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"Nur dir, Adele, ist das unausgegorene Meisterwerk gelungen, eine Tochter, aber keine Hütte zu haben …" Es gibt Begegnungen, die uns im Innersten treffen: Als Adele Nicola, den Kinderarzt ihrer zweijährigen Tochter, kennenlernt, glaubt sie, endlich angekommen zu sein. Doch Nicola, ein Mann der schönen Worte, ist gebunden und kann sich nicht entscheiden. Seine vielen hübschen Nachrichten wirft sie bald samt Erinnerungen wie eine gebrauchte Zahnbürste in den Müll. Da kehrt Adele in ihre Vergangenheit zurück, in das süditalienische Dorf ihrer Kindheit, aus dem sie nach Rom geflüchtet ist. Zurück zur Geschichte ihrer Familie, ihres Vaters – in ein Zuhause, in dem die Münder nur geöffnet wurden, um zu essen, zu schweigen und zu verschweigen. Wo sich Adele nur Gehör verschaffen konnte, indem sie Eis, Pizza und Worte auskotzte. Gamberale dringt zum Ursprung unserer Fragen vor: Wie werden wir, was wir sind? Wie, verdammt, lernen wir zu lieben? Über 80.000 verkaufte Exemplare im Original! • Über den Drang, anders zu handeln, als uns vorgelebt wurde • Von der Sehnsucht nach einer neuen Form von Familie und Zuhause • Über schonungslose Offenheit und die eigene Neuerfindung "Meinen Romanen vertraue ich an, wie besessen ich bin von der menschlichen Alchemie, von all dem Guten und Bösen, das entfesselt wird, wenn Menschen miteinander in Beziehung treten." (Chiara Gamberale)
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Seitenzahl: 318
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Foto: © Elettra Mallaby
Chiara Gamberale, geboren 1977 in Rom, veröffentlicht, seit sie 22 ist, erfolgreich Romane. Sie sagt von sich, sie habe alle Formen der Analyse erprobt und auch vor Hypnose nicht haltgemacht, um die Tiefe der menschlichen Reaktionen und Empfindungen zu ergründen.
Sie moderiert Fernseh- und Radiosendungen und leitet das Literaturfestival Procida Racconta auf der gleichnamigen italienischen Insel.
Verena von Koskull lebt und arbeitet in Berlin als Literaturübersetzerin, u. a. für die Wochenzeitung Die Zeit. Sie übersetzte Edoardo Albinati, Roberto Andò, Gianrico Carofiglio, Carlo Levi, Antonio Scurati u. v. a. Deutsch-Italienischer Übersetzerpreis 2020.
„Nur dir, Adele, ist das unausgegorene Meisterwerk gelungen, eine Tochter, aber keine Hütte zu haben …“
„Meinen Romanen vertraue ich an, wie besessen ich bin von der menschlichen Alchemie, von all dem Guten und Bösen, das entfesselt wird, wenn Menschen miteinander in Beziehung treten.“
„Was ist der Vaterleib? Es ist die Tasche, in die eine Tochter ihre Hand steckt, wenn ihr kalt ist oder die Welt da draußen sie ängstigt. Ein Generationen-, aber auch ein Universalroman.“Corriere della Sera
CHIARA GAMBERALE
ROMAN
Aus dem Italienischen von Verena von Koskull
Für Vita, wie alles.
Ein unreifes Wesen steht ständigam Rand unvorstellbarer Angst.
Donald Winnicott, Reifungsprozesse und förderndeUmwelt
Ich bin kein Tier,ich bin ein Wesen,das den liebt, der nicht da ist.
Marcella Bella
Papa, Papa, Papa.
Die primitive, unausweichliche Liebe, Diebin und Heilige meines Lebens, endete in diesem Telefonat, und zwei Stimmen drängten sich beharrlich zwischen die unseren, um seine Aufmerksamkeit zu erlangen.
Papa, Papa.
Eine der beiden Stimmen war weiblich.
Im Vaterleib
Nachweis
Im Dorf kannte uns jeder.
Die Habenichtse wurden wir immer noch genannt, wegen meiner Großeltern, den Eltern meines Vaters, die das Wenige, das sie besaßen, nach dem Krieg verloren hatten.
Nein, du kriegst keinen Liter von mir, hatte die Alte vom Milchgeschäft zu Rocco gesagt.
Mein Bruder ist drei Tage alt und meine Mutter hat keine Milch.
Vertrocknete Titten lassen sich kurieren, man muss sie nur mit einem heißen Lappen massieren.
Das hat sie versucht, es kommt nichts raus, sie hat hohes Fieber.
Tut mir leid, aber Milch kann ich dir nicht geben, sonst läuft es noch wie nach der Geburt deiner anderen Schwester, ständig Milch für euch und nicht eine Lira für mich.
Papa hat gesagt, bis Sonntag kriegst du dein ganzes Geld, auch das von vor zwei Jahren.
Wenn ich es sehe, kriegst du die Milch und ich schenk euch noch ’ne Flasche obendrauf.
Drei Tage später sollte Roccos Mutter sterben und Rocco zweiundzwanzig Jahre später mein Vater werden, damals war er neun. Zu denen gehen wir nicht rein, sagte er zu mir, wenn wir an dem Laden vorbeikamen, zu dem das Milchgeschäft geworden war. Um dort bloß nicht einzukaufen, nahmen wir, wenn der andere Dorfladen aus irgendeinem Grund geschlossen hatte, den Bus ins Nachbardorf. Das Auto trat auf den Plan, als ich in die erste Klasse ging, eines Tages kehrte ich aus der Schule zurück und es stand vor unserem Haus, blau. Die anderen Kinder aus den Niedrigen Häusern, dem Teil des Dorfes, in dem wir wohnten, dem hintersten Teil, der vom Zentrum am weitesten entfernt lag und selbst im Sommer vom Schatten des Panettone verschluckt wurde, so nannten wir den Berg, der uns von der Kleinen Stadt trennte, strichen um das Auto herum, ihre Augen funkelten und nahmen alle die gleiche Farbe an, ebenfalls blau. Meine Mutter war mit den Zwillingen schwanger und streichelte ihren Bauch und beobachtete die Szene und lachte vor sich hin.
Ade’, hast du gesehen?
Ja, nickte ich, doch etwas in meiner Kehle verklebte meine Gedanken, sie konnten nicht herausfliegen und zu Worten werden.
Ade’, seid ihr reich geworden?, fragte mich Caterina, wir gingen den Weg zur Schule und nach Hause immer gemeinsam, sie war einen Monat weniger zwei Tage vor mir geboren.
Reich, echoten die anderen Kinder nacheinander und dann im Chor. Reich, reich.
Ich sah meine Mutter an, die noch immer lachend zusah, und mir war, als färbten sich auch ihre Hände und Haare und ihr Bauch und der Mantel blau.
Da dachte ich, na ja, vielleicht die Reichsten der Ärmsten, reich bestimmt nicht, reich nie im Leben, wir und reich: Wie denn das? Aber selbst diesen Gedanken konnte ich nicht herausfliegen lassen. Als mein Vater am Abend aus der Metzgerei zurückkam, drückte er das Kinn nicht wie sonst gegen den Jackenkragen, sondern hielt den Kopf hoch erhoben, hatte sich beim Barbier die Haare schneiden lassen, zum ersten Mal sah ich seine Wangen, sie waren ganz glatt, die Koteletten gerade, akkurat. Er öffnete die Autotür und sagte zu mir, steig ein. Die Sitze stanken furchtbar nach etwas, das ich nicht kannte.
Es stinkt, sagte ich zu meinem Vater.
Das ist kein Gestank, das ist Duft.
Also dufteten die Sitze furchtbar nach etwas, das ich nicht kannte. Wir fuhren ins nächste Dorf, wo vor Kurzem ein Teigwarenladen eröffnet hatte, und kauften drei cremegefüllte Cannoli, die man uns in Silberfolie einwickelte.
Als wir mit dem Abendessen fertig waren, stellte meine Mutter das Päckchen auf den Tisch und öffnete es. Es war ein Fest, aber niemand sagte: Das ist ein Fest.
Denn wer von schönen Dingen spricht, verliert sie irgendwann, davon war mein Vater überzeugt. Als wir nämlich wirklich reich wurden, hat weder mein Vater es mir eröffnet noch meine Mutter, ich bin eines Nachmittags von selbst draufgekommen. Ich war mit den Abschlussprüfungen der achten Klasse durch und hatte mich mit Caterina auf der Großen Wiese getroffen, dem Teil des Dorfes, wo man bei schönem Wetter spazieren gehen, schaukeln, Rad fahren, abhängen, plaudern und Eis essen konnte. Genau das fragte ich sie: Holen wir uns ein Eis?
Ja, aber kaufst du’s mir? Meine Mama hat gesagt, das Geld kommt euch inzwischen zur Nase raus.
Sie hatte eine Stimme, die ich bei ihr noch nie gehört hatte und die sie von diesem Nachmittag an immer haben sollte, sobald sie sich an mich wandte. Eine Stimme, bei der ich mich am liebsten versteckt hätte oder schleunigst davongerannt wäre, als hätte ich etwas geklaut.
Ich fand es immer rührend, mir die Menschen vorzustellen, die zum ersten Mal einen anderen Menschen treffen, bei dem die Floskel, die sie bemühten, um dem, was ihnen widerfuhr, ein Gewicht zu geben, tatsächlich einen Sinn erhält, plötzlich kommt sie ihnen wie von selbst: Er hat mein Leben verändert. Sogar jetzt, in der unmöglichen Stille, die aus den nackten, stummen und verschreckten Straßen hereindringt, eine Stille, die heute Nacht nicht einmal das Telefon durchbrechen wird, um mir das Eintreffen einer Nachricht zu signalisieren, und dann noch einer und noch einer, steigt sie auf. Die Sehnsucht. Denn niemand sagt uns ein paar Stunden vorher Bescheid: Gleich triffst du den Mann, gleich triffst du die Frau, die dein Leben verändern wird. Also gehen wir nervös wie immer oder genervt wie immer in den Tag, angezogen wie immer, vereinnahmt von einem Gedanken, der uns einfach keine Ruhe zu lassen scheint. Und den wir schlagartig für immer fallenlassen, denn: Da ist er, da ist sie.
Als ich Nicola begegnete, konnte ich nur daran denken, dass Frida mit etwas mehr als zwei Jahren anfing, bei den Wörtern, die sie zusammenbekam, ins Stolpern zu geraten.
Ma-Ma-Ma-Mama, Brei.
Wi-wi-will Schnuller.
Schnu-Schnu-Schnuller, Mama.
Und ihre Sätzchen blieben dennoch spärlich im Vergleich zu denen der anderen Kinder.
Deshalb hatte ich mich an den Kinderarzt gewandt, den der Mama-Chor der Kinderkrippe in den Himmel lobte, er ist der beste, sagten alle, obendrein spezialisiert in Kinderneuropsychiatrie. Klar, billig ist er nicht. Aber für die Routineuntersuchungen reicht die zuständige Kinderärztin, und zweimal im Jahr oder bei heikleren Fragen geht man zu ihm. Nicola Attanasio.
Sein Wartezimmer war ganz anders als das der zuständigen Kinderärztin mit Pluto- und Micky-Maus-Tapete, einem neonorangefarbenen Plastiktischchen, hellblauen und rosa Stühlchen und auf dem Boden verstreutem Spielzeug, Matchboxautos ohne Räder, armlose Puppen, die Haare verfilzt, ein Auge zugefallen. Der Raum war groß und hell, beherrscht von einem abstrakten Gemälde, das eine ganze Wand einnahm und an das Meer erinnerte, es gab zwei Sessel aus Edelstahl und schwarzem Leder, ein bananenförmiges weißes Sofa, einen Kilim, der von weit her zu kommen schien, und ein Bord, das bis auf ein paar Bücher des Kinderbuchverlages Topipittori, den auch ich durch ihn bald lieb gewinnen sollte, so gut wie leer war.
Ich bin vor über zwanzig Jahren nach Rom gekommen, und jedes Mal, wenn ich an einem solchen Ort landete, in der Wohnung eines Programmautors, der Freundin einer Freundin oder irgendeines Typs, fühlte ich mich, als müsste es gleich regnen, aber es regnet nicht, alles klebt, die Achseln, die Haare, die Kleider: diese Feuchtigkeit. Jede nüchterne Umgebung, gerade so unordentlich, dass sie wohnlich oder besonders geschmackvoll eingerichtet wirkte – begünstigt durch etwas, das mir unweigerlich entging, jedoch, wie dieser Kilim, von weit her kam, von einem Kontinent, der gleichwohl im Nirgendwo lag und sich im Blut des Wohnungsinhabers verlor –, brachte mich zurück in das Haus meiner Eltern, das wir bezogen hatten, nachdem mein Vater den Supermarkt eröffnet hatte, zu dem glänzenden Fliesenboden, ausgesucht von meiner Mutter, weil er leicht zu wischen war, zu den auf dem Fernsehmöbel aufgereihten Swarovski-Vögelchen und dem Bild im Eingangsflur, ein Aquarell des Monte Panettone von Tonino Capracotta, einem Professor für technisches Zeichnen, der aus der Kleinen Stadt in unser Dorf gezogen war.
Der Vergleich dieses Hauses mit den anderen, auch wenn es kein richtiger Vergleich war – es war etwas weniger Hartes, aber umso Unerträglicheres –, löste in mir einen Schwindel aus, der jede Möglichkeit, dem Menschen, der ich war, zu trauen, ins Trudeln brachte.
Doch kaum betraten Frida und ich Dottor Attanasios Praxis, überkam mich die wohlige Ahnung, bereits dort gewesen zu sein. Ich sollte eine Weile brauchen, um den Grund zu begreifen (der peinlich aufgeräumte Schreibtisch, die in einem Regal aufgereihten Auszeichnungen, der Silberrahmen, aus dem ein kleiner Junge und ein kleines Mädchen zahnlos hervorlächelten …), und vielleicht begreife ich es erst heute Nacht wirklich, während ich seine Zahnbürste, die Boxershorts und ein T-Shirt aus seiner Schublade meines Kleiderschranks hervorhole und nicht weiß, ob ich sie in den Sack für Biomüll oder in den für Restmüll werfen soll – für die Erinnerungen, die wir loswerden sollten, bräuchte es einen extra Sack.
Allen voran die erste: er, der vom Schreibtisch aufsteht, auf uns zukommt, groß, mit Schultern so breit wie eine wartende Umarmung, und sofort alles an sich zieht. Das bananenförmige Sofa draußen, den Silberrahmen drinnen, das Bedürfnis zu verstehen, jede Spur von Feuchtigkeit. Menschen mit großer Nase habe ich schon immer vertraut – Dante, Caterinas Großmutter, meiner Lehrerin Marinelli. Meinem Vater. Dieser Mann weiß bestimmt, wie man Frida helfen kann, habe ich wohl gedacht.
Über dieser knolligen Nase bewegten sich rastlos die schmalen, grünen Augen, sein Gesicht sah aus wie aus einem dieser Schnippelbücher, mit denen ich Frida beschäftigte, suche dir ein Paar Augenbrauen, eine Stirn, ein Kinn aus und setze sie zusammen, ein misslungenