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Das Finale der großen Japansaga von Bestsellerautorin Julie Kagawa
Eine uralte Beschwörung droht das Kaiserreich Iwagoto für tausend Jahre in düsteres Chaos zu stürzen. Allein der Gestaltwandlerin Yumeko und ihrem geliebten Samurai Tatsumi kann noch die Rettung gelingen. Dafür mussten sie bereits zahlreiche Gefahren überwinden – und schreckliche Opfer bringen. Doch der größte Kampf steht ihnen und ihren Weggefährten noch bevor. Denn im Verborgenen lauert ein Feind, mit dem niemand gerechnet hat ...
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Seitenzahl: 586
Zum Buch
»Halte dich von mir fern,Yumeko. Andernfalls könnte es das Letzte sein, was du jemals gesehen hast.« Yumeko blinzelte, ein sonderbarer Ausdruck huschte über ihr Gesicht, als würde sie all ihren Mut zusammennehmen. Bevor mir dämmerte, was geschah, trat sie einen Schritt vor, nahm mein Gesicht in beide Hände und küsste mich.
Der Samurai Tatsumi teilt sich seinen Körper mit dem Dämon Hakaimono. Nur so haben er und das Fuchsmädchen Yumeko eine Chance gegen Genno, den mächtigsten Dämonenfürsten aller Zeiten. Doch der Preis dafür ist hoch – Tatsumi verliert mehr und mehr seine Menschlichkeit. Allein die Liebe Yumekos könnte ihn retten. Doch auf Yumekos Schultern lastet nicht nur Tatsumis Schicksal, sondern das des gesamten Kaiserreichs. Genno hat inzwischen alle Pergamentstücke an sich gerissen und besitzt die Formel, um den großen Drachen herbeizurufen. Gelingt ihm das, ist alles verloren. Während Yumeko, Tatsumi und ihre Gefährten alles daran setzen, Genno aufzuhalten, hält sich jemand in den Schatten verborgen. Jemand, der im richtigen Moment die Macht an sich reißen will …
Zur Autorin
Schon in ihrer Kindheit gehörte Julie Kagawas große Leidenschaft dem Schreiben. Nach Stationen als Buchhändlerin und Hundetrainerin machte sie ihr Interesse zum Beruf. Mit ihren Fantasy-Serien »Plötzlich Fee« und »Plötzlich Prinz« wurde sie rasch zur internationalen Bestsellerautorin. Die darauffolgende Erfolgsserie »Talon« stand ganz im Zeichen der Drachen. Mit »Im Schatten des Fuchses«, »Im Schatten des Schwertes« und »Im Schatten des Drachen« erfüllt sich Julie Kagawa nun ihren Traum: die Mythen Japans in einer großen Fantasy-Saga lebendig werden zu lassen. Die Autorin lebt mit ihrem Mann in Louisville, Kentucky
JULIE KAGAWA
IM SCHATTEN DES DRACHEN
Roman
Aus dem Amerikanischen von Beate Brammertz
Die Originalausgabe erscheint unter dem Titel Night of the Dragon bei Harlequin Teen, OntarioDer Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
Copyright © 2020 by Julie Kagawa
Copyright © 2020 der deutschsprachigen Ausgabe
by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München,
unter Verwendung einer Illustration von © Finn Schütz
Karte: © Andreas Hancock
Satz: Uhl + Massopust GmbH, AalenISBN: 978-3-641-25618-0V001
Für Tashya, Nick und Sensei Misa. Arigatou Gozaimasu.
Vor eintausend Jahren
In den vielen Jahren seiner Existenz ließen sich die Gelegenheiten, als er aus dem Jigoku heraufbeschworen worden war, an einer Klaue abzählen.
Andere Dämonen-Lords waren schon früher angerufen worden. Yaburama. Akumu. Die Oni-Lords waren zu mächtig, als dass ein tollkühner Blutmagier nicht den Versuch gewagt hätte, einen Handel mit ihnen einzugehen, auch wenn solche Rituale für den arroganten Menschen, der törichterweise glaubte, er könne einen Oni-Lord knechten, häufig ein böses Ende nahmen. Zugegeben, sie alle vier waren ein stolzer Haufen und nicht sonderlich erbaut, wenn ein unbedeutender Sterblicher es wagte, ihren Willen zu beugen. Sie hielten den Blutmagier so lang bei Laune, bis sie erfuhren, was er anzubieten hatte, und falls sein Vorschlag sie nicht interessierte oder der Mensch in seiner Naivität versuchte, sie unterwerfen zu wollen, rissen sie ihn in Stücke und tobten sich gnadenlos in der Welt der Sterblichen aus, bis sie schließlich ins Jigoku zurückgeschickt wurden.
Es hatte Hakaimono immer köstlich amüsiert, wenn ein Sterblicher ihn heraufbeschwor. Insbesondere der Moment, in dem der Blick des Magiers das erste Mal auf ihn fiel und er jäh begriff, was genau er getan hatte.
Mit verengten Augen sah Hakaimono sich nun um, spähte durch den dichten Rauch und ignorierte den flüchtigen Schwindel, der stets damit einherging, aus dem Jigoku ins Reich der Sterblichen gezerrt zu werden. Ein blutrünstiges Knurren grollte in seiner Kehle. Seine Laune war ohnehin schon nicht die allerbeste. Akumu hatte wieder einmal Ränke geschmiedet und versucht, Hakaimonos Streitkräfte hinter seinem Rücken zu schwächen, und er war gerade auf dem Weg gewesen, um mit dem teuflischen Dritten General kurzen Prozess zu machen, als schwarzes Feuer auf seiner Haut ausbrach, Wörter der Blutmagie in seinem Kopf widerhallten und er sich unvermittelt im Reich der Menschen wiederfand. Jetzt stand er inmitten einer Ruine, mit eingestürzten Wänden und zerschmetterten Säulen zu allen Seiten, der Geruch des Todes schwer in der Luft, und der Dämon erwog, den Kopf des verantwortlichen Magiers zu zerquetschten, bis er wie ein Ei in seinen Krallen barst.
Die Steine unter seinen Füßen waren klebrig, und ihnen haftete ein süßlicher, kupferartiger Duft an, den er sofort erkannte. Linien aus Blut waren in einem vertrauten Kreis auf den Boden gemalt, Wörter und Sigillen der Macht, zu komplizierten Mustern verwoben. Ein Bindekreis, und noch dazu ein mächtiger. Wer auch immer der Blutmagier war, er hatte seine Hausaufgaben gründlich gemacht. Obwohl ihn das letztendlich nicht retten würde.
»Hakaimono.«
Der Erste Oni spähte nach unten. Eine Frau stand am Rand des Blutkreises, ihre schwarze Robe und langen Haare schienen mit den Schatten zu verschmelzen. In ihren schlanken Fingern lag ein Messer, ihr blasser Arm war bis zum Ellbogen in Rot getränkt.
Er lachte auf. »Na, na, welch eine Ehre!«, raunte er und ging in die Knie, um die Frau besser sehen zu können. Ihr Blick war eiskalt. »Heraufbeschworen vom unsterblichen Schatten höchstpersönlich. Jetzt stellt sich mir die Frage …« Er hob eine Klaue, betrachtete die menschliche Gestalt über gebogene schwarze Krallen, so lang wie ihr Arm. »Wenn man einer Unsterblichen den Kopf abreißt, glaubt Ihr, sie stirbt?«
»Ihr werdet mich nicht umbringen, Erster Oni.« Die Stimme der Frau klang weder amüsiert noch verängstigt, doch die Gewissheit darin ließ ihn feixen. »Ich bin nicht so dumm, einen Bindezauber zu wagen, auch werde ich Euch nicht um viel bitten. Ich habe ein einziges Begehr, und anschließend könnt Ihr tun und lassen, was Ihr wollt.«
»Oh?« Hakaimono lachte dröhnend, musste sich aber eingestehen, dass seine Neugierde geweckt war. Nur die sehr Verzweifelten, Törichten oder Mächtigen beschworen einen der vier Oni-Generäle herauf, und nur für die ehrgeizigsten Pläne. Etwa die Zerstörung einer Burg oder das Auslöschen einer gesamten Generation. Für alles andere war das Risiko viel zu groß. »Dann raus mit der Sprache, Mensch«, ermunterte er sie. »Worum handelt es sich bei dieser einen Sache, die ich für Euch erledigen soll?«
»Ihr müsst mir die Drachenrolle beschaffen.«
Hakaimono seufzte. Natürlich. Er hatte ganz vergessen, dass in der Welt der Sterblichen schon wieder die Zeit gekommen war. Dass die geschuppte Kreatur sich erheben würde, um einem unbedeutenden, kurzlebigen Menschen einen Wunsch zu erfüllen. »Ihr enttäuscht mich, Sterbliche«, knurrte er. »Ich bin kein Hund, der auf Kommando Stöckchen holt. Ihr hättet die Amanjaku schicken können, damit sie sich für Euch die Schriftrolle unter den Nagel reißen, oder einen Eurer eigenen menschlichen Krieger. Bislang wurde ich nur angerufen, um ganze Armeen abzuschlachten oder Festungen in Schutt und Asche zu legen. Das Drachengebet zu suchen, ist unter meiner Würde und reine Zeitverschwendung.«
»Das hier ist etwas anderes.« Die Stimme der Frau war genauso ruhig wie zuvor. Wenn ihr bewusst war, wie knapp sie davorstand, in Stücke gerissen und von einem verärgerten Ersten Oni gefressen zu werden, ließ sie es sich nicht anmerken. »Ich habe bereits meinen besten Krieger auf die Schriftrolle angesetzt, aber ich fürchte, er hat mich hintergangen. Er will die Macht des Drachen für sich beanspruchen, und ich kann nicht zulassen, dass mir der Wunsch in letzter Sekunde durch die Finger schlüpft. Ihr müsst ihn finden und mir die Schriftrolle zurückbringen.«
»Ein Mensch?« Hakaimono schürzte die Lippen. »Wie langweilig!«
»Ihr kennt Kage Hirotaka nicht«, erwiderte die Frau leise. »Er ist der größte Krieger, den das Kaiserreich von Iwagoto in den vergangenen tausend Jahren gesehen hat. Er ist kami-beseelt, aber gleichzeitig in der Kunst der Samurai bewandert. Sein Talent mit Klinge und Magie ist so enorm, dass der Kaiser selbst seine Erfolge lobpreist. Er hat Menschen, Yokai und Dämonen in Scharen getötet und wird vielleicht der gefährlichste Gegner sein, der Euch jemals begegnet ist, Hakaimono.«
»Das bezweifle ich zutiefst.« Der Erste Oni feixte, während er die blutgeschwängerte Luft einatmete. »Aber jetzt habt Ihr mich zumindest neugierig gemacht. Lassen wir uns überraschen, ob dieser berühmt-berüchtigte Schattenkrieger so gut ist, wie Ihr behauptet. Wo finde ich diesen Dämonen jagenden Menschen?«
»Hirotakas Anwesen liegt außerhalb des Dorfes Koyama, zehn Meilen entfernt von der östlichen Grenze des Kage-Territoriums«, erwiderte die Frau. »Es ist nicht schwer zu finden, aber es ist recht abgelegen. Abgesehen von Hirotakas Männern und Dienern werdet Ihr auf niemanden treffen. Findet Hirotaka, tötet ihn, und bringt mir die Schriftrolle. Oh, und noch etwas.« Sie streckte das Messer aus und betrachtete die blutige, glitzernde Klinge. »Ich kann nicht erlauben, dass mich jemand der Blutmagie bezichtigt. Nicht jetzt, wo die Nacht des Wunsches naht.« Ihre schwarzen Augen bohrten sich in seine, dann verengten sie sich zu Schlitzen. »Es darf keine Zeugen geben, Hakaimono. Keine Überlebenden. Tötet alle.«
»Das ist eines meiner Spezialgebiete.« Ein Grinsen legte sich auf das Gesicht des Oni, und seine Augen glitzerten rot vor Mordgier. »Das wird lustig werden.«
Im späteren Verlauf der Dinge sollte er diese Worte mehr als alles andere auf der Welt bereuen.
