9,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 9,99 €
Bristol 1957: Der Vorsitzende der Barrington Schifffahrtgesellschaft wird zum Rücktritt gezwungen – für Emma Clifton ist dies die Gelegenheit, den Posten zu übernehmen und Macht über die Gesellschaft zu gewinnen. Doch die tragischen Ereignisse um ihren Sohn Sebastian, der in einen Autounfall verwickelt wurde, legen einen Schatten über Emma und ihren Mann Harry …
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 596
DASBUCH
Bristol 1957: Der Vorsitzende der Barrington Schifffahrtgesellschaft wird zum Rücktritt gezwungen – für Emma Clifton ist dies die Gelegenheit, den Posten zu übernehmen und Macht über die Gesellschaft zu gewinnen. Doch die tragischen Ereignisse um ihren Sohn Sebastian, der in einen Autounfall verwickelt wurde, legen einen Schatten über Emma und ihren Mann Harry …
DER AUTOR
Jeffrey Archer, geboren 1940 in London, verbrachte seine Kindheit in Weston-super-Mare und studierte in Oxford. Er schlug eine bewegte Politiker-Karriere ein, die bis 2003 andauerte. Weltberühmt wurde Archer als Schriftsteller. Er verfasste zahlreiche Bestseller und zählt heute zu den erfolgreichsten Autoren Englands. Sein historisches Familienepos Die Clifton-Saga stürmte auch die deutschen Bestsellerlisten und begeistert eine stetig wachsende Leserschar. Archer ist verheirat, hat zwei Söhne und lebt in London und Cambridge.
JEFFREY ARCHER
IM SCHATTEN
UNSERER WÜNSCHE
DIE CLIFTON-SAGA 4
ROMAN
Aus dem Englischen
von Martin Ruf
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
Die Originalausgabe BE CAREFUL WHAT YOU WISH FOR
erschien 2014 bei Macmillan, London
Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.
Vollständige deutsche Erstausgabe 10/2016
Copyright © 2014 by Jeffrey Archer
Copyright © 2016 der deutschsprachigen Ausgabe
by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Redaktion: Thomas Brill
Umschlagillustration: Johannes Wiebel, punchdesign, München,
unter Verwendung von Motiven von photocase.de(chival),
shutterstock.com (Thananun Leungchaiya, GreenBelka) und
Richard Jenkins Photography
Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach
ISBN: 978-3-641-19822-0V001
www.heyne.de
FÜR GWYNETH
PROLOG
Sebastian umklammerte das Steuer fester. Der Lastwagen hinter ihm berührte seine Heckstoßstange und schob den kleinen MG nach vorn, wodurch das Nummernschild abgerissen und hoch in die Luft gewirbelt wurde. Sebastian versuchte, noch ein paar Meter Abstand herzustellen, doch wenn er zu sehr beschleunigte, würde er auf den Lastwagen vor sich auffahren und zwischen den beiden Fahrzeugen wie eine Ziehharmonika zusammengeschoben werden.
Wenige Sekunden später wurden sie ein zweites Mal nach vorn geschoben, als der Lastwagen hinter ihnen mit deutlich größerer Wucht als zuvor auf das Heck des MG auffuhr und ihn bis auf weniger als einen halben Meter Entfernung auf den vorderen Lastwagen zuschob. Erst als der hintere Lastwagen zum dritten Mal auffuhr, schossen Sebastian die Worte durch den Kopf, die Bruno vor einigen Wochen zu ihm gesagt hatte: Bist du sicher, dass du die richtige Entscheidung getroffen hast? Er sah hinüber zu seinem Freund, der aschfahl vor Angst war und sich mit beiden Händen am Armaturenbrett festhielt.
»Die versuchen, uns umzubringen«, schrie Bruno. »Um Himmels willen, Seb, tu etwas!«
Sebastian sah hilflos auf die beiden nach Süden führenden Fahrbahnen, auf denen sich ein ununterbrochener Strom von Autos in die entgegengesetzte Richtung schob.
Als der Lastwagen vor ihm die Geschwindigkeit drosselte, wusste er, dass es, wenn überhaupt, nur eine Möglichkeit gab, wie sie das hier vielleicht überleben würden: Er musste eine Entscheidung treffen, und zwar schnell. Er sah hinüber auf die andere Straßenseite und suchte verzweifelt nach einer Lücke im Gegenverkehr. Als der Lastwagen hinter ihm ein viertes Mal auffuhr, wusste er, dass ihm keine andere Wahl mehr blieb.
Sebastian riss das Lenkrad energisch nach rechts und schoss über den grasbepflanzten Mittelstreifen hinweg direkt in den Gegenverkehr. Er trat das Gaspedal durch und betete, dass sie die Sicherheit der weiten, offenen Felder erreichen würden, die sich vor ihnen erstreckten, bevor ein anderes Auto mit ihnen kollidierte.
Der Fahrer eines Transporters und eines Pkws bremsten hektisch, um dem kleinen MG auszuweichen, der vor ihnen über die Straße raste. Für einen kurzen Augenblick glaubte Sebastian, er könne es schaffen, als plötzlich ein Baum vor ihm auftauchte. Er trat auf die Bremse und riss das Steuer nach links, doch es war zu spät. Sebastian hörte, wie Bruno einen Schrei ausstieß. Dann hörte er nichts mehr.
HARRY UND EMMA
1957 – 1958
1
Harry Clifton erwachte, weil das Telefon klingelte.
Er hatte gerade geträumt, konnte sich aber nicht mehr erinnern, worum es dabei gegangen war. Vielleicht gehörte das nicht enden wollende metallische Geräusch ja noch zu seinem Traum. Widerwillig drehte er sich um und warf blinzelnd einen Blick auf die kleinen, grün schimmernden Zeiger seines Weckers. 6:43 Uhr. Er lächelte. Es gab nur einen Menschen auf der Welt, der auf die Idee kommen konnte, ihn so früh am Morgen anzurufen. Er nahm den Hörer ab und murmelte mit übertrieben schläfriger Stimme: »Guten Morgen, Liebling.« Zunächst kam keinerlei Reaktion, und Harry fragte sich einen Moment lang, ob die Hotelangestellte, die das Gespräch durchgestellt hatte, sich im Zimmer geirrt hatte. Er wollte gerade wieder auflegen, als er ein Schluchzen hörte. »Bist du das, Emma?«
»Ja«, kam die Antwort.
»Was ist passiert?«, fragte er in beruhigendem Ton.
»Sebastian ist tot.«
Harry antwortete nicht sofort, denn jetzt wollte er unbedingt glauben, dass er noch träumte. »Wie ist das möglich?«, fragte er schließlich. »Ich habe doch erst gestern mit ihm gesprochen.«
»Er ist heute Morgen gestorben«, sagte Emma. Es war offensichtlich, dass sie jeweils nur wenige Worte am Stück sprechen konnte.
Harry setzte sich auf. Plötzlich war er hellwach.
»Bei einem Autounfall«, fuhr Emma schluchzend fort.
Harry versuchte, ruhig zu bleiben, während er darauf wartete, dass sie ihm berichten würde, was genau geschehen war.
»Sie sind zusammen nach Cambridge gefahren.«
»Sie?«, fragte Harry.
»Sebastian und Bruno.«
»Ist Bruno noch am Leben?«
»Ja, aber er ist in einer Klinik in Harlow, und die Ärzte sind nicht sicher, ob er die Nacht überstehen wird.«
Harry warf die Decke von sich und stellte die Füße auf den Boden. Er fror, und ihm war übel. »Ich werde sofort ein Taxi zum Flughafen nehmen und dann mit der ersten Maschine nach London zurückkommen.«
»Ich werde zur Klinik fahren«, sagte Emma. Weil sie nicht weitersprach, dachte Harry, die Verbindung sei unterbrochen worden. Doch dann hörte er sie flüstern: »Sie brauchen jemanden, der die Leiche identifiziert.«
Emma legte den Hörer auf, doch es dauerte eine Weile, bis sie die Kraft fand, um aufzustehen. Schließlich ging sie mit unsicheren Schritten durch das Zimmer, wobei sie sich wie ein Seemann im Sturm immer wieder an den Möbeln festhielt. Sie öffnete die Tür des Salons und sah, dass Marsden mit gesenktem Kopf in der Eingangshalle stand. Sie hatte noch nie erlebt, dass ihr alter Hausangestellter vor irgendeinem Mitglied der Familie Gefühle gezeigt hatte, weshalb sie die zusammengesunkene Gestalt, die sich am Kaminsims festhielt, jetzt kaum wiedererkannte. Die grausame Realität des Todes hatte die ruhige Gefasstheit, die seine Miene üblicherweise ausstrahlte, zunichtegemacht.
»Mabel hat Ihnen ein paar Dinge für die Nacht eingepackt, Madam«, stammelte er. »Und wenn Sie gestatten, werde ich Sie zur Klinik fahren.«
»Danke, Marsden, das ist überaus aufmerksam von Ihnen«, sagte Emma, als er die Haustür für sie öffnete.
Marsden nahm ihren Arm und führte sie die Stufen hinab zum Wagen. Es war das erste Mal überhaupt, dass er die Herrin des Hauses berührte. Er öffnete die Autotür, und sie stieg ein und sank wie eine alte Frau auf das Sitzleder. Marsden startete den Motor, legte den ersten Gang ein und begann die lange Fahrt vom Manor House zum Princess Alexandra Hospital in Harlow.
Plötzlich fiel Emma ein, dass sie weder ihren Bruder noch ihre Schwester darüber informiert hatte, was geschehen war. Sie würde Grace und Giles heute Abend anrufen, wenn beide am ehesten alleine waren. Über ein solches Ereignis wollte sie nicht in Gegenwart Fremder sprechen. Plötzlich empfand sie einen heftigen Schmerz in ihrem Magen, als hätte jemand auf sie eingestochen. Wer sollte Jessica sagen, dass sie ihren Bruder nie wieder sehen würde? Konnte sie jemals wieder dasselbe fröhliche kleine Mädchen sein, das stets wie ein gehorsamer, schwanzwedelnder Welpe voll uneingeschränkter Bewunderung auf seinen Bruder zugestürmt war? Jessica durfte die Nachricht von niemand anderem hören, und das bedeutete, dass Emma so rasch wie möglich zum Manor House zurückkehren musste.
Marsden fuhr die Auffahrt zur örtlichen Tankstelle hinauf, wo er üblicherweise am Freitagnachmittag tankte. Als der Tankwart Mrs. Clifton auf der Rückbank des grünen Austin A30 sitzen sah, grüßte er, indem er den Schild seiner Mütze berührte. Sie erwiderte seinen Gruß nicht, und der junge Mann fragte sich, ob er irgendetwas falsch gemacht hatte. Er füllte den Tank und öffnete die Motorhaube, um den Ölstand zu kontrollieren. Als er fertig war, schlug er die Motorhaube zu und berührte wieder den Schild seiner Mütze, doch Marsden fuhr wortlos davon und gab ihm auch nicht wie sonst immer einen Sixpence Trinkgeld.
»Was haben die nur?«, murmelte der junge Mann, als der Wagen verschwand.
Sobald sie wieder auf der Straße waren, versuchte Emma, sich daran zu erinnern, welches die genauen Worte gewesen waren, die der für die Zulassungen zuständige Tutor am Peterhouse College benutzt hatte, als er ihr stockend die Nachricht mitgeteilt hatte. Es tut mir leid, Ihnen mitteilen zu müssen, Mrs. Clifton, dass Ihr Sohn bei einem Autounfall ums Leben gekommen ist. Über diese entscheidende Information hinaus schien Mr. Padgett nur sehr wenig zu wissen, doch schließlich war er, wie er erklärte, auch nur der Überbringer der Nachricht.
In Emmas Kopf überschlugen sich die Fragen geradezu. Warum war ihr Sohn mit dem Auto nach Cambridge gefahren, obwohl sie ihm einige Tage zuvor eine Zugfahrkarte gekauft hatte? Wer war gefahren, Sebastian oder Bruno? Waren sie zu schnell unterwegs gewesen? War ihnen ein Reifen geplatzt? War ein weiteres Fahrzeug in den Unfall verwickelt? Es gab so viele Fragen, doch sie zweifelte daran, dass irgendjemand alle Antworten wusste.
Wenige Minuten nach dem Anruf des Tutors meldete sich die Polizei und fragte, ob Mr. Clifton in die Klinik kommen könne, um die Leiche zu identifizieren. Emma teilte den Beamten mit, dass ihr Mann wegen einer Lesetour in New York war. Sie hätte sich nicht einverstanden erklärt, seinen Platz einzunehmen, wenn sie hätte sicher sein können, dass er bereits am folgenden Tag wieder in England wäre. Gott sei Dank kam er mit dem Flugzeug und musste nicht fünf Tage einsam trauernd mit einer Schifffahrt über den Atlantik verbringen.
Während Marsden durch die ihr unvertrauten Städte Chippenham, Newbury und Slouth fuhr, unterbrach der Gedanke an Don Pedro Martinez Emmas bisherige Überlegungen. Bestand die Möglichkeit, dass er sich für das hatte rächen wollen, was wenige Wochen zuvor in Southampton geschehen war? Aber wenn es sich bei der anderen Person im Auto um Martinez’ Sohn Bruno handelte, ergab das überhaupt keinen Sinn. Emmas Gedanken kehrten zu Sebastian zurück, als Marsden die Great Western Road verließ und nach Norden in Richtung der A1 fuhr; es war jene Straße, die Sebastian wenige Stunden zuvor ebenfalls benutzt hatte. Emma hatte einmal gelesen, dass in Zeiten einer persönlichen Tragödie sich jeder einzig und allein wünschte, die Uhr zurückdrehen zu können. Sie war da nicht anders.
Die Fahrt verging rasch, denn sie dachte kaum an etwas anderes als an Sebastian. Sie erinnerte sich an seine Geburt, als Harry auf der anderen Seite der Welt im Gefängnis war; an seine ersten Schritte im Alter von acht Monaten und vier Tagen; an sein erstes Wort, »mehr«; an seinen ersten Tag in der Schule, als er bereits nach draußen gesprungen war, bevor Harry noch die Gelegenheit gehabt hatte, den Wagen vollständig zum Stehen zu bringen; und dann später an Beechcroft Abbey, als der Rektor ihn der Schule verweisen wollte, ihm aber noch eine zweite Chance gegeben hatte, nachdem Sebastian ein Stipendium für Cambridge gewonnen hatte. Es gab so vieles, worauf man sich freuen konnte, so vieles, das noch zu erreichen war. Und einen Augenblick später war alles nur noch Vergangenheit. Schließlich dachte sie an ihren schrecklichen Fehler, der darin bestanden hatte, sich vom Kabinettssekretär überreden zu lassen, dass Sebastian in die Pläne der Regierung, Don Pedro Martinez seiner gerechten Strafe zuzuführen, einbezogen werden sollte. Wenn sie Sir Alans Bitte abgelehnt hätte, wäre ihr einziger Sohn noch am Leben. Wenn, wenn, wenn …
Als sie die Außenbezirke von Harlow erreichten, warf Emma einen Blick aus dem Seitenfenster und sah ein Schild, das ihnen den Weg zum Princess Alexandra Hospital wies. Sie versuchte, sich auf das zu konzentrieren, was von ihr erwartet wurde. Wenige Minuten später passierte Marsden zwei gusseiserne Tore, die sich niemals schlossen, und hielt vor dem Haupteingang der Klinik. Emma stieg aus und ging auf die Eingangstür zu, während Marsden sich auf die Suche nach einem Parkplatz machte.
Sie nannte der jungen Frau am Empfang ihren Namen, und das fröhliche Lächeln ihres Gegenübers wich einem Blick voller Mitleid. »Würden Sie bitte einen Augenblick warten, Mrs. Clifton«, sagte die junge Frau und nahm den Hörer ihres Telefons ab. »Ich werde Mr. Owen mitteilen, dass Sie hier sind.«
»Mr. Owen?«
»Er war der diensthabende Arzt, als Ihr Sohn heute Morgen eingeliefert wurde.«
Emma nickte und ging unruhig im Flur auf und ab. Ungeordnete Gedanken waren in ihrem Kopf an die Stelle ungeordneter Erinnerungen getreten. Wer, wann, warum …
Sie blieb erst stehen, als eine Krankenschwester mit gestärktem Kragen in makelloser Uniform fragte: »Sind Sie Mrs. Clifton?« Emma nickte. »Bitte kommen Sie mit mir.«
Die Schwester führte Emma durch einen Korridor mit grünen Wänden. Beide sprachen kein Wort, aber was hätten sie auch sagen sollen? Sie blieben vor einer Tür stehen, auf der der Name »Mr. William Owen, FRCS« angebracht war.
Die Schwester klopfte an, öffnete die Tür und trat beiseite, damit Emma eintreten konnte.
