. Bevor die Flüchtlinge sie betreten durften, wurde ihnen die dänische Marschverpflegung abgenommen. Die Taschen und Rucksäcke wurden durchsucht, die Koffer nicht.

Das quittierte Gritta mit einem Grinsen: »Das Trockenbrot bleibt unsere Eiserne Ration.«

Drinnen sah es furchtbar aus. Keine Betten, keine Schränke, keine Sitzgelegenheiten, der Boden mit Stroh bedeckt ohne Zudecken, ohne Trennwände. An den Innenwänden hingen Fetzen schmutziger Tapeten.

»Mein Gott, das ist ja schlimmer als auf der Flucht zum Hela-Sund«, stöhnte Gritta.

Christoph ruckelte an ihrer linken Hand, was er immer tat, wenn er beachtet werden wollte: »Aber hier hängen keine Soldaten an den Bäumen, und Feuerkugeln rollen auch nicht durch den Wald.«

»Das weißt du noch?« Die Mutter strich ihm ich die Haarsträhnen aus der Stirn. »Wir werden auch das hier heil überstehen!«

Es war ein warmer Julitag. Niemand fror in der Nacht. Aber am nächsten Morgen kratzten sich alle in den Haaren oder an nackten Körperstellen, wo kleine Wanzenbisse, wie Gritta sofort feststellte, zu jucken anfingen.

»Mutti, dein Wort von gestern in Gottes Fügung!«

Zu frühstücken gab es nichts. Alle Stuben wurden auf Kommando geräumt, das Stroh auf dem Appellplatz verbrannt. Arbeiter in Schutzkleidung kamen und sprühten alles aus. In den Waschräumen herrschte Hochbetrieb. Jeder wollte sich die Haare waschen – mit einem Laugenzusatz, der nur für die knappe Hälfte der Lagerinsassen reichte. Frisches Stroh war in der Eile nicht zu beschaffen. Man schlief die nächsten Nächte auf morschen Dielen oder auf Beton. Der Kampf gegen das Ungeziefer war in einem Ritt nicht zu gewinnen. Die Prozedur mußte in Teilen wiederholt werden. Die Kofferinhalte wurden auf den Rasenflächen ausgeschüttet und sodann in einer Seifenlauge gewaschen. Die Aufseher entdeckten die gut versteckten Brotkringel und beschlagnahmten sie.

»Warum haben Sie das verpestete Zeug nicht abgegeben, als Sie dazu aufgefordert wurden. Wollen Sie das ganze Lager krank machen? Ihre Rationen werden halbiert, für drei Tage!«

Gritta regte sich maßlos auf. Die Mutter beruhigte sie mit einem energischen Wink. »Du läufst heute Nacht zu Tante Hertha! Du weißt doch, Vatis älteste Schwester, die Onkel Anton, den Elektromeister, geheiratet hat, als du im ersten Lehrjahr warst? Die haben einen schönen Bauernhof in der Nähe, in P.«

Nachts entwich Gritta aus dem Lager, lief zu Tante Hertha, zwei Stunden Fußweg entfernt, erstattete dort Bericht über die Internierung der Familie und war pünktlich zum Frühstück mit einem Korb voller Brot, Butter, Eier, Schinken und Speck zurück. Viel schwieriger als die Schmuggeltour war, all die köstlichen Sachen zum Essen aufzubereiten, ohne daß es jemand merkte. Das ging nur, indem die nächsten Nachbarn ins Vertrauen gezogen wurden. Sie bildeten einen Kreis, als würden sie das Morgengebet verrichten. Geduckt aßen sie gemeinsam die improvisierte Tafel leer.

Die Quarantäne dauerte volle zwölf Tage. Keiner der Flüchtlinge hatte eine Krankheit eingeschleppt. Alle hatten sich im Lager infiziert.

Zur Abreise wurde anscheinend derselbe Zug bereitgestellt. Dieselbe Enge, dieselbe stickige Luft an diesem Hochsommertag. Rauch der Lokomotive drang in die Abteile.Diesmal war Gritta vorausgegangen und hatte genügend Sitzplätze mit Beschlag belegt. In der Gegend von Magdeburg wurde der Zug bei glühend heißen Temperaturen in offener Landschaft abgestellt. Die Zuginsassen stöhnten vor Durst. Gritta, die einen Blick für Bauernhöfe hatte, beschaffte eine Milchkanne voller Brunnenwasser. Alles stürzte sich drauf. Die Kanne war in Sekundenschnelle leer. Gritta wiederholte das Spiel, immer gewärtig, daß der Zug ohne sie abfährt. Der nächste Halt war Halle. Dort wurde im Zug übernachtet, ohne Essen, ohne Trinken.

An nächsten Morgen durfte die Familie den Flüchtlingszug verlassen und in Regionalzügen »nach Fahrplan« die Reise fortsetzen. Sie mußte noch einmal umsteigen, ehe sie am Abend im thüringischen S. eintraf.

Oma und Frieda, die jüngste Schwester der Mutter, hatten stundenlang gewartet. Sie begrüßten die Ankommenden.