Die Tengu verbannten uns aus dem Gebirge.
Mich am Leben zu lassen, war anscheinend das Höchste der Gefühle. Ihr Zuhause war zerstört worden, ihr Daitengu ermordet, und die Teile der Drachenrolle waren in die Hände ihres Feindes gefallen. Einen Dämon auf ihrem heiligen Berg zu dulden wäre ein unverzeihlicher Frevel, und als Yumeko ihnen untersagte, mich zu töten, gaben sie uns unmissverständlich zu verstehen, dass wir nicht länger im Tempel der Stählernen Feder willkommen waren, ihre Tore auf ewig für uns verborgen blieben und sie vom morgigen Tag an, sollten sie den Träger von Kamigoroshi noch einmal im Gebirge zu Gesicht bekommen, ihn ohne jedes Bedenken niederstrecken würden.
Und so blieb uns kaum genug Zeit, um unsere Wunden zu verbinden, bevor wir Hals über Kopf den Tempel der Stählernen Feder und das Heim der Tengu verließen und vom Berg und vor den Hütern der Schriftrolle mit ihrer drohenden Rachsucht flohen. Irgendwie schafften wir es zu den Ausläufern des Gebirgszugs, wo wir erschöpft, mit noch offenen Wunden den Eingang einer Höhle fanden, genau in dem Moment, als ein kalter Regen einsetzte. Die Höhle war für fünf Menschen und einen Hund, die sich dort zusammendrängten, viel zu klein, aber sie war leer und trocken, und wir hatten keine bessere Alternative. Während der Ronin ein Feuer entzündete und die Schreinmaid mit der mühsamen Aufgabe begann, unsere Wunden zu versorgen und neu zu verbinden, zog ich mich in eine dunkle Ecke zurück, fernab der anderen, um über alles nachzudenken, was geschehen war. Und die Frage zu beantworten, die mich seit unserer Flucht aus dem Tempel quälte.
Wer bin ich?
War ich Kage Tatsumi oder Hakaimono? Ich fühlte mich wie keiner von beiden, obwohl ich wusste, dass ich mich unwiederbringlich verändert hatte. Als dieser Körper von Hakaimono besessen gewesen war, hatte der Geist des Oni die menschliche Seele völlig unterjocht, sodass sie gefangen gewesen war und sich nicht wehren konnte. Bis Yumeko kam und mithilfe ihrer Fuchsmagie in den Dämonenjäger fuhr, um den Oni im Innern zu bekämpfen. Sie hatte Tatsumis Seele gefunden, sie befreit, und gemeinsam hatten sie versucht, Hakaimono zurück ins Schwert zu bannen. Doch der Erste Oni hatte sich als viel stärker erwiesen, als beide jemals erwartet hätten.
Bevor ein Sieger feststand, war Genno aufgetaucht, eine Armee von Dämonen im Schlepptau und mit der betrügerischen Absicht, die Schriftrolle an sich zu reißen. Er hatte Hakaimono hintergangen, ihm Kamigoroshi in die Brust gerammt und ihn sterbend auf dem Schlachtfeld zurückgelassen. Um sie beide zu retten, waren die Seelen von Kage Tatsumi und Hakaimono miteinander verschmolzen und hatten dem Oni gestattet, seine Macht zu nutzen, um ihren Körper zu heilen und sie am Leben zu halten. Auf wundersame Weise hatte es funktioniert, und es war mir gelungen, den Großteil von Gennos Armee niederzustrecken, bevor sie alle anderen töten konnten. Doch in meinem geschwächten Zustand war der Tempel zerstört worden, und Genno hatte sich mit allen drei Teilen der Drachenrolle aus dem Staub gemacht.
Der Meister der Dämonen hatte alles, was er brauchte, um den Großen Kami-Drachen herbeizurufen und seinen Wunsch zu äußern, der das Ende des Kaiserreichs einläuten würde. Wir mussten Genno finden und ihn daran hindern, die Schriftrolle einzusetzen, doch es würde eine lange, gefährliche Reise werden, und einige von uns könnten dabei ihr Leben lassen. Selbst ohne die Sorge, dass meine dämonische Hälfte jederzeit die Oberhand gewinnen und meine Gefährten in Stücke reißen könnte.
»Tatsumi?«
Ich blickte auf. Yumeko hatte sich vom Rest der Gruppe abgesondert und stand jetzt mit dem Rücken zum Feuer vor mir, das sie in ein sanftes oranges Glühen hüllte. Sie trug immer noch die elegante, rot-weiße Onmyoji-Robe von dem Abend, als sie vor dem Kaiser aufgetreten war, doch die bauschigen Ärmel waren nun zerrissen, ihre langen Haare ungekämmt, und Schmutz klebte an ihrem Gesicht und ihren Händen. Sie sah nicht mehr wie eine hochgeschätzte Wahrsagerin aus. Sie sah wie ein Bauernmädchen aus, das in einem Kostüm steckte, einmal abgesehen von den langen Fuchsohren mit den schwarzen Spitzen, die aus ihren Haaren hervorlugten, und dem buschigen weißen Schwanz hinter ihr. Ich wusste, dass die meisten Menschen ihre Fuchsmerkmale nicht sehen konnten, doch seit der Nacht, als sie in meine Seele eingedrungen war, waren sie für mich deutlich sichtbar. Eine Mahnung, dass Yumeko eine Kitsune war, eine Yokai. Kein echter Mensch.
Aber andererseits war ich es auch nicht.
»Darf ich mich zu dir setzen, Tatsumi?«, fragte sie mit weicher Stimme und großen Augen, die in den flackernden Schatten golden funkelten. Ich nickte, und sie bahnte sich behutsam einen Weg über die Steine, um sich neben mich zu setzen, wobei ihr buschiger orangefarbener Schwanz mein Bein streifte, als sie sich gegen die Höhlenwand lehnte. Es war sonderbar, dass ich bei der Berührung nicht zusammenzuckte, so wie ich es früher getan hätte.
»Wie fühlst du dich?«, erkundigte sie sich.
»Ich bin am Leben«, erwiderte ich mit ebenfalls sanfter Stimme. »Das ist alles, was ich mit Gewissheit sagen kann.« Sie starrte mich an, und ich spürte, wie sich meine Lippen zu einem matten, verbitterten Lächeln verzogen. »Ich weiß, worauf du eigentlich hinauswillst, Yumeko. Aber darauf kann ich keine Antwort geben. Ich fühle mich … anders. Eigenartig. Als wäre …« Ich versuchte, die richtigen Worte zu finden, um das Unmögliche zu erklären. »Als wäre da eine verborgene Wut in mir, ein … blutrünstiger Zorn, der beim kleinsten Anlass ausbrechen kann.«
Gedankenvoll blinzelte Yumeko mich an. »Wie damals, als Hakaimono in deinem Kopf war?«, fragte sie. »Du musstest die ganze Zeit mit ihm um Kontrolle ringen … Ist es jetzt dasselbe?«
»Nein.« Ich schüttelte den Kopf. »Wir waren immer getrennte Seelen, zwei Individuen, die beide um die Vorherrschaft über einen Körper gekämpft haben. Falls … Falls ich immer noch Tatsumi sein sollte, habe ich das Gefühl, als wäre Hakaimono nun ein Teil von mir. Dass seine Boshaftigkeit und Mordlust jederzeit die Oberhand gewinnen könnten. Und falls ich Hakaimono bin, kommt es mir vor, als habe Tatsumi mich mit seinen menschlichen Gedanken, Ängsten und Gefühlen angesteckt.« Ich hob eine Hand vor mein Gesicht; sie sah menschlich aus, aber ich erinnerte mich an die tödlichen Krallen, die in jener Nacht, als ich gegen Gennos Armee gekämpft hatte, aus meinen Fingerspitzen gewachsen waren. »Vielleicht wäre es das Beste, wenn wir getrennte Wege gingen«, murmelte ich. »Sollte ein Teil von mir ein Dämon sein, wäre niemand von euch jemals sicher.«
Ich warf Yumeko einen verstohlenen Seitenblick zu, um zu sehen, ob eines meiner Worte ihr Angst einjagte, doch in ihren goldenen Fuchsaugen spiegelte sich nichts als Mitgefühl. »Nein«, sagte sie energisch, was mich zusammenfahren ließ. »Geh nicht, Tatsumi … Hakaimono … wer auch immer du sein magst. Du hast versprochen, uns auf der Suche nach dem Meister der Dämonen zu helfen. Wir brauchen dich.«
»Und was, wenn ich nicht Tatsumi bin?«, fragte ich und drehte mein Gesicht zu ihr. »Was, wenn ich Hakaimono bin? Woher weißt du, wessen Seele stärker ist oder ob Kage Tatsumi das Verschmelzen von Mensch und Dämon überhaupt überlebt hat? Selbst ich kenne die Antwort darauf nicht.«
Sie starrte mich weiterhin furchtlos an. Da durchzuckte mich ein Blitzschlag, als sie sanft ihre Finger auf meinen Arm legte und eine Woge der Hitze mein Innerstes überrollte. Yumeko lächelte matt, doch in ihren Augen, die mich eindringlich musterten, lag unendliche Traurigkeit, aber auch ein Funken Sehnsucht, was ich zwar nicht verstand, was jedoch mein Herz sonderbar zum Pochen brachte.
»Ich vertraue dir«, sagte Yumeko ganz leise. »Selbst, wenn du nicht mehr derselbe bist, habe ich in jener Nacht deine Seele gesehen. Ich weiß, dass du uns nicht verraten wirst.«
»Yumeko«, rief eine Stimme, bevor ich meine aufgewühlten Gefühle gut genug unterdrücken konnte, um etwas zu erwidern. Neben dem Feuer sitzend, beobachtete die Schreinmaid uns mit ernster Miene, und auch ihr kleiner orangefarbener Hund funkelte mich eiskalt von seinem Platz zu ihren Füßen aus an. Die dunklen Augen der Miko glitzerten argwöhnisch, während sie zu mir glitten. »Kage-san. Willst du dich nicht zu uns gesellen … Wir haben das Gebirge hinter uns gelassen und die Rache der Tengu nicht mehr zu fürchten. Wir müssen entscheiden, wohin wir von hier aus gehen wollen.«
»Hai, Reika-san.« Yumeko erhob sich und tappte zum Feuer, während ihr Fuchsschwanz unter dem Saum ihrer Robe hin und her schwang. Ich stand langsam auf und folgte ihr, wobei mir das dunkle Funkeln und der misstrauische Blick des Ronin nicht entgingen. Die Schreinmaid und ihr Hund beäugten mich mit unverhohlenem Argwohn, als könnte ich mich jeden Moment in einen Dämon verwandeln und mich mit gefletschten Zähnen auf sie stürzen. Taiyo Daisuke vom Sonnenclan saß im Schneidersitz am Feuer, die Hände in seinen Ärmeln verborgen, seine Miene eine unlesbare Maske aus Höflichkeit. Neben ihm lehnte der Ronin lässig gegen sein Bündel, so ungepflegt und zerzaust wie eh und je, mit rötlich braunen Haaren, die sich aus seinem Pferdeschwanz gelöst hatten. Sie saßen, wie mir auffiel, sehr nah beisammen für zwei Männer, die aus zwei völlig unterschiedlichen sozialen Schichten stammten. Ich kannte Samurai, die sich nicht einmal herablassen würden, im selben Zimmer wie ein Ronin zu bleiben, geschweige denn um dasselbe Feuer zu sitzen.
Ich sah auf, und der Ronin nickte mir mit einem reumütigen Lächeln zu, während ich mich neben den Flammen niederließ, und sein düsterer Blick wanderte zu etwas auf meiner Stirn.
»Du hast da etwas … im Gesicht, Kage-san«, sagte er und zeigte mit dem Finger auf seine eigene Schläfe. Mit fest zusammengepressten Zähnen ignorierte ich die offensichtliche Anspielung auf die kleinen, wenn auch unverkennbaren Hörner, die sich über meinen Augenbrauen bogen. Alles andere – die Krallen, die Fangzähne, die glühenden Augen – waren zumindest vorübergehend verschwunden, nur die Hörner waren geblieben. Ein beständiges Mahnmal, dass ich jetzt ein Dämon war. Sollte mich irgendein normaler Mensch so sehen, würde ich gewiss an Ort und Stelle getötet werden.
»Baka.« Die Schreinmaid trat hinter den Ronin und verpasste ihm einen Klaps. Verblüfft verzog der Ronin das Gesicht. »Das ist nicht die rechte Zeit für Witze. Genno ist im Besitz aller drei Teile der Schriftrolle der Tausend Gebete und steht kurz davor, den Drachen heraufzubeschwören. Wir müssen ihn daran hindern, und um das zu bewerkstelligen, brauchen wir einen Plan. Kage … san ….« Sie blickte zu mir, strauchelte über meinen Namen. »Du meintest, du wüsstest, wohin der Meister der Dämonen will?«
Ich nickte. »Ins Land der Tsuki«, sagte ich. »Der Drache wurde vor viertausend Jahren zum ersten Mal auf den Inseln des Mondclans heraufbeschworen. Auf den Klippen von Ryugake, der nördlichen Insel Ushima, wird das Ritual stattfinden.«
»Wann?«, fragte Taiyo-san. »Wie viel Zeit bleibt uns bis zur Nacht des Wunsches?«
»Weniger, als ihr glaubt«, erwiderte ich matt. Ein Zitat kam mir in den Sinn, auch wenn ich nicht wusste, woher ich es kannte. Hakaimonos Gedächtnis war riesig; er hatte den Aufstieg und Untergang vieler Zeitalter miterlebt. »In der Nacht des tausendsten Jahres«, murmelte ich, »bevor die Drachensterne am Firmament verblassen und der Himmel an den roten Vogel des Herbstes übergeben wird, kann der Herold des Wandels von jenem angerufen werden, dessen Herz rein ist.« Ich hielt inne, dann stieß ich ein verächtliches Schnauben aus. »Wie bei den meisten Legenden entspricht nicht alles der Wahrheit. Kage Hirotaka und Lady Hanshou waren nicht gänzlich ›reinen Herzens‹, als sie den Drachen heraufbeschworen haben. Die Worte wurden wahrscheinlich in der Hoffnung hinzugefügt, habgierige und boshafte Menschen davon abzuhalten, die Schriftrollen zu suchen.«
Neben mir runzelte Yumeko die Stirn. »Was bedeuten ›Drachensterne‹ und der ›rote Vogel des Herbstes‹?«
»Das sind Sternbilder, Yumeko-san«, erklärte der Adlige, an das Mädchen gewandt. »Jede Jahreszeit ist einer der vier mächtigen heiligen Tiergestalten zugeordnet. Der Kirin steht für den Frühling und das Erwachen neuen Lebens. Der Drache repräsentiert den Sommer, denn er bringt die schweren Regengüsse, die für die Ernte unverzichtbar sind. Der rote Vogel des Herbstes ist der Phönix, der bereitwillig stirbt, um im nächsten Frühling aufs Neue wiedergeboren zu werden. Und der Weiße Tiger steht für den Winter, geduldig und tödlich wie das schneebedeckte Land.«
»Hm, wenn das, was Kage-san behauptet, der Wahrheit entsprechen sollte«, unterbrach ihn die Schreinmaid mit ungeduldiger Stimme, »und die Nacht der Beschwörung am letzten Tag des Sommers stattfindet …« Mit weit aufgerissenen Augen fuhr sie hoch. »Das ist schon Ende dieses Monats!«
»Wohl wahr, weniger Zeit, als wir glaubten«, murmelte der Adlige mit düsterem Blick. »Und Genno hat einen großen Vorsprung.«
»Wie sollen wir überhaupt zu den Inseln des Mondclans gelangen?«, fragte Yumeko nachdenklich.