Ein dünner Mann mit Halbglatze und der tieftraurigen Miene eines Beerdigungsunternehmers erhob sich hinter dem Schreibtisch. Emma fragte sich, ob dieses Gesicht jemals lächelte. »Guten Tag, Mrs. Clifton«, sagte der Mann und deutete auf den einzigen bequemen Stuhl im Zimmer. »Es tut mir leid, dass wir uns unter so unglücklichen Umständen begegnen«, fügte er hinzu.
Emma hatte Mitleid mit ihm. Wie oft am Tag musste er wohl genau diese Worte sagen? Seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen schien diese Aufgabe niemals leichter zu werden.
»Bedauerlicherweise ist noch jede Menge Papierkram zu erledigen, aber ich fürchte, der Leichenbeschauer verlangt eine förmliche Identifikation, bevor wir uns damit beschäftigen können.«
Emma senkte den Kopf und brach in Tränen aus. Sie wünschte sich, sie hätte zugestimmt, als Harry ihr vorgeschlagen hatte, diese unerträgliche Aufgabe zu übernehmen. Mr. Owen sprang auf, kam hinter seinem Schreibtisch hervor, ging neben ihr in die Hocke und sagte: »Es tut mir so leid, Mrs. Clifton.«
Harold Guinzburg hätte gar nicht umsichtiger und hilfsbereiter sein können.
Harrys Verleger hatte ihm einen Platz erster Klasse in der ersten verfügbaren Maschine nach London gebucht. Sein Autor sollte es wenigstens bequem haben, dachte Harold, obwohl er sich nicht vorstellen konnte, dass der arme Mann Schlaf finden würde. Es schien ihm nicht der richtige Zeitpunkt, um Harry eine gute Nachricht mitzuteilen, weshalb er ihn einfach nur bat, Emma sein tief empfundenes Beileid auszusprechen.
Als Harry vierzig Minuten später aus dem Hotel Pierre auscheckte, stand Harolds Chauffeur auf dem Bürgersteig, um ihn zum Flughafen Idlewild zu bringen. Harry setzte sich in den Fond der Limousine, denn er hatte kein Interesse daran, sich mit irgendjemandem zu unterhalten. Unwillkürlich dachte er daran, was Emma durchmachen musste. Die Vorstellung, dass sie die Leiche ihres Sohnes identifizieren musste, gefiel ihm gar nicht. Vielleicht würde ihr die Klinik anbieten zu warten, bis er zurück wäre.
Harry blieb völlig unbeeindruckt von der Tatsache, dass er einer der ersten Passagiere war, die den Atlantik ohne Zwischenstopp überquerten, denn er konnte nur an seinen Sohn denken und daran, wie sehr Sebastian sich darauf gefreut hatte, nach Cambridge zu gehen und sein erstes Studienjahr an der Universität zu beginnen. Und danach … angesichts von Sebastians angeborener Begabung für Fremdsprachen nahm Harry an, dass sein Sohn für das Außenministerium hätte arbeiten wollen; vielleicht wäre er auch Übersetzer geworden oder möglicherweise Dozent oder …
Nachdem die Comet abgehoben hatte, verzichtete Harry auf das Glas Champagner, das ihm eine lächelnde Stewardess anbot. Sie konnte ja nicht wissen, warum es nichts gab, worüber er seinerseits hätte lächeln können. Er erklärte ihr auch nicht, warum er nichts essen und nicht schlafen wollte. Während des Krieges hatte Harry gelernt, sechsunddreißig Stunden am Stück wach zu bleiben und nur durch das Adrenalin der Angst zu überleben. Er wusste, er würde nicht eher schlafen können, bis er seinen Sohn ein letztes Mal gesehen hatte, und er nahm an, dass er auch danach noch eine ganze Weile wach bleiben würde, angetrieben vom Adrenalin der Verzweiflung.
Der Arzt führte Emma schweigend durch einen düsteren Flur bis zu einer hermetisch verschlossenen Tür aus dickem Glas, auf der in angemessenen schwarzen Buchstaben das Wort Leichenhalle angebracht war. Mr. Owen schob die Tür auf und machte einen Schritt beiseite, damit Emma eintreten konnte. Die Tür schloss sich mit einer Art dumpfem Seufzen hinter ihr. Die plötzliche Kühle ließ Emma erschauern, und ihr Blick richtete sich auf die Rollbahre in der Mitte des Raums. Unter dem Tuch zeichneten sich schwach die Umrisse der Leiche ihres Sohnes ab.
Am Kopfende der Rollbahre stand ein Mitarbeiter der Pathologie in einem weißen Kittel, der jedoch nichts sagte.
»Sind Sie bereit, Mrs. Clifton?«, fragte Mr. Owen in sanftem Ton.
»Ja«, antwortete Emma mit fester Stimme, und ihre Fingernägel gruben sich in ihre Handflächen.
Owen nickte, und der Mitarbeiter der Pathologie schlug das Tuch zurück, woraufhin ein von Verletzungen übersätes Gesicht freigelegt wurde, das Emma sofort erkannte. Sie schrie auf, sank auf die Knie und begann, unkontrolliert zu schluchzen.
Mr. Owen und der Mitarbeiter der Pathologie waren von dieser Reaktion nicht überrascht, schließlich handelte es sich um eine Mutter, die zum ersten Mal ihren toten Sohn sah. Schockiert waren sie jedoch, als Emma leise sagte: »Das ist nicht Sebastian.«
2
Als das Taxi vor der Klinik hielt, sah Harry überrascht, dass Emma neben der Tür stand, wo sie offensichtlich auf ihn wartete. Er war sogar noch überraschter, als sie auf ihn zueilte und ihre Miene nichts als Erleichterung ausdrückte.
»Seb lebt!«, rief sie, schon lange bevor sie Harry erreicht hatte.
»Aber du hast mir doch gesagt …«, begann Harry und schlang die Arme um sie.
»Die Polizei hat sich geirrt. Sie haben angenommen, dass der Besitzer des Wagens gefahren und Seb auf dem Beifahrersitz gesessen hat.«
»Wo in Wirklichkeit Bruno saß?«, sagte Harry leise.
»Ja«, antwortete Emma, die sich ein wenig schuldig fühlte.
»Dir ist klar, was das bedeutet?«, fragte Harry und ließ sie los.
»Nein. Worauf willst du hinaus?«
»Die Polizei muss Martinez gesagt haben, dass sein Sohn überlebt hat, doch inzwischen muss er herausgefunden haben, dass Bruno umgekommen ist und nicht Sebastian.«
Emma senkte den Kopf. »Der arme Mann«, sagte Emma, als die beiden die Klinik betraten.
»Es sei denn …«, sagte Harry, brachte seinen Satz aber nicht zu Ende. »Wie geht es Seb?«, fragte er stattdessen leise. »Wie ist sein Zustand?«
»Ziemlich schlecht, fürchte ich. Mr. Owen hat mir gesagt, dass nur wenige Knochen in seinem Körper heil geblieben sind. Er wird wohl mehrere Monate in der Klinik bleiben, und es könnte sein, dass er für den Rest seines Lebens im Rollstuhl sitzen wird.«
»Wir sollten einfach dankbar dafür sein, dass er noch am Leben ist«, sagte Harry und legte seiner Frau einen Arm um die Schulter. »Werde ich ihn sehen können?«
»Ja, aber nur ein paar Minuten. Und ich muss dich warnen, Liebling, er ist so sehr unter Gips und Binden verschwunden, dass du ihn vielleicht nicht einmal erkennst.« Emma nahm seine Hand und führte ihn in den ersten Stock, wo die beiden auf eine geschäftige Frau in einer dunkelblauen Uniform stießen, die die Patienten im Auge behielt und ihren Mitarbeitern gelegentlich Anweisungen gab.
»Ich bin Miss Puddicombe«, sagte sie und hielt Harry die Hand hin.
»Nenn sie einfach Schwester«, flüsterte Emma. Harry schüttelte der Frau die Hand und sagte: »Guten Morgen, Schwester.«
Ohne ein weiteres Wort führte die kleine Gestalt die beiden durch die Station Bevan. Die Betten des Krankensaals standen in zwei langen Reihen, von denen jedes einzelne belegt war. Miss Puddicombe ging rasch voraus, bis sie einen Patienten am anderen Ende des Saals erreicht hatte. Sie schloss einen Vorhang um Sebastian Arthur Clifton und zog sich dann zurück. Harry starrte auf seinen Sohn herab. Eines seiner Beine wurde von einem Flaschenzug angehoben, während das andere, das wie das erste eingegipst war, flach auf dem Bett lag. Der ganze Kopf war so dicht von Binden umhüllt, dass er nur ein Auge auf seine Eltern richten konnte, doch seine Lippen bewegten sich nicht.