Die Oma seufzte: »Gott hat unser Warten belohnt.«

Frieda stand schlaff neben ihr. Nur das Gesicht war angespannt.Gritta nahm es als »verbiestert« wahr, umarmte die Wartenden mit Anstand, wie es sich gehört. Die Mutter überspielte eine gewisse Verlegenheit wortreich ohne Gesten:

»Von Gedser bis hierher gut zwei Wochen. Fürchterlich! Ohne Hertha hätten wir das nicht durchgestanden. In Halle haben sie reihenwese die Ohnmächtigen aus dem Zug geholt. Durst, Durst! Habt ihr etwas zu trinken?«

»Oh ja, eine Porreesuppe!«Frieda schwenkte eine Kasserole: »Die ist nun leider kalt.«

Irma und Ernst standen scheu auf Abstand, Christoph noch etwas weiter weg. Ihn hatte der Porreegeruch, den er nicht ausstehen konnte, in die Flucht getrieben.

Frieda löffelte einen Gemüsebrocken heraus: »Das ist etwas Besonderes, Porree in Ziegenrahm geschmort. Wer möchte?«

Alle, außer Christoph, aßen artig und tranken gierig die zugeteilte Flüssigkeit. Frieda achtete darauf, daß ein Rest verblieb. Sie preßte die Kasserolenkante an Christophs Lippen: »Trink, mein Junge, das ist gut gegen den Durst!«

Und tatsächlich, Christoph trank hastig, so daß er sich mehrfach verschluckte.

Die Oma wies auf ein zusammengeschobenes eisernes Fahrwerk, das an der Wand des Bahnhofsgebäudes bisher unbemerkt geblieben war. »Schnallen wir die Koffer auf!«

Gritta untersuchte sofort das merkwürdige Gefährt. Die Vorderräder stammten von einem MG-Lader. Sie steckten in einer Gabelachse, die mit einer Deichsel verbunden war. Daran war ein Innenrohr verschweißt, das in die Außenrohrverbindung der Hinterradachse kurz oder lang verstöpselt wurde. Die klobigen Hinterräder hatte wohl ein Schuster, jedenfalls kein Stellmacher, zusammengewerkelt.

Frieda fühlte sich zu einer Erklärung veranlaßt. »Den Wagen hat der Peter, der Bräutigam meiner Adoptivtochter Annemarie, gebaut. Du wirst sehen, Gritta, wie leicht er sich fährt.«

Die Koffer wurden an den auf dem Chassis angeschweißten Rohren in Ösen befestigt. Gritta spannte sich vor die Deichsel. Der Wagen fuhr sich fast von selbst. Gritta warf ihrer Tante einen verschmitzt bestätigenden Blick zu.

»Das bleibt nicht so«, wehrte Frieda ab. »Wenn wir die Bahnhofstraße hoch sind und in die Altstadt hinunterfahren, wird der schwere Wagen dich schieben, so daß du ihn nicht mehr halten kannst. Ich werde einen Stock in die Speichen stecken und mit dem Stumpf bremsen.«

Bevor es dazu kam, hörten sie hinter sich ein lautes Aufheulen. Alle schauten sich um. Da stand Christoph an der Buschbegrenzung des Gehweges, die Hände an der kurzen Hose abwischend. Er hatte einen explosiven Durchfall nicht halten können. Durch beide Hosenbeine sickerte die braun-grünliche Brühe bis in die Schuhe hinein. Der Mutter schützende Hand verhinderte die Ohrfeige, zu der Gritta gerade ausholte. Geistesgegenwärtig hob sie den Bruder an den Ellbogen hoch ins Gebüsch, zog ihm die beschmutzten Kleidungsstücke aus, wischte mit allem Papier, Taschentüchern und Stofffetzen, derer sie habhaft werden konnte, den Körper blank, so gut es eben ging. Die Passanten wurden des Schaustücks erst gewahr, als die Koffer mitten auf dem Gehsteig geöffnet wurden, um Ersatzkleidung herauszusuchen.

Frieda hob die Hände gegen die Oma, die gerade ein Stückchen Unterrock mit den Zähnen herauszureißen versuchte. »Das geht gut los. Was kommt da noch?«

Die Reisegesellschaft erreichte Omas Haus ohne weitere Zwischenfälle. Man mußte zweimal hinschauen, um es als Haus anzuerkennen. Es wurde eingezwängt gehalten von der ehemaligen Hofdruckerei und einer Pferdeschlächterei. Da konnte nur Gott ein Einsehen gehabt haben, die schmale Restfläche für die Küsterin freizuhalten, bis ihr Ehemann nach 27-jähriger Schufterei im Bergbau das Häuschen hineinsetzte. Als letztes in der stattlichen Straße nahe der Kirche gebaut, als erstes verfallen, neigte sich die obere Vorderseite bedenklich der Straße zu.

Den Eintretenden bot sich das Haus nicht entspannter. Der Flur erlaubte zwar noch den aufrechten Gang, aber schon auf der steilen Treppe mußte sich der Körper der Enge anbequemen. Nur einzeln konnte man hochklettern oder sich hinabgleiten lassen. Begegneten sich zwei Bewohner, quetschte man sich auf einem der zwei gewinkelten Absätze vorbei. Essen oder Geschirr zu transportieren war bruchlos ganz unmöglich.

Das Haus hatte drei Schlafkammern, wo je zwei Personen gebettet werden konnten, zwei winzige Wohnzimmer, die Küche im Obergeschoß und die Waschküche, der größte Raum, unten neben dem Flur. Die Waschküche war die Lebensader des Hauses. Hier entschied sich das Wohl und Weh der Hausbewohner. Zu Zeiten, als die zehnköpfige Familie auf nebenbäuerliche Selbstversorgung angewiesen war, diente sie als Viehküche. Durch sie gelangte man in den Vorratskeller. Mochte diese ebenerdige Raumfülle die hungrigen Mäuler der acht Kinder noch halbwegs stopfen, zur geistigen Nahrung reichte sie nicht aus. Nicht einmal die göttliche Fügung, die die Mutter der Erziehung der vier Jungen und Mädchen überantwortete, konnte da etwas ausrichten. Die sonstige Enge des Hauses stiftete unter den heranwachsenden Geschwistern Unfrieden zuhauf und trieb die sechs friedfertigsten schon mit Antritt der Lehre aus der Bergmannsfamilie.