»Nun, ich hoffe doch schwer, dass wir nicht schwimmen«, sagte der Ronin. »Wenn nicht einer von euch eine riesige Schildkröte aus dem Meer herbeirufen kann, werden wir wohl irgendeine Art Boot brauchen.«
»In Umi Sabishi Mura gibt es Schiffe, die zum Land der Tsuki fahren«, merkte der Taiyo an. »Es ist eine einfache Siedlung an der Küste, aber sie besitzt einen beeindruckenden Hafen. Ein Großteil der Handelswaren von den Inseln des Mondclans kommt durch Umi Sabishi. Das Problem wird nicht sein, einen Kapitän zu finden, der gewillt ist, Passagiere zum Land der Tsuki zu bringen, sondern was wir tun werden, sobald wir dort sind.«
Yumeko legte den Kopf schief. »Was soll das heißen, Daisuke-san?«
»Der Mondclan lebt sehr abgeschieden, Yumeko-san«, erwiderte der Adlige, »und sie können es nicht leiden, wenn Fremde ihr Ufer betreten. Besucher brauchen eine spezielle Erlaubnis der Daimyo, um sich frei auf dem Territorium der Tsuki zu bewegen, und wir haben weder die Zeit noch die Mittel, um uns die nötigen Reisepapiere zu besorgen. Der Mondclan beschützt sein Land und sein Volk mit aller Macht, und Eindringlingen wird mit harscher, unbeugsamer Hand begegnet.« Er zuckte mit den schmalen Schultern. »Das erzählten dir zumindest sämtliche Kapitäne.«
»Darüber werden wir uns den Kopf zerbrechen, sobald wir dort sind«, sagte die Schreinmaid. »Genno davon abzuhalten, den Drachen heraufzubeschwören, ist unsere wichtigste und einzige Sorge, selbst wenn es bedeutet, dass wir uns mit allen Anführern der Clans und sämtlichen Daimyos anlegen müssen.«
Bei dem Gedanken, einer Daimyo Paroli bieten zu müssen, wirkte der Adlige leicht entsetzt, doch er sagte nichts. Neben ihm seufzte der Ronin schwer und verlagerte sein Gewicht.
»Es wird ein paar Tage dauern, bis wir die Küste erreicht haben«, murmelte er. »Und wir haben weder Pferde, Wagen, Kagos noch sonst irgendetwas, um schneller dorthin zu kommen. Dann brechen wir wohl morgen zu Fuß auf und hoffen, dass wir auf keine Dämonen, Blutmagier oder Kage-Shinobi treffen, die immer noch hinter der Drachenrolle her sind. Ein Mordanschlag hat mir gereicht, vielen Dank.«
Ich rührte mich, blickte zu Yumeko. »Die Kage haben euch verfolgt?«
Sie wirkte leicht verlegen. »Ano … Lady Hanshou hat uns gebeten, dich zu finden«, antwortete sie, und bei den Worten drehte sich mir der Magen. »Sie hat Naganori-san auf uns angesetzt, und wir sind den Pfad der Schatten gegangen, um Hanshou-sama im Land der Kage zu treffen. Sie wollte, dass wir dich von Hakaimono befreien und ihn zurück ins Schwert bannen, damit du wieder der Dämonenjäger sein kannst.« Eines ihrer Ohren zuckte, als ich sie mit hochgezogener Augenbraue ansah. »Ich schätze nicht, dass sie sich das hier erträumt hat.«
Ein bitteres Lächeln legte sich auf mein Gesicht. Hanshous Allianz mit dem Dämonenjäger war seit jeher ein Streitpunkt innerhalb der Kage gewesen. Es war allein Hanshous Entscheidung gewesen, junge Krieger ausbilden zu lassen, die Kamigoroshi benutzten, anstatt das Verfluchte Schwert in der Familiengruft wegzuschließen, wo es niemanden in Versuchung führen würde. Der offizielle Grund lautete, dass die Kage dadurch Hakaimono kontrollieren und beherrschen konnte, wobei das Risiko minimiert wurde, dass das Schwert in falsche Hände fiel. Doch jeder argwöhnte – obwohl niemand wagte, es laut auszusprechen –, dass Hanshou die Dämonenjäger in ihrer Nähe wollte wegen der Angst, die sie hervorriefen. Der Dämonenjäger der Kage wurde ausgebildet, um effizient, gefühllos und bis aufs Blut gehorsam zu sein. Ein perfekter Assassine, der auch noch seine Seele mit einem Dämon teilte. Es gab Gerüchte im Schattenclan, dass Hanshou ihre Stellung hauptsächlich dem Umstand verdankte, dass niemand den Mut aufbrachte, sie und ihren Lieblings-Oni, den sie jederzeit von der Leine lassen konnte, herauszufordern.
Doch selbst das entsprach nur teilweise der Wahrheit. Die eigentliche Geschichte zwischen Kage Hanshou und Hakaimono ging viel tiefer und war finsterer, als irgendjemand sich vorstellen konnte.
»Nein«, sagte ich zu Yumeko. »Das ist wohl nicht genau das, was Hanshou sich erhofft hat. Und nun, da es euch nicht geglückt ist, Hakaimono zu bannen und die Schriftrolle für sie zu finden, wird sie wahrscheinlich jemanden auf euch ansetzen, um euch alle zu töten.«
»Vergib mir, Kage-san, aber ich fürchte, ich muss dich das fragen.« Der feierliche Blick des Taiyo senkte sich auf mich. »Streng genommen bist du immer noch Teil der Kage. Hat deine Daimyo dich geschickt, um die Schriftrolle für sie zu stehlen? Was wirst du tun, wenn dieser Befehl immer noch gilt oder wenn sie dir befiehlt, keine Zeugen zurückzulassen? Wirst du uns alle töten, um die Drachenrolle an dich zu reißen?«
Ich spürte, wie Yumeko neben mir sich anspannte. »Ich … gehöre seit dem Moment, als Hakaimono die Kontrolle über mich erlangt hat, nicht mehr zum Schattenclan«, erklärte ich ihnen. Es war eine ernüchternde Erkenntnis; mein ganzes Leben war ich Teil der Kage gewesen. Seit Anbeginn des Kaiserreichs lautete die Erwartung, Clan und Familie bedingungslos zu dienen, ohne jegliche Frage, ein Leben lang. Der Kage hatte meine Loyalität, mein Gehorsam, meine schiere Existenz gehört. Hätten sie mir den Befehl erteilt, mich allein gegen eintausend herannahende Dämonen zu stellen, hätte ich ihn blindlings ausgeführt – und wäre gestorben –, so wie jeder treu ergebene Samurai. Doch jetzt war ich Waise. Ich hatte keinen Clan, keine Familie und keinen Lord. Wie der Ronin, der das Kaiserreich durchstreifte, entehrt und verloren, nur dass ich etwas noch Schlimmeres war.
»Meine Loyalität der Kage gegenüber spielt keine Rolle«, versicherte ich dem Adligen, der immer noch besorgt dreinblickte. »Lady Hanshou würde das Risiko nicht eingehen, Umgang mit einem Oni zu pflegen, zumindest nicht öffentlich. Und ich habe nicht die Absicht, zu den Kage zurückzukehren. Nicht bis ich den Meister der Dämonen gefunden und ihn für seinen Verrat habe bezahlen lassen.«
Die letzten Worte kamen wie ein kratziges Knurren heraus, und brennender Zorn erwachte in meinem Innersten flackernd zum Leben. Ich war etwas Unnatürliches, etwas Dämonisches, ausgestoßen von meinem eigenen Clan, und mein Dasein würde entweder durch die Klinge der Kage beendet werden oder mit dem Befehl, mir selbst das Leben zu nehmen, aber ich würde Genno töten, bevor ich selbst diese Welt verließ. Der Meister der Dämonen würde meiner Rache nicht entkommen; ich würde ihn aufspüren und in Stücke reißen, und er würde, um Gnade winselnd, sterben, während ich seine Seele zurück ins Jigoku schickte, wo sie hingehörte.
»Tatsumi«, sagte Yumeko mit gedämpfter Stimme, als der Rest des Kreises verstummte. »Deine Augen glühen.«
Blinzelnd schüttelte ich mich, dann glitt mein Blick zu den anderen, die mich allesamt mit grimmiger Miene musterten. Der Taiyo hielt den Griff seines Schwerts gepackt, der Ronin hatte sich in Stellung gebracht, um blitzschnell aufzuspringen und seinen Bogen zu ziehen. Die Hand der Schreinmaid war im Ärmel ihrer Haori verschwunden, und der Hund, dem die Nackenhaare zu Berge standen, bleckte die Zähne in meine Richtung. Ich holte langsam Atem und spürte, wie der Zorn sich verflüchtigte, jedoch immer noch in der Luft hing, spröde und unangenehm.
»Na schön, kein Schlaf heute Nacht für mich«, verkündete der Ronin mit gezwungen fröhlicher Stimme. Dann griff er in sein Bündel, holte einen einfachen Becher heraus und schüttelte zwei Würfel in seine ausgestreckte Hand. »Wer hat Lust auf eine Runde Cho-Han? Es ist nicht kompliziert, und das Spiel wird helfen, uns die Zeit zu vertreiben.«
Die Schreinmaid funkelte ihn finster an. »Ist Cho-Han denn kein Glücksspiel?«
»Nur wenn man um Geld spielt.«
Ich erhob mich, was dazu führte, dass die anderen erschrocken zu mir aufblickten. »Ich übernehme die Nachtwache«, sagte ich. Es war eine lange Reise bis zur Küste, und Gennos Vorsprung war riesig. Wenn sie durch meine Abwesenheit zu etwas Schlaf kämen, selbst nur ein paar Stunden, umso besser. »Tut, was immer ihr tun wollt. Ich bin draußen.«
»Warte, Tatsumi.« Yumeko begann ebenfalls aufzustehen. »Ich komme mit dir.«
»Nein«, knurrte ich, und sie legte blinzelnd die Ohren flach an. »Bleib hier«, bat ich sie. »Folg mir nicht, Yumeko. Ich …«
Ich will nicht, dass du allein mit einem Dämon bist. Ich weiß nicht, ob ich mir selbst trauen kann, dass ich dich nicht verletze.