Als Harry sich herabbeugte, um ihn auf die Stirn zu küssen, waren Sebastians erste Worte: »Wie geht es Bruno?«
»Es tut mir leid, dass ich Ihnen beiden nach allem, was Sie durchgemacht haben, noch einige Fragen stellen muss«, sagte Chief Inspector Miles. »Ich würde das nicht machen, wenn es nicht absolut notwendig wäre.«
»Und warum ist es notwendig?«, fragte Harry, dem Ermittler und ihre Methoden, an Informationen zu gelangen, vertraut waren.
»Bisher bin ich noch nicht davon überzeugt, dass das, was auf der A1 passiert ist, ein Unfall war.«
»Was wollen Sie damit andeuten?«, fragte Harry.
»Ich möchte überhaupt nichts andeuten, Sir, aber unsere Jungs von der technischen Abteilung haben das Fahrzeug gründlich untersucht, und sie sind der Ansicht, dass ein, zwei Dinge einfach nicht zusammenpassen.«
»Welche zum Beispiel?«, fragte Emma.
»Zunächst einmal, Mrs. Clifton«, sagte Miles, »finden wir einfach keinen Grund, warum Ihr Sohn den Mittelstreifen überquert hat, wo ihm doch klar sein musste, dass er dort möglicherweise mit einem der Wagen zusammenstoßen würde, die aus der Gegenrichtung kamen.«
»Vielleicht hatte das Auto einen technischen Defekt?«, sagte Harry in fragendem Ton.
»Das war auch unser erster Gedanke«, erwiderte Miles. »Aber obwohl das Fahrzeug stark beschädigt wurde, ist nicht ein einziger Reifen geplatzt, und die Lenkradsäule war intakt, was bei Unfällen dieser Art so gut wie nie vorkommt.«
»Das ist wohl kaum ein Beweis dafür, dass ein Verbrechen begangen wurde«, sagte Harry.
»Nein, Sir«, sagte Miles. »Und wenn es nur das gewesen wäre, hätte ich den Leichenbeschauer auch nicht gebeten, den Fall an den Oberstaatsanwalt zu überweisen. Doch es hat sich jemand bei uns gemeldet und eine wahrhaft beunruhigende Aussage zu Protokoll gegeben.«
»Und was hatte dieser Zeuge zu sagen?«
»Die Zeugin«, erwiderte Miles und warf einen Blick in sein Notizbuch. »Eine gewisse Mrs. Challis hat uns berichtet, dass sie von einem MG-Coupé überholt wurde, das unmittelbar danach auch noch einen Konvoi von drei Lkws, die auf der inneren Spur unterwegs waren, überholen wollte, als der erste Lastwagen plötzlich auf die äußere Spur wechselte, obwohl sich kein anderes Fahrzeug vor ihm befand. Deshalb musste der Fahrer des MG plötzlich bremsen. Dann fuhr der dritte Lastwagen ebenfalls auf die äußere Spur, und auch dies geschah wiederum ohne ersichtlichen Grund, während der mittlere seine Geschwindigkeit beibehielt. Dadurch hatte der MG keine Möglichkeit mehr, den ersten Lastwagen zu überholen oder zurück auf die sichere innere Spur zu wechseln. Mrs. Chalis hat uns weiterhin berichtet, dass die drei Lkws den MG eine längere Zeit in dieser Position eingeschlossen hielten«, fuhr der Chief Inspector fort. »Bis der Fahrer des MG anscheinend vollkommen grundlos über den Mittelstreifen und damit direkt in den Gegenverkehr raste.«
»Konnten Sie irgendeinen der drei Lastwagenfahrer befragen?«, wollte Emma wissen.
»Nein. Wir konnten keinen einzigen von ihnen ausfindig machen, Mrs. Clifton. Und glauben Sie bloß nicht, wir hätten es nicht versucht.«
»Aber was Sie andeuten, ist unvorstellbar«, sagte Harry. »Wer würde zwei unschuldige Jungen umbringen wollen?«
»Da stimme ich Ihnen zu, Mr. Clifton, hätten wir nicht eben erst herausgefunden, dass Bruno Martinez ursprünglich gar nicht die Absicht gehabt hatte, Ihren Sohn nach Cambridge zu begleiten.«
»Woher wollen Sie das wissen?«
»Seine Freundin, eine gewisse Miss Thornton, hat sich bei uns gemeldet und uns darüber informiert, dass sie an jenem Tag mit Bruno ins Kino gehen wollte. Sie musste jedoch im letzten Augenblick wegen einer Erkältung absagen.« Der Chief Inspector nahm einen Füllfederhalter aus seiner Tasche, schlug eine Seite in seinem Notizbuch um und sah Sebastians Eltern direkt ins Gesicht, bevor er fragte: »Hat einer von Ihnen Grund zu der Annahme, dass irgendjemand Ihrem Sohn schaden wollte?«
»Nein«, sagte Harry.
»Ja«, sagte Emma.
3
»Sorg dafür, dass die Aufgabe diesmal erledigt wird.« Don Pedro Martinez schrie fast. »Das sollte nicht allzu schwierig sein«, fügte er hinzu und rückte auf seinem Stuhl nach vorn. »Ich bin gestern Morgen problemlos in die Klinik gelangt, und nachts dürfte es noch viel einfacher sein.«
»Wie soll er erledigt werden?«, fragte Karl in sachlichem Ton.
»Schneid ihm die Kehle durch«, sagte Don Pedro. »Du brauchst nichts als einen weißen Kittel, ein Stethoskop und ein Chirurgenmesser. Du musst nur darauf achten, dass es scharf ist.«
»Es wäre vielleicht nicht klug, dem Jungen die Kehle durchzuschneiden«, gab Karl zu bedenken. »Es wäre besser, ihn mit einem Kissen zu ersticken, sodass jeder annehmen wird, er sei an seinen Verletzungen gestorben.«
»Nein. Ich will, dass der Clifton-Junge einen langsamen und qualvollen Tod stirbt. Je langsamer umso besser.«
»Ich verstehe Ihre Gefühle, Chef, aber wir sollten diesem Ermittler nicht noch einen Grund geben, seine Nachforschungen wieder aufzunehmen.«
Don Pedro sah enttäuscht aus. »Na schön, dann ersticke ihn«, sagte er widerwillig. »Aber sieh zu, dass es so lange wie möglich dauert.«
»Soll ich Diego und Luis hinzuziehen?«
»Nein, aber ich will, dass sie als Sebastians Freunde die Beerdigung besuchen, damit sie mir darüber berichten können. Ich will hören, dass die Eltern nicht weniger gelitten haben als ich, als mir klar wurde, dass es nicht Bruno war, der überlebt hat.«
»Aber was ist mit …«
Das Telefon auf Don Pedros Schreibtisch klingelte. Er nahm den Hörer ab. »Ja?«
»Ein gewisser Colonel Scott-Hopkins ist in der Leitung«, sagte seine Sekretärin. »Er möchte eine persönliche Angelegenheit mit Ihnen besprechen. Er sagt, es sei dringend.«
Alle vier hatten ihre Termine neu organisiert, damit sie am folgenden Morgen um neun Uhr im Kabinettsbüro in der Downing Street sein konnten.
Sir Alan Redmayne, der Kabinettssekretär, hatte sein Gespräch mit Monsieur Chauvel, dem französischen Botschafter, abgesagt, mit dem er sich eigentlich über die Folgen einer möglichen Rückkehr von Charles de Gaulle in den Élyséepalast hatte unterhalten wollen.
Der Abgeordnete Sir Giles Barrington würde nicht an der wöchentlichen Zusammenkunft des Schattenkabinetts teilnehmen, denn es hatte sich, wie er dem Oppositionsführer Mr. Gaitskell gegenüber erklärte, ein schwerwiegendes Problem in der Familie ergeben.
Harry Clifton würde bei Hatchards in Piccadilly nicht zur Verfügung stehen, um seinen neuesten Roman Blut ist dicker als Wasser zu signieren. Das hatte er bereits im Voraus bei einhundert Exemplaren getan, um dem Buchhändler entgegenzukommen. Dieser konnte seine Enttäuschung nämlich nicht verhehlen, nachdem er erfahren hatte, dass Harry am Sonntag auf dem ersten Platz der Bestsellerliste stehen würde.
Emma Clifton hatte ein Treffen mir Ross Buchanan abgesagt, bei dem sie mit dem Vorstandsvorsitzenden eigentlich über dessen Pläne zum Bau eines neuen luxuriösen Passagierschiffs hatte sprechen wollen, das, sollte der Vorstand Buchanan unterstützen, Teil der Schifffahrtslinie der Barringtons werden würde.