Den angekommenen Flüchtlingen wurde das kleine Wohnzimmer mit einer Schlafkammer im Hochparterre zugeteilt.

Gritta kannte das Haus aus Kindeszeiten. Sie war im Vorschulalter wiederholt bei der Oma gewesen, wenn Vater und Mutter auswärts arbeiteten und für die Tochter weder Bleibe noch Zeit hatten. Die Oma nannte sie »Prinzeßchen«, und sie behandelte sie auch so. Keine Übertreibung! Sie war die Straßenprinzessin für Mensch und Tier. Die Pferde vom gegenüber liegenden Handelshof wieherten, wenn sie sie striegelte. Sie stießen mit den Nüstern an ihre Schläfe, und sie dankte es ihnen mit Wangenschmusen. Der ansonsten bissige Hofhund tollte mit ihr bis zur Erschöpfung. Danach mußte sie seinen Ableckattacken widerstehen. Der Drucker aus dem linken Nachbarhaus schenkte ihr stets ein Bilderbuch, wenn eines erschien. Und im Auto der Bernhardts aus der Schlächterei durfte sie mitfahren, wenn es zum Baden an einen auswärtig gelegenen See ging.

In Haus und Hof hatte sich seitdem nichts verändert. Vertrautheit kam dennoch nicht auf. Frieda unterwies ihre ältere Schwester:

»Liesel, wenn die Kinder nachts aufs Klo müssen, vorsichtig ziehen, nicht die Tür vorschnell öffnen! Im Haus schallt alles. Nicht unseren Schlaf stören! Du weißt, Anna ist sehr nervös. Auf der Treppe die Kerze nicht schief halten! Das Sterin tropft auf die Treppe. Ich muß es dann mit dem Messer mühevoll abschaben. Den Hof betreten, nur wenn die Hühner und Ziegen im Stall sind! Die sind sehr scheu gegenüber Fremden und legen keine Eier und geben keine Milch mehr … «

»Frieda, ich kenne das Haus«, unterbrach die Mutter den Wortschwall, »und wie ich höre, bist du noch immer dieselbe. Da brauche ich mich gar nicht umzustellen.«

Ein schnippisches »Schlaft gut!« ertönte, und sofort kehrte überall Ruhe ein.

Gritta legte sich unter den Tisch, um nicht den Durchgang zur Toilette zu versperren. Die Geschwister waren wie Heringe in eine Kiste, die Schlafkammer hieß, eingelegt. Und so schliefen sie wohl auch vor Erschöpfung! Sie selbst fiel sofort in tiefen Schlaf, wachte mit verspannter Schulter bald wieder auf. Das wiederholte sich in drei, vier Schüben, bis der Morgen graute. ›Hier kannst du nicht bleiben‹, schreckte sie hoch. Sie schlich sich in die Küche, wo Tante Frieda schon eine Milchsuppe kochte. Lethargisch tunkte sie einige Schwarzbrotbrocken in ihren dampfenden Teller, rührte mit dem Löffel darin, stand auf, ging wieder hinunter, ohne einen Bissen genommen zu haben. Die Mutter war dabei, die Schlafstatt wieder in ein Wohnzimmer zu verwandeln. Gritta zog sich langsam mit großer Sorgfalt an, während die Mutter die gestrige Ankunft kommentierte:

»Gritta, wenn die Oma nicht wäre, müßten wir uns schnell etwas anderes suchen. Wir sind hier nicht willkommen. Ich glaube, wir haben im dänischen Lager einen Fehler gemacht. Ich bin mal wieder ein Opfer meiner ehrlichen Haut geworden. Ich hätte unsere Verwandten verschweigen müssen. Lieber ein halbes Jahr länger Lagerleben als das hier.«

Gritta winkte, Müdigkeit vortäuschend, ab, ging ein paar Schritte auf die Mutter zu und sagte gedehnt, in kurzer Umarmung: »Erholt euch schön, ich gehe auf Arbeitssuche!«

Gritta hatte von Natur aus Zivilcourage. Sie wollte keine Arbeit vermittelt haben. Sie wußte, wo sie sie finden konnte. Sie ging von Dorf zu Dorf, schier endlos das Städtchen im Blick behaltend, fragte auf den Bauernhöfen nach freien Stellen, bis sie, schon zur Mittagszeit, pfündig wurde. Auf dem größten Hof im 10 Kilometer entfernten Sch. fehlte es an Männern. Sie waren im Krieg oder in Gefangenschaft geblieben. Der Ehemann der Bäuerin war wegen staatsfeindlicher Äußerungen von den Russen abgeholt worden. Frau Fiedler, die Hofherrin, war von Grittas äußerer Erscheinung auf Anhieb angetan, doch mißtrauisch gegenüber ihren fachlichen Qualitäten. Gritta, die ausgebildete Agrarwirtschafterin, hatte vorzügliche Zeugnisse vorzuweisen. Da glätteten sich die Stirnfalten der Frau Fiedler, aber ein Rest von Argwohn blieb. Die Statur einer kräftigen thüringischen Bäuerin hatte Gritta nicht. Also mußte sie vor den Augen der strengen Hofherrin eine Ziege und eine Kuh melken, ein Pferd anschirren, mit dem Traktor eine Hofrunde drehen, die Fruchtfolge auf den Feldern bestimmen und die Schafherde mit dem Hofhund austreiben. Nach Abschluß der Prüfung sagte Frau Fiedler, sehr aufgeräumt bei Kaffee und Kuchen:

»Sie können sofort anfangen, verantwortlich für die Stall- und Feldarbeiten! Freie Kost, freie Unterkunft, 78,- Mark im Monat, jedes zweite Wochenende den Sonntag frei, keine Techtelmechtel mit dem Personal!«

Natürlich erkundigte sich die Herrin nach Grittas familiären Verhältnissen. Wohl aus Sorge, Gritta an einen anderen Hof zu verlieren, war die Bäuerin anfangs spendierfreudig. Ein altes Rad wurde hergerichtet. Gritta durfte es mit so viel Essen beladen, wie sie transportieren konnte. Einmal im Monat durfte sie sogar das Pferdegespann ausleihen. Aber nach der Eingewöhnungszeit wurden die Zügel in allen Belangen angezogen. Die Arbeitsbelastung für eine Frau überstieg jegliche Grenzen. Gritta freundete sich mit den Herrschaften der Nachbarhöfe an. Auf einem, wo ein älterer Bauer wirtschaftete, hatte das Elend längst Einzug gehalten. Das Vieh dümpelte dahin. Die Felder waren teils mit der falschen Frucht, teils überhaupt nicht bestellt. Der letzte Abgrund wurde nur aufgehalten von zwei Söhnen, die, aus der Gefangenschaft zurückgekehrt, in Bremen auskömmlich lebten und zweimal im Jahr dem Vater für mehrere Arbeitswochen Gesellschaft leisteten. Überlebenshilfe war das auf Dauer nicht. Der ältere Sohn war Verwaltungsbeamter, der jüngere ein talentierter Kunstmaler, der Landarbeit nur malend verrichten konnte und von dem Erlös in Bremen besser als jeglicher Bauer lebte. Der Vater pflegte mit Gritta vertraulichen Umgang, er buhlte regelrecht um ihren fachlichen Rat in der täglichen Bewirtschaftung. Er meinte, wenn er selbst nicht die Söhne zum wirksamen Arbeiten anhalten könne, wer sollte es dann schaffen, wenn nicht eine so tüchtige Bäuerin wie Gritta.Er hatte nicht bedacht, daß weibliche Nähe auch andere Wirkungen haben kann. Statt Kühe melken zu lernen oder mit dem Traktor das Feld zu bestellen, machte der Jüngere, Rudi, der blonden Schönheit einen Heiratsantrag.

»Die Liebe ist ein seltsames Spiel«. In einem ostdeutschen Dorf der Nachkriegszeit war sie in der Regel eine kurzbündige, praktische Angelegenheit. Sich auf Menschen einlassen, die Sicherheit geben, zumal mit Aussicht auf ein besseres Leben – das war wie, die Nadel im Heuhaufen gefunden zu haben. Gritta, die in den letzten Kriegstagen das stürmische Liebeswerben mehrerer Soldaten mit der Begründung zurückgewiesen hatte, sie habe nicht genügend Zeit zum besseren Kennenlernen, war Zeit nun kein Prüfkriterium mehr. Zeit war für sie die Chance geworden!

Nach wenigen Wochen wurde Verlobung gefeiert. Das ganze Dorf war eingeladen, natürlich auch Grittas Familie. Das Aufgebot an leckeren Speisen und Getränken löste einen regelrechten Rausch aus. Umso ernüchternder war am anderen Tag die Mitteilung, daß Gritta und Rudi über die grüne Grenze nach Bremen ziehen, dort ein Ausreisevisum nach Amerika beantragen würden, um dann nach Ohio überzusiedeln, wo der vereinsamte alternde Onkel, ein Schuhfabrikant, familiären Halt brauche. Die Mutter nahm die Hiobsbotschaft mit versteinerter Miene auf. Über ihre Lippen kam nicht der Hauch eines Vorwurfs.

Gritta überraschte das Verhalten der Mutter nicht. Fremdheit hatte noch nie ihre Beziehung getrübt. Mit wacher Betroffenheit, im Brustton der Überzeugung sagte sie: »Keine Sorge, Mutti, ich schicke euch jeden Monat ein Freßpaket mit dem Höchstgewicht von 20 kg.!«Sie hielt das Versprechen, bis in die Wendezeit hinein.

LEBEN NEU LERNEN

Die Oma war der Ruhepol im Haus. Seit 40 Jahren leistete sie ihren Kirchendienst, 10 bis 12 Stunden am Tag, ohne Murren, als Gottesdienst. Wenn sie abends nach Hause kam, verlieh ihre Friedensseele dem wackligen Haus göttlichen Schutz und familiäre Eintracht. Die große Spanweite von echter bis täuschender Sanftmut ihrer Töchter hielt alle Vorgänge, die sich tagsüber ereignet hatten, von ihr fern.

Frieda sorgte für Leben in der Bude. Wenn Flüchtlingsschwester Lisa von der Arbeit nach Hause kam, stand sie mit erhobenen Händen im Flur empfangsbereit.