»Ich brauche deine Hilfe nicht«, beendete ich mit kalter Stimme meinen Satz, während ein Aufflackern von Verwirrung über ihr Gesicht huschte. Sie hatte so viel getan und war so weit gekommen … aber es war besser, wenn sie lernte, mich zu hassen. Ich konnte die Finsternis in mir spüren, eine wogende Masse aus Wut und Brutalität, die nur darauf wartete, entfesselt zu werden. Das Letzte, was ich wollte, war, auf das Mädchen loszugehen, das meine Seele gerettet hatte.
Während ich aus der Höhle in die warme Sommernacht marschierte, vernahm ich das leiseste Kräuseln von Dunkelheit, und mir stellten sich die Nackenhaare auf. Einem puren Instinkt folgend, fuhr ich zur Seite, da spürte ich das Aufwirbeln von Luft, als etwas an meinem Gesicht vorbeischoss und sich mit einem dumpfen Rumms in den Baum hinter mir grub. Ich musste es nicht sehen, um zu wissen, was es war: ein Kunai-Wurfmesser, das Metall schwarz wie Tinte und so scharf, dass es einer Libelle im Flug die Flügel abtrennen konnte. Ich spürte, wie Blut von einer hauchzarten Wunde an meiner Wange tropfte, und Empörung flammte zu brennender, unvermittelter Wut auf.
Als ich in die Baumwipfel spähte, bemerkte ich eine kaum wahrnehmbare Bewegung, einen gestaltlosen Fleck, der sich in die Dunkelheit zurückzog, und ich verengte die Augen zu schmalen Schlitzen. Ein Shinobi der Kage, der glaubte, er könnte mich aus den Schatten heraus töten. Oder vielleicht die Absicht hegte, mich in einen Hinterhalt zu locken. Ich kannte meinen Clan. Wenn ich mich nicht sofort um die Sache kümmerte, würden weitere Shinobi folgen, wie Ameisen, die scharenweise über eine tote Zikade herfielen, und unsere Nächte würden immerzu von Schatten heimgesucht.
Meine Lippen verzogen sich zu einem Fauchen, und ich sprang in die Dunkelheit, meinem früheren Clanmitglied hinterher.
Ich jagte ihm länger nach, als ich es anfangs für möglich gehalten hätte, folgte seiner Fährte, dem Rascheln aufgewühlter Äste über mir. Er bewegte sich schnell, glitt durch die Baumwipfel mit der Eleganz eines Affen, wobei er fast kein Geräusch verursachte, während er von einem Ast zum nächsten sprang. Am Boden bereitete es mir Mühe, mit ihm Schritt zu halten, weshalb ich nach ein paar Minuten, in denen ich um Büsche hastete und durchs Unterholz preschte, schließlich einen Satz über einen umgefallenen Baumstamm machte und mich für die Jagd auf ihn ins Geäst schwang.
Drei Kunai schossen auf mein Gesicht zu, ein kurzes Aufflackern von dunklem Metall in der Nacht. Ich duckte mich, und eines streifte meine Schulter, als es an mir vorbeiflog und zischend in den Blättern verschwand. Mit einem Knurren sah ich auf und erhaschte einen Blick auf eine schwarz gekleidete Gestalt, die in der Nähe auf einem Ast wartete und eine Kusarigama – eine gewichtete Kette mit einer Kamasichel am Ende – in der Hand schwang.
In einem Schimmern von purpurnem Licht zog ich Kamigoroshi und wandte mich dem Shinobi auf dem anderen Baum zu. Für den Bruchteil einer Sekunde überkam mich ein Widerwille, ein tiefes Bedauern, mein ehemaliges Clanmitglied töten zu müssen. Doch die Kage würden niemals aufgeben, und ich hatte geschworen, den Meister der Dämonen daran zu hindern, den Drachen heraufzubeschwören. Ich konnte nicht zulassen, dass sie mich jetzt umbrachten.
Der Shinobi wartete mit hell blitzender Kusarigama, die er gekonnt in einem perfekten Kreis schwingen ließ. Es war eine tödliche Waffe, am gefährlichsten aus der Distanz; die Kette wurde eingesetzt, um den Feind zu umschlingen und zu entwaffnen, während die Kama ihm den Todesstoß versetzte. Ich hatte sie schon öfter im Einsatz gesehen, aber noch nie gegen mich selbst gewandt. Der Kusarigama haftete das Stigma einer Bauernwaffe an, etwas, das Farmer, Mönche und Meuchelmörder benutzten, keine edlen Samurai. Die Shinobi der Kage besaßen natürlich keinen solchen Dünkel.
Mit verengtem Blick starrte ich zu dem Krieger vor mir. »Nur du?«, fragte ich leise. Irgendetwas fühlte sich nicht richtig an. Häufig waren die Shinobi der Kage Einzelkämpfer, die sich lautlos in ein Haus oder Lager schlichen, um ihr Ziel auszuschalten oder wichtige Informationen zu stehlen. Doch auf hochriskante oder gefährliche Missionen wurde für gewöhnlich ein gesamter Trupp bestausgebildeter Spione und Assassine geschickt, um sicherzustellen, dass der Auftrag ausgeführt wurde. Den berüchtigtsten Dämonenjäger in der ganzen Geschichte des Schattenclans aufzuspüren fiele sicherlich unter die Kategorie »gefährlich«. Gewiss würden sie für diese Mission nicht nur einen einzigen Kage schicken …
Blitzschnell wirbelte ich herum, riss Kamigoroshi hoch und pflückte mit einem Klirren von Metall zwei Kunai aus der Luft. Ein zweiter Shinobi tauchte auf einem Ast neben mir auf und zog zwei Kamasicheln. Gleichzeitig spürte ich das kalte Beißen von Metall, als eine Kette peitschend vorschnellte und sich um meinen Schwertarm wickelte. Der erste Shinobi zog die Kusarigama straff, sodass mein Arm nach hinten gerissen wurde, während sich sein Gefährte auf mich stürzte, beide Kama in die Höhe gereckt.
Ich kräuselte verächtlich die Lippen und zerrte ruckartig meinen Arm nach hinten. Der überraschte Shinobi am anderen Ende verlor das Gleichgewicht, flog durch die Luft und prallte gegen den zweiten Angreifer. Beide stürzten auf den Waldboden, wobei es dem ersten Shinobi gelang, sich weiterhin an der Kusarigama festzuhalten, sodass er stumm an der Kette baumelte. Seinem Partner war das Glück nicht gleichermaßen hold, er traf in einem sonderbaren Winkel auf der Erde auf, und das laute Knacken von Knochen hallte durch die Nacht. Der Shinobi zuckte einmal, schlug ein letztes Mal um sich, dann lag er vollkommen reglos da.
Mit der Kusarigama-Kette, die immer noch um mein Handgelenk geschlungen war, zog ich den ersten Shinobi hoch, packte ihn an der Kehle und rammte ihn gegen den Stamm des Baumes. Der Krieger keuchte röchelnd, das erste Geräusch, das er von sich gab, und ich erstarrte jäh. Denn die Stimme, die unter der Kapuze und durch die Maske zu mir drang, gehörte definitiv keinem Mann.
Ich hob den freien Arm, schob die Kapuze des Angreifers nach hinten und streifte Halstuch und Maske ab, um das Gesicht darunter zu offenbaren. Dunkle, vertraute Augen starrten zu mir hoch, und mein Magen zog sich schmerzhaft zusammen.
»Ayame?«
Die Kunoichi starrte mich mit trotzig gerecktem Kinn an, einen Mundwinkel zu einem höhnischen Lächeln hochgezogen. »Es überrascht mich, dass du mich überhaupt erkennst, Tatsumi-kun«, sagte sie in einem bitterbösen, hämischen Tonfall. »Oder sollte ich dich lieber Hakaimono nennen?«
Ich schüttelte den Kopf. Ayame war eine der besten Shinobi unseres Clans, und vor langer, langer Zeit war sie einmal eine Freundin gewesen. Vielleicht meine beste. Nachdem ich ausgewählt worden war, der neue Dämonenjäger zu werden, hatte der Majutsushi mich weggebracht und in völliger Isolation ausgebildet, weit weg von den anderen Shinobi und jedem meiner Altersstufe. Im Laufe der Jahre haben Ayame und ich uns auseinandergelebt, wie es Kinder nun einmal taten, und selbst als ich der Dämonenjäger geworden war, liefen wir uns nur höchst selten über den Weg. Doch mir waren immer noch Erinnerungen von damals geblieben, ein paar Bruchstücke, die selbst die harte Dämonenjägerausbildung nicht völlig hatte auslöschen können. Ayame war ehrgeizig, aufsässig und vollkommen furchtlos gewesen. Es versetzte mir einen bohrenden Stich in die Brust, dass sie jetzt meine Feindin war, dass ich sie höchstwahrscheinlich töten musste.
»Sie haben dich auf mich angesetzt«, sagte ich. »Hat Lady Hanshou den Befehl gegeben?«
Ihre dunklen Augen blitzten auf, sie verzog ihre Lippen. »Du müsstest es besser wissen, Tatsumi-kun«, sagte sie sanft. »Ein Shinobi gibt niemals seine Geheimnisse preis, selbst einem Dämon. Insbesondere einem Dämon.« Für den Bruchteil einer Sekunde legte sich ein Schatten von Mitgefühl auf ihr Gesicht, ein Anflug des Bedauerns, das auch mich innerlich auffraß. »Barmherziger kami, du hast dich wirklich in ein Monster verwandelt, nicht wahr?«, flüsterte sie. »Das also ist der Grund, weshalb sämtliche Kage-Lords Kamigoroshi fürchten. Ich dachte, zumindest du wärst stark genug, um Hakaimono nicht anheimzufallen.«
Ihre Worte hätten mich nicht verletzen dürfen, doch ich spürte sie, als hätte sie mir die Klinge eines Tanto ins Fleisch gejagt. Gleichzeitig wuchs eine Dunkelheit in mir, die mich unaufhaltsam drängte, sie zu töten, ihr die Kehle mit den bloßen Händen zu zermalmen. In ihren dunklen Augen sah ich mein Spiegelbild, die rot glühenden Nadelstiche meines eigenen Blicks, der zu ihr zurückstarrte. Aus meinen Fingerkuppen waren gebogene schwarze Krallen gewachsen, die sich in ihre Haut bohrten.