Die vier nahmen an einem ovalen Tisch im Büro des Kabinettssekretärs Platz.
»Es ist schön, dass Sie uns so kurzfristig empfangen konnten«, sagte Giles vom gegenüberliegenden Ende des Tisches aus. Sir Alan nickte. »Aber Sie werden sicher verstehen, dass Mr. und Mrs. Clifton darüber besorgt sind, dass das Leben ihres Sohnes noch immer in Gefahr sein könnte.«
»Ich teile ihre Besorgnis«, sagte Sir Alan, »und gestatten Sie mir, Ihnen zu sagen, wie betroffen ich war, als ich vom Unfall Ihres Sohnes gehört habe, Mrs. Clifton. Was nicht zuletzt daran liegt, dass ich mir eine Mitschuld an den Ereignissen gebe. Doch wie dem auch sei, ich darf Ihnen versichern, dass ich unterdessen nicht untätig geblieben bin. Am Wochenende habe ich mit Mr. Owen, Chief Inspector Miles und dem zuständigen Leichenbeschauer gesprochen. Sie waren außerordentlich kooperativ. Ich bin jedoch wie Miles der Ansicht, dass es einfach nicht genügend Beweise dafür gibt, dass Don Pedro Martinez in irgendeiner Weise in den Unfall verwickelt ist.« Als Sir Alan Emmas verzweifelte Miene sah, fügte er rasch hinzu: »Doch ein Beweis und die Tatsache, dass man in einer Frage nicht die geringsten Zweifel hegt, sind zwei völlig verschiedene Dinge. Und nachdem ich erfahren habe, dass Martinez an jenem Tag zunächst nicht bewusst war, dass sein Sohn ebenfalls im Auto saß, bin ich zum Schluss gekommen, dass er möglicherweise einen erneuten Anschlag planen könnte, wie irrational das auch immer erscheinen mag.«
»Auge um Auge«, sagte Harry.
»Sie könnten recht haben«, erwiderte der Kabinettssekretär. »Er hat uns offensichtlich noch nicht verziehen, dass wir ihm – so sieht er das jedenfalls – acht Millionen Pfund aus seinem Besitz gestohlen haben, selbst wenn es sich dabei um Falschgeld handelt. Und obwohl ihm vielleicht noch nicht klar ist, dass die Regierung hinter dieser Operation stand, kann es keinen Zweifel daran geben, dass er Ihren Sohn als persönlich verantwortlich für die Ereignisse in Southampton betrachtet, und ich bedauere, dass ich damals Ihre berechtigten Befürchtungen nicht ernst genug genommen habe.«
»Wenigstens dafür bin ich Ihnen dankbar«, sagte Emma. »Aber nicht Sie sind es, der sich ununterbrochen fragt, wo und wann Martinez als Nächstes zuschlagen wird. Jeder kann die Klinik einfach so betreten und verlassen, als würde es sich um einen Busbahnhof handeln.«
»Dem kann ich nicht widersprechen«, sagte Sir Alan. »Gestern Nachmittag habe ich genau das selbst getan.« Sein freimütiges Geständnis ließ alle verstummen, sodass er, ohne unterbrochen zu werden, fortfahren konnte. »Ich kann Ihnen jedoch versichern, Mrs. Clifton, dass ich diesmal alle notwendigen Schritte in die Wege geleitet habe, damit Ihrem Sohn keine Gefahr mehr droht.«
»Können Sie Mr. und Mrs. Clifton den Grund für Ihre Zuversicht mitteilen?«, fragte Giles.
»Nein, Sir Giles, das kann ich nicht.«
»Warum nicht?«, wollte Emma wissen.
»Weil ich in diesem Fall den Innen- und den Verteidigungsminister zurate ziehen musste, weshalb ich der besonderen Geheimhaltung des Privy Council verpflichtet bin.«
»Was für ein nebulöser Unsinn soll das denn sein?«, fragte Emma. »Sie sollten nicht vergessen, dass wir über das Leben meines Sohnes sprechen.«
»Sollte irgendetwas davon jemals an die Öffentlichkeit gelangen«, erklärte Giles, indem er sich seiner Schwester zuwandte, »und sei es auch erst in fünfzehn Jahren, müssen wir unbedingt beweisen können, dass weder du noch Harry eine Ahnung davon hatte, dass Minister der Krone in die Angelegenheit verwickelt waren.«
»Ich danke Ihnen, Sir Giles«, sagte der Kabinettssekretär.
»Vielleicht schaffe ich es ja, die pompöse Geheimsprache zu verdauen, die einige in diesem Raum benutzen«, sagte Harry, »aber nur wenn ich sicher sein kann, dass das Leben meines Sohnes nicht mehr in Gefahr ist. Denn sollte Sebastian irgendetwas zustoßen, Sir Alan, dann gäbe es nur einen einzigen Menschen, der dafür verantwortlich wäre.«
»Ich kann Ihre Mahnung akzeptieren, Mr. Clifton. Ich darf jedoch bestätigen, dass Martinez keine Gefahr mehr für Sebastian oder irgendein anderes Mitglied Ihrer Familie darstellt. Offen gestanden, habe ich die Regeln so großzügig ausgelegt, dass man sie kaum noch Regeln nennen kann. Aber ich konnte Martinez deutlich machen, dass er bei einer entsprechenden Aktion mehr als nur sein Leben verlieren würde.«
Harry sah immer noch skeptisch aus. Giles hingegen schien Sir Alans Wort zu genügen, doch er begriff, dass er Premierminister werden musste, damit der Kabinettssekretär ihm den Grund für seine Zuversicht mitteilen würde – und vielleicht nicht einmal dann.
»Wir dürfen allerdings nicht vergessen«, fuhr Sir Alan fort, »dass Martinez ein skrupelloser und verräterischer Mensch ist, und ich zweifle nicht daran, dass er sich in irgendeiner Form wird rächen wollen. Solange er sich dabei an den Buchstaben des Gesetzes hält, gibt es nicht viel, was irgendjemand von uns dagegen tun kann.«
»Wenigstens sind wir diesmal darauf vorbereitet«, sagte Emma. Sie wusste nur zu gut, was der Kabinettssekretär mit seiner letzten Bemerkung andeuten wollte.
Eine Minute vor zehn klopfte Colonel Scott-Hopkins an die Eingangstür des Hauses am Eaton Square Nummer 44. Wenige Augenblicke später wurde die Tür von einem riesigen Mann geöffnet, gegenüber dem selbst der Befehlshaber einer Kommandoeinheit des SAS klein wirkte.
»Mein Name ist Scott-Hopkins. Ich habe einen Termin bei Mr. Martinez.«
Karl deutete eine Verbeugung an und zog die Tür gerade so weit auf, dass Mr. Martinez’ Gast eintreten konnte. Er begleitete den Colonel durch den Flur und klopfte an die Tür des Arbeitszimmers.
»Herein.«
Als der Colonel das Zimmer betrat, erhob sich Don Pedro hinter seinem Schreibtisch und musterte seinen Gast misstrauisch. Er konnte sich nicht vorstellen, warum der SAS-Mann ihn unbedingt sprechen wollte.
»Möchten Sie einen Kaffee?«, fragte Don Pedro, nachdem sie einander die Hand gegeben hatten. »Oder vielleicht etwas Stärkeres?«
»Nein, vielen Dank, Sir. Das wäre ein bisschen früh am Tag für mich.«
»Dann nehmen Sie bitte Platz und sagen Sie mir, warum Sie mich so dringend treffen wollten.« Er hielt kurz inne. »Ich bin sicher, Sie können sich vorstellen, wie beschäftigt ich bin.«
»Ich bin mir nur allzu bewusst, wie beschäftigt Sie in letzter Zeit waren, Mr. Martinez, und deshalb will ich gleich zur Sache kommen.«
Don Pedro versuchte, keinerlei Reaktion zu zeigen, als er sich wieder in seinen Schreibtischsessel setzte und den Colonel unverwandt ansah.
»Ich habe nichts weiter zu tun, als dafür zu sorgen, dass Sebastian Clifton ein langes und friedliches Leben hat.«
Die Maske arroganter Selbstgefälligkeit fiel Don Pedro vom Gesicht. Doch er fasste sich sogleich wieder und hielt sich besonders aufrecht. »Was wollen Sie damit andeuten?«, schrie er und umklammerte die Armlehnen seines Sessels.