»Liesel, so geht das nicht! Deine Rangen treten sich ihre Schuhe nicht ab, der Straßendreck wird in den Flur geschleppt. Die Waschküche ist zum Spielplatz der Kinder geworden. Alles liegt durcheinander. Von allem Vorrat wird genascht: Ziegenrahm, Käseaufbereitung, Eier, Sirup, Trockenobst! Unter dem Waschkessel sind nicht genügend Anbrennspäne gestapelt. Wenn Ernst sie aus dem Wald holt und nicht genügend tragen kann, muß er eben zweimal gehen. Ihr habt ja schließlich freien Zugang zur Kochwäsche. Solange die Wasserspülung auf dem Klo nicht geht, muß mit dem Eimer gespült werden, gründlich und nicht daneben! Schau mal hier, auf der Treppe liegt eine Wäscheklammer, soll jemand darüber stürzen?«

Die Mutter hob sie auf, streifte dabei mit einem Finger über die Wandkonsole. »Sieh, Frieda, den Staub haben die Kinder draufgeblasen, nur um dich zu ärgern. Was ist bloß aus dem gepflegten Haus geworden?«

Solche Aufsässigkeit fachte Friedas Beschwerdeeifer nur umso mehr an. Bald ging kein Tag ohne Litaneien ab. Frieda suchte in Schwester Anna eine Verbündete. Die Mutter, durchaus genervt, hielt ihren Kindern sodann eine Gardinenpredigt, indem sie die Vergehen in der nämlichen Reihenfolge aufzählte. Die Kinder, an Gehorsam gewöhnt, wurden in ihrem Verhalten immer unsicherer.

Eine erste Machtprobe hinter dem Rücken der Oma lieferte Frieda am Ende des ersten Monats mit einer saftigen Mietforderung. Um des lieben Friedens willen zahlte Lisa ohne Widerspruch. Als gelernte Verkäuferin hatte sie nur eine Arbeit als Zeitungsausträgerin in der Post gefunden, für 103,- Mark im Monat. Bei den vielen Kundenkontakten, die sie nun hatte, hinterbrachte man ihr die Beschwerden, die Frieda in der ganzen Altstadt ausstreute. Die Kinder seien Schweineigel. Sie streichen den Rahm von der frischen Ziegenmilch, ziehen Eier aus den Legenestern hervor, noch ehe sie gezählt werden könnten. Sie selbst könne nicht Ordnung halten. An ihrer Hochnäsigkeit habe sich nichts geändert. Deshalb habe man sie schon vor 25 Jahren aus dem Haus geworfen. Schlimm, daß sie als Flüchtling keine Demut zeige.

Die Mutter stellte Frieda zur Rede. Die lachte hämisch: »Na endlich sagt dir mal die ganze Stadt, was für eine undankbare Ziege du bist.«

In den nächsten Wochen weitete sie die Fehde zu einem regelrechten Stadtklatsch aus. Natürlich wußten die Altstädter, daß Frieda ein Lästermaul ist. Doch sie amüsierten sich köstlich über die angeblichen Schandtaten, die sie in Umlauf gebracht hatte: Die Kinder zögen singend durchs Haus, johlten im schalllauten Flur, so daß die Nachbarn sich beschwerten, spielten Versteck, quietschten mit den Türen, trampelten die Treppe hinunter, versauten das Spülklosett, grüßten nicht, gäben freche Antworten und griffen ständig nach Lebensmitteln, wenn diese nicht weggeschlossen seien. Die Mutter sei nicht Herr der Lage, Zucht herzustellen. Nun ja, ein Wunder sei das nicht, wenn es gerade mal zum Zeitungen-Austragen reicht, wie sollte sie dann erziehen können. Man sehe, daß die kulturvolle Lebensart der Thüringer mit der platten der Pommern nicht zusammenpasse. Wer das Plumpsklo im Freien gewöhnt sei, wisse mit einer Spültoilette nicht umzugehen. Wer mit Weidenruten statt mit Besen kehre, könne natürlich nicht ein gepflegtes Haus sauber halten.

Friedas Phantasie sprühte nur so von Spottlust: Wer in Pommern ständig die Nachbarn über den Hof torkeln gesehen habe, der tropfe den Hühnern Baldrian ins Futter, um sich reinweg am besoffenen Zustand zu ergötzen. Wer Hirschhornsalz in das frische Gras für die Ziegen mische, der stachele die Freß- und Sauflust an, die man von den Pommern ja gewöhnt sei.

Die eingesessenen Residenzstädter, die sich von den vielen Ostflüchtlingen überfordert fühlten, nahmen solch gefärbte Tiraden dankbar auf und vermehrten sie auch ohne Friedas Zutun.

Die Mutter, in Ausübung ihres Berufes eine öffentliche Person, wurde zum Stadtgespött. Die Rufschädigung konnte ihr die Arbeit bei der Post kosten. Persönlich zutiefst getroffen, zog sie vor Gericht. Das Urteil lautete: »Gerichtserziehung vor Ort zu Lasten der Beklagten«.

Die Schnelligkeit des Verfahrens überraschte alle Beteiligten. Der Richter kam ins Haus. Alle Bewohner mußten anwesend sein. Weil nicht genügend Sitzplätze in einem Raum aufgestellt werden konnten, fand die Zeremonie stehend im Hausflur statt. Die Kargheit des Raumes bildete einen seltsamen Kontrast zum zeremoniellen Auftritt des herausgeputzten Richters: unten der Estrichboden, oben die gewölbte Ziegeldecke, die Wände wie alles übrige unverputzt, die Fugen ungelenk verstrichen. Der Richter ließ die Außentür öffnen mit der Bemerkung:

»Die Sitzung ist öffentlich. Die frische Luft wird allen Beteiligten guttun. Ich verlese den Beschluß der Gerichtssache `Lisa Hinz, geb. Kuntz gegen Anna Kuntz und Frieda Hartlieb, geb. Kuntz, Aktenzeichen 132/48`.«

Öffentliches Bloßstellen paßte Frieda überhaupt nicht in Kram. Sie schloß die Tür wieder unbemerkt, bis auf einen Spalt. Die Stimme des Richters widerhallte wie in einer Kirche, würdig einer Küsterin, die Eigentümerin des Hauses war.

