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Jahrtausendwende. Zwei Sprengstoffattentate erschüttern eine Stadt. Wer steckt dahinter? Rechtsradikale? Rebellen aus Nahost? Die Schuldigen lassen sich nur zum Teil ermitteln. Und die Opfer? Wie bewältigen sie ihre vielfachen Verletzungen? Krista, eine angehende Kamerafrau, und der russische Student Maxim sind gerade noch mit dem Leben davongekommen. Eine Liebe entsteht aus gemeinsam durchlittener Angst. Dieser Anfang beschwört neben dem Glück auch große Hindernisse herauf. Der 19-jährige Flüchtling Labib aus Palästina hat sich schuldig gemacht. Er wird vom Gericht zum Arbeitsdienst im jüdischen Altersheim verdonnert. Wolff, der fanatische Anführer der ‚Stadtkameradschaft‘, ist unter Verdacht. Zur Tarnung nimmt er an einem Kulturprojekt für aussteigewillige Rechtsextreme teil. Alle vier sehen sich an einem Wendepunkt. Gesinnungen werden hinterfragt. Lebenspläne geraten ins Wanken. Gewalt oder Verständigung? Neue Brücken oder noch mehr Barrieren? Vera Forester verbindet in ihrem Roman Wahrscheinliches und Denkbares zu einer bewegenden Geschichte vor dem Hintergrund weltweiter Spannungen.
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Seitenzahl: 330
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Die Explosion
Nach der Explosion
Wolff
Ermittlungen
Noch ein Anschlag
Wolffsblumen
Krista und Maxim
Die Synagogenbrandstifter
Berlin
Hassan und Latifa
Wolff in der Oper
Labib in Untersuchungshaft
Weihnacht 2000
Krista und Maxim
Der Prozess
Wolff und der Feuervogel
Der Täter-Opfer-Ausgleich
Aviva und Isaak
Wolffs erste Probe
Labibs Pflichten im Heim
Krista und Maxim nach dem Besuch bei Aviva und Isaak
Marias Geschichte 1
Die Katastrophenprobe
Kristas Brief an Maxim
Marias Geschichte 2
Maxims Brief an Krista
Wolffs Heimsuchung
Marias Geschichte 3
Wolffs neuer Anlauf
Krista und Maxim im Winterland
Marias Geschichte 4
Wolff
Krista - Maxim
Labib bei Maria im Krankenhaus
Isaaks Rat
Kristas Filmprojekt
Maxims Flucht
Wolff und die Endproben
Marias Geschichte 5
Krista arbeitet an ihrem Film
Labibs letzter Besuch bei Maria
Wolff vor der Feuervogel-Premiere
Maxim in Kabul
Marias Tod
Die Feuervogel-Premiere
Maxims letzte Tage in Afghanistan
Der Film
Frühsommer 2001
Lichtblauer Sommerhimmel über der ahnungslosen Stadt. Frühnachmittag. Alles heiter, alles friedlich, alles in Ordnung. Der Katastrophendämon hockte sprungbereit auf einem Dachgiebel und lauerte. Da erschien sein Opfer. Krista. Tief unten bog Krista in die belebte Straße ein. Schnell ging sie, schnell vorbei an der zusammengestückelten Häuserzeile zwischen Vorstadt und Innenstadt, vorbei an Cafés, Büros oder Werkstätten, an den originell dekorierten Schaufenstern kleiner Spezialgeschäfte, wie sie aus den kostspieligen Zentren deutscher Großstädte verschwunden sind und seither in den Randvierteln nisten. Deutsche und türkische, griechische, afrikanische, asiatische Läden in dichter Nachbarschaft. Gerüche aus allen Windrichtungen – ein buntes Kaleidoskop gewachsener oder hergetriebener Teilchen des Welthandels. Krista näherte sich dem Ende der Straße. Der Geist des Unheils schoss herab und heftete sich an ihre Fersen. Noch spürte sie nichts.
Sie hatte Sommerurlaub, aber kein Geld für Reisen, und ohne Geld zu reisen weder den Drang noch den Mut. Geschlafen hatte sie bei – mit ihrem Freund. Martin. Er wohnte im ‚Musikerviertel‘. Vier gründerzeitlich bebaute Seitenstraßen trugen dort die Namen berühmter Komponisten, von denen zwei sogar für kurze Zeit hier gelebt und gearbeitet hatten. Nicht sehr glücklich, was die offizielle Stadtgeschichtsschreibung gern herunterspielte. Ihre Gedenkwege lagen abseits der zentralen Kunstbetriebsmeile. Martin hauste in seiner Studentenbude mit Kochnische und eigener Dusche unter dem Dach eines Backsteinhauses. Kristas Beziehung mit Martin bröckelte seit Monaten, langsam und von innen heraus, während die Fassade noch stand. Sie konnten es nicht erklären und selbst bei angestrengtestem Willen auch nicht aufhalten. Gemeinsam beobachteten sie fassungslos, wie die Stützpfeiler ihres Zusammenhalts wackelten, wie die Wände, Erker und Nischen zerfielen. In letzter Zeit sahen sie alles aus unterschiedlichen Blickwinkeln, interessierten sich immer schwächer für einander, warum? Für die Empfindungen und Empfindlichkeiten des anderen, warum? Für Gedanken oder Pläne des anderen, warum? Neu auftauchende Menschen wurden interessant, fremde Berührungen weckten Begehrlichkeit. Sie waren noch keine fünfundzwanzig Jahre alt, da ändern sich die Perspektiven schnell. Trotzdem, sie hatten noch nicht den Entschluss gefasst, sich ganz voneinander zu lösen. All die Seelenstränge, Herzkanäle, Nervenbahnen, Gefühlsadern, die sich in drei Jahren zwischen ihnen gebildet und verschlungen hatten, hielten als Verbindungsfesseln ihre Gemeinschaft notdürftig und bei jedem Ruck schmerzend zusammen. Noch.
Die beiden hatten den gerade beliebtesten Salsakurs besucht, wie immer am Mittwochabend. Gestern war die letzte Stunde gewesen, die letzte vor der Sommerpause. Danach wollten sie aufhören. Nichts mehr zusammen planen. Gar nichts. Nur abwarten, ob sich aus der verkümmernden Wurzel ihrer Liebe noch einmal ein frischer Zweig entwickeln konnte oder nicht.
