Im Kampf um die geliebte Heimat - Corinna Sandberg - E-Book

Im Kampf um die geliebte Heimat E-Book

Corinna Sandberg

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Beschreibung

»Dir geht Gut Weyden doch über alles!«, hatte Rüdiger am Vorabend zornerfüllt zu der Baroness gesagt, als sie sich nach einem Streit trennten. »Du bist mit dem Gut verheiratet! In deinem Herzen hat ein Mann gar keinen Platz!« Jennifer von Weyden hatte in der Nacht keinen Schlaf gefunden. Am frühen Morgen, als der Tau noch an Gräsern und Sträuchern hing, war sie schon in den Pferdestall gegangen, hatte selbst ihre Stute Diana gesattelt und war ausgeritten. Die Natur erwachte, die Vögel zwitscherten. Jetzt hielt die Baroness auf einer Anhöhe des Nordharzes und schaute auf Gut Weyden hinunter. Seit fünf Generationen lebten die Weydens hier. Das alte Herrenhaus war Jennifer vertraut. Jeder Winkel, jede Ecke barg eine lieb gewordene Erinnerung. Sie konnte es sich nicht vorstellen, woanders zu leben. Mit ihren fünfundzwanzig Jahren trug Jennifer als Gutsherrin eine schwere Verantwortung. Sie strich sich das kastanienbraune Haar aus der Stirn. Die Stute schnaubte leise. Jennifer fuhr ihr liebevoll über die Mähne. Sie spürte Dianas Wärme, das Spiel der Muskeln unter dem glatten, gepflegten Fell, wenn Diana tänzelte, und sie genoss die milde Waldluft und den Ausblick auf Gut Weyden im Sonnenschein. Es war Mai. Das Korn auf den Feldern stand schon recht hoch. Es grünte und blühte überall.

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Fürstenwelt – 6 –

Im Kampf um die geliebte Heimat

Unveröffentlichter Roman

Corinna Sandberg

»Dir geht Gut Weyden doch über alles!«, hatte Rüdiger am Vorabend zornerfüllt zu der Baroness gesagt, als sie sich nach einem Streit trennten. »Du bist mit dem Gut verheiratet! In deinem Herzen hat ein Mann gar keinen Platz!«

Jennifer von Weyden hatte in der Nacht keinen Schlaf gefunden. Am frühen Morgen, als der Tau noch an Gräsern und Sträuchern hing, war sie schon in den Pferdestall gegangen, hatte selbst ihre Stute Diana gesattelt und war ausgeritten. Die Natur erwachte, die Vögel zwitscherten. Jetzt hielt die Baroness auf einer Anhöhe des Nordharzes und schaute auf Gut Weyden hinunter.

Seit fünf Generationen lebten die Weydens hier. Das alte Herrenhaus war Jennifer vertraut. Jeder Winkel, jede Ecke barg eine lieb gewordene Erinnerung. Sie konnte es sich nicht vorstellen, woanders zu leben.

Mit ihren fünfundzwanzig Jahren trug Jennifer als Gutsherrin eine schwere Verantwortung. Sie strich sich das kastanienbraune Haar aus der Stirn. Die Stute schnaubte leise. Jennifer fuhr ihr liebevoll über die Mähne. Sie spürte Dianas Wärme, das Spiel der Muskeln unter dem glatten, gepflegten Fell, wenn Diana tänzelte, und sie genoss die milde Waldluft und den Ausblick auf Gut Weyden im Sonnenschein.

Es war Mai. Das Korn auf den Feldern stand schon recht hoch. Es grünte und blühte überall.

Auch Gut Weyden war ein blühendes Anwesen, stattlich mit Scheunen und Nebengebäuden, dem Gästehaus und der alten Mühle. Die Pferde auf der Koppel und die buntgescheckten Kühe bewegten sich behaglich in der Morgensonne. Bald würde die Arbeit auf den Feldern beginnen.

Felder, Äcker, Wiesen und Wald erstreckten sich vor Jennifers Blick. Gut Weyden lag in die schöne Landschaft eingebettet und fügte sich harmonisch ein. Das ist meine Heimat, dachte Jennifer, und ich will hier nicht weggehen.

Sie hätte sich anderswo niemals heimisch gefühlt, im Gegensatz zu ihrer um ein Jahr jüngeren Schwester Sybille. Baron Otto, ihr Vater, hatte darauf bestanden, dass Jennifer, nachdem sie das Abitur abgelegt hatte, in der Fremde studierte. Sie hatte vier Jahre lang in München das Konservatorium besucht und Musik studiert. An dem geselligen Treiben in der Weltstadt mit Herz hatte ihr wenig gelegen.

Ihre schönste Zeit war die, wenn sie in den Semesterferien nach Hause zurückkehren konnte. Sie hätte auch lieber Betriebswirtschaft und Ökologie studiert, obwohl sie die Musik liebte. Aber das war für Baron Otto indiskutabel gewesen.

»Wenn du das Gut einmal übernimmst, soll mein Schwiegersohn es leiten«, hatte der Baron hierzu gesprochen. »Du musst dir eben den richtigen Mann aussuchen, Jenny.«

Das war leichter gesagt als getan. Den Baron und seine Gattin raffte der Tod hinweg. Amalie von Weyden war an einer Krankheit gestorben, Baron Otto ein halbes Jahr nach ihr. Den kerngesunden Mann hatte nach dem Tod seiner Frau aller Lebensmut verlassen. Er siechte dahin, wurde nur noch ein Schatten seiner selbst, und erlag einem Herzleiden, das er zuvor nie gespürt hatte.

Er sei an gebrochenem Herzen gestorben, hieß es allgemein. Jennifer gab daraufhin ihr Studium auf. Jemand musste das Gut leiten. Dr. Rüdiger Wechelaar, den sie in München kennen- und liebengelernt hatte, und sie sahen sich nur noch selten. Schließlich war Rüdiger zu einer letzten Aussprache auf Gut Weyden erschienen. Jennifer, hin und her gerissen zwischen ihrer Liebe zu dem jungen Chirurgen und der Verbundenheit zu Gut Weyden, hatte sich schließlich klar entschieden: für das Gut.

Rüdiger war nicht bereit, von Süddeutschland zu übersiedeln. Er hätte zwar auch hier in einem Krankenhaus eine Stelle finden können, doch das widerstrebte ihm. Für ihn war die Gegend zwischen Süntel, Deister und Harz finstere Provinz. Er war nicht geneigt, hier zu leben und seine ihm so kostbare Karriere zu gefährden. Das hatte er Jennifer unverblümt gesagt und war noch am gleichen Abend von Gut Weyden abgereist.

»Ich denke nicht daran, ein Provinzkrankenhausarzt oder womöglich ein Landarzt zu werden!« Die Worte hallten Jennifer noch im Ohr. Gibt es denn kein Glück für mich?, fragte sie sich. Sie sehnte sich doch so nach Zärtlichkeit, Geborgenheit und Liebe. Musste sie wegen Gut Weyden aufs Glück verzichten?

Trübe Gedanken bewegten Jennifer, als sie weiterritt. Der Schmerz der verlorenen Liebe war noch sehr frisch.

»Du verstehst mich, Diana«, sagte sie zu der braunen Stute und seufzte. »Auch du gehörst hierher.«

Ein Jäger im grünen Rock begegnete ihr. Es war Tobias Stern, der Forstassessor. Vermutlich würde er einmal den alten Förster Rübsam ablösen. Höflich zog er seinen Hut. Sein Gesicht mit dem kurzgestutzten gepflegten Kinnbart strahlte vor Freude.

»Einen recht schönen guten Morgen, Fräulein von Weyden!«, rief er. »So früh schon unterwegs?«

Jennifer hielt bei ihm an. Sie plauderten über den Wald, von dem ein Teil zum Gut Weyden gehörte, und die Tiere. Der Rotwildbestand hatte sich heuer ausgeweitet, erzählte Stein. Auch das Niederwild wie Hasen und dergleichen hatte stark zugenommen. Wegen der Tollwut musste man aufpassen, doch bisher war diese Seuche noch nicht bis in den Nordharz vorgedrungen.

»Im Herbst können wir eine Treibjagd veranstalten, Baronesse Weyden«, erklärte der Forstassessor. »Der Wildbestand rechtfertigt es.«

Zum Gut gehörte auch ein großes Jagdrevier. Jennifer hatte es mit übernommen, doch auf die Jagd war sie nie gegangen, weil sie es nicht übers Herz gebracht hätte, ein unschuldiges Reh, einen Hasen oder ein Wildschwein zu erschießen.

Jennifer liebte es vielmehr, die Tiere in freier Natur zu beobachten und mit dem Teleobjektiv zu fotografieren oder zu filmen. Dann hatte man eine schöne Erinnerung, ganz anders als eine Jagdtrophäe, und die Tiere behielten ihr Leben. Jennifer wusste aber auch, dass der Wildbestand gehegt und gepflegt werden musste.

Ausgeputzt, nannte der Waidmann es, wenn alte oder kranke Tiere abzuschießen waren. Außerdem war ein gewisses Gleichgewicht der einzelnen Tierarten untereinander einzuhalten, auch durfte das Hoch- oder Niederwild nicht zu sehr überhandnehmen. Die Natur vermochte nicht mehr für die Auslese und das Gleichgewicht zu sorgen.

Bisher hatte Jennifer diese Aufgabe dem Förster und seinen Gehilfen überlassen, obwohl man lohnende Angebote wegen der Revierpacht oder des Jagdrechts an sie herangetragen hatte.

»Ich werde bestimmt an keiner Treibjagd teilnehmen«, sagte Jennifer. »Doch ich will mir etwas überlegen. Grüßen Sie Förster Rübsam von mir, ich wende mich demnächst an ihn.«

»Gern. Einen angenehmen Tag wünsche ich noch.«

Jennifer verabschiedete sich. Der Forstassessor lüftete abermals seinen Hut. Er sah die Baronesse davontraben. Das zwischen den Bäumen durchfallende Sonnenlicht umschmeichelte ihre schlanke Gestalt. Jennifer von Weyden war mittelgroß und hatte eine Figur, um die sie die meisten anderen Frauen beneideten.

Jennifer war schön und voll Leben. Nicht kühl, von sich selbst überzeugt oder eingebildet, sondern freundlich und natürlich. In ihrem Gesicht, das dunkelbraune Locken umrahmten, fielen besonders die großen dunkelbraunen Augen und der eigenwillige Mund auf. Jennifer vermochte schlecht, sich zu verstellen.

Ihre Gesichtszüge und besonders Mund und Augen zeigten deutlich, was sie empfand. Nun verließ sie den Wald und ritt über die Feldwege zurück zu den Gutsgebäuden. Dianas Hufe trommelten auf dem schmalen hölzernen Steg, der über den murmelnden Bach wegführte. Beim Pferdestall übergab Jennifer Diana dem Pferdepfleger. Sie tätschelte der Stute den Hals und reichte ihr mit der flachen Hand ein Stück Zucker.

»Meine brave, gute Diana«, flüsterte Jennifer ihr ins Ohr und legte ihren Kopf an den Pferdekopf. »Liebes Pferd. Auf bald.«

Jennifer betrat durch die Hintertür das große Gutshaus. Zuvor hatte sie nur eine Tasse Kaffee getrunken. Jetzt teilte sie der Haushälterin mit, dass sie wieder da sei, und frühstückte ausgiebig.

Anschließend duschte sie noch einmal, zog sich um, überprüfte ihr Make-up und kämmte sich die Haare durch und begab sich dann in ihr Arbeitszimmer im ersten Stock des Gutshauses. Vor ihr hatte Jennifers Vater dieses Arbeitszimmer innegehabt, vor ihm sein Vater. Es war mit gediegenen alten Möbeln eingerichtet. Jennifer hatte bisher noch nichts verändert, obwohl seit dem Tod ihres Vaters anderthalb Jahre vergangen waren.

Für sie war er in diesem Zimmer immer noch gegenwärtig. Sie erinnerte sich, wie sie und ihre Schwester als kleine Kinder verstohlen zur Tür hereingelugt hatten, während Otto von Weyden über Ausstellungen, Lohnlisten und seiner Geschäftspost saß. Damals hatten die Mädchen noch nicht verstanden, was der Vater den ganzen Tag trieb und weshalb er dann abends müde war.

Jetzt wusste zumindest Jennifer es. Sie sah auf die Uhr. Der Gutsverwalter Hermann Meinken hätte längst da sein müssen. Es gab Verschiedenes zu besprechen. Es sah dem alten Hermann nicht ähnlich, sich zu verspäten. Er war immer die Pünktlichkeit in Person gewesen.

Nun, dachte Jennifer, jeder kann einmal zu spät kommen. Sie begann bereits mit der Arbeit. Später wollte sie auf dem Feld nach dem Rechten sehen. Sie hatte zwar zuverlässiges Gesinde, doch wenn man ihnen allzu sehr freie Hand ließ, bummelten auch die besten Knechte und Mägde, oder packten die Dinge anders an, als sie hätten tun sollen.

Jennifer war gerade mit der Holzabrechnung fast zu Ende gekommen, als Sirenengeheul sie aufstörte. Es durchbrach brutal die gewohnte Geräuschkulisse des Gutes, wie es das Gackern der Hühner und das Brummen eines Traktors auf dem Acker waren. Jennifer erhob sich und ging ans Fenster.

Entsetzt sah sie, wie ein Notarztwagen zum Verwalterhaus fuhr. Hermann Meinkens Frau war zurzeit zu ihrer Schwester im Mecklenburgischen verreist. Jennifer schlug das Gewissen. Meinken war über sechzig. Ich hätte unbedingt sofort nach ihm sehen müssen, als er nicht rechtzeitig erschien, warf sie sich vor.

Sie hatte sich auf die Jungmagd verlassen, die Meinkens Häuschen aufzuräumen hatte, und die schon zeitig hätte dort sein sollen. Jennifer verließ eilig das Arbeitszimmer. Die Haushälterin Röschen Radmann und zwei Mägde standen schon vor der Tür des stattlichen Gutshauses.

Auch weitere Knechte und Mägde, die am Gutshof beschäftigt waren, sahen zu, wie man den Verwalter auf einer Trage aus dem Verwalterhaus trug und in den Krankenwagen einlud. Zwei Sanitäter trugen ihn. Ein Notarzt war dabei. Resi Binder, die Jungmagd, stand in der Tür des Verwalterhauses, bleich im Gesicht.

Der Notarzt stieg hinten mit in den Krankenwagen ein. Jennifer erreichte ihn gerade noch, bevor die Sanitäter, von denen einer der Fahrer war, die Türen schlossen.

»Was ist denn geschehen, um Gottes willen?«, fragte Jennifer entsetzt.

»Ein Schlaganfall«, antwortete der eine Sanitäter. »Wir bringen den Mann sofort ins Krankenhaus nach Salzgitter.«

Jennifer erhaschte nur einen flüchtigen Blick auf Meinkens Gesicht, ehe die Türen zuknallten. Der Notarzt bemühte sich um den Verwalter. Die beiden Sanitäter stiegen vorn ein und los ging die Fahrt. Der Krankenwagen jagte davon.

»Ich habe heute Morgen verschlafen«, gestand die Jungmagd schluchzend. »Als ich ins Verwalterhaus kam, waren die Läden noch geschlossen und nichts regte sich. Ich wunderte mich, denn sonst war der alte Hermann doch immer mit dem ersten Sonnenstrahl auf den Beinen. Auf mein Rufen antwortete er auch nicht. Da habe ich mehrmals an die Schlafzimmertür geklopft, dann habe ich gerufen. Erst als ich ein schwaches Stöhnen hörte, öffnete ich.«

»Und was war?«, fragte Jennifer. »Er lag reglos im Bett, im Gesicht bläulich verfärbt. Ich dachte, er stirbt jeden Moment.« Verzweifelt schluchzte das Mädchen auf.

Das Verwalterhaus stand ein wenig abseits von den anderen Gutsgebäuden. Es hatte einen eigenen Telefonanschluss. Die Jungmagd hatte das einzig Richtige getan und sofort den Notruf gewählt. Daraufhin schickte man den Krankenwagen. Jennifer verzichtete darauf, Resi Binder zu tadeln.

Sie hatte schließlich nicht wissen können, dass Hermann Meinken einen Schlaganfall erlitten hatte und sich nicht etwa absichtlich verspätete. Niedergeschlagen kehrte Jennifer zum Gutshaus zurück. Zwei geliebte Menschen hatte sie in den letzten Jahren schon durch den Tod verloren. Was würde sein, wenn auch Hermann Meinken, den sie von Kind auf kannte, hinüberging, in jenen Bereich, aus dem noch nie jemand zurückgekehrt war?

Jennifer stiegen Tränen in die Augen. Gerade jetzt, nachdem sie sich erst von Rüdiger getrennt hatte – und die Trennung war unwiderruflich –, schmerzte sie der neue Schicksalsschlag. Sie schalt sich selbst gleich darauf. Hermann Meinken kämpfte um sein Leben, sie durfte da nicht selbstsüchtig sein.

Die Hauptsache war, dass der Verwalter am Leben blieb. Er war ihr immer eine starke Stütze gewesen, seit sie das Gut übernahm. Jennifer konnte sich einfach nicht vorstellen, wie es ohne den alten Hermann weitergehen sollte.

*

Jennifer beantwortete mechanisch die Fragen ihrer Angestellten wegen der Erkrankung des Verwalters. Sie konnte ihnen auch nicht mehr sagen, als dass er einen Schlaganfall erlitten hatte. Sie wollte sich später in der Klinik in Salzgitter erkundigen. Niedergeschlagen kehrte sie in ihr Arbeitszimmer zurück.

Dort saß sie dann, aber sie vermochte sich auf die Abrechnungen nicht mehr zu konzentrieren. Sie schaute nur gedankenverloren vor sich hin. Nach einer Weile sagte sich Jennifer, dass es keinen Zweck hatte, am Schreibtisch zu sitzen, wenn sie ohnehin nicht arbeitete. Sie ging ins Esszimmer hinunter, das gemütlich und freundlich eingerichtet war. Sonnenschein fiel hell zum Fenster herein.

Sybille von Weyden saß jetzt erst am Frühstückstisch. Sie erhob sich selten vor zehn Uhr aus dem Bett. Auch Sybille wohnte, wenn sie nicht gerade auf Urlaubs- oder Vergnügungsreisen weilte, auf Gut Weyden. Sie trug an diesem Vormittag einen mit Silberfäden durchwirkten Hausanzug, den sie bei der Hauptdarstellerin einer Fernsehserie gesehen und sich sofort bestellt hatte.

Sie war honigblond, hatte große blaue Augen, einen süßen Schmollmund, der auf Männer geradezu faszinierend wirkte und eine Figur, die sie nur allzu gern betonte und herausstrich. Auch der Dress, den sie jetzt anhatte, war tief ausgeschnitten. Sybille hatte bereits jetzt am Morgen ein raffiniertes Make-up aufgetragen, sie trug Brillantohrringe, eine Halskette, mehrere Ringe und eine kostbare Uhr.

»Hallo, Schwesterlein«, sagte sie zu Jennifer und hob die Wimpern, was ihre Lidschatten betonte. »Was wollte denn der Krankenwagen hier? Das scheußliche Sirenengeheul hat mich aus meinem schönsten Schlaf geweckt.«

Spät genug war es ja wohl, dachte Jennifer ärgerlich.

Laut sagte sie: »Das Sirenengeheul war notwendig, um unserem Verwalter vermutlich das Leben zu retten. Hermann Meinken erlitt einen Schlaganfall.«

»Ach ja?« Sybille gähnte. »Der alte Hermann, hoffentlich übersteht er es. Setz dich doch einen Moment, Schwesterherz. Ich muss mit dir über ein wichtiges Thema sprechen.«

Jennifer nahm Platz. Sie schenkte sich ein Glas Fruchtsaft aus der Karaffe ein und überlegte, was für Sybille wohl wichtiger sein mochte als der Umstand, dass der treue und bewährte Gutsverwalter in Lebensgefahr schwebte. Doch um den Fortgang des Gutsbetriebes sorgte Sybille sich nicht. Den nahm sie einfach als gegeben hin. Bisher hatte sie Jennifer noch niemals Arbeit abgenommen oder sie unterstützt, im Gegenteil.

»Ich muss unbedingt nach Acapulco«, eröffnete Sybille der Schwester theatralisch, nachdem sie ihren Toast aufgegessen hatte. »Die ganze Clique ist dort. Jenny, das ist einfach toll. Ich kann nicht fehlen, oder ich bin auf ewige Zeiten blamiert.«

»Um welche Clique handelt es sich denn?«, fragte Jennifer.

Sybille nannte die Namen von reichen Playboys und Nichtstuern beiderlei Geschlechter. Es handelte sich um Personen, die von Beruf Erbe oder Erbin waren und bei denen genug Kapital im Hintergrund stand, sich die Vergnügungen des internationalen Jetset leisten zu können. Für diese Leute war es ungeheuer wichtig, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein und dort auch gesehen zu werden.

Sie hatten genaue Vorstellungen, was in und was out war, und unterwarfen sich nur zu gerne diesen Zwängen. Im Grund genommen lief es darauf hinaus, dass man jung, sportlich, schön und reich zu sein hatte, außerdem lässig. Dazu gehörte auch, dass Arbeit verpönt war, Armut oder Krankheit durften nicht einmal erwähnt werden.

Diese Clique hatte großes Interesse an allen möglichen kostspieligen Zerstreuungen. Acapulco war einer der Orte, die dafür den richtigen Rahmen boten – und zum Kuckuck mit denjenigen, die da nicht mithalten konnten!

Jennifer versuchte, mit ihrer Schwester vernünftig zu reden.

»Du glaubst also, deine Clique würde dir die kalte Schulter zeigen und dich schneiden, wenn du nicht zu dem Treffen in Acapulco erscheinst?«

»Dann bin ich für die gestorben, Jenny! Dann kann ich mich genauso gut gleich begraben lassen.«

»Das finde ich nicht. Du solltest dir einmal überlegen, was du mit dir und deinem Leben anzufangen gedenkst. Bisher bist du nur umhergetändelt, hast nicht einmal das Gymnasium abgeschlossen, hast keinen Beruf erlernt und nur Geld ausgegeben!«

»Iiih, was du für bürgerliche Vorstellungen hast! Eine Berufsausbildung und Arbeit sind mit Aufstehen zu unmöglichen Zeiten verbunden. Damit verdirbt man sich den ganzen Tag.«

Sybille polierte die Steine in ihren Ringen mit großer Sorgfalt. Jennifer blieb gelassen.

»Mir ist jetzt nicht nach Scherzen zumute. Du hast Vorstellungen, Dinge, die auf Dauer einfach nicht zu realisieren sind. Du lebst in den Tag hinein und orientierst dich an Leuten, die dem Herrgott nur die Zeit stehlen. Ich habe gewiss nichts gegen Freizeit und Vergnügen einzuwenden, aber man kann das nicht zu seinem Lebensinhalt machen. Selbst wenn jemand die Mittel hat, sich das leisten zu können, entsteht eine innere Leere. Der Mensch, ob Mann oder Frau, braucht eine Aufgabe!«

Sybille verdrehte die Augen. Sie zündete sich eine Zigarette an und rauchte hastig. Schon an der Art, wie sie den Rauch ausblies, erkannte Jennifer, wie gereizt sie war.

»Die Leier kenne ich auswendig! Du hast sie von unserem verstorbenen Vater übernommen. Mich rührt das überhaupt nicht. Ich bin genauso die Erbin von Gut Weyden wie du, Jenny. Wenn ich es mir nicht einmal mehr leisten kann, für ein paar Tage in die Sonne zu fahren und Urlaub zu machen, dann pfeife ich auf alles.«