»Ich glaube, das wissen Sie selbst am allerbesten, Mr. Martinez. Gestatten Sie mir trotzdem, dass ich meine Position unmissverständlich klarmache. Ich bin hier, um sicherzustellen, dass in Zukunft kein Mitglied der Familie Clifton zu Schaden kommt.«
Don Pedro sprang auf und reckte dem Colonel seinen Zeigefinger entgegen. »Sebastian Clifton war der beste Freund meines Sohnes.«
»Das bezweifle ich nicht, Mr. Martinez. Doch meine Anweisungen hätten nicht eindeutiger sein können. Man verlangt von mir nichts weiter, als Ihnen Folgendes mitzuteilen: Sollte Sebastian oder irgendein anderes Mitglied seiner Familie in einen weiteren Unfall verwickelt werden, werden Ihre Söhne Diego und Luis mit dem nächsten Flugzeug nach Argentinien zurückfliegen, und dabei werden sie nicht in der ersten Klasse reisen, sondern im Frachtraum. In zwei Holzkisten.«
»Was glauben Sie wohl, wem Sie hier drohen?«, schrie Don Pedro mit bellender Stimme. Er ballte die Fäuste.
»Einem schmierigen südamerikanischen Gangster, der glaubt, er könne sich als Gentleman ausgeben, weil er ein wenig Geld hat und am Eaton Sqare wohnt.«
Don Pedro drückte einen Knopf unter seinem Schreibtisch. Einen Augenblick später wurde die Tür aufgerissen, und Karl stürmte ins Zimmer. »Werfen Sie diesen Mann raus«, sagte Don Pedro und deutete auf den Colonel. »Ich rufe währenddessen meinen Anwalt an.«
»Leutnant Lunsdorf«, sagte der Colonel, als Karl auf ihn zukam. »Als ehemaliges Mitglied der SS werden Sie sicher rasch einsehen, dass sich Ihr Herr und Meister in einer unterlegenen Position befindet.« Karl blieb abrupt stehen. »Gestatten Sie mir also, dass ich Ihnen einen Rat gebe. Sollte Mr. Martinez sich nicht an meine Vorgaben halten, sehen unsere Pläne für Sie keine Abschiebung nach Buenos Aires vor, wo sich im Augenblick so viele Ihrer früheren Kameraden aufhalten. Nein, wir haben ein anderes Land für Sie vorgesehen, in dem viele Bürger nur zu gerne bereit sein werden, vor Gericht zu der Rolle auszusagen, die Sie als einer von Himmlers meistgeschätzten Mitarbeitern gespielt haben – und über das, was Sie sich alles einfallen ließen, um von ebendiesen Menschen gewisse Informationen zu erhalten.«
»Sie bluffen«, sagte Don Pedro. »Damit würden Sie niemals durchkommen.«
»Wie wenig Sie die Briten doch kennen, Mr. Martinez«, sagte der Colonel, als er sich aus seinem Sessel erhob und zum Fenster ging. »Deshalb möchte ich Ihnen gerne ein paar typische Vertreter der Bewohner unserer Insel vorstellen.«
Don Pedro und Karl traten neben ihn und starrten aus dem Fenster. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite standen drei Männer, die sich niemand als Feinde gewünscht hätte.
»Drei meiner besonders vertrauenswürdigen Kollegen«, erklärte der Colonel. »Einer von ihnen wird Sie Tag und Nacht im Auge behalten in der Hoffnung, dass Sie auch nur eine falsche Bewegung machen. Der Mann links ist Captain Hartley, der von den Dragoon Guards unehrenhaft entlassen wurde, weil er seine Frau und ihren Liebhaber mit Benzin übergossen hat. Zu jenem Zeitpunkt schliefen die beiden friedlich. So lange, bis Hartley ein Streichholz angezündet hat. Nachdem er wieder aus dem Gefängnis gekommen war, wurde es verständlicherweise schwierig für ihn, eine dauerhafte Anstellung zu finden. Bis ich ihn von der Straße geholt und seinem Leben wieder einen Sinn gegeben habe.«
Hartley lächelte den drei Männern am Fenster herzlich zu, als wüsste er, dass sie über ihn sprachen.
»Mein Kollege in der Mitte ist Corporal Crann. Er ist gelernter Zimmermann. Es gefällt ihm, Dinge zu zersägen – ob Holz oder Knochen, spielt keine Rolle für ihn.« Crann starrte mit ausdrucksloser Miene durch die drei Männer hindurch. »Aber ich gestehe«, fuhr der Colonel fort, »dass mir Sergeant Roberts am liebsten ist. Er ist ein offiziell registrierter Psychopath. Meistens ist er harmlos, aber ich fürchte, er ist nach dem Krieg nie wirklich im Zivilleben angekommen.« Der Colonel wandte sich an Don Pedro. »Vielleicht hätte ich ihm nicht sagen sollen, dass Sie Ihr Vermögen als Nazi-Kollaborateur gemacht haben, aber so haben Sie schließlich Leutnant Lunsdorf kennengelernt. Eine Begegnung, von der ich Roberts besser nichts erzähle, es sei denn, Sie machen mich wirklich wütend. Denn, wissen Sie, Sergeant Roberts’ Mutter war Jüdin.«
Don Pedro wandte sich vom Fenster ab und sah, dass Karl den Colonel anstarrte, als hätte er ihn am liebsten erwürgt, obwohl er einsah, dass dies nicht der richtige Ort und der richtige Zeitpunkt war.
»Ich bin so froh, dass ich Ihre Aufmerksamkeit gewinnen konnte«, sagte Scott-Hopkins, »denn jetzt darf ich darauf vertrauen, dass Sie begriffen haben, was in Ihrem ureigensten Interesse ist. Auf Wiedersehen, Gentlemen. Ich finde selbst raus.«
4
»Heute gibt es wirklich viel für uns zu tun«, sagte der Vorstandsvorsitzende. »Ich würde es also sehr zu schätzen wissen, wenn meine Kollegen Direktoren sich in ihren Beiträgen kurz fassen und ausschließlich zu den betreffenden Themen äußern könnten.«
Inzwischen hatte Emma Ross Buchanans geschäftsmäßiges Auftreten schätzen gelernt, mit dem er die Vorstandssitzungen der Barrington Shipping Company leitete. Er ließ sich nie eine besondere Vorliebe für bestimmte Direktoren anmerken, sondern hörte auch jedem aufmerksam zu, der eine Ansicht vertrat, die der seinigen widersprach. Manchmal, was jedoch eher selten vorkam, ließ er sich sogar umstimmen. Und er besaß die Fähigkeit, eine komplexe Diskussion auf eine Art und Weise zusammenzufassen, dass jede Meinung darin berücksichtigt wurde. Emma wusste, dass einige Vorstandsmitglieder sein schottisches Naturell ein wenig schroff fanden, doch sie hielt es für überaus angemessen, und manchmal fragte sie sich, ob sie die Dinge anders angehen würde als er, sollte sie jemals Vorstandsvorsitzende werden.
Nachdem Philip Webster, der Vorstandssekretär, das Protokoll der letzten Sitzung vorgelesen hatte und auf die Fragen eingegangen war, die sich daraus ergaben, wandte sich der Vorstandsvorsitzende dem ersten Punkt der Tagesordnung zu. Dieser betraf den Vorschlag, dass der Vorstand Angebote für den Bau der MVBuckingham, eines Luxusliners, der als Verstärkung der Barrington-Flotte gedacht war, einholen solle.
Buchanan ließ gegenüber seinen Kollegen nicht den geringsten Zweifel daran aufkommen, dass dieser Bau seiner Meinung nach die einzige Möglichkeit für Barrington’s war, sich auch weiterhin als eine der führenden Schifffahrtslinien des Landes zu behaupten. Mehrere Direktoren nickten zustimmend.
Nachdem der Vorsitzende seine Haltung in dieser Sache vorgetragen hatte, erteilte er Emma das Wort, damit sie ihre gegenteilige Sicht darlegen konnte. Emma wies zunächst darauf hin, dass sich der Diskontsatz auf einem Allzeithoch befand, weshalb die Firma sich nicht auf das Risiko so beträchtlicher Ausgaben einlassen, sondern vielmehr versuchen sollte, ihre Position zu konsolidieren, zumal die neuen Pläne ihrer Meinung nach allenfalls eine 50/50-Chance auf Erfolg hatten.
Mr. Anscott, einer der Direktoren ohne geschäftsführendes Mandat, der von Sir Hugo Barrington, Emmas verstorbenem Vater, in den Vorstand berufen worden war, schlug vor, ordentlich auf den Putz zu hauen und das Boot endlich zu Wasser zu lassen. Niemand lachte. Konteradmiral Summers sprach sich dafür aus, eine so radikale Entscheidung nur mit Zustimmung der Aktionäre weiterzuverfolgen.