Salsatanzen stand hoch in Mode, aber nicht nur deswegen machte es Spaß, klar nicht nur deswegen. Salsa sei ein besonders erregender Tanz, fantasievoller und vielseitiger als andere aus Lateinamerika, hieß es. Salsa bedeutet im Spanischen ‚Sauce‘. Salsa sei die brodelnde Elementarmischung, aus der sich Rumba, Cha-Cha-Cha, Tango, auch andere Schrittkombinationen herausgebildet hätten. Oder umgekehrt? Waren die köstlichsten Elemente anderer Tanzformen in die ‚Salsa‘ eingeschmolzen und zu einem scharfen Gebräu energiegeladener Bewegung aufgemischt worden? Krista kannte beide Meinungen. Wie auch immer, es tat gut und puschte zwei Körper in gemeinsame Wallung. Die Salsa tanzenden Paare halten sich meistens eng aneinander. Ihre Vorwärtsschritte sind stark und stampfend, ihre Rückwärtsschritte leicht und auf den Fußballen gestelzt. Die Musik pulsiert, tönt, schlägt. So rasant, dass beide Körper in eine synchrone, fast atemlose Ekstase geraten. Die hocherotische Salsa-Ekstase. Das pulsklopfende, wirbelnde Blutfeuerwerk. Als ob ein brandrotes Teufelchen mit gesträubten Haaren immer mittanzen und die Paare antreiben würde. Das war Krista und Martin noch geblieben, die Freude am gemeinsamen Kreisen und Hüpfen und Drehen, vor und zurück, an den durchgestreckten Kniestößen, den kerzengeraden, Oberkörperdrehungen, an den Beckenberührungen, der zeichenhaften Spielerei mit den Fingern. Es reizte sie noch, das Wegstreben uuuuuuund Zusammengleiten, das männliche Führen und weibliche Folgen nach den Regeln einer südlichen Lebensleidenschaft, die vom Ursprung her nicht die ihre war und sie gerade deshalb faszinierte.
Danach hatten sie mit anderen aus dem Kurs an den Gehsteigtischen der angesagtesten Kneipe Abschied gefeiert. Auf einer urigen Altstadtstraße, die im Sommer jeden Abend grasbüschelartig von jungen Menschen bestanden, begangen, besessen wird. Zum Teil drücken sie ihre Handys an die Ohren und verabreden sich, um dann fünf Meter weiter zusammenzustoßen. Jedenfalls war die Straße mit ihren Szenelokalen im Umkreis der Kunstakademie nicht nur ein beliebter Tummeltreff, sondern auch die ideale Startrampe für weitere nächtliche Unternehmungen.
Sie waren dann zu ihm gegangen, eigentlich hatte sie nicht gewollt, trotzdem, waren sie eben. Einmal musste Schluss sein, aber warum heute? Die Sinne vibrierten nach dem TanzenTrinkenReden noch stundenlang in erhitzter Bereitschaft. Sie hatten sich sofort aufs Bett gelegt und zusammengedrängt, die körperliche Lust riss sie immer noch in atemlose, nach Untreuen und Verletzungen mit Schmerz durchstochene Glücksmomente. Blindwütig hatten sie sich im Rhythmus der Ekstase ineinander verkeilt, ein Nahkampf, ein Zweikampf, ein Ringkampf, das steigerte sogar den Genuss, so ist der Mensch. Danach waren sie in schweren, verschwitzten Schlaf gesunken, am frühen Morgen hatten sie sich noch einmal zusammengeworfen, dann bis gegen Mittag geschlafen. Kein Problem, auch für ihn begannen die Ferien. Sie machten sich aus allem, was sie im Kühlschrank fanden, einen Brunch. Beim Essen flackerten wieder Schuldzuweisungen und Beteuerungen und vage Hoffnungen auf. Wir sollten es wir könnten es wir müssten es noch einmal ganz neu versuchen. Oder doch nicht? Das ewige Lied.
Der Sommer war schwülheiß, er schleppte sich hin, das neue Jahrtausend schleppte sich hin. 2000 nach Christus, was für eine alte Menschheit auf der Milliarden Jahre alten Erde. Nichts Neues, nichts Überraschendes, jedenfalls nicht für Krista. Gut, das menschliche Genom war gerade entschlüsselt worden. Eine epochale Umwälzung, eine wissenschaftliche Sensation. So nannten es die Entdecker, die künftigen Nobelpreisträger. Aber Krista konnte sich nichts darunter vorstellen. Auf ihr Leben wirkte es sich nicht aus. Überhaupt nicht. Wieder einmal war sie auf dem Heimweg, 27. Juli 2000, drei Uhr nachmittags, sie wollte an der nächstliegenden Station die S-Bahn nehmen. Momentan lebte sie in einer Vierzimmer-Altbauwohnung am anderen Ende der City, gemeinsam mit einer Freundin und einem Freund aus der Schulzeit. Man hielt es miteinander aus, wenn auch mit kleinen Reibereien auf Kosten der Nervenkräfte.
Kurz vor der Station kaufte sich Krista ein Eis, ‚beim Italiener‘, wie man hier sagte. An diesem Ort betrieb er jeden Sommer seinen Stand. Im Winter versah er die Gastronomie einer Skihütte in den Dolomiten. Er hatte ein braungegerbtes Gesicht mit Funkelaugen unter dicken schwarzen Brauen. Seine geschickten Hände schaufelten heute unablässig mit den Eislöffeln in den rechteckigen, parallel gereihten Trögen vor ihm. „Un gelato misto“, das wusste sie noch von einem Urlaub in Limone am Gardasee. Aprikose und Pistazie wählte sie und Stracciatella. Lachsrosa, hellgrün, braungepunktetes Weiß. „Ciao bella signorina rossa“, rief er ihr nach, sie winkte im Weggehen und warf die langen roten Kruselhaare zurück. Drei Kugeln in einem essbaren Becherchen, das erfrischte, zerfloss aber augenblicklich in der Julihitze; die Zunge strich in hurtigen Zügen darüber, damit nichts auf das hellgemusterte T-Shirt oder auf die weiße Röhrenhose tropfte.
Plötzlich zischte aus dem Universum ein scharfer Windstoß heran. In der Windeseile verhüllte sich das Sommerblau mit grauem Gewölk, der Abglanz auf den Mauern erlosch, die Leute bewegten ihre Beine unwillkürlich etwas schneller.
Diese Stadt! Eine elegante Metropole, hoch oben auf der Lebensqualitäts-Skala deutscher Kommunen. Modestadt. Kunststadt, Wohlfühlstadt, wie sie sich selbst in Werbebroschüren rühmte. Ja, aber mit trüben Kehrseiten. Zum Beispiel hier an der S-Bahn-Station. Der Weg zum Bahnsteig führte zwangsweise durch ein winziges vergammeltes Häuschen. Am Eingang war es bekleckst mit Stümper-Graffiti, innen gekachelt in Schmutziggelb und Fadgrau. Immer nach Urin stinkend. Da hing der Fahrkartenautomat, vor dem jeder verweilen musste, der ein neues Ticket brauchte. Hässliches Licht aus zwei mückenbeklebten Neonlampen. Durch eine primitive Maueröffnung ging es am anderen Ende hinaus, dann über eine hohe Bahnbrücke, zwei Meter breit und siebzig Meter lang. Sie überspannte sieben Schienenstränge, auf denen jeden Tag hunderte von Zügen hin und her wieselten. schließlich knickte sie im Neunzig-Grad-Winkel nach links ab und mündete in eine mit Wellblech überdachte Stiege, die steil zum Bahnsteig abfiel. Tausende waren jeden Tag auf dem ungemütlichen Zugang unterwegs. Stellenweise hatte Rost die Geländer angefressen, der Boden war übersät von Blechdosen, Zigarettenschachteln, Einwegspritzen und kaputtem Fixerbesteck.