»Ich will dich nicht töten«, flüsterte ich und hörte die Entschuldigung in meiner eigenen Stimme. Denn wir wussten beide, dass ihr Tod unausweichlich war. Ein Shinobi gab niemals auf, bis sein Auftrag ausgeführt war. Sollte ich sie ziehen lassen, würde sie nur mit Verstärkung zurückkehren, womit ich das Leben von Yumeko und den anderen aufs Spiel setzte.
Ein trostloses, triumphierendes Lächeln glitt über Ayames Gesicht. »Das wirst du nicht«, erwiderte sie. »Keine Sorge, Tatsumi-kun. Meine Mission ist längst erfüllt.«
Ihr Kiefer bewegte sich, als würde sie auf etwas beißen, und ich erschnupperte den Anflug eines bittersüßen, entsetzlichen Geruchs, bei dem sich mir der Magen umdrehte.
»Nein!« Ich drückte auf ihren Hals, presste die Kunoichi zurück an den Baumstamm, versuchte mit aller Gewalt, sie am Schlucken zu hindern, aber es war längst zu spät. Ayames Kopf fiel nach hinten, sie begann sich zu krümmen, und ihre Arme und Beine zuckten in wilden, spastischen Koliken. Ihre Lippen teilten sich, und weißer Schaum quoll heraus, tropfte an ihrem Kinn herab und lief in den Kragen ihrer Uniform. Ich sah ihr hilflos zu, während sich Kummer und Wut zu einem schmerzhaften Knoten in meiner Kehle ballten, bis ihre Krämpfe schließlich nachließen und Ayame leblos in meinem Griff zusammensackte, getötet durch Blutlotustränen, einem der stärksten Gifte, das dem Clan zur Verfügung stand. Ein paar Tropfen reichten aus, und jeder Shinobi trug eine winzige, leicht zerbrechliche Phiole bei sich, die selbst dann noch erreichbar war, wenn ihm die Hände gefesselt waren. Blutlotustränen stellten sicher, dass die Shinobi der Kage ihre Geheimnisse unter keinen Umständen preisgaben.
Wie betäubt ließ ich die Kunoichi auf den Ast sinken und lehnte sie mit dem Rücken sanft gegen den Baumstamm, bevor ich ihr die Hände im Schoß faltete. Ayame starrte stumpf geradeaus, dunkle Augen unbeweglich und blind, ihr Gesichtsausdruck schlaff. Ein dünner Faden Weiß rann ihr weiterhin aus den Mundwinkeln. Ich wischte ihn mit einem Stück Stoff weg und schloss ihr die Augen, sodass es aussah, als würde sie einfach nur schlafen. Da stieg eine Erinnerung in mir hoch: das Bild eines jungen Mädchens, das in den Ästen eines Baums döste, sich vor ihren Lehrern versteckte. Sie war so wütend gewesen, als ich ihr sagte, wir müssten zurückgehen, und sie hatte mir gedroht, mir Tausendfüßer ins Bett zu legen, wenn ich unserem Sensei verriet, wo sie gewesen war.
»Es tut mir leid«, sagte ich leise zu ihr. »Vergib mir, Ayame. Ich wünschte, das hier wäre nie passiert.«
Du hast dich wirklich in ein Monster verwandelt, nicht wahr?
Ich neigte den Kopf. Meine frühere Clanschwester hatte recht, ich war jetzt ein Dämon. Mein wahres Ich lechzte nach Tod und Zerstörung. Es gab keinen Platz für mich in diesem Kaiserreich, keinen Platz für mich zwischen den Clans, meiner Familie und gewiss nicht an der Seite eines wunderschönen, naiven Fuchsmädchens, das törichterweise keine Angst hatte, ich könnte es, ohne mit der Wimper zu zucken, in Stücke reißen.
Eine Brise glitt durch die Blätter der Bäume, und ich seufzte, als ich mit der Hand an meinem Gesicht hinabglitt. Warum hatte Lady Hanshou nur Ayame und den einen anderen geschickt, um mich anzugreifen? Ayame war eine der besten Schattenkriegerinnen unseres Clans und legte allein Meister Ichiro Rechenschaft ab, dem höchsten Sensei der Kage-Shinobi. Nur die Daimyo des Clans konnte einen solchen Auftrag anordnen, aber Hanshou wusste besser als alle anderen, dass zwei Shinobi nicht die geringste Chance gegen einen Dämon hatten. Und dennoch hatte Ayame gesagt, ihre Mission sei erfüllt …
Jäh richtete ich mich auf. Hanshou wusste, dass zwei Shinobi nicht in der Lage wären, mich zu besiegen, aber das war nie ihr erklärtes Ziel gewesen. Ayames Auftrag hatte nie gelautet, mich zu töten, sie war eine Ablenkung gewesen. Eine List, um mich von Yumeko und den anderen wegzulocken, damit sie allein in einer düsteren Höhle zurückblieben …
Mit einem Knurren wirbelte ich herum und sprintete zurück durch die Bäume, verfluchte meine Torheit und hoffte inständig, dass ich nicht zu spät käme.
Ich machte mir Sorgen um Tatsumi.
Nicht weil er ein Dämon war. Oder ein Halbdämon. Oder sich sein Bewusstsein mit einer Dämonenseele teilte. Im Grunde war ich immer noch nicht sicher, was genau Tatsumi war. Und ich glaubte auch nicht, dass er wusste, ob er mehr Oni oder Mensch war, Hakaimono oder Kage Tatsumi. Aber ich sorgte mich nicht wegen seiner Dämonenseite. Ich hatte keine Angst, dass er sich mitten in der Nacht auf uns stürzen könnte, obwohl ich wusste, dass seine Gegenwart Reika und die anderen schrecklich nervös machte. Keiner von ihnen, nicht einmal Okame, fühlte sich wohl, einen Oni in unserer Mitte zu haben. Reika würde mich ausschimpfen, dass ich naiv sei, dass man einem Dämon niemals über den Weg trauen dürfe, dass sie böse und heimtückisch seien und ich eine Närrin sei, in meiner Wachsamkeit auch nur im Geringsten nachzulassen. Und vielleicht war ich naiv, aber ich hatte Tatsumis wahre Seele gesehen, ihre Stärke und ihren hellen Glanz, und ich wusste, er würde alles in seiner Macht Stehende tun, um Hakaimonos Brutalität nicht zu erliegen.
Nein, ich machte mir keine Sorgen, dass er uns verraten könnte. Ich fürchtete, dass seine Schuldgefühle und die Angst darüber, zu was er geworden war, ihn dazu bringen könnten, aus Rücksicht auf uns einfach wegzugehen. Dass Kage Tatsumi eines Nachts still und heimlich in die Schatten schlüpfen könnte und ich ihn nie wiedersähe. Wie ich Tatsumi kannte, würde er versuchen, Genno aufzuspüren und ihn allein zu stellen, und obwohl der Dämonenjäger unglaublich stark war, wusste ich nicht, ob er den Meister der Dämonen und seine Armee aus Monstern, Blutmagiern und Yokai ohne jede Hilfe schlagen könnte.
O Tatsumi! Ich würde dir beistehen, wenn du mich nur ließest. Du musst Genno nicht allein gegenübertreten. Du warst lang genug allein.
»Yumeko-chan?«
Blinzelnd blickte ich auf. Okame saß im Schneidersitz vor mir, eine Hand auf dem umgedrehten Becher zwischen uns, einen erwartungsvollen Ausdruck im Gesicht. »Du bist dran«, sagte er.
»Oh.« Ich sah zu dem Becher unter seinen Fingern und fragte mich verwundert, was ich nun tun sollte. Ich hatte nur mit halbem Ohr zugehört, als er die Regeln erklärt hatte. »Gomen … wie ging das Spiel gleich noch mal?«
»Es ist ganz einfach, Yumeko-chan.« Der Ronin grinste feixend. »Du rufst ›cho‹, wenn du glaubst, die Augenzahl des Würfels ist gerade, und ›han‹, wenn du denkst, sie ist ungerade. Das ist alles.«
»Das ist alles?« Ich legte den Kopf schräg. »Das scheint mir ein sehr simples Spiel zu sein, Okame-san.«
»Glaub mir, es ist nicht so einfach, wenn Münzen im Wert eines ganzen Kaiserreichs auf dem Spiel stehen.«
»Ich sehe hier keine Münzen. Müssen wir denn überhaupt um Geld spielen?«
»Nur wenn du willst … Ite!« Okame zuckte zusammen, als Reika ihm erneut einen Klaps auf den Hinterkopf gab. »Aua, wofür war das denn?«
»Yumeko ist in der Lage, Blätter in Geld zu verwandeln und Gold aus Kieselsteinen zu gewinnen«, erklärte die Schreinmaid ruhig. »Willst du einer Kitsune wirklich das Laster des Glücksspiels beibringen?«
Ich hatte nicht den blassesten Schimmer, wovon die beiden redeten, aber unvermittelt stellten sich mir die Härchen auf den Ohren und am Schwanz auf, und ein Kräuseln von Magie glitt durch die Luft, kühl und dunkel und vertraut. Eine halbe Sekunde später erstarben die Flammen in der Feuerstelle, als hätte jemand eine Kerze ausgepustet, und die Höhle wurde in tiefste Dunkelheit gerissen.