»Wir sind es, die auf der Brücke stehen«, erinnerte Buchanan den Admiral. »Und deshalb sollten wir die Entscheidungen treffen.«
Der Admiral stieß ein Knurren aus, verzichtete jedoch auf einen weiteren Kommentar. Schließlich würde sein Verhalten bei der Abstimmung für sich selbst sprechen.
Emma hörte den Kommentaren der übrigen Direktoren aufmerksam zu, und schon bald wurde ihr klar, dass fast ebenso viele Vorstandsmitglieder für wie gegen das Projekt waren. Zwar gab es einen oder zwei Direktoren, die sich noch nicht entschieden hatten, doch Emma nahm an, dass der Vorsitzende sich durchsetzen würde, wenn es zur Abstimmung kam.
Eine Stunde später war der Vorstand einer Entscheidung noch nicht näher gekommen; einige Direktoren wiederholten einfach ihre früheren Argumente, was Buchanan offensichtlich ärgerte. Doch Emma wusste, dass er mit der Tagesordnung fortfahren musste, denn es gab noch andere wichtige Dinge, die zu besprechen waren.
»Ich muss feststellen«, sagte der Vorsitzende in seiner Zusammenfassung, »dass wir eine Entscheidung nicht viel länger aufschieben können, und deshalb schlage ich vor, dass wir alle versuchen, etwas Distanz zu gewinnen, und noch einmal sorgfältig über unsere Haltung in dieser besonderen Frage nachdenken. Offen gesagt, die Zukunft der Firma steht auf dem Spiel. Ich schlage vor, dass wir bei unserer nächsten Sitzung in einem Monat darüber abstimmen, ob wir Angebote für dieses Projekt einholen oder die ganze Idee aufgeben sollen.«
»Oder wenigstens so lange warten, bis wir ruhigere Gewässer erreicht haben«, schlug Emma vor.
Widerwillig wandte sich der Vorsitzende den anderen Punkten der Tagesordnung zu, doch da diese weitaus weniger umstritten waren, herrschte statt der hitzigen Debatte zu Beginn eine deutlich entspanntere Atmosphäre, als Buchanan schließlich fragte, ob es darüber hinaus noch irgendetwas zu besprechen gebe.
»Ich bin im Besitz einer Information, die ich dem Vorstand mitzuteilen verpflichtet bin«, sagte der Vorstandssekretär. »Es ist nicht zu übersehen, dass der Wert unserer Aktie während der letzten Woche kontinuierlich gestiegen ist, und Sie haben sich vielleicht gefragt, was der Grund dafür sein könnte, da wir keine bedeutenden Ankündigungen gemacht oder in letzter Zeit irgendeine Gewinnerwartung ausgegeben haben. Nun, gestern fand dieses Rätsel eine Lösung, als ich einen Brief vom Direktor der Midland Bank in St. James’s erhielt, in welchem er mich darüber informierte, dass einer seiner Kunden im Besitz von siebeneinhalb Prozent unserer Aktien sei, weswegen er einen Direktor benennen werde, der in Zukunft die Interessen seines Kunden im Vorstand vertreten soll.
»Lassen Sie mich raten«, sagte Emma. »Das dürfte niemand anders als Major Alex Fisher sein.«
»Ich fürchte, genau so ist es«, sagte der Vorsitzende, womit er, was für ihn sehr ungewöhnlich war, persönliche Gefühle erkennen ließ.
»Gibt es irgendetwas zu gewinnen, wenn man errät, wen der gute Major zu vertreten gedenkt?«, fragte der Admiral.
»Nein«, sagte Buchanan, »denn Sie hätten auf jeden Fall unrecht. Obwohl ich gestehen muss, dass auch ich, genau wie Sie, sofort an unsere alte Freundin Lady Virginia Fenwick dachte, als ich die Nachricht das erste Mal gehört habe. Der Direktor der Midland hat mir jedoch versichert, dass ihre Ladyschaft keine Kundin der Bank ist. Als ich ihn drängte, mir mitzuteilen, wer sich im Besitz dieser Aktien befindet, erwiderte er höflich, dass er sich nicht in der Lage sehe, diese Information weiterzugeben, womit er in typischer Bankermanier zum Ausdruck bringen wollte, dass ich mich um meine eigenen Angelegenheiten kümmern soll.«
»Ich kann es gar nicht erwarten herauszufinden, wie der Major über den Bau der Buckingham abstimmen wird«, sagte Emma mit einem schiefen Lächeln, »denn eines ist sicher: Wen auch immer er vertreten mag, dem Betreffenden liegen wohl kaum die Interessen von Barrington’s am Herzen.«
»Seien Sie versichert, Emma, ich werde es nicht zulassen, dass dieser kleine Scheißer den Ausschlag in die eine oder andere Richtung gibt«, sagte Buchanan.
Emma war sprachlos.
Eine weitere bewundernswerte Begabung des Vorsitzenden bestand darin, jegliche Uneinigkeit, wie heftig sie zuvor auch ausgefallen sein mochte, hinter sich zu lassen, wenn die Vorstandssitzung beendet war.
»Was gibt’s Neues von Sebastian?«, fragte er, als er sich Emma anschloss, um sich vor dem Lunch etwas zu trinken servieren zu lassen.
»Die Krankenschwester hat gesagt, dass sie mit seinen Fortschritten sehr zufrieden ist. Und ich selbst freue mich jedes Mal, wenn ich ins Krankenhaus komme und sehe, dass es ihm tatsächlich ein wenig besser geht. An seinem Bein hat man den Gips schon abgenommen, der Verband ist jetzt über beiden Augen weg, und er hat auch schon wieder zu allem eine eigene Meinung. Es beginnt damit, dass er findet, sein Onkel Giles sei der Richtige, um Gaitskell als Führer der Labour Partei zu ersetzen, und reicht bis zur Ansicht, dass Parkuhren nur ein weiterer Trick der Regierung sind, uns noch mehr von unserem schwer verdienten Geld aus der Tasche zu ziehen.«
»Ich stimme ihm in beiden Fragen zu«, sagte Buchanan. »Hoffen wir, dass seine Lebhaftigkeit ein Zeichen dafür ist, dass er sich schon bald ganz erholen wird.«
»Sein Arzt scheint davon überzeugt zu sein. Mr. Owen hat mir gesagt, dass die moderne Chirurgie dramatische Fortschritte gemacht hat, weil so viele Soldaten ohne das Einholen einer zweiten oder dritten Meinung operiert werden mussten. Vor dreißig Jahren hätte Sebastian den Rest seines Lebens in einem Rollstuhl verbringen müssen, doch heute nicht mehr.«
»Will er immer noch zum nächsten Herbstsemester nach Cambridge gehen?«
»Ich glaube schon. Kürzlich hat ihn sein Supervisor besucht und ihm gesagt, er könne im September seinen Platz im Peterhouse wahrnehmen. Er hat ihm sogar einige Bücher mitgebracht, die er lesen soll.«
»Na ja, die Ausrede, dass er ständig abgelenkt wird, hat er im Moment ja wohl nicht.«
»Komisch, dass Sie das erwähnen«, sagte Emma, »denn seit Kurzem interessiert er sich auffallend für den Zustand der Firma, was einigermaßen überraschend ist. Er liest sogar die Protokolle jeder Vorstandssitzung, und zwar von der ersten bis zur letzten Seite. Er hat sogar zehn Aktien gekauft, wodurch er das Recht hat, jeden unserer Schritte genau zu verfolgen. Und ich kann Ihnen sagen, Ross, er hält mit seinen Ansichten nicht hinterm Berg, wenigstens nicht, was den geplanten Bau der Buckingham betrifft.«
»Wobei er zweifellos von der allseits bekannten Meinung seiner Mutter zu diesem Thema beeinflusst sein dürfte«, sagte Buchanan lächelnd.
»Nein, und das ist ja gerade das Merkwürdige«, sagte Emma. »Bei diesem besonderen Thema scheint jemand anders ihn zu beraten.«
Emma brach in lautes Gelächter aus.
Am anderen Ende des Frühstückstischs sah Harry auf und ließ seine Zeitung sinken. »Da ich heute Morgen in der Times absolut nichts Amüsantes finden kann, solltest du mir vielleicht sagen, was dich so erheitert.«
Emma nahm einen Schluck Kaffee, bevor sie sich wieder ihrem Daily Express zuwandte.