Krista betrat vom Stationshäuschen her die Brücke. Der Wind schwächte sich ab, dafür begann es zu tröpfeln. Sie war nervös wie neuerdings immer, wenn sie von Martin kam und durch den schäbigen Bahnhofskanal trabte. Schnell weiter. Ihre linke Hand tippte halb unbewusst den Takt der im Kopf ablaufenden Salsamusik von gestern auf das linke Brückengeländer. Ihre Füße bewegten sich in angedeutetem Tanzschritt vorwärts. Sie lutschte das Eis noch rascher und ließ es portionenweise im warmen Mund zergehen. Dann und wann strich sie mit dem Arm die vordersten kupferroten Locken aus dem Sommersprossengesicht, damit sie sich nicht mit Eisschlieren verklebten.
Der Verhängnisdämon umkreiste alle, die in diesem Moment auf der Brücke gingen. Nun hatte er seine Beute beisammen. Vor Krista bummelte eine etwa achtköpfige Gruppe, Ausländer verschiedenen Alters, lebhaft in einer Sprache rufend, die sie nicht verstand. Was für eine Sprache? Eine slawische auf jeden Fall, dachte sie, Russisch vielleicht. Krista erinnerte sich an diese Fernsehreportage über einen kleinen russischen Ort, in dem mit deutscher Beteiligung ein Sägewerk gebaut worden war, sie hatte beim Schnitt assistiert. Ein verregnetes Volksfest anlässlich der Einweihungsfeier auf dem Platz vor dem Kirchlein mit den blau-goldenen Zwiebelturmkuppeln, Musik, große Pfützen, tanzende Erwachsene, frierende Kinder.
Einer aus der kleinen Gesellschaft auf der Brücke artikulierte langsam: „Bitte chaben Sie ein Glas Wasser fir mich? Es ist cheiss.“ Die anderen lachten. „Es ist viel cheiss“, ergänzte eine Frau mit Piepsstimme. „Njet. Särr cheiss“, korrigierte ein Mann. „Nicht cheiss. Sagt man hhheiss, heiss, heiss!“, rief ein anderer. Durcheinanderschreien im Lärm der vorbeischeppernden Züge. Das Grüppchen nahm die ganze Brückenbreite ein.
Direkt vor Krista trottete eine hochschwangere Frau im charakteristischen Watschelgang, eingehakt bei zwei jungen Männern. Krista schob sich links an allen vorbei, mein Gott, warum trappelten die so langsam? Wie Kühe oder Schafe, dachte sie, eine Herde ist immer rücksichtslos. Sie sah auf ihre Uhr, fünfzehn Uhr vier. Ihre nächste Bahn fuhr erst in zwölf Minuten, aber auf der unwirtlichen Brücke wollte sie nicht trödeln. Sie bewegte sich jetzt direkt vor der kleinen Schar. Ihre Finger am Handlauf des linken Geländers stießen gegen etwas Glattes, Weiches, Faltiges, Weißes. Sie dachte, da hängt ja eine volle Plastiktüte, warum? Eine unbeschriftete Plastiktüte, wer weiß was da Ekelhaftes drin ist! Sie zog die Hand ruckartig zurück, ging noch drei Schritte, unten zuckelten ächzend die Bahnen hin und her –
In diesem Moment knallte es. Explodierte etwas. In unmittelbarer Nähe. Wahnsinnig laut. Markerschütternd laut. Ohrenzerreißend laut. Dann knatterte es, rumpelte, krachte, prasselte und dröhnte, klirrte, vibrierte und zischte es. Der Brückenboden schwankte. Kleine Flammen schossen hoch. Große, nein kleine Geschosse sausten durch die Luft. Es traf sie, schlug sie, schnitt sie, stach sie, brannte an ihr. Brannte in ihr. Riss an ihrer linken Hand etwas weg. Blut spritzte auf, ihr Blut. Unter den Füßen versank der Halt, nein, die Füße sanken unter ihr weg, ihr Kopf donnerte auf den harten Boden. Sie riss sich hoch, es gelang nur halb, dann stürzte sie in einen Leiberhaufen, fremde Körper, die sich durcheinanderkrümmten. Sie sah sich fallen. Fühlte sich wegsacken. Konnte sich nicht mehr bewegen. Lag da, auf und zwischen diesen zuckenden Menschen. Erstarrt. Gelähmt. Halb ohnmächtig.
Nein, doch, sie konnte die Arme heben, sie riss die Hände vors Gesicht. Blut drang in die Augen. Die scharfen Schneiden sausten noch einmal in alle hinein, sie schrien, nein kreischten, schrill und überlaut, wanden sich ineinander, Krista schrie auch in diesem zuckenden Menschengewühl, jetzt hörte sie Stöhnen, hörte sich stöhnen, es war das letzte, was sie an sich bemerkte, ihr eigenes Aufheulen, fremd und roh. Die linke Hand tat weh, wahnsinnig weh, als ob ein Schwert hineingefahren wäre. An ihrer rechten Seite schmerzte es im Bauch. Der Kopf dröhnte. Um sie schluchzte und brüllte es.
Dann fiel sie noch tiefer, fiel in eine Ohnmacht, aber sie sah ganz genau die schwarzen Totenvögel, die sich aus der Höhe des Himmels herabsenkten und zu beiden Seiten auf das Brückengeländer setzten. Sie schlugen mit den Flügeln, bewegten die Schnäbel, schauten ruckartig hin und her aus ihren Knopfaugen. Alles wie in Zeitlupe. Ewigkeiten lang. Und erhoben sich wieder, rauschend, und flogen davon.
Krista erwachte erst im Krankenhaus.
Finger. Ja. Nein. Ein einziger Finger. Sprachpfeile aus einem erregten Stimmengewirr schossen in ihre Ohren. Einzweivierfünf Stimmen. Bekannte. Unbekannte. Finger. Retten? Nicht. Leider. Finger. Leider. Nicht mehr verwertbar. Nicht ansetzbar. Zerfetzt. Finger. Ja genau. Schwere Gehirnerschütterung. Schock. Kleine Brandwunden. Nein, nicht tief. Natürlich. Gequetschte Niere. Nicht gravierend. Heilbar. Keine Sorge. Froh sein. Heilfroh sein. Froh, dass es so glimpflich … Die anderen? Schwerer verletzt. Zum Teil. Mehr darf ich nicht sagen. Auf Wiedersehen. Nichts zu danken.