»Die Klage ist rechtens. Sie erfüllt den Straftatbestand der üblen Nachrede und Verleumdung nach § 186, 187 StGB. Die Beklagten haben sich in aller Form bei der Klägerin zu entschuldigen und künftig jegliche öffentlichen Äußerungen dieser Art zu unterlassen. Zuwiderhandlungen werden je nach Schwere mit Bußgeld und Haft bestraft. Die Eigentümerin des Hauses, Frau Ernestine Kuntz, wird beauflagt, einen Mietvertrag in Schriftform mit der Klägerin abzuschließen. Die Miethöhe darf den in S. üblichen Durchschnitt nicht überschreiten. Die Post erhält eine Abschrift des Urteils. Gezeichnet: Richter Wanzen«.

Oma, die in sich geschlossene Küsterin, war von den Maßregeln des Richters völlig aus der Fassung gebracht. Sie schluchzte vor sich hin: »Liesel, Kinder, ich habe davon nichts gewußt. Ich bitte in Gottes Namen euch um Verzeihung, ich bete zu Gott, daß euch solches nicht erneut widerfährt.« Und zu Frieda und Anna gewandt: »Mein Gott, welche Schande, ihr Mädchen, nehmt euch ein Beispiel an den Brüdern! Sie sind allesamt im Krieg geblieben. Sie finden keine Ruhe. Sie drehen sich im Grabe um, euretwegen!«

Anna und Frieda verschwanden als erste in ihrem Zimmer. Der hellhörige Christoph lauschte.

»Wie peinlich, die Reinsch und Bernhardt haben alles mitgehört. Und Mutter verkraftet das nicht. Frieda, du hast es übertrieben!«

»Ich? Anna, hör mal, du hast die Rahmflecken in der Waschküche doch als erste gesehen. Die stammen von der Rasselbande oder? – Und im übrigen, die großkotzigen Pommern haben 500 Jahre lang die Slawen geknechtet und vertrieben, haben sich von den faulen, liederlichen Polen nicht abgrenzen können, jetzt sollen sie mal sehen, wer hier die Herrschaft hat. Liesel, die hochnäsige Ziege, ist mit ihrem von Standesdünkel besessenen Mann vor dem Landratsamt einher spaziert und hat gnädig genickt, wenn die Passanten zuvorkommend gegrüßt haben. Mit uns kann sie so nicht umspringen!«

Die Mutter überschlief das Erlebte bis zum Wochenende. Jetzt hätte sie Gritta gebraucht, wenigstens zum Aussprechen. Sonntagfrüh saß sie beim Kaffee, Muckefuck! Der behinderte sie nicht bei ihrer Willensbildung. Mit Anna allein wäre sie ins Reine gekommen. Im Grunde tat sie ihr immer leid. Als Sechzehnjährige hatte die Schwester bei einem Sturz mit dem Schlitten das rechte Bein verloren. Sie war an den Stuhl gefesselt und in ihrer Behinderung ungemein fleißig. In jeder freien Minute häkelte sie Babykleidung für eine staatliche Händlerclique, die damit Devisen verdiente. Wenn Lisa sie so unverdrossen häkelnd vor sich sah, kam sogar dunkel Bewunderung in ihr hoch. Annas Augen begleiteten nur beiläufig den klirrenden Sang der Häkelnadeln. Die Lippen rundeten sich dabei zu einem trotzigen Lächeln. Aber die Hände bewegten sich in einer eingeübten Schnelle, als wollten sie sagen: So geht man mit körperlicher Behinderung um!

Frieda war dagegen eine Giftnudel. Lisa konnte sich nicht erinnern, mit ihr je einen versöhnlichen Satz gesprochen zu haben. Immer nur Wortgefechte, Sticheleien, Zurechtweisungen! Die Jüngere wollte der Älteren keinen Millimeter Reifegrad zugestehen. Lisa gab im Inneren zu: ›Wir sind Schwestern, die einander nichts schenken können‹!

Friedas Versuche mit Männern waren alle nach kurzer Zeit gescheitert. Wer wollte es mit einer Frau aushalten, der Neid und Mißgunst im Gesicht standen, die ihre verwachsene Gestalt mit schreiender Kleidung übertünchte, deren Liebe nicht dem Mann, sondern der Klatschsucht galt, die stets von Langeweile getrieben wurde. Sie hatte es nicht einmal zu einem eigenen Kind gebracht. Raffiniert genug war sie, eine Kriegswaise, Annemarie, zu adoptieren! Die konnte sie nach Belieben herumkommandieren.

Nein, das Gerichtsurteil würde sie nur anstacheln, immer fintenreichere Ränke gegen sie zu schmieden. Lisa sah nur einen Ausweg: ›raus aus dem Haus‹!

Mit dem Gerichtsurteil in der Tasche versuchte sie im Wohnungsamt Gehör zu finden. Sie war ganz überrascht, daß sie die Tochter ihrer Nachbarin als Amtsleiterin antraf.

