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Eine Frau und die größte Schwimm-Challenge der Welt: Ocean´s Seven – allein durch die gefährlichsten Meerengen weltweit: vom Ärmelkanal bis zur neuseeländischen Cookstraße. Nach jahrelangem Training hat sich die mehrfache Weltrekordhalterin Nathalie Pohl ihren großen Traum erfüllt und als erste Deutsche alle sieben Meerengen durchquert. Bis zu 15 Stunden am Stück kämpft sie sich durch Marathonstrecken im Meer – gegen starke Strömungen und hohe Wellen, in Hai-Gewässern, nachts in völliger Dunkelheit. Die inspirierende Geschichte einer Frau, die ihre Leidenschaft fürs Schwimmen lebt – ob auf den Weltmeeren oder in Schwimmhallen, wo sie sozial benachteiligten Kindern Schwimmkurse ermöglicht. Ihr Motto: Niemals aufgeben!
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Seitenzahl: 270
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© eBook: 2024 GRÄFE UND UNZER VERLAG GmbH, Postfach 860366, 81630 München
© Printausgabe: 2024 GRÄFE UND UNZER VERLAG GmbH, Postfach 860366, 81630 München
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Text: Nathalie Pohl mit Jan Stremmel
Redaktion und Projektmanagement: Melanie Loser
Lektorat: Dr. Katharina Theml
Kartengestaltung: Birgit Kohlhaas
Schlusskorrektur: Ulla Thomsen
Covergestaltung: Rose Dobmeier, Favoritbüro München
eBook-Herstellung: Chiara Knell
ISBN 978-3-8464-1011-0
1. Auflage 2024
GuU 4-1011 03_2024_02
Bildnachweis
Coverabbildung: Lasse Schneppenheim
Fotos: Anna Heupel; Marc Le Cornu; Mark Tantrum; Gerard Brown; Daniel Toni Jais; Marc Le Cornu; Kenta Onoguchi; Privat
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Alle Schilderungen in diesem Buch basieren auf subjektiven Erinnerungen. Die Dialoge geben nicht wortwörtlich, sondern sinngemäß vergangene Gespräche wieder. Einige Namen wurden zum Schutz der Privatsphäre geändert. Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird in diesem Buch bei Personenbezeichnungen das generische Maskulinum verwendet. Es gilt gleichermaßen für alle Geschlechter.
»Ich bin allein auf dem offenen Meer. Die Sterne sind so hell und nah, wie ich es noch nie gesehen habe, sie spiegeln sich im pechschwarzen Wasser. Es ist, als schwämme ich im Weltall, schwerelos und Lichtjahre entfernt von einem bewohnten Planeten.«
NATHALIE POHL
Für meine Familie
Die Dunkelheit ist nicht das größte Problem. Mit ihr habe ich gerechnet. Das Problem sind die Wellen.
Seit ich die Küstenzone verlassen habe, seit die östliche Kanalströmung mich in sich aufgenommen hat und wie einen kleinen unbeleuchteten Satelliten langsam in Richtung Westen trägt, sind die Wellen unerwartet stark. Sie kommen von links, von rechts, von hinten. Manchmal aus allen Richtungen zugleich. Ich spüre, wie sie mich von unten hochheben, meinen Körper aus der Horizontalen hebeln und mich schräg nach vorne aus der Bahn werfen, mal zur einen Seite, mal zur anderen.
Korrigieren, denke ich zwischen zwei Atemzügen. Ich muss viel zu oft meine Richtung korrigieren.
Zum millionsten Mal drehe ich den Kopf unter der Achsel aus dem Wasser und inhaliere Luft – da schlägt eine Welle quer über mein Gesicht. Salzgeschmack tief im Rachen. Ich huste und spucke, ziehe krampfhaft Luft in meine Kehle und drehe mich für ein paar Sekunden auf den Rücken, um meinen Sauerstoffhaushalt zu regulieren.
So hatte ich das nicht geplant.
Über mir spannt sich ein schwarzer, sternenloser Himmel. Vom Festland ist nichts zu sehen. Hinter einem Wellenkamm blitzt das Topplicht am Mast der Sea Satin auf, des Fischerbootes, das mich begleitet. Joshua, Papa und Captain Mike müssen dort irgendwo stehen und in die Schwärze hinter der Reling starren. Ich sehe ihre angespannten Gesichter förmlich vor mir.
Aber hier im Wasser bin ich alleine.
Wieder hole ich Luft, schließe die Lippen und rotiere meinen Körper zurück auf den Bauch.
Unter mir gähnt die schwarze Unendlichkeit. Ein kaltes, gleichgültiges Universum, durch das sich Arme und Beine seit etwa drei Stunden einen Weg pflügen. Meine Arme scheinen in der Dunkelheit bei jedem Schlag unter Wasser, als wären sie aus Wachs.