Türklacken, Stille. Nein, nicht Stille. Flüstern, Wispern, Raunen. Schmerzhafte Töne. Töne wie Sägen. Krista öffnete halb die Augen. Schaute zuerst nach links. Da lag ihr Arm auf der weißen Decke, der linke, die Hand ein großer weißbandagierter Klumpen. Sie versuchte, in dem Klumpen die Finger zu bewegen. Tat weh. Dann sah sie geradeaus. Ihre Eltern standen am Fußende des Bettes, mit verschatteten nassen Gesichtern, beide streckten die Arme aus. „Gottseidank! Krista. Aufgewacht. Siehst du uns? Wie fühlst Du dich?“ Sie kamen näher, an ihre linke Seite. Beugten sich über sie. „Macht. Euch. Keine. Sorgen.“ Die Worte quälten sich einzeln aus ihrer trockenen Mundhöhle. Heiser. Sie blickte nach rechts, da stand auf dem Fensterbrett eine weiße Rose, weiß mit rosa Blütenblatträndern, wunderschön, wie aus Wachs. Und daneben stand Martin, steif wie eine Wachsfigur. Die englischen Prinzen bei Madame Tussaud in London fielen ihr ein. Wachsfiguren. Sie sah sich neben Martin stehen. Als Wachsfigur. Beide grauhaarig. Beide längst tot. Es muss Schluss sein, endgültig aber nicht jetzt, dachte sie. Ihr wurde schwindlig. Den Kopf nicht nach links, nicht nach rechts drehen. Zu mühsam. Sie blickte nach oben. An der Zimmerdecke schwebte eine verschleierte alterslose Frau. Sie ließ sich langsam herab, streckte den rechten Arm, von dem weiße Schleierkaskaden fielen, nach Krista aus und sagte mit leiser, nachhallender Stimme: „Es ist so weit, wir können fliegen“, drehte sich um, schwamm voraus ins gleißende Licht. Krista schwamm ihr nach und dämmerte ein.
Später wachte sie wieder auf, sah sich um, sah, dass alle gegangen waren, schlief wieder ein. Bei irgendeinem Aufwachen nach Stunden oder Tagen erfuhr sie es genauer. Sie lag in der Universitätsklinik. Ein bleichgesichtiger spitznasiger Arzt setzte sich kurz auf die Kante des Stuhls neben ihrem Bett und ließ sich zu Erklärungen herbei. Der Mittelfinger ihrer linken Hand war weggerissen worden. Zerfasert, zerquetscht, zerstört, zertreten. Nicht wieder ansetzbar. Leider. Wunde schön verschlossen. Das Zentrumsglied der Hand, der längste, stärkste Finger, ohne den die Hand doch verstümmelt, verkrüppelt, unvollständig, kaputt … Sie schrie die Worte „verstümmelt, verkrüppelt, kaputt.“ „Nein nein. Halb so wild. Minimale Behinderung. Nur ein einziger Finger, denken Sie doch.“ Sein wesenloser Blick. „Lernt man schnell. Sich zu behelfen. Rechtshänderin? Hervorragend. Was machen Sie beruflich? Ausbildung? Kamerafrau, toll, wann sind Sie mit der Lehre fertig? Interessant. Eigentlich ein Männerberuf, oder liege ich da falsch? Filme haben mich schon immer … ich gehe gern ins Kino … leider zu selten … auch Fernsehen … wenig Zeit. Kopfschmerzen? Alles auf Dauer kein Problem. Seien Sie froh.“ Froh sein. „Sie bekommen ein Schlafmittel.“
Immer wieder die erschrockenen, tiefbesorgten Eltern neben ihrem Bett. Und an irgendeinem Tag wie aus dem Boden gewachsen: Polizei. Ein Mann und eine Frau. Schweißgebadet, man roch es, in speckigen Uniformen, die Gesichter mit Feuchtigkeit überzogen. Die Fragen. Wo war sie vorher gewesen, warum zur S-Bahn-Station unterwegs? Was hatte sie in jedem einzelnen Moment wahrgenommen? Es war zu früh, sie konnte sich nicht konzentrieren.
Sie sei als einzige Deutsche betroffen. Seltsam. Wirklich seltsam. Ob sie aus dem Pulk der Slawischsprechenden jemand gekannt habe? „Nein!“ Ob sie noch andere Personen gesehen habe? „Nein, es ging alles so… so entsetzlich schnell.“ „Bitte denken Sie nach, jede noch so winzige Einzelheit ist wichtig.“
Dann die weiße Plastiktüte. „Haben Sie eventuell daran gezupft?“ „Nicht dass ich wüsste, nur aus Versehen im Vorbeilaufen berührt.“ Die Explosion. „Was haben Sie zuerst gespürt? Und dann? Sie können es uns auch später sagen, wir kommen wieder.“
Am Schluss wurden Abdrücke genommen, über dem Nachttisch musste sie die Finger der rechten Hand auf ein Tintenkissen drücken. Links ging ja nicht. Und eine Speichelprobe abgeben. „Damit wir die Spuren der Beteiligten richtig einordnen und alles Unverdächtige ausschließen können“, sagte der Polizist mit dem Speckschwartengesicht. Sie hätten einen zerquetschten Becher mit Resten von drei Sorten Speiseeis gefunden. „Ja, von mir, fast ausgelutscht“, sagte Krista. Die buntgestreifte Strohtasche mit dem üblichen Jungmädchen-Inhalt hatte sie offenbar beim Fallen krampfhaft in die rechte Armbeuge geklemmt. Sie hing im Schrank, Inhalt von den Beamten längst kontrolliert und aufgelistet. Unauffällig. Das blutgetränkte T-Shirt und die blutbefleckte Hose waren beschlagnahmt worden. Ihr eigenes Blut und Blutspritzer von zwei anderen ‚Betroffenen‘ habe man darauf gefunden. Ob sie Beziehungen zu jüdischen Mitbürgern habe. Jüdische Mitbürger jüdische Mitbürger? Nein, überhaupt nicht, nie gehabt, warum? Sie kenne keinen einzigen j … Wieder die Erinnerung an eine Filmreportage, bei der sie mitgearbeitet hatte, über die jüdische Gemeinde einer westfälischen Kleinstadt. Hunderte Mitglieder vor 1933, also vor dem Holocaust, jetzt vielleicht zwei Dutzend. Ein alter Mann mit langem schwarzem Mantel, schwarzem Hut und weißem Bart geht am Stock ins behelfsmäßig eingerichtete Bethaus.
Ob sie rechtsradikale Kreise kenne. „Nein um Gottes Willen.“ Sie dachte an Glatzen im Fernsehen, grölend und fahnenschwenkend zu Hitlers Geburtstag. Ob sie mit Menschen islamischen Glaubens verkehre. Nein, kaum, außer bei der Arbeit mit einem Tonpraktikanten. „Name? Macht nichts, wir kommen wieder. Hier sind unsere Nummern. Wenn Ihnen etwas einfällt.“
Als sie längst weg waren, kroch der ganze Ablauf in ihr hoch. Sie sah sich aus dem dreckigen Häuschen kommen, die Brücke betreten, sah ihre linke Hand über das Geländer streifen, und sah es noch einmal und noch einmal, wie wenn man eine Filmsequenz abspielt, zurückfährt und wieder abspielt. Die radebrechende Gruppe vor ihr, sie fühlte wieder den Ärger, warum nehmen diese Bummler die ganze Brücke ein? Touristen aus den GUS-Ländern? Typisch, die haben Zeit. Sie sah sich wieder die Henkelschlaufen der weißen Plastiktüte betasten. Sicher etwas Ekelhaftes. Und dann die Explosion. Schreien. Brennen. Sausende Splitter. Blut. Die linke Hand schmerzte. Verstümmelt auf dem Bettlaken. Es fehlte also ein Finger. Ja. Ein Finger. Nicht mehr ,verwertbar‘. Nein. Zerquetscht, zertreten, zersprengt, zerfasert. Sie weinte. Du musst glücklich sein, dass du nicht einschneidender beschädigt bist. Glücklich sein.