»Frau Röcken, Ihre Mutter hat Ihnen vielleicht schon erzählt, was vorige Woche bei uns im Haus vorgefallen ist. Ich brauche dringend eine Wohnung.«

Die Angesprochene nahm eine Liste vom Schreibtisch und ließ sie mit erhobener Hand vor den Augen der Mutter flattern. »Ja, ich kenne Ihre Geschichte, wer kennt sie nicht? Frau Hinz, die Stadt ist um gut 6.000 Einwohner angewachsen, alles Flüchtlinge, wie Sie. Die meisten sind viel länger hier als Sie, seit Kriegsende! Frau Hinz, Sie müssen das verstehen, die haben viel mehr Leid durchgemacht als Sie in Ihrem dänischen Lager. Diese 213 Wohnungssuchenden sind faktisch obdachlos. Das Einzige, was ich tun kann: Sie auch auf die Liste zu setzen – als letzte. Sie wollen doch, wie ich Sie kenne, in der Altstadt bleiben. Da ist Selbsthilfe gefragt, Sie könnten vielleicht vorübergehend in einer Abbruchbude Unterschlupf finden. Ich schaue mich um, Ehrenwort!«

Kurz darauf traf die Nachbarin Lisa auf der Straße, als diese gerade nach Hause eilte.

»Frau Hinz, das Hinterhaus des Edelfräuleinsitzes, Sie wissen doch ganz oben auf dem Schloßweg, ist frei geworden. Das hat meine Tochter herausgefunden. Schauen Sie sich’s an und sagen Sie Bescheid. Papierschnipsel im Briefkasten genügt.«

Das Haus war baufällig. Drei Balken, schräg in den Boden gerammt, stützten die Vorderfront. Über den ehemaligen Pferdeställen, jetzt Waschküche, Holz-, Kohle- und Gartengeräteräume, lag die Wohnung, die einen jämmerlichen Zustand darbot. Doch wenn man aus dem Fenster schaute, welches Panorama tat sich auf! Ein Garten, der sich vom Vorderhaus bis zur Parkmauer langstreckte, darüber wie eine Horizontgemälde – das Residenzschloß! Lisa atmete durch, von der Aussicht überwältigt. Sie bat einen Kollegen, einen Zimmerman, der körperbehindert in der Post arbeitete, um fachlichen Rat, ob die Wohnung nicht wenigstens provisorisch hergerichtet werden könne.

»Das kommt ganz darauf an, welche Einschränkungen du in Kauf nehmen willst«, sagte er während der Besichtigung. »Die Decken hängen durch. Das ist normal. Trocken ist auch alles. Ich sehe mal nach, ob die Balken die Fäule haben. Ich denke nicht. Die haben damals solide gebaut, ohne Chemie. Hier hat zu Fürstenzeiten der Stallmeister gewohnt. Die Fenster müssen auf jeden Fall ausgewechselt werden, die Lehmwände frisch verspachtelt, die Dielung muß raus! Neue Bohlen kriegst Du nicht, aber vielleicht Bodenplatten vom Bauhof. Wenn Du das alles auftreiben kannst? Einbauen tue ich’s Dir schon!«

Lisa hatte viele kundige Leute, die sie täglich mit Zeitungen belieferte. Die wußten, wo man was herkriegt. Aber Fenster konnten auch sie nicht auftreiben. Schweren Herzens entschloß sich Lisa, ihre drei Jahre ältere Schwester anzubetteln. Mit Emilie hatte die ganze Familie seit Kriegsende die Verbindung austrocknen lassen. Die Schwester hatte eine Tochter, Annelie, so alt wie Irma. Sie lebte mit ihrem Mann, einem vor dem Krieg reichen rumänischen Unternehmer, im eigenen Haus, im Villenviertel, wo die Offiziere der russischen Garnison untergebracht waren. Dort, in russischer Obhut, lebten sie sorgenfrei. Der Gang dorthin kostete Lisa echte Überwindung.

»Emmi, du weißt vom Stadtklatsch, den Frieda in Umlauf gebracht hat, ich muß aus dem Haus. Mit den Gören ist nicht auszukommen. Ich habe eine Wohnung bei den Edelfräuleins im Hinterhaus gefunden. Wir können nur einziehen, wenn die Fenster ausgewechselt werden. Frag doch mal deinen Hausgast, ob er in der russischen Garnison welche besorgen kann?«

»Den brauche ich gar nicht zu fragen. Natürlich kann ich dir Fenster beschaffen. Hast du Dollar, Westmark?«

»Nein, aber Sachen, die man dafür kaufen kann. Deine Beschaffer können sogar aussuchen, welche?«

»Gut, ich schicke dir morgen Annelie vorbei, mit dem Wunschzettel. Du mußt Wort halten. Es gibt fürchterlichen Ärger, wenn das nicht klappt.«

Die Wunschliste enthielt nichts Unerfüllbares, aber eine Menge kleiner Artikel, vor allem Kosmetika und Nylonstrümpfe. Lisa versuchte ein Ferngespräch mit Gritta, die in Bremen auf ihr Visum wartete. Endlich hörte sie Grittas Stimme, aber die Verbindung war schlecht, so daß Lisa einen Brief hinterher schicken mußte. Nach einer Woche standen die Fenster zum Abholen bereit. Eine weitere Woche später kam das Paket mit allen gewünschten Sachen und einem Begleitbrief.