Um mich zu sammeln, gehe ich in Gedanken meinen Körper durch, von den Füßen bis zum Kopf. Meine Zehen sind taub vor Kälte, so weit alles normal. Meine Beine schlagen im gewohnten Rhythmus, sind aber erschöpfter, als sie sein sollten. Das Gleiche mit Rumpf und Rücken. Die ständige Reaktion auf die Wellen kostet Kraft, die mein Körper zum Vorwärtskommen bräuchte. Und mir ist übel.
Ich versuche, mich auf etwas anderes zu konzentrieren. Ablenkung. Ja, Ablenkung ist gut. Zum Beispiel Schmerzen. Habe ich welche? Ein paar Züge lang scanne ich die Signale, die meine Nervenenden an mein Gehirn senden. Da: im Nacken, in den Achseln, zwischen den Beinen. Wo seit Stunden Haut über Haut scheuert, brennt es. Die Vaseline ist längst abgewaschen.
Das Salzwasser nagt an mir.
Links, rechts, links. Atmen. Den Rhythmus kennt mein Körper im Schlaf. Rechts, links, rechts. Atmen.
Im Wasser bin ich auf Autopilot. Ich habe ihn in Millionen Zügen programmiert, seit ich ein Kind war. In zehntausend Stunden im Becken zu Hause in Marburg, auf Wettbewerben und internationalen Meisterschaften. Aber jetzt, um vier Uhr morgens im eiskalten Wasser, kommt mir eine grässliche Erkenntnis.
Für den Ärmelkanal ist das alles so gut wie nutzlos.
Im Becken gibt es keine Wellen. Keine unerwarteten Brecher, die dich von hinten treffen und dir beim Luftholen die Kehle volllaufen lassen. Im Becken wirst du nicht seekrank, auch nach sechs Stunden nicht. Im offenen Wasser aber gelten Regeln, die ich bisher noch nicht kenne.
Eine davon habe ich inzwischen verstanden: Mein Kopf ist das Problem. Ich halte ihn zu tief. Er müsste beim Luftholen viel weiter durch die Wasseroberfläche brechen, wie ein Schnorchel. Ich überlege fieberhaft, wie viel Kraft es mich kosten würde, die 32 Kilometer bis zur französischen Küste mit einer anderen Technik zu schwimmen. Da hebt mich ein Wellenberg seitlich hoch und wirft mich schräg nach vorne. Ich übergebe mich ins Meer.
Ich bin nicht abergläubisch, aber die Gräber vor dem Hotelfenster hätten mir zu denken geben sollen. Seit einer Woche übernachte ich in einem hellgrün gestrichenen Zimmer mit fleckigem Teppichboden, das direkt auf einen Friedhof blickt. Das kleine englische Hotel mit dem engen Treppenhaus liegt neben einer uralten Feldsteinkirche – und jeden Morgen, wenn ich die Vorhänge öffne, um mein Training zu beginnen, begrüßen mich ein paar Hundert Grabsteine, moosig und schief vom nassen Westwind. Wie viele der hier begrabenen Toten sind wohl im Ärmelkanal ertrunken? Tolle Gedanken, um sich morgens so richtig in Stimmung zu bringen. Ich hätte natürlich am liebsten direkt wieder ausgecheckt. Aber das »Marquis of Granby« ist das letzte Hotel, das mitten im August freie Zimmer hat.
Die Küstenstadt Dover ist berühmt für zwei Sachen: ihre weißen Klippen, die man bei gutem Wetter sogar von Frankreich aus als silbernen Streifen am Horizont erkennt. Und die Kanalüberquerung. Jeden Sommer zieht die Hafenstadt Schwimmer und Draufgänger aus der ganzen Welt an. Genau hier liegen sich das europäische Festland und die Insel Großbritannien am nächsten, 34 Kilometer.
Deshalb ist hier der einzige Ort, an dem man zu einer bestimmten Zeit im Jahr, zwischen Juni und Oktober, die legendärste und berüchtigste Herausforderung für Schwimmer überhaupt versuchen darf. Die Kanalüberquerung. Pro Jahr dürfen etwa 300 Channel Swimmers den Versuch starten. Sie sind streng ausgewählt und mussten sich teils Jahre vorher für einen Slot anmelden. Jeder startet für sich, an einem exakt festgelegten Zeitpunkt vom Shakespeare Beach, dem Strand direkt neben dem Hafen von Dover. Jeder wartet auf die ideale Verbindung aus wenig Wellengang, richtiger Strömung und Windstille. Und ich? Bin zum ersten Mal dabei und wäre auch ohne den morgendlichen Blick auf den Friedhof ganz schön aufgeregt.
Am Morgen nach der Anreise lernen meine Schwimmerkollegen und ich uns kennen. Joshua, mein Trainer, Papa und ich fahren morgens um acht im Nebel runter zum Hafen. Hier treffen sich diejenigen, die einen Slot ergattert haben, um in diesem Sommer die Überquerung zu wagen. Auf dem Parkplatz neben der Hafenmauer, die hundert Meter ins Wasser ragt, ist der Treffpunkt. Hier kommen jeden Morgen zwischen Juli und September die Schwimmer zusammen, die sich auf die Herausforderung vorbereiten.