Die Eltern berichteten, was sie aus den Medien wussten. Der Anschlag hatte höchstwahrscheinlich nur den Slawischsprechenden gegolten. Krista war mit Sicherheit zufällig hineingeraten. Andere seien viel grausamer betroffen. Dankbar sein. Eine dreiundzwanzigjährige Frau hatte ihr ungeborenes Kind verloren – ein Metallgeschoss war ihr in den Unterleib gedrungen – zudem sei ihr rechtes Bein halb abgetrennt worden, habe aber in einer komplizierten Notoperation wieder vollständig angesetzt werden können. Die Frau kämpfe noch um ihr Leben, hier auf der Intensivstation. Sie habe die schwersten Verletzungen erlitten. Ihrem Mann hatte ein Bombenstück die Bauchdecke aufgerissen, ihrem Schwager ein Geschoss das Knie zertrümmert. Zwei ,Betroffene‘ lagen mit leichteren Kopfverletzungen in der neurologischen Abteilung. Einer hatte sein rechtes Auge eingebüßt, dem anderen war die Nase fast ganz weggerissen worden. Und drei Rippen eingedrückt. Eine Frau lag hier mit einem Schädelbasisbruch. Der Älteste, ein fünfzigjähriger Mann, litt an ‚inneren Verletzungen im Brustbereich‘. Und sonst? Zehn waren es wohl im Ganzen. Mit ihr selbst. Oder mehr oder weniger? „Gute Nacht, wir geben Ihnen wieder etwas zum Einschlafen.“
Zufrieden sein, froh sein, weil andere härter getroffen sind? Verliert der eigene Schmerz an Gewicht, weil andere schlimmer leiden? Ist es unanständig, die eigene Verstümmelung zu beklagen, weil andere übler verletzt wurden? Wer genau waren die anderen? Sie ließ sich nun jeden Tag die Zeitung bringen, manches lasen die Eltern ihr vor, weil sie beim Lesen Kopfschmerzen bekam, wie auch beim Fernsehen. Ihre Freunde besuchten sie und erzählten, was sie aus dem Internet erfahren hatten, auch Martin.
Also: Die anderen Opfer waren sogenannte Kontingentflüchtlinge, Juden aus den GUS-Staaten. ‚Jüdische Mitbürger aus Russland, Aserbaidschan und der Ukraine‘. Sie seien an diesem Tag vom Deutschunterricht gekommen, den sie gemeinsam besuchten, Deutsch für Zuwanderer in einer Sprachschule an der Mendelssohnstraße, wie jeden Donnerstag von acht Uhr dreißig bis fünfzehn Uhr. Und zusammen auf dem Rückweg zur S-Bahn-Station gewesen, wo ihre Bahn immer um fünfzehn Uhr dreißig abfuhr. Das musste der Attentäter ausspioniert haben. Russische Juden? Was wollten die hier? Krista hatte über so etwas noch nie nachgedacht.
Glücklicherweise, stand im Lokalteil der Zeitung, sei genau im Moment der Bombendetonation zufällig ein Krankenwagen dicht an der Haltestelle vorbeigefahren und habe Großalarm ausgelöst.
„Die Notärzte und Sanitäter trafen in kürzester Zeit am Explosionsort ein und waren erschüttert vom Ausmaß der Blut-Überschwemmung, vom Anblick der sich in Schmerzen krümmenden oder schon bewusstlosen Opfer, die wimmernd und eng beieinander auf der schmalen Brücke lagen.“
Ein Sprecher der Feuerwehr erklärte: „Dem ersten Augenschein nach handelt es sich um einen Sprengsatz mit hoher Splitterwirkung, nicht aber mit Druckwirkung.“ Was immer das hieß. Krista kämpfte jede Nacht mit Angstträumen. Ein lodernder Feuerwall vor ihr. Schwertspitzen rasten auf sie zu, nein Messerspitzen, Schneiden, Metallgeschosse. Blutströme überschwemmten sie und nahmen ihr die Luft. Sie sah wieder die Totenvögel, riesengroße schwarze Raben auf dem Geländer sitzen und die Schnäbel aufsperren, bevor sie himmelwärts zurückflogen, weil niemand gestorben war. Außer einem ungeborenen Kind. Sie schrie jede Nacht im Schlaf.
Am Tag ihrer Entlassung ging sie für die letzte Stunde in die Cafeteria des Krankenhauses. Sie holte sich einen Kaffee und trat damit ins Freie. Die Sonne stach. Zwei Zitronenfalter schaukelten mit aufeinander abgezirkelten Bewegungen in der hellblauen Luft. Unter einem Kastanienbaum am Rand des Krankenhausgartens mit seiner Wiese voller Butterblumen und Löwenzahn gab es vier Tische. Keiner war ganz leer. Sie setzte sich zu einem jungen Mann.
„Ist hier frei?“ „Vollkommen frei. Vollkommen!“ Er kauerte am Tischrand und hielt sein eingegipstes Bein schräg von sich. Sonst sah er gut aus. Schlanke Figur, scharfgeschnittenes Gesicht, sicher telegen, dachte sie. Schräge Augen, grünspanfarben, dunkelbraune Haare, etwas gewellt, zweidrei Fransen auf einer hohen Stirn. Schöngeformte Hände. Sie lagen auf einer Zeitung, die er vor sich ausgebreitet hatte. Fette Schlagzeilen über das Brückenattentat. Krista versuchte unwillkürlich mitzulesen. Er schaute auf, sah ihr freundlich in die Augen, deutete mit dem Zeigefinger auf den Artikel, dann auf ihre linke Hand und sagte: „Du auch.“ Krista konnte sich nicht an ihn erinnern. Er sich an sie schon, sagte er, ihm sei sofort eingefallen, dass auf der Brücke ein rothaariges hübsches Mädchen an ihm vorbeigelaufen sei. Etwas ungeduldig, deutsch ungeduldig. Er lachte kurz auf. „Dann sind wir ja alle ineinander gestürzt, über die Einzelheiten weiß ich nichts mehr.“
Er erzählte ihr, dass seine Schwägerin die schwangere Frau sei, die das Kind verloren hatte, die Ärzte konnten es nicht retten. Krista sah die drei wieder vor sich hergehen, die junge Frau, mindestens im sechsten Monat, schwerfällig watschelnd, links und rechts einhakt bei zwei jungen Männern, offenbar Brüder.