»Anscheinend hat Lady Virginia Fenwick, die einzige Tochter des neunten Earl of Fenwick, die Scheidung vom Grafen von Mailand in die Wege geleitet. William Hickey deutet an, dass Virginia etwa zweihundertfünfzigtausend Pfund und das Haus in Lowndes Square bekommen wird sowie den Landsitz in Berkshire.«
»Kein schlechter Lohn für zwei Jahre Arbeit.«
»Und natürlich wird auch Giles erwähnt.«
»Das wird jedes Mal so sein, wenn Virginia es in die Schlagzeilen schafft.«
»Ja, aber diesmal ist der Kommentar ausnahmsweise schmeichelhaft«, sagte sie und wandte sich wieder ihrer Zeitung zu. »›Lady Virginias erster Ehemann, Sir Giles Barrington, der Abgeordnete für Bristol Docklands, gilt vielerorts bereits als Kabinettsminister, sollte Labour die nächste Wahl gewinnen.‹«
»Ich halte das für unwahrscheinlich.«
»Dass Giles Kabinettsminister wird?«
»Nein, dass Labour die nächste Wahl gewinnt.«
»›Er hat sich im Unterhaus als ausgezeichneter Redner erwiesen‹«, fuhr Emma fort, »›und sich erst vor Kurzem mit Dr. Gwyneth Hughes verlobt, einer Dozentin am King’s College, London.‹ Ein sehr hübsches Bild von Gwyneth, ein grauenhaftes Foto von Virginia.«
»Virginia wird das nicht gefallen«, sagte Harry und wandte sich wieder seiner Times zu. »Aber es gibt nicht viel, was sie im Augenblick dagegen tun kann.«
»Sei dir da mal nicht so sicher«, sagte Emma. »Ich habe das Gefühl, dass dieser ganz besondere Skorpion noch immer weiß, wie er seinen Stachel benutzen muss.«
Harry und Emma fuhren jeden Sonntag von Gloucestershire nach Harlow, um Sebastian zu besuchen, wobei sie Jessica immer im Schlepptau hatten. Denn das Mädchen ließ sich keine Gelegenheit entgehen, seinen großen Bruder zu sehen. Jedes Mal, wenn Emma durch die Tore des Manor House fuhr und sich nach links wandte, um sich auf den langen Weg zum Princess Alexandra Hospital zu machen, dachte sie unweigerlich wieder an jenen Tag, an dem sie diese Fahrt zum ersten Mal angetreten hatte und glauben musste, dass ihr Sohn bei einem Autounfall gestorben war. Emma war froh, dass sie damals nicht Grace oder Giles angerufen hatte, um ihnen die Nachricht mitzuteilen, und dass Jessica mit den Pfadfinderinnen in den Quantocks gezeltet hatte, als Sebastians Tutor anrief. Nur der arme Harry hatte vierundzwanzig Stunden lang glauben müssen, dass er seinen Sohn nie wieder lebend sehen würde.
Für Jessica waren die Besuche bei Sebastian der Höhepunkt der Woche. Jedes Mal, wenn sie in die Klinik kamen, zeigte sie ihm zuerst ihr neuestes Kunstwerk, und nachdem sie jeden Zentimeter seines Gipses mit Bildern bedeckt hatte, die das Manor House, die Familie und ihre Freunde darstellten, machte sie mit den Klinikwänden weiter. Die Krankenschwester hängte jedes neue Bild im Flur vor der Station auf, und Emma konnte nur hoffen, dass Sebastian entlassen würde, bevor Jessicas Werke im Empfangsbereich angelangt waren. Sie war immer ein wenig verlegen, wenn ihre Tochter der Krankenschwester ihre neueste Arbeit präsentierte.
»Sie brauchen nicht verlegen zu sein, Mrs. Clifton«, sagte Miss Puddicombe. »Sie sollten die Klecksereien sehen, die mir vernarrte Eltern überreichen in der Hoffnung, dass ich diese wackeren Bemühungen in meinem Büro aufhänge. Aber wie auch immer. Wenn Jessica erst einmal der Royal Academy angehört, werde ich alle ihre Bilder verkaufen und mit den Einnahmen eine neue Station errichten lassen.«
Man musste Emma nicht daran erinnern, wie begabt ihre Tochter war. Denn sie wusste, dass Miss Fielding, Jessicas Kunstlehrerin an der Red Maids’, die Absicht hatte, ihr nahezulegen, sich um ein Stipendium an der Slade School of Fine Art zu bewerben, wobei sie überaus zuversichtlich war, was das Ergebnis betraf.
»Es ist wirklich eine Herausforderung, Mrs. Clifton, jemanden zu unterrichten, der, wie man selbst sehr genau weiß, so viel begabter ist als man selbst«, hatte Miss Fielding ihr einmal gesagt.
»Sorgen Sie bloß dafür, dass ihr das nicht zu Ohren kommt«, sagte Emma.
»Aber das weiß doch jeder«, erwiderte Miss Fielding. »Und wir alle freuen uns auf die größeren Dinge, die die Zukunft bringen wird. Niemand wäre überrascht, wenn man ihr als erster Schülerin der Red Maids’ einen Platz an den Royal Academy Schools anbieten würde.«
Jessica scheint nicht im Geringsten zu ahnen, wie selten ihr Talent ist, dachte Emma. Immer wieder hatte sie Harry davor gewarnt, dass es nur eine Frage der Zeit war, bevor ihre Adoptivtochter über die Tatsache stolpern würde, wer ihr wirklicher Vater war, und sie hatte ihrem Mann gesagt, dass es besser wäre, wenn Jessica die Wahrheit von einem Familienmitglied hören würde anstatt von einem Fremden. Harry verhielt sich in dieser Sache merkwürdig zögerlich. Offensichtlich wollte er Jessica nicht mit dem Wissen über den wahren Grund belasten, warum sie das Mädchen vor vielen Jahren aus einem der Dr.-Barnardo-Kinderheime geholt und dabei mehrere scheinbar geeignetere Kandidatinnen ignoriert hatten. Sowohl Giles als auch Grace hatten angeboten, Jessica zu erklären, wie es dazu gekommen war, dass sie alle Sir Hugo Barrington zum Vater hatten, und warum Jessicas leibliche Mutter für seinen vorzeitigen Tod verantwortlich war.
Kaum dass Emma ihren Austin A30 auf dem Parkplatz der Klinik abgestellt hatte, sprang Jessica auch schon mit ihrem neuesten Bild unter dem Arm und einem Riegel Cadbury’s Milchschokolade in der freien Hand nach draußen und rannte die ganze Strecke hinauf bis an Sebastians Bett. Emma hielt es für unmöglich, dass irgendjemand ihren Sohn mehr lieben könnte als sie selbst, doch wenn es diesen Jemand geben sollte, so wäre das gewiss Jessica.
Als Emma bei ihrem heutigen Besuch wenige Minuten nach Jessica die Station betrat, erlebte sie eine freudige Überraschung. Zum ersten Mal lag Sebastian nicht im Bett, sondern saß in einem Sessel. Sobald er seine Mutter sah, erhob er sich, verschaffte sich einen sicheren Halt und küsste sie auf beide Wangen. Auch das geschah heute zum ersten Mal. Wann kommt der Augenblick, fragte sich Emma, da Mütter aufhören, ihre Kinder zu küssen, und die jungen Männer beginnen, ihrer Mutter einen Kuss zu geben?
Jessica erzählte ihrem Bruder in allen Einzelheiten, was sie die Woche über getan hatte, sodass Emma sich zufrieden auf den Bettrand setzen und ihren Großtaten ein zweites Mal zuhören konnte. Als das Mädchen schließlich lange genug schwieg, damit auch Sebastian zu Wort kommen konnte, wandte dieser sich an seine Mutter und sagte: »Ich habe heute Morgen noch einmal die Protokolle der letzten Vorstandssitzung gelesen. Dir ist schon klar, dass der Vorsitzende in der nächsten Sitzung abstimmen lassen wird und du dann nicht um die Entscheidung herumkommen wirst, ob du den Bau der Buckingham in Zukunft unterstützen willst.«
Emma schwieg, und Jessica drehte sich um und begann, den alten Mann zu zeichnen, der im Bett nebenan lag.
»In seiner Situation würde ich dasselbe tun«, fuhr Sebastian fort. »Was meinst du, wer gewinnen wird?«
»Niemand wird gewinnen«, antwortete Emma, »denn wie die Entscheidung auch ausfallen mag, der Vorstand wird geteilter Meinung bleiben, bis sich herausstellen wird, wer mit seiner Haltung recht hatte.«
»Das wollen wir nicht hoffen, denn ich glaube, du hast noch ein viel größeres Problem direkt vor dir – ein Problem, bei dem du und der Vorsitzende eine gemeinsame Linie verfolgen müsst.«
»Fisher?«
ENDE DER LESEPROBE