»Mutti, die Sachen haben das doppelte gekostet. Im nächsten Monat muß ich das Paket aussetzen. Wir brauchen jeden Pfennig für die Überfahrt.«

Nun, das war noch zu verschmerzen, der Ärger mit Schwester Emilie dagegen nicht. Ware gegen Ware, so sollte das Geschäft laufen. Als die Fenster nicht sogleich abgeholt wurden, schimpfte der Beschaffer, Onkel Sascha, wie Annelie ihn nannte, wie eine russische Baba Jaga. Er drohte, die Fenster anderweitig zu verhökern.

Annelie kam jeden Tag, an dem das Paket ausblieb, mit einer anderen Drohung vorbei. »Onkel Sascha mußte die Fenster zu sich in die Wohnung nehmen. Im Magazin konnten sie nicht bleiben. Er ist ganz böse. ›Die Deutschen taugen zu nichts‹! – das hat er gesagt.«

Am Schluß wurde es von allen Seiten bösartig. Die Russen meinten, sie würden von einer größenwahnsinnigen deutschen Frau verschaukelt. Sie drohten mit Repressalien. Das Paket kam und wurde umgehend in die Wohnung von Onkel Sascha gebracht. Eine Russin öffnete. Nur eine Handbewegung lud zum Eintreten ein. Das änderte sich blitzschnell, als die Frau den ersten Artikel, eine Cremedose, aus dem Karton nahm. Sie roch daran, griff mit beiden Händen nach weiteren Gegenständen, hob sie entzückt in die Höhe; umarmte und küßte Irma, die neben ihr stand und nicht wußte, wie ihr geschah.

Die Russin jauchzte: »Fein, fein! Lydja-dotschka, hole ein Eis!«

Das Mädchen erschien mit einem papiernen Wickelpäckchen, das aussah wie ein Maulwurfshügel. Sie hielt es mit beiden Händen fest umschlungen. Die Russin wollte es aufwickeln. Das ging ihr zu langsam. Sie riß energisch die störrische Verpackung herunter.

»Das ist Moskauer Eis.« Eine weiße Sahneeismasse, von einer Doppelwaffel umschlossen, kam zum Vorschein. »Da, mein Mäuschen, das schmeckt, hm … hm …!«

Irma mußte schnell zugreifen, sonst wäre die Waffel, so breit wie ein Brotbrettchen, zu Boden gefallen. Die Russin küßte sie abermals. »Du hast eine tüchtige Mama!«

Der Fenstereinbau dauerte zwei Tage, die anderen Reparaturen vier Monate. Am Tag des Umzuges lieh die Pferdeschlächterei einen Tafelwagen aus, vorn und hinten mit je zwei langgezogenen Handgriffen. Die Habseligkeiten wurden aufgeladen, festgeschnürt und von der ganzen Familie zur neuen Wohnung geschoben. Nach drei Fuhren war die Arbeit geschafft.

Anna und Frieda feixten beim unvermeidbaren Abschied: »Ihr zieht zu den Edelfräuleins. Die Damen sind zwar alt, aber die wissen noch, was sie sich schuldig sind. Ihr werdet euch nicht mehr so gehenlassen können wie bei uns. Ernst, Irma, schön dienern und knicksen beim Grüßen! ›Guten Morgen, Fräulein von Gayette! Darf ich Comtesse aufschließen? – Guten Tag, Fräulein von Rüxleben! Darf ich Baronesse die Tasche hochtragen?‹«

Die Oma schämte sich: »Ihr seid ja nicht aus Welt, Ihr kommt zu mir in die Kirche und in den Garten, wenn die Stachelbeeren reif sind. Ich besuche euch, wenn die Gartenterrasse fertig ist!«

Ganz anderes als von den Tanten prophezeit, dauerte es, bis Irma, Christoph und die betagten Hausdamen einander begegneten. Sie trafen tatsächlich an der Außentür ihres neuen Zuhauses auf eine alte Dame, die den Regenschirm als Krückstock nutzte, weil sie wackelig auf den Beinen war. In der rechten Hand trug sie eine Einkauftasche. Umständlich fingerte sie mit dem altertümlichen Riesenschlüssel an der Tür herum.

»Warten Sie, sagte Irma, »Mein Schlüssel ist nicht so klobig wie der Ihre, ich schließe Ihnen auf.«

»Ich bin der Christoph aus dem Hinterhaus, ich trage Ihnen gern die Tasche hinauf in die Wohnung, darf ich?«

»Du bist aber nett«, war die Dame überrascht, »ja, bitte in die erste Etage Mitte, Gayette, Ottilie von.«

Christoph sprang hinauf und war wieder unten, als die Dame die erste Stufe betrat.

»Ihr seid sicherlich die Kinder von der Familie, die in den Pferdehof eingezogen ist. Das ist schön, daß der wieder bewohnbar ist. Wart ihr denn schon auf dem Schloß, bei meiner Herrin, der Fürstin Adolphine von Sch.?«

»Ich bin zweimal in der Woche auf dem Schloß, in der Bibliothek, Frau von Gayette«, sprudelte Christoph hervor.

»Fräulein, Fräulein von Gayette, mein Junge, heiße ich. Und was liest du da?«

»James Cook, Robinson Crusoe, Kolumbus, Magellan, Olearius, Fräulein von Gayette.«

»Olearius, wer ist das, mein Junge?«

»Na, der Gesandte des Fürsten von Schleswig-Holstein, der mit dem Fleming nach Persien gezogen ist und den Riesenglobus erfunden hat. In der Bibliothek gibt es davon eine wunderschöne Karte.«

»Ja, mein Junge, wenn das so ist. Ich spreche mit der Bibliothekarin. Sie soll dir alle diese schönen Reise- und Abenteuerbücher heraussuchen.«