„Wie heißt deine Schwägerin?“ Das Du ging leicht von den Lippen. Sie hatten einen Bombenanschlag dicht beieinander überlebt. Eine ungeheuerliche Nähe, am liebsten wäre sie jetzt sofort weggelaufen. „Aviva“, sagte er, „und mein Bruder heißt Isaak. Wir kommen aus Russland. Meine Eltern lieben die Literatur. Mein Schwesterchen nannten sie Anna nach der Dichterin Achmatowa, meinen Bruder nach Isaak Babel. Ich heiße Maxim, nach Gorki. Und du?“
„Krista. Nach niemandem, jedenfalls nach keiner Dichterin soviel ich weiß.“ Sie sei nichts Besonderes, sagte sie verlegen und unmutig, nichts Glanzvolles, nein, nur halt in dieser Stadt geboren und aufgewachsen. Sie stehe ein Jahr vor dem Abschluss ihrer Ausbildung zur Kamerafrau, jaja, eigentlich ein Männerberuf, aber spannend. Zufällig, total zufällig sei sie an dem Unglücksnachmittag auch auf der Teufelsbrücke unterwegs gewesen. „Teufelsbrücke!“, sagte er. Und sie: „Ja weißt du, es gibt in der Schweiz eine Brücke, die wirklich Teufelsbrücke heißt, unglaublich hoch über steilen Bergschluchten. Nach einer alten Sage soll der Teufel auf ihr gehockt und ahnungslose Menschen in die Tiefe gestoßen haben, glaube ich, die Brücke kenne ich von einem Sommerurlaub, fiel mir gerade wieder ein.“
Er las ihr aus der Zeitung vor. Der Außenminister hatte in einem Interview geäußert, die Umstände seien zwar noch ungeklärt, aber ihm scheine rassistischer Ausländerhass verbunden mit Antisemitismus der wahrscheinlichste Hintergrund des Verbrechens zu sein. Eine Belohnung von hundertzwanzigtausend D-Mark sei für die Ergreifung des Täters ausgesetzt. Maxim sprach flüssig Deutsch, er habe schon in Russland ein Germanistikstudium begonnen. Jetzt lebe er seit fünf Monaten in Deutschland, warte hier auf einen Studienplatz und verbessere seine Sprachkenntnisse. Er komme aus St. Petersburg. „Die Stadt des berauschenden Scheins und leider ernüchternden Seins.“
Wie komisch er sich ausdrückt, hochtrabend, dachte Krista. Mit Eltern, Bruder und Schwester habe er in den Mauern eines dieser Petersburger Prachtbauten gewohnt. An der Moika in der Nähe des Newski-Prospekts, ob sie wisse, was das sei, der Newski-Prospekt, es sei der legendäre Prachtboulevard der Stadt. „Die Moika ist eine wunderschöne Seitenstraße, von einem Flüsschen namens Moika durchzogen, dort hat Alexander Puschkin gelebt, bis er einem unsinnigen Duell zum Opfer fiel, jedes Duell ist unsinnig!, und in seinem Haus verblutet ist. Mit siebenunddreißig Jahren. Schräg gegenüber bin ich aufgewachsen, in einem Palast aus dem 18. Jahrhundert. Auf einer Riesenetage, überall Stuck, große hohe Räume, verschlissene Tapeten, Säulen, Marmorsimse, abblätternde Vergoldung, vergangener Prunk. Zusammengehaust haben wir mit zwei anderen Familien. Kommunalka nennt man das, wenn sich mehrere Familien eine Etage teilen müssen. Der Begriff stammt aus der Sowjetzeit, aber die Lebensform existiert noch immer und ist immer noch bedrückend, kannst du mir glauben.“
Dass seine Mutter Jüdin sei, hätten sie nach außen über die Jahre versucht zu verschleiern. Warum, fragte Krista. „Weil es nachteilig war, als jüdisch zu gelten. Verstehst du, Jude zu sein ist nie etwas Normales, Selbstverständliches, fast nirgendwo auf der Welt. Ist entweder besonders gut oder besonders schlecht, fast immer besonders schlecht. Natürlich auch in Russland. Ich erkläre es dir. Aber dazu muss ich in die Vergangenheit zurück … springen, sagt man so? In der Sowjetunion gab es offiziell keine Ausschreitungen gegen Juden. Die Hasspogrome im alten Russland wurden von höchster Stelle verurteilt. Die Sowjetunion war doch ein kommunistischer Staat. Gleichheit für alle. Trotzdem haben die meisten jüdischen Menschen versucht, ihre Zugehörigkeit zu ihrer – Schicksalsgemeinschaft zu verleugnen. Das ist es nämlich, musst du wissen, eine Schicksalsgemeinschaft, verstreut über den Erdball, die durch weit mehr als die Religion verbunden ist, und oft unabhängig von ihr. Das Schicksal der Verfolgten, Weggetriebenen, Verachteten, Verdächtigten vereint sie. Das Schicksal der Heimatlosen. Der geborenen Flüchtlinge. Seit über zweitausend Jahren. Kann ich dir alles noch genauer erzählen, wenn es dir – wenn du – wenn es dich interessiert.“
Krista nickte.
„Also – Karriere machen konnte man in Sowjetrussland nur als Mitglied der Partei. Natürlich durftest du prinzipiell als Jude in die Partei eintreten, aber war schwierig, weil … du hattest ja seit 1948 theoretisch das Recht, nach Israel auszuwandern. Seit es den Staat Israel gibt. Nicht viele sind ausgewandert, aber alle galten als unsichere Elemente, die man mit wenig Ausnahmen besser nicht emporkommen lässt. So die allgemeine Leitlinie. Der wirkliche Grund lag natürlich im alltäglichen, halb verdeckten aber hartnäckigen Hass. Hass aus jahrtausendealter Gewohnheit. Wie ihn Juden auf der ganzen Welt zu spüren bekommen. Dieser Hass scheint eingestanzt in die Genome. Das menschliche Genom ist jetzt entschlüsselt. Bin ich gespannt, ob man jemals den genetisch verankerten Hass gegen Juden mit seinen zehntausend Wurzeln herauspräparieren wird. Mein Vater ist Sachbearbeiter in der St. Petersburger Kulturbehörde, Abteilung Bildende Kunst. Meine Mutter Bereichsleiterin in einer Verlagsdruckerei, beide sind damals sozusagen im Windschatten durch ihr Leben gesegelt. Durch unser Leben.“
Er hielt kurz inne. „So, und dann kommt 1989, jetzt müsste ich die große Fanfare blasen und einen Tusch ausbringen. Historischer Wendepunkt. Sowjetunion zerfällt, Glasnost, Perestroika, bessere Zeiten! Freiheit! Auch für uns. Aber nein, schon zog neue Gefahr für die jüdischen Bürger auf. Denn jetzt durfte das ganze Volk seine Meinungen frei herausposaunen. Also auch seine Vorurteile. Wie andere Dummheiten hat sich der Antisemitismus wieder einmal befreit aus den Geheimfächern der Gemüter. Und die paar Juden, die sich in der Grauzone des Umbruchs ganz nach oben geboxt haben, werden neuerdings als Raubtiere verteufelt. Alles Raubtiere. Bestien. In der Regierung seien zu viele, in gehobenen Positionen, in der Wirtschaft, überall zu viele. Das Schreckgespenst des machtgierigen ‚Weltjudentums‘ wurde aus der kollektiven Pandorabüchse ‚befreit‘. Dabei gibt es von ursprünglich etwa fünf Millionen Juden in Russland nach Weltkrieg und Sowjetregime höchstens noch zwei Millionen. Ein paar hunderttausend bekennen sich dazu. Wem können sie schaden, ich frage dich, wem? In diesem riesenhaften Land?“ Er breitete seine Arme so weit aus, dass er Kristas Schulter berührte.
„Verzeih bitte. Und dann plötzlich die atemberaubende Chance: Seit neun Jahren dürfen Juden russischer Abstammung ohne Schwierigkeit nach Deutschland auswandern. Vielleicht hast du davon gehört? Es gibt jetzt ein Spezialabkommen zwischen der deutschen und der russischen Regierung. Wegen deutscher Vergangenheit. Wegen Gewissen und historischer Verantwortung. ‚Kontingentflüchtlinge‘ nennen sie uns. Hässliche Bezeichnung. Aber egal. Aus dem armen Russland hinaus und ins reiche, demokratische Deutschland hnein, das ist fantastisch, keine Gefahr mehr, geläutertes Bewusstsein, gelebte Demokratie, wir erhalten sofort die Aufenthaltsbewilligung. Und Hilfe, wirklich Hilfe. Unbürokratisch. Ein Wunder!
Seither ist in Russland das Jüdischsein plötzlich ein Glücksfall. Und die anderen sagen voller Neid, dass wir es ‚wieder einmal‘ besser haben. Jetzt graben viele aus ihren Geheimfächern Papiere aus, die auf eine jüdische Abstammung hinweisen. Wer früher Behörden bestach, um das Wort Jude aus seinen Papieren zu löschen, der schmiert jetzt dieselben Behörden, um es wieder hineinzuzaubern. Oder sogar hineinzufälschen durch Erflunkerung – gibt es diesen Ausdruck? – einer jüdischen Herkunft. Mein Bruder und ich, wir können uns wegen Mamas beglaubigter Abstammung mit vollem Recht Juden nennen. Weißt du, nach der jüdischen Rechtsordnung – ist die Mutter Jüdin, ist es auch das Kind. Die Herkunft des Vaters spielt keine Rolle. Sehr weise.“ Maxim lächelte. „Wer der Vater war, wusste man über Jahrtausende sowieso nie genau. Hat erst die moderne Wissenschaft möglich gemacht.“
Wieder ernst fuhr Maxim fort: „Die deutschen jüdischen Gemeinden, in die wir verteilt wurden, haben uns mit gemischten Gefühlen aufgenommen. Hoffnungsvoll und auch ängstlich. Vielleicht fühlen sich manche überfordert. Die meisten Gemeinden waren vorher überaltert und klein. Hitler wirkt mit seiner Judenvernichtung in die folgenden Generationen nach. Bis heute. Wie eine Riesenkrake, die ihre … Tentakel über Jahrzehnte in die Gegenwart streckt. Kann man das so sagen? Durch uns Zuwanderer hat sich immerhin die Zahl der Juden in Deutschland verdoppelt, auf hunderttausend. Hunderttausend, bei achtzig Millionen Einwohnern. Im Vergleich zu drei Millionen Moslems. Also immer noch ein winziges Grüppchen, wem kann es schaden? So müsste doch eigentlich jeder denken. – Entschuldige. Ich rede zu viel …“
„Nein nein, das interessiert mich“, sagte Krista. „Wann hast du dich entschlossen, nach Deutschland zu kommen?“
„Vor etwa einem Jahr war es so weit, dass ich unbedingt aus Russland weggehen wollte. Wie mein Bruder, der gläubiger Jude ist im Gegensatz zu mir. Nach dem Abitur hatte ich zuerst meine Zeit mit einer Buchhändlerlehre vergeudet. Vergeudet, weil es falsch für mich war. Das Verkaufen von Büchern interessiert mich nicht mehr, nur das – Ergründen von Büchern. Sagt man das, ergründen? Verstehst du? Das fasziniert mich. Vor allem die deutsche Literatur. Immer schon. Angefangen mit Lessing bis zu Thomas Mann, Günter Grass, Heinrich Böll und natürlich all den Jüngeren und Jungen, die ich bekommen konnte. Viel zu spät habe ich angefangen, in St. Petersburg Germanistik zu studieren. Dann war es nur noch ein kleiner Gedankenschritt. Nach Deutschland! Schließlich haben wir uns aufgemacht. Mein Bruder, seine Frau und ich. Meine Schwester Anna ist Journalistin, will in Russland bleiben und etwas bewirken, etwas bewegen, etwas verändern, aber wird ständig von der Zensur bedroht, die es offiziell nicht gibt. Und meine Eltern mögen sich nicht mehr ‚verpflanzen lassen‘, wie sie sagen.
Wurden wir hier gut aufgenommen. Und werde ich nächstes Jahr einen Studienplatz bekommen. Wunderbar. So dachte ich. Das deutsche Geschichtsbewusstsein ist unser Schutz, unsere Garantie, uns wird nie wieder etwas zustoßen. Habe ich allen Ernstes geglaubt. Aber in Wirklichkeit gibt es hier auch nicht Sicherheit, nicht Normalität. Die Geschichte lebt weiter. Es wäre dumm, sie als Vergangenheit zu betrachten. Als Erledigtes, Abgetrenntes. Hast du einmal gesehen, wie streng die Synagoge bewacht wird? Werden muss! Ich gehe fast nie hinein, aber es macht mich trotzdem traurig. Jetzt weiß ich nicht, ob ich überhaupt bleiben soll, ob ich wirklich noch bleiben will …“
Er schwieg und legte die rechte Hand auf sein Herz, mit einer Gebärde, die Krista rührte, obwohl sie ihr pathetisch vorkam, was ihr eigentlich gegen den Strich ging. Dann senkte er den Blick, als ob er sein Gipsbein inspizieren müsste. Und schwieg. Und sie traute sich nicht, etwas zu sagen. Sie spürte einen schlagenden Hammer im Kopf. Schwer einzuschätzen das alles, sie hatte sich noch nie damit befasst. Warum eigentlich nicht? War eben nicht in ihrem Blickfeld erschienen. Man kann doch nicht alles …
Es war Zeit, dass ihre Familie sie abholte. Sie verabschiedete sich. Seine Augen glimmten, sie waren lindgrün, Eidechsenaugen, schräg von der Nasenwurzel aufsteigend über ausgeprägten Wangenknochen. Nein, Katzenaugen, sie dachte an Luther King, den Kater in ihrem Elternhaus. Schwarz mit einer weißen ‚Krawatte‘ und grünen Augen. Vertraut und fremd. Maxim überreichte ihr ein Löwenzahnblümchen, das er im Sitzen von der Wiese gepflückt hatte, malte schnell mit einem schlechtschreibenden Rotstift seine Telefonnummer oben auf den Zeitungsrand, ein Handy habe er noch nicht, sei zu teuer, riss das Papierstück ab, drückte es in ihre Hand und sagte, er würde sich freuen, wenn sie ihn einmal anriefe. Sie verstaute beides in ihrem Strohbeutel, er stand unbeholfen auf, mithilfe seiner Krücke. Er legte die rechte Hand auf den Verbandklumpen, der jetzt ihre linke Hand war. Eine Wärme floss von seiner Hand durch die Mullbinden in ihren Körper. Sie wollte sich eigentlich nicht bewegen, aber sie bückte sich doch leicht und legte ihre rechte Hand kurz auf sein Gipsbein, das linke, auch bei ihm war die linke Seite verletzt. Richtete sich wieder auf, sie sahen sich noch einmal an.
Dann lief sie zum Ausgang des Krankenhauses. Wenn die Geschichte nicht wäre, die er ihr erzählt hatte, dachte sie, die Geschichte, mit ihrem finsteren, aufdringlichen Hintergrund, dann müsste ich jetzt nicht leiden. Wie eine Krake aus der Vergangenheit mit ihren Tentakeln. Sie erinnerte sich an einen Dokumentarfilm aus den Neunzehnhundertdreißigerjahren, den sie noch in der Schule gesehen hatte. Er hatte sie damals erschreckt. Hitlers schreiendes Bellen gegen die jüdisch-bolschewistische Weltverschwörung, die es auszumerzen gelte. „Hitler wirkt in die folgenden Generationen nach, bis heute“. Das hatte er gesagt. Maxim hieß er. Nach einem Dichter namens Gorki. Ihre Eltern kamen durch die Drehtür. Mit Martin. In diesem Moment wollte sie es ihm nicht sagen. Jetzt doch nicht. Jetzt noch nicht.
Sie zog vorerst bei Vater und Mutter ein, das Gefühl von Geborgenheit im alten Zuhause beruhigte sie. Die Wohngemeinschaft mit ihren Menschen und Gerüchen und Geräuschen konnte sie sich noch nicht zumuten.
Sie sagte es Martin am Telefon. Dass sie es ihm schon länger habe erklären wollen. Dass die Explosion auf der Brücke mit ihren Auswirkungen der Schlussstrich unter ihre Beziehung sein müsse. Warum um Gottes Willen? Und warum dieses klischeebeladene, unerträgliche Pathos? Weil ihre Liebe sich schon vorher totgeschlichen habe. Tot.
Dann schrieben sie einander noch Mails mit Argumenten, Gegenargumenten, Entschuldigungen. Freunde bleiben. Krista tippte mit einer Hand auf dem Laptop ihrer Mutter, den sie im Bett auf den Knien balancierte. Es ging so langsam. Wahrscheinlich waren sie nur einfach zu jung zusammengekommen. Beide mit Anfang zwanzig. Das Leben war zu vielseitig, ihre Beziehung zu einseitig geworden. Banal, fürchterlich banal, aber eben Wirklichkeit. Sie saß und lag in ihrem ehemaligen Kinderzimmer mit der selbst zusammengeschraubten Einrichtung aus dem bekannten schwedischen Möbelhaus. Luther King strich zuweilen vorbei oder rollte sich neben ihr auf der Bettdecke zusammen. Der Kopf tat noch manchmal weh, die Hand tat weh, der Mittelfinger tat weh, obwohl er nicht mehr da war, tat aus der Entfernung weh, aus irgendeinem Müllschlucker im Universum, Wahnsinn, die rechte Seite tat weh, kann man so weiterleben?
Die Polizei kam wieder. Derselbe Mann dieselbe Frau. Als ob die Zeit stehen bliebe. Sie stellten dieselben Fragen. Krista konnte nichts Genaueres sagen. „Haben Sie die Plastiktüte am Geländer wirklich nur berührt, zufällig, he?“ „Ja-ja-ja. Nur die Henkelschlaufen am Geländer.“
Dann fragten sie wieder, ob sie Kontakte zu russisch-jüdischen Kreisen habe. Nein. Zu arabischen Kreisen? Nein, überhaupt nicht, sie kenne keinen einzigen Araber. Doch, einen, der als Praktikant beim Sender arbeite, wo sie ihre Ausbildung mache, wie gesagt. Wie er heiße. Wusste sie nicht. Doch, Achmed. Oder Beziehungen zum Neonazi-Milieu. Ob sie Musikgruppen kenne, Musik aus der einschlägigen Szene. Was für Musik? Zum Beispiel das Gedröhne von ‚Stoßwucht‘ oder ‚Gegenwehr‘ oder ‚Sturmtrupp‘ oder den ‚Wüzten Enkelz‘. Nein, um Gotteswillen. Höchstens durch das Mischen eines Filmbeitrags über Neonazis in Brandenburg. Aha. Wenigstens von den ‚Wüzten Enkelz‘ müsse sie doch wissen, das seien die Berühmtesten.
Der männliche Teil des Polizistenduos sagte:
„Noch nie gehört?
Blut muss fließen
knüppelhageldick,
Wir scheißen auf diese
Judenrepublik.“
Beim Singen verzerrte sich sein Gesicht, Krista wurde übel, der Magen brüllte, sie rannte ins Badezimmer und übergab sich. Als sie zurückkam, entschuldigten sich die beiden. Sie inspizierten gerade, was von Kristas CD-Sammlung noch bei den Eltern lagerte, „Haben Sie etwas dagegen?“ Natürlich fanden sie nichts Verdächtiges. Aber merkwürdig sei es schon, dass sie die einzige Betroffene sei, die keinen russisch-jüdischen Hintergrund habe. Zufall, wirklich? Ob sie einmal im Militaria-Laden von Ralf Schwertfisch gewesen sei. Nein, nie im Leben, sagte sie. Wirklich nicht? Nie in dieser Bude mit rechtsnationalen Klamotten und Rechtsrock-CDs und Rechtsfahnen, Rechtswaffenteilen, Rechtspublikationen, in unmittelbarer Nähe der fraglichen S-Bahn-Station? Erwiesenermaßen treffe sich dort manchmal die rechtsextreme ‚Stadtkameradschaft‘. Sprengstoff könne man da sicher auch bekommen. Schwertfisch verhökere außerdem ‚Polizei-, Armee- und Sicherheits-Zusatzausrüstungen‘, wie er das nenne. Er biete auch einschlägige Trainings an. Um nicht von Wehrsport zu reden. Er führe regelmäßig im Kampfanzug seinen Rottweiler aus. Nie gesehen? Merkwürdig, wo sie doch so häufig ihren Freund besuche, der um die Ecke wohne, den Martin Schmidt. Martin Schmidt habe man natürlich auch befragt. Woher wussten sie?
Und wieder von vorn: Ob sie den Laden von Schwertfisch wirklich nicht kenne, wirklich nicht? Nein, sagte sie. Nein nein nein. Nein. Immerhin, wie gesagt sei sie doch die einzige Deutsche, die von dem Anschlag mitbetroffen sei. Ob sie nicht doch jemand aus der rechten …?