Hastig rappelte ich mich auf, während ich gleichzeig hörte, wie meine Gefährten es mir gleichtaten, und hob die Hand, um einen Schwall Fuchsmagie in die Luft zu schleudern. Augenblicklich erschien eine blau-weiße Flamme Kitsune-bi in meiner Handfläche, tauchte die Kammer in ein geisterhaftes Licht und …
… offenbarte ein Dutzend Shinobi, die uns umzingelten und deren dunkle Körper sich regelrecht aus den Schatten der Höhle zu schälen schienen, die Waffen bereits zum Kampf gezückt. Für einen Moment erstarrten sie, überrascht von dem plötzlichen Aufflackern von Licht, wo sie vollkommene Finsternis erwartet hatten. Ich jaulte auf, Okame schrie, und Daisuke wirbelte herum, seine Klinge blitzschnell aus der Scheide reißend, und enthauptete den Shinobi hinter ihm mit seinem Schwert.
Da brach Chaos in der Enge der Höhle aus. Stimmen kreischten, Klingen blitzten auf, und dunkle Gestalten flackerten im unsteten Licht des Kitsune-bi. Ich warf den Ball Fuchsfeuer in die Luft, schoss herum und fand mich Auge in Auge mit einem maskierten Shinobi wieder, der sein Messer auf mich herabsausen ließ. Im letzten Moment hastete ich einen Schritt rückwärts, prallte gegen jemanden – ich hoffte, ein Freund – und streckte die Hände in Richtung meines Angreifers aus. Fuchsfeuer grollte, und der Schattenkrieger wich erschrocken zurück, nicht ahnend, dass die geisterhaften Flammen ihn nicht verletzen konnten. Bevor er sich von seinem Schock erholt hatte, griff ich in meinen Obi, packte eines der Blätter, die ich zuvor dort hineingestopft hatte, und warf es in die Luft, sodass der Shinobi nach oben blickte. Es folgte eine stille Explosion von Rauch, und eine zweite Yumeko tauchte auf, die einen Schritt nach vorne trat und sich dem Schattenkrieger in den Weg stellte.
Der Shinobi zögerte einen Moment, offensichtlich verwirrt, doch dann wurden seine Augen eiskalt, und er ließ die Klinge mit aller Gewalt nach unten fahren … auf die falsche Yumeko, die einen überzeugenden Schmerzensschrei ausstieß, bevor sie zusammenbrach und sich in Rauchfäden auflöste, sobald sie den Boden berührte. Der schwarz gekleidete Krieger runzelte die Stirn, als die Illusion in kräuselnden Nebelschwaden verpuffte, dann funkelte er mich finster an. Seine Fassungslosigkeit war in blinden Zorn umgeschlagen. Im nächsten Moment hob er das Schwert und wollte sich auf mich stürzen, hielt dann jedoch inne.
Eine Klinge, funkelnd vor purpurnem Feuer, brach aus seiner Brust hervor, riss ihn in die Höhe und schleuderte ihn beiseite. Blinzelnd blickte ich auf, als Kage Tatsumi, dessen Augen und Hörner in einem unheilvollen Rot glühten, sein Schwert senkte und mich direkt ansah.
»Geht es dir gut, Yumeko?«
»Hilf den anderen«, rief ich, und er rannte fauchend an mir vorbei, im Sprung einen weiteren Angreifer durchbohrend, und Kamigoroshis unheilvolles purpurnes Licht gesellte sich zu dem flackernden Kitsune-bi an den Wänden der Höhle.
Ein Schrei ertönte hinter mir, und mein Magen verkrampfte sich. Im Herumwirbeln sandte ich einen Schwall Fuchsfeuer auf den Shinobi, der Reika gegen die Wand presste, sein Schwert zum Todesstoß erhoben. Die Flammen explodierten neben seinem Kopf, was den Angreifer taumelnd zurückweichen ließ, und die Schreinmaid warf einen Ofuda mit einem Befehl in seine Richtung, woraufhin er gegen die gegenüberliegende Wand geschleudert wurde. Er prallte vom Gestein ab und sah genau in dem Moment auf, als eine glühende Klinge sich in seinen Bauch grub und er blutüberströmt auf den Boden sackte. Tatsumi preschte weiter, mitten hinein in das heillose Durcheinander. Ich versuchte, ihm zu folgen, aber in dem tänzelnden Widerschein der Lichter konnte ich nichts weiter erkennen als hektische Bewegungen, die Silhouetten von Freund und Feind, die über den Höhlenboden huschten, und das Aufblitzen von Metall in der Dunkelheit. Doch ein Shinobi nach dem anderen fiel und brach zuckend zusammen, und Blut spritzte in die Luft, während ein rachsüchtiger Dämon wie ein Wirbelwind aus Klingen durch ihre Reihen schnitt.
Die zwei letzten Shinobi starben in der Mitte der Höhle, einer von Tatsumi niedergestreckt, der andere von Daisuke durchbohrt. Die beiden Männer wirbelten herum, immer noch auf der Suche nach Gegnern, und ihre Klingen trafen sich mit einem Kreischen von Metall und einem lodernden Funkenschauer. Für einen kurzen Moment standen sie wie erstarrt da, Dämon und meisterhafter Schwertkämpfer, Tatsumi mit seinen glühenden Augen und dem Schwert und Daisuke mit einem leeren Gesichtsausdruck, beide ein Inbegriff von Gefährlichkeit. Mein Herz klopfte heftig, und für den Bruchteil einer Sekunde fragte ich mich, ob sie ihren Kampf fortsetzen und einander niedermetzeln würden, ob die Verlockung der Schlacht zu groß wäre, um ihr zu widerstehen.
»Äh, Daisuke-san? Kage-san?« Okames Stimme durchbrach die jähe Stille. »Der Kampf ist vorbei. Ihr könnt aufhören, euch gegenseitig anzufunkeln.«
Ganz langsam senkten beide ihre Schwerter und traten einen Schritt zurück, auch wenn keiner von ihnen erpicht darauf schien, das Kämpfen einzustellen. Mit einem Schlenzer wischte Daisuke das Blut von seinem Schwert und nickte Tatsumi mit ernstem Gesicht zu. »Du bist im Gefecht so furchterregend wie eh und je, Kage-san«, bemerkte er in einem Tonfall aufrichtiger Bewunderung. »Nicht vergessen, du schuldest mir immer noch ein Duell, wenn das hier vorbei ist.«
»Das habe ich nicht vergessen«, erwiderte Tatsumi leise, während das Glühen allmählich aus seinen Augen schwand. »Aber bist du sicher, dass du gegen einen Dämon kämpfen willst? Hakaimono ist nicht bekannt dafür, sich an Regeln zu halten.«
»Im Kampf gibt es keine Regeln, Kage-san«, entgegnete Daisuke ruhig. »Regeln dienen nur dem Zweck, das Potenzial zweier Schwertkämpfer zu begrenzen. Wenn wir uns duellieren, nutze bitte alles, was du zu bieten hast.«
»Geht es jedem von euch gut?«, unterbrach Reika die beiden und trat mit Chu an ihrer Seite vor. Die Nackenhaare des Hundes standen ihm zu Berge, und seine Augen waren hart, während er die Leichen betrachtete, die kreuz und quer auf dem Höhlenboden verteilt lagen. »Wir haben wichtigere Dinge zu besprechen als dieses absurde Duell um Ehre. Yumeko, du hast Blut im Gesicht. Bist du verletzt?«
Tatsumi drehte sich geschwind um, und sein Blick verwob sich mit meinem, als ich mit der Hand an meine Wange fuhr und eine klebrige Nässe auf meiner Haut spürte. »Nein«, sagte ich und bemerkte, wie er vor Erleichterung leicht zusammensackte. »Es ist nicht meins. Mir geht’s gut. Wie sieht das bei den anderen aus?«
»Ich glaube, uns fehlt nichts. Auch wenn mich etwas ganz schön hart am Kopf getroffen hat.« Okame erhob sich und rieb sich hinten den Schädel. Dann trat er einen Schritt vor, verzog das Gesicht und sank wieder auf die Knie. »Ite. Okay, vielleicht ein bisschen härter, als ich angenommen habe. Warum dreht sich der Boden?«
Unvermittelt schoss Daisuke vor, tiefe Besorgnis im Gesicht, und ging neben ihm in die Hocke. Seine langen Finger glitten sanft über die Wange des Ronin und drehten behutsam seinen Kopf zur Seite, was eine klaffende Wunde an seinem Schädel offenbarte. Mit schmerzverzerrtem Gesicht schloss Okame die Augen, und Daisukes Besorgnis verwandelte sich in echte Angst.
»Reika-san«, rief er, und die Schreinmaid trat augenblicklich herbei und sank in die Knie, um sich den Hinterkopf des Ronin anzusehen. Mein Magen zog sich zusammen, als Reika ihn abtastete und die Wunde inspizierte, was Okame ein Zischen und leises Fluchen entlockte, doch nach ein paar Sekunden richtete sie sich seufzend auf.