Sie tragen Joggingklamotten, bequeme Schuhe und trinken dampfenden Tee aus Thermosbechern. Zehn Männer zwischen 30 und Mitte 50 und zwei Frauen. Alle sind gebräunt und breitschultrig wie die meisten Schwimmer, mit denen ich seit meiner frühen Kindheit so gut wie meine gesamte Freizeit verbringe.
Aber etwas ist anders. Sehr anders.
Kurz bin ich irritiert, dann wird mir klar: Es sind die Proportionen. Die Schwimmer auf diesem Parkplatz sind nicht sehnig und feingliedrig wie die meisten Beckenschwimmer. Ihre Oberkörper sind breit, aber nicht auf eine athletische, stromlinienförmige Art. Eher wie Whiskyfässer. Sogar ihre Gesichter wirken rund, wie aufgepumpt, mit roten Bäckchen. Ich habe in den letzten Monaten oft davon gehört, aber jetzt sehe ich es zum ersten Mal mit eigenen Augen: Channel Fat. Der Überlebenstrick der Kanalschwimmer.
Statt Wasserwiderstand zu reduzieren, um im Becken schneller vorwärtszukommen, essen sich Freiwasserschwimmer absichtlich Körperfett an. Das Fett ist lebenswichtig, es dient als Energiereserve und vor allem als Schutz gegen die Kälte. Das Wasser im Ärmelkanal hat im Hochsommer 15 Grad. Das ist eiskalt, Menschen sind von Natur aus nicht dafür gemacht, darin länger als ein paar Minuten auszuhalten. Im Grunde sind Kanalschwimmer menschliche Robben.
Es ist völlig klar: Ich bin zu dünn. Dabei habe ich mich monatelang mit Joshua auf die Überquerung vorbereitet. Auf Mallorca habe ich mich über Wochen hinweg an kaltes Wasser gewöhnt, in täglichen Runden vor der Küste Palmas. Erst im dicken Neoprenanzug, dann im dünneren, schließlich nur im Badeanzug. Wer den Kanal überqueren will, muss nachweisen, dass er oder sie sechs Stunden bei 15 Grad im Meer schwimmen kann. Und zwar ohne Neo, so wollen es die Regeln und die Tradition im Ärmelkanal.
Der erste Mensch, der ihn lebendig durchschwamm, hatte nämlich ebenfalls keinen Anzug – so etwas war damals noch nicht erfunden. Dieser erste erfolgreiche Kanalschwimmer war im Jahr 1875 ein englischer Seemann namens Captain Matthew Webb. Nachdem er gehört hatte, dass ein anderer Engländer vergeblich versucht hatte, den Ärmelkanal zu durchschwimmen, kündigte er seinen Job bei der Handelsmarine und fing an zu trainieren. Zwei Jahre später schmierte er sich von oben bis unten mit Schweinswalfett ein und schwamm in Dover los, begleitet von drei Ruderbooten. Er brauchte knapp 22 Stunden, bis er in Frankreich an Land kroch, weil er Strömung und Seegang falsch berechnet hatte.
Seine Durchquerung machte ihn schlagartig weltberühmt. Captain Webb ist bis heute der Held aller Freiwasserschwimmer, der Sir Edmund Hillary des Meeres. Seinetwegen also sind Neoprenanzüge verboten, darfst du nichts am Körper haben als Badeanzug, Kappe und Schwimmbrille, seinetwegen packen sich Schwimmer schon Monate vorher kiloweise Channel Fat auf die Rippen, um nicht zu erfrieren.
Matthew Webb ertrank übrigens ein paar Jahre später. Er hatte versucht, die Stromschnellen unter den Niagarafällen zu durchschwimmen.
Es ist zum Glück nicht alles verboten, was die Tortur etwas weniger unangenehm macht. Was zum Beispiel erlaubt ist: kurze Pausen mit Getränken und Snacks. Diese darf man jedoch nur zu sich nehmen, wenn man dabei das Boot nicht berührt. Deshalb werfen die Teambegleiter den Schwimmern Flaschen zu, die an Seilen befestigt sind, an denen man sie nach der Pause wieder zurück an Bord ziehen kann. Sogar der heilige Captain Webb hatte sich seinerzeit unterwegs gestärkt, und zwar mit der damals offenbar in England üblichen Sportlernahrung: Bier, Brandy und Rinderbrühe.
Joshua und ich gehen es etwas zeitgemäßer an und kaufen im örtlichen Supermarkt einen Vorrat aus Toast, Tomatensuppe und Cola. Und dann schlagen wir Zeit tot, eine ganze Woche. Meine Tage unterteilen sich in Training, Essen und Warten. Morgens schwimme ich zwei Stunden mit den anderen an der Hafenmauer entlang, um mich an die Wassertemperatur zu gewöhnen. Jeden Morgen aufs Neue komme ich schlotternd und mit taubgefrorenen Händen und Füßen zurück an Land.
Dann kommt gegen Mittag das Wetter-Update des Kapitäns. Captain Mike ist einer von 18 Kapitänen, die Kanalschwimmer bei ihrer irrwitzigen Herausforderung begleiten. Es geht im Ärmelkanal fast zu wie auf dem Mount Everest – das Schwimmen ist ein Business geworden.
Mike ist ein Mann mit fußballrundem Kopf, einem drahtigen grauen Bart und Händen wie aus Treibholz. Er überwacht rund um die Uhr akribisch die Strömungs- und Wellenvorhersage, sucht nach Löchern in den Sturmfronten der Nordsee, die groß genug sind, um seine Schützlinge hindurchzuleiten. Aber wir haben Pech. Sieben Tage lang peitscht der Südwind so energisch Regen an die englische Küste, dass man als Schwimmer kaum aus dem Hafenbecken herauskäme. Das Friedhofzimmer und ich verbringen mehr Zeit miteinander, als mir lieb ist.
Andererseits ist es mir nicht unrecht, meinem Körper etwas mehr Zeit zu geben, bevor es drauf ankommt – bevor ich meine größte schwimmerische Herausforderung wagen kann. Die Kanalüberquerung ist mein Lebenstraum.
Fast wäre ich gar nicht gekommen. Noch vier Wochen vor meinem Slot hatte ich eine Mandelentzündung, die ich mit Antibiotika niedergekämpft habe, um irgendwie noch fit für Dover zu werden. Und obwohl ich im Training schon wieder die volle Leistung bringe, tut jeder Tag Ruhe gut. Meine Abwehrkräfte sind noch deutlich geschwächt.
Und dann ist es so weit. Ein Tag mit spürbar weniger Wind. Auf dem Weg zum Hafen bewegt sich in den Baumkronen kein Blatt. Kleine weiße Wolken scheinen bewegungslos am Himmel zu stehen, als würde sich das Wetter kurz ausruhen, um nach den sieben Tagen Sturm neue Kraft zu sammeln.
Mittags nach dem Schwimmen summt mein Handy in der Hosentasche: »Wind und Strömung sehen gut aus. Haltet euch bereit.« Ich schwebe den Rest des Tages auf einer kribbelnden Wolke aus Adrenalin. Sobald meine Gedanken kurz woanders sind und ich mich erinnere, was mir nun vielleicht unmittelbar bevorsteht, durchfährt mich ein Schauer aus Angst und Vorfreude. Papa motiviert mich und redet mir gut zu: »Du schaffst das locker! Wenn es überhaupt jemand schafft, dann du!« Papa begleitet mich seit meiner frühen Kindheit zu all meinen Schwimmen. In schwierigen Momenten ist er meine Stütze, mein Motivator und größter Fan.
Aber heute meine ich, in seiner Stimme eine leichte Nervosität zu hören, die ich so noch nicht kenne.
Um sieben Uhr abends sitze ich angespannt im Hotel und schüttle mit Joshua die Kohlensäure aus vier Zweiliter-Colaflaschen. Ein Ritual, das wir vor jedem langen Schwimmen vollziehen: Cola gibt mir mit seinem Zuckergehalt viel Energie, und es beruhigt meinen Magen. Aber Getränke mit Sprudel sind Gift für Schwimmer, im Wasser kann die Luft im Magen wegen der horizontalen Lage nicht entweichen. Also schütteln, Deckel aufdrehen, Deckel zudrehen, schütteln. Ansonsten schweigen wir. Joshua weiß, dass mich jedes Gespräch jetzt noch nervöser machen würde.
Sss-Sssssss. Mein Handy auf dem Nachttisch vibriert. SMS von Mike. »Es geht los. Treffpunkt zwei Uhr morgens am Hafen.«
Ich esse zwei große Teller Nudeln mit Butter, meine liebste Kraftnahrung vor langen Schwimmstrecken. Kohlenhydrate und Fett, genau das braucht mein Körper. Dann gehen Joshua und ich ein letztes Mal die Reihenfolge durch, in der ich in den Pausen unterwegs Essen und Trinken bekomme. Erst das Energie-Gel, dann Tomatensuppe, dann Tee. Nur auf Wunsch Toastbrot, gegen die Seekrankheit. Ich schreibe das ganze Menü auf einen Zettel, der bei Papa und Joshua bleibt.
Das sind immer besondere Momente für mich: im Hotelzimmer zu sitzen, zum letzten Mal auf festem Boden, und alles durchgehen, was am nächsten Tag passieren kann. Ich schlafe besser, wenn ich weiß, dass ich alles getan habe, was man vorab tun kann. Stück für Stück fülle ich unsere großen Sporttaschen mit den Dingen, die mich am nächsten Tag am Leben halten werden.
Warme Cola ohne Kohlensäure.
Tomatensuppe ohne Salz.
Schlabbriges Toastbrot ohne Rand.
Gezuckerter Schwarztee.
Pappsüßes Gel aus der Plastiktube.
Was für ein Menü. In jeder anderen Situation würde es mich sofort zum Würgen bringen. Aber ich weiß, dass mir diese Dinge, wenn ich sie mir später im Wasser zwischen die vor Kälte tauben, salzverkrusteten Lippen schiebe, alles bedeuten werden.