»Nichts Lebensbedrohliches«, sagte sie, während ich einen Seufzer der Erleichterung ausstieß. »Viel Blut, doch wie es aussieht, hast du nur das stumpfe Ende einer Waffe abbekommen. Keine Ahnung, wie du das angestellt hast, aber die Wunde sollte in ein paar Tagen verheilt sein. Du kannst dankbar sein, dass dein Kopf härter als die Palastmauern ist.«
»Yokatta!«, hauchte Daisuke, nun ebenfalls beruhigt, und bedachte den Ronin mit einem matten Lächeln. »Du darfst noch nicht sterben, Okame-san«, sagte er. »Insbesondere nicht durch einen derart heimtückischen, perfiden Überfall. Wie sollen wir sonst gemeinsam ruhmreich in den Tod gehen, wenn du losziehst und stirbst, bevor die letzte Schlacht begonnen hat?«
»Oh, mach dir keine Sorgen, du eitler Pfau!« Okame presste sich ein Stück Leinen auf den Hinterkopf und verzog gequält das Gesicht. »Es braucht mehr als das, um mich loszuwerden. Bislang habe ich eine Horde Gaki, einen riesigen Tausendfüßer, der mich fressen wollte, einen Oni, der einen Turm über mir zusammenstürzen ließ, und jetzt auch noch einen Mordanschlag überlebt. Ich habe allmählich das Gefühl, als würde Tamafuku höchstpersönlich seine schützende Hand über mich halten.« Er verzog schmerzgepeinigt das Gesicht und warf den reglosen Shinobi im flackernden Licht des Fuchsfeuers einen finsteren Blick zu. »Aber das hier war knapp. Hinterlistige Mistkerle! Sind sie etwa geradewegs durch die Wände gekommen?«
»Ihr hattet Glück.« Die Worte kamen von Tatsumi, der die Leichen seiner ehemaligen Clanmitglieder mit grimmiger Miene betrachtete. »Ein Überfall wie dieser soll die Opfer überrumpeln und in Sekundenschnelle vorüber sein.«
»Ohne Yumeko«, sagte Reika, »wäre es auch so gekommen. Den kami sei Dank, dass der Schattenclan nicht mit einer Kitsune gerechnet hat.«
Zitternd spähte ich zu den Leichen auf dem Boden. »Ich schätze, Lord Iesada will uns immer noch loswerden«, sagte ich, während ein Aufflackern von Wut auf den Kage-Lord in mir aufwallte. Der Adlige des Schattenclans hatte uns schon einmal Assassine hinterhergeschickt, als wir auf dem Weg zum Tempel der Stählernen Feder gewesen waren. Reikas Mentor, Meister Jiro, war bei dem Hinterhalt gestorben, und ich hatte dem arroganten Kage-Lord diesen Frevel nicht verziehen. Sollten wir uns jemals wieder begegnen, würde er den Zorn einer wütenden Kitsune zu spüren bekommen.
Mit einem finsteren Stirnrunzeln legte Tatsumi den Kopf schief. »Lord Iesada?«, fragte er.
»Ja, der Mistkerl hat sein Glück schon mal versucht«, schnaubte Okame. »Man würde glauben, er hätte seine Lektion gelernt, nachdem wir seine Leute bis zum letzten Mann abgeschlachtet haben.«
Doch Tatsumi schüttelte den Kopf. »Dieser Überfall geht nicht auf das Konto von Lord Iesada«, erklärte er uns. »Lady Hanshou hat ihn angeordnet.«
»Hanshou-sama?« Ich blinzelte ihn überrascht an. »Aber … warum? Sie hat uns gebeten, dich zu finden. Sie wollte, dass wir dich vor Hakaimono retten.«
»Und das habt ihr.« Tatsumi nickte. »Eure Mission war erfolgreich … zumindest größtenteils. In ihren Augen habt ihr keinen weiteren Nutzen mehr für sie. Ihr wisst jetzt zu viel über den Schattenclan. Ihr seid für die Kage und ihre eigene Stellung zur Belastung geworden.«
»Und deshalb lässt sie uns einfach töten?«
»Lieber das, als dass dieses Wissen zu anderen durchsickert, ja.« Tatsumi nickte grimmig. »Lasst euch von ihren Versprechungen nicht täuschen. Hanshou war schon immer gnadenlos und hat alles getan, was nötig war, um ihre Machtposition zu sichern. Sie weiß, dass ihr hinter der Drachenrolle her seid. Allein das würde ausreichen, um euren Tod zu wollen.«
»Du sprichst nicht sonderlich gut von deiner Daimyo, Kage-san«, sagte Daisuke und klang, als wäre er nicht sicher, ob er gekränkt sein sollte oder nicht. »Bei den Taiyos wären solche Worte Hochverrat.«
Tatsumis Mundwinkel zuckte. »Hanshou und mich verbindet eine lange Geschichte«, erwiderte er, doch seine Augen flackerten wie rote Kerzenflammen, und ich wusste, dass der Dämon in ihm sprach. »Ich weiß Dinge über sie, die sie selbst vor ihrem eigenen Clan geheim hält, Geheimnisse, die sie vor jedem verbirgt. Würde der Schattenclan sämtliche Gräueltaten kennen, die sie begangen hat, wäre sie gewiss nicht so alt geworden.«
Ich schluckte schwer und blickte absichtlich nicht zu den Leichen, die überall in der Höhle verstreut lagen, oder dem Blut, das langsam in die Erde sickerte. »Und was tun wir jetzt?«
»Aufbrechen.« Tatsumi steckte Kamigoroshi in seine Scheide, und das unheilvoll purpurne Licht entlang des Schwerts erlosch. »Weiterziehen. Versuchen, ihnen immer einen Schritt voraus zu sein. Und lasst niemals in eurer Wachsamkeit nach, vor allem nicht nachts. Das wird nicht der letzte Anschlag bleiben. Hanshou weiß, wo und wann der Drache heraufbeschworen wird. Ihr ist bewusst, dass wir auf dem Weg zur Insel Ushima sind.« Seine Lippen kräuselten sich zu einem freudlosen Lächeln, und mein Magen krampfte sich zusammen. »Da die Nacht des Wunsches naht, wird sie die Schriftrolle unbedingt an sich reißen wollen. Ich schätze, wir müssen uns die ganze Zeit bis zur heiligen Insel vor dem Schattenclan in Acht nehmen.«
Ich nahm den Geruch von Tod im Wind wahr, noch bevor die Küste in Sicht kam.
Von den Ausläufern des Drachenrumpfgebirges aus hatte es mehrere Tage gedauert, bis wir Umi Sabishi Mura erreichten, ein großes Fischerdorf am Ufer des Kaihakumeers. Es hatte keine weiteren Überfälle von den Shinobi des Schattenclans gegeben, aber wegen meines … Erscheinungsbildes hatten wir einen großen Bogen um die vielen Städtchen und Siedlungen machen müssen, auf die wir bei unserer Reise zum Rand des Kaiserreichs gestoßen waren. Das Land des Wasserclans war üppig und fruchtbar, voller Seen, Ströme, Flüsse und sanft geschwungener Hügel, und die regierende Mizu-Familie war für ihren Pazifismus sowie ihr friedfertiges Wesen bekannt. Sie waren Heiler und Wunddoktoren, erfahren in der Kunst der diplomatischen Verhandlung, und der Kaiser höchstpersönlich hatte den Wasserclan schon häufiger gebeten, aufgebrachte Gemüter zu besänftigen oder bei einem beleidigten Feuerclan-General als Schlichter zu fungieren. Doch selbst die Mizu würden nicht dulden, dass ein Dämon frei durch ihr Hoheitsgebiet wanderte, und obwohl sie Pazifisten waren, stellten sie gleichzeitig den zweitgrößten Clan im Kaiserreich. Sollten sie meine Gegenwart bemerken, oder falls sie fürchteten, Hakaimono könne ihre Grenze überschreiten und eine Bedrohung für ihr Volk darstellen, würden wir die geballte Macht der Mizu-Familie zu spüren bekommen, was unsere Mission fast zwangsläufig zum Scheitern bringen würde.
Aus diesem Grund reisten wir zu Fuß und schliefen unter freiem Himmel, in Höhlen oder, wenn möglich, in verlassenen Gebäuden, doch in den meisten Fällen war unsere Lagerstätte eine Feuerstelle unter dem Blätterdach im Wald oder eine flache Stelle neben einem Bach oder Fluss. Wir kamen nur langsam voran, da wir die größeren Siedlungen und Hauptstraßen mieden, und niemand von uns schlief viel, aus Angst vor den Shinobi, die in Bäumen und Schatten lauern könnten, weshalb es uns schwerfiel, zur Ruhe zu kommen. An einem Punkt schlug der Ronin vor, dass wir uns vielleicht ein paar Pferde aus einem der umliegenden Dörfer »ausleihen« könnten – immerhin war es zum Wohl des Kaiserreichs –, aber beide, der Adlige und die Schreinmaid, waren strikt dagegen, dass wir das, was wir brauchten, einfach stahlen. Außerdem reagierten Tiere nun sehr stark auf meine Gegenwart, etwas, das wir herausgefunden hatten, als wir auf der Straße eine Mitfahrgelegenheit bei einem Sake-Händler ergattern wollten und sein Ochse, sobald er meine Witterung aufnahm, vor uns ausriss und uns fast niedergetrampelt hätte.
Und so kam es nicht infrage, dass wir auf Pferden oder mit einem Wagen nach Umi Sabishi reisten.
Schließlich, nach Tagen des Wanderns, endete die Grasebene am Rand einer felsigen Küstenlinie mit schartigen Klippen, die senkrecht in ein eisengraues Meer abfielen. Möwen und Seevögel zogen am Himmel ihre Kreise, und ihre fernen Schreie hallten im Wind wider, während Wellen schäumend gegen die Felsen schlugen. Die Luft roch nach Salz und dem Ozean.
»Sugoi