Die Momente, in denen Freiwasserschwimmer etwas trinken oder essen dürfen – im Abstand von mindestens 30 Minuten – nennt man Feedings. Fütterung, wie bei den Orcas in amerikanischen Freizeitparks. Diese Momente sind meine einzigen zeitlichen Orientierungspunkte im Wasser. Und spätestens ab Stunde drei die einzigen Lichtblicke, auf die ich mental hinarbeite.
Durchhalten. Noch 2400 Schwimmzüge, dann krieg ich wieder Toast und ein paar Schlucke warme Cola!
Als alles besprochen ist, lädt Joshua die Taschen ins Auto. Und ich gehe schlafen. Was zwar gut klingt, aber letztlich eine Lüge ist, die ich mir selbst erzähle. Du kannst so gut trainiert sein, wie du willst – dein Körper spürt, wenn er in wenigen Stunden eine Aufgabe bewältigen soll, bei der er sterben könnte und an der vier von fünf Menschen scheitern. Das Letzte, was er dir erlaubt, ist zu schlafen.
Zehn Stunden. So lange schwimme ich inzwischen. Grobe Schätzung. Ich habe keine Uhr an. Aber die Sonne steht jetzt senkrecht. Der Wind hat aufgefrischt. Hat Captain Mike sich im Wetterbericht geirrt? Es ist eisig. Vom Boot weht die Stimme Captain Mikes herüber.
»Do you want to be a Channel swimmer or not?«
Er brüllt diesen Satz nun schon seit Stunden. Als würde er mich damit irgendwie motivieren. Dabei klingt er eher hämisch, als hätte er es mir ja gleich gesagt: Aus dir, junges Mädchen, wird bestimmt keine Kanalschwimmerin!
Meine Zähne klappern. Die Wellen sind jetzt grau. Und nicht größer, aber chaotischer als in der Nacht. Beim Feeding komme ich kaum zur Flasche mit Schwarztee, die Joshua mir zugeworfen hat. Ich sehe, wie er versucht, die Sorge in seinem Gesicht zu verbergen. Ich mache es genauso und zeige ihm den hochgereckten Daumen. Ich will ihm keine Angst machen.
Wir wissen beide: Eigentlich müssten wir am Ufer schon gelben Sand erkennen. Aber Frankreich ist immer noch eine zarte bläuliche Linie. Sie hüpft am Horizont herum, wenn ich es schaffe, den Kopf mal kurz über einen Wellenkamm zu heben.
Meine Lunge fühlt sich an, als hätte ich brennenden Alkohol inhaliert. Mein Rhythmus ist kaputt. Ich bin außer Atem. Als wäre ich gerade zehn Stockwerke hochgesprintet, um direkt im Anschluss 50 Klimmzüge zu machen. Dazu kommt, dass mein Mund nach verbranntem Diesel schmeckt. Der Auspuff der Sea Satin leitet die Motorabgase nach unten ins Wasser – und ich schwimme offenbar genau dort, wo sie wieder nach oben blubbern. Muss das Boot so nah sein? Egal. Weiter.
Die Luft reicht mir nicht mehr für drei Züge. Nicht mal mehr für zwei.
Links, atmen. Rechts, atmen.
Es geht nicht anders. Ich habe das Gefühl, auf der Stelle zu schwimmen.
Links.
Atmen.
Rechts.
Atm-
Da schwappt mir eine Welle übers Gesicht. Mir wird ganz heiß in der Brust. Ich schaufle mit den Armen weiter, Autopilot. Aber auch mein Gehirn ist plötzlich ganz warm. Ich denke an Captain Matthew Webb, eingeschmiert in Schweinswalfett, vor den Niagarafällen, in der Hand ein Glas Brandy. Dann an Berge. Den Mount Everest. Sir Edmund Hillary. Ich sehe tote Bergsteiger, die man kurz vor dem Gipfelanstieg findet. Erfroren, aber im T-Shirt.
Das Hirn, habe ich gelesen, spiegelt dem unterkühlten Körper im letzten Moment vor dem Tod auf einmal vor, ihm sei ganz warm. So ziehen sich Menschen tatsächlich die Klamotten aus und erfrieren, 8000 Meter über dem Meer, in dem Glauben, ihnen sei warm.
Was für ein freundlicher Schubser der Natur in Richtung Erlösung, denke ich. Dann versinke ich in einem Sumpf aus Gleichgültigkeit. Ich komme erst wieder zu mir, als man mich aufs Boot gezogen hat. Eingewickelt in Handtücher und am ganzen Körper zitternd, liege ich unter Deck auf einem Sofa in der Kajüte. Die Sea Satin peitscht Vollgas zurück in Richtung Dover, wo der Rettungswagen schon mit Blaulicht und laufendem Motor wartet.
Ich bin fünf und mir ist langweilig. Der Strand vor dem Hotel ist in sechs lange Reihen Sonnenliegen aufgeteilt. Wenn Nicola und ich um die Wette rennen, vom Wasser bis zu den Palmen an der Terrasse, bin ich meist schneller. Wenn wir unten an der Wasserlinie mit matschigem Sand Burgen bauen, hat meine oft die höheren Türme mit schön hingetropften Spitzen und die stabileren Mauern. Ein Wettkampf folgt auf den nächsten: Wir hüpfen auf einem Bein, schlagen Räder oder ziehen eine Linie in den Sand, um zu schauen, wer weiter springt.
Ich liebe Wettbewerbe. Aber mit Nicola sind sie manchmal etwas langweilig. Kein Wunder: Ich bin anderthalb Jahre älter. Nicola ist nicht nur meine Schwester, sondern auch meine beste Freundin. Niemand versteht mich so wie sie, niemand bewundert mich mehr. Wenn ich eine Idee habe, was wir als Nächstes spielen können, ist sie begeistert. Und selbst wenn ich dann schneller laufe, weiter springe oder höher klettere, ist sie nie enttäuscht, sondern guckt mich jedes Mal mit ihren riesigen leuchtenden Augen an und klatscht in die Hände. Ich liebe meine kleine Schwester. Wäre sie doch nur schon genauso groß und schnell wie ich!
Wir sind im Urlaub, in dieser Stadt mit dem komischen Namen. Hier stehen überall sehr hohe, moderne Häuser direkt am Meer. Es ist eine Stadt, in der die Männer bodenlange weiße Kleider tragen und karierte Tücher auf dem Kopf, was ich nicht verstehe, weil sie doch den ganzen Tag in Badehosen am Strand spielen könnten, wie wir. Ich verstehe hier vieles nicht. Aber ich mag Dubai trotzdem.
Wir sind jetzt drei Tage hier. Ich werde morgens von alleine wach, weil ich nicht erwarten kann, zurück ans Meer zu kommen. Am dritten Morgen, während Nicola noch schläft und Papa und Mama nebenan im Bett liegen, ziehe ich meinen Badeanzug an und schleiche mich aus dem Zimmer. Ich habe mir extra gemerkt, wie der Weg zum Strand ist, den Gang mit dem Teppichboden nach rechts rauf, eine Treppe runter, rechts durch die Halle mit dem schwarzen spiegelnden Steinboden und durch die Glastür. Diesen Weg gehe ich alleine, ohne Mama und Papa, um nachzusehen, wie es unseren Burgen geht. Und dann ganz allein zu baden. Ich schiebe die Glastür auf und renne los, über die Terrasse, in Richtung der Palmen, sehe das türkise Wasser schon vor mir – da greift Papa mich an der Hand, er schnauft ganz doll und sagt mir, dass ich das bitte nie wieder machen soll.
Ans Wasser gehen immer nur mit Papa, hörst du?
Ja, höre ich natürlich. Dabei bin ich doch groß, zumindest größer als Nicola. Und überhaupt, was soll ich denn jetzt tun, wo wir schon alles gespielt haben und ich jedesmal gewonnen habe?
Die wenigen anderen Kinder im Hotel sind älter als wir oder blöd. Am ersten Tag haben wir versucht, mit zwei tiefgebräunten Brüdern aus Schweden Kontakt aufzunehmen. Sie schauten sich unsere ehrgeizigen Sandburgen an, bauten dann daneben ihre eigene, ziemlich schlampig. Die trampelten sie dann lachend kaputt, bevor sie auch nur annähernd so groß war wie meine. Völlig bescheuert. An Tag zwei haben wir Fangen gespielt mit einem größeren deutschen Mädchen und seinem Bruder, der so alt war wie ich. Aber der stolperte irgendwann und schlug sich auf der Terrasse ein Knie auf, seitdem haben wir sie nicht mehr gesehen. Ansonsten ist noch ein älterer Junge mit seinen Eltern hier, der sitzt die meiste Zeit auf dem Liegestuhl und spielt Gameboy. Alle halbe Stunde steht er auf, streckt sich, rennt ins Wasser und schwimmt bis raus an die Leine mit den kleinen gelben Bojen. Diese auf und ab hüpfende gelbe Leine grenzt den Schwimmerbereich unseres Hotels vom offenen Meer ab.
Niemand in meiner Familie schwimmt. Also, das stimmt nicht wirklich. Alle können schwimmen. Aber jedes Mal im Urlaub liegen Mama, Papa, Oma und Opa lieber im Liegestuhl und lesen oder reden oder telefonieren. Papa hat mir vor ein paar Monaten in einem Kinderbecken in Marburg beigebracht, wie ich mich über Wasser halte: Ich muss mit den Beinen »Frosch« machen, mit den Armen »Hampelmann«. Ich kann mich also ein paar Züge lang über Wasser halten, vier, fünf Meter weit, vom Beckenrand zu Papa und wieder zurück. Das ist mehr als Nicola, die immer noch Schwimmflügel braucht. Und ehrlich gesagt habe ich auch niemanden in meiner Familie jemals weiter schwimmen sehen als vier, fünf Meter am Stück.
Wie gesagt, wir sind keine Schwimmer.
Aber während ich mich am Strand zwischen den Liegestühlen langweile, wächst meine Neugier auf das, was da rechts hinter den Palmen schimmert. Ein Pool. Aber kein rundes Kinderbecken wie das, in dem mir Papa die Froschtechnik gezeigt hat. Sondern ein riesiger, rechteckiger Pool mit tiefem, dunkelblauem Wasser. Lange Leinen mit kleinen roten Bojen unterteilen das Becken längs in schmale Bahnen. Der Pool gehört zu einem Fitnessclub, der ihn sich mit dem Hotel teilt. Und dort herrscht eine komplett andere Stimmung als hier am Strand. Keine Kinder, die Burgen zertrampeln oder schreien, weil sie aufs Knie gefallen sind. Dort sind nur Jugendliche und Erwachsene mit Badekappen und Schwimmbrillen. Sie machen Kopfsprünge ins Wasser und ziehen dann stundenlang ihre Bahnen, hin und zurück, ohne zu sprechen, wie märchenhafte Wesen, halb Mensch, halb Fisch. Jeder in einem eigenen Rhythmus und mit eleganten Bewegungen, die so gar nicht nach Frosch oder Hampelmann aussehen.
Ein kleiner, drahtiger Mann mit weißem Polohemd und dichtem schwarzen Haar schreitet den Beckenrand ab, lässig, aber konzentriert. Gelegentlich pustet er in eine rote Trillerpfeife, die ihm um den Hals baumelt. Dann geht er neben dem Becken in die Hocke und wechselt mit einem der Schwimmer ein paar Worte. Die Schwimmer nicken dann und setzen ihre Bahnen fort, meist noch ein bisschen eleganter als zuvor. Wenn die Schwimmer aus dem Wasser steigen, nicken sie dem Mann im Polohemd zu, als würden sie sich bedanken wollen. Nachmittags, wenn der Letzte den Pool verlassen hat, räumt der Mann im Polohemd in aller Ruhe die weißen Plastikliegen zu einem akkuraten Stapel und schiebt mit einem Abzieher das verspritzte Wasser zurück ins Schwimmbad.
Ich bin fasziniert. Und glaube, ich habe soeben das Gegengift für meine Langeweile gefunden.
Papa ist sofort dabei, wie immer. An seiner Hand gehe ich Richtung Schwimmbecken. Der Mann im Polohemd begrüßt ihn und zwinkert mir lächelnd zu. Die beiden sprechen eine Sprache, die ich nicht verstehe. Der Mann nickt, strahlt, zeigt mir den hochgestreckten Daumen. Dann geht Papa in die Hocke zu mir und erklärt: Der Mann heißt Ramesh und ist ganz nett. Er zeigt mir gerne, wie man im großen Becken schwimmt.
Es beginnt damit, dass Ramesh mir eine Badekappe und eine Schwimmbrille gibt. Ich fühle mich schon fast wie eines der Fisch-Mensch-Mischwesen. Dann gehen wir an das flache Ende des Beckens, wo Ramesh mit ins Wasser steigt – er kann hier stehen. Er gibt er mir ein Styroporbrett, das meinen Oberkörper über Wasser hält. Ich zeige ihm, wie gut ich die Froschbewegung kann. Mit dem Brett flitze ich nur so durch das flache Becken. Ramesh nickt zufrieden und lächelt. Dann nimmt er das Brett an sich und lässt mich aus dem Becken klettern. Er zeigt mir, dass ich etwas machen soll, das ich mich bis jetzt noch nie ohne Papa getraut habe: vom Rand springen. Und zwar nicht in seine Arme, sondern einfach ins Wasser. Ich gucke rüber zu Papa, der auf einer Liege sitzt und interessiert guckt. Dann zurück zu Ramesh. Irgendetwas an der Selbstverständlichkeit, mit der er mir seine Anweisungen gibt, nimmt mir jede Furcht. Ich springe ins Wasser, tauche mit dem Kopf unter, sehe das himmelblaue Wasser klar durch die Brille, mache Frosch und Hampelmann und durchbreche die Oberfläche. Wie Ramesh gesagt hat: Ich kann das. Ich muss lachen.
Noch mal. Und noch mal. Ramesh zeigt mir, dass ich mir nicht die Nase zuhalten muss, um kein brennendes Chlorwasser einzuatmen. Es reicht, unter Wasser langsam Luft durch die Nase zu pusten, um sie frei zu halten. Und er hat recht! Dann lässt er mich im Wasser auf den Rücken legen, ganz ohne Bewegung, ohne Schwimmbrett. Erst halten mich seine Hände – dann nimmt er sie weg. Und tatsächlich: Die Luft in der Lunge wirkt wie eine der gelben Bojen drüben im Meer. Wenn ich tief atme und Arme und Beine ruhig von mir strecke, treibe ich oben.
Das Wasser ist mein Freund. Es trägt mich, wenn ich ihm vertraue. Wenn ich nicht versuche, es zu kontrollieren. Das Wasser ist etwas, gegen das ich nicht gewinnen kann, gewinnen muss, wie meine kleine Schwester. Aber es hilft mir, wenn ich es nur lasse.
Ich habe schon immer mehr Energie als alle anderen. Zu Hause in Marburg bin ich permanent draußen. Ich renne durch den Garten, springe auf einem Bein, baue Höhlen im Wald, klettere auf Bäume. Meine Eltern geben sich Mühe, meine Energie in Bahnen zu lenken. Sie melden mich an zum Kinderballett. Zum Tennis. Zum Klavierunterricht. Ich mache mit, tanze ein paar Pirouetten, schlage ein paar Bälle, spiele die ersten Takte des Flohwalzers. Aber dann verliere ich die Lust.
Was mir Spaß macht, sind Herausforderungen, die ich mir selber suche. Die nicht schon irgendwer vorher festgelegt und aufgeschrieben hat. Und ich finde sie, fast überall wo ich hinschaue.
Ein Osterbrunch in Marburg. Meine Eltern sind mit uns in einem Restaurant mit riesigem Garten. Das Lokal ist österlich dekoriert, auf den Fensterbrettern liegen kleine Nester mit bemalten Deko-Eiern, auf jedem Tisch sitzen kleine geschnitzte Hasen aus Holz. Für die jungen Gäste haben die Kellnerinnen Eier und Schokohasen im Garten versteckt. Vor dem Essen bekommen Nicola und ich jeweils ein Körbchen, dann stürmen wir los, vorbei an anderen Kindern, die erst mal vorsichtig den Garten mustern. Wir wissen, ohne es auszusprechen: Wir haben eine Mission.
Zwanzig Minuten später kommen wir zurück zum Tisch der Erwachsenen, außer Puste und mit Blättern in den zerzausten Haaren. Die anderen Kinder sitzen längst wieder an ihren Tischen, essen Schokoeier und gucken uns an wie zwei Außerirdische.
»Schau, Papa, was wir alles gefunden haben!«
»Na toll, da wart ihr aber fleißig!«
Aber Papa guckt dabei etwas … verhalten. Freut er sich nicht für uns? Wir lassen ihn unsere Fundstücke zählen, denn natürlich müssen wir wissen, wer gewonnen hat. Ich habe 32 Eier und neun Hasen gefunden, Nicola 24 Eier und sieben Hasen. Was für eine Ausbeute! Der Osterhase muss stolz auf uns sein. Vor Freude hüpfen wir um den Tisch und liegen uns in den Armen. Dann erst folge ich Papas Blick rüber zum Nachbartisch, in Richtung der Körbchen der anderen Kinder.
Darin liegen jeweils drei, vier Eier.
Auf unserem Tisch türmen sich derweil nicht nur Berge an Schokolade, sondern auch das gesamte Sortiment an Deko-Eiern und Holzhasen.
Tag zwei mit Ramesh. Weil ich den ganzen letzten Nachmittag von nichts anderem geredet habe, hat Papa die Schwimmstunde direkt auf den Vormittag gelegt. Vermutlich hofft er, dass ich mich so wenigstens nicht wieder morgens alleine an den Strand schleiche. Heute lässt er uns alleine.
Mein neuer Mentor lässt mich ins Wasser springen, dann gibt er mir wieder das Brett zum Festhalten. Aber heute ist es vorbei mit der Froschbewegung. Er zeigt mir, dass wir etwas Neues probieren. Die Beine bleiben eng aneinander und knicken abwechselnd an den Knien ab. Die Füße bewegen sich wie Flossen bei Tauchern. Nur viel schneller. Fast so schnell wie bei den großen Schwimmern im Becken. Die neue Beintechnik gefällt mir allein schon deshalb, weil damit das Wasser überallhin spritzt. Aber ich bemerke noch etwas. Das Schwimmbrett, auf dem mein halber Oberkörper liegt, bewegt sich erstaunlich schnell vorwärts. Und zwar nicht stoßweise, wie mit der Froschtechnik, sondern konstant, als hätte ich an meinen Füßen einen kleinen Motor aktiviert. Mit breitem Grinsen steuere ich das Brett mit diesem Motor in die Mitte des Pools, dann auf die andere Seite. Ich lache vor Freude.
Ich war das! Ohne fremde Hilfe!
Ramesh gibt mir ein High Five.
Als die Stunde vorbei ist und Papa mich abholen kommt, bleibe ich einfach im Wasser. Niemand wird mich hier rausholen. Ramesh macht keine Anstalten, mich zu vertreiben, er bleibt am Rand hocken und schaut mir zu, wie ich mit dem Beinschlag immer weiter durchs Wasser pflüge, hin, her, hin, her. Erst als Papa das Mittagessen erwähnt, erkläre ich mich bereit, mein neues Element zu verlassen, zumindest ganz kurz. Nach dem Essen falle ich in den tiefsten Mittagsschlaf seit Langem.
Der Strand sieht mich kaum noch. Täglich übe ich mit Ramesh mehrere Stunden. Manchmal stutzt er, wenn ich nach zwei Stunden im Pool, mit verschrumpelten Fingern und blau gefrorenen Lippen, rufe, dass ich weitermachen will, mehr lernen, mehr üben.
Und dann macht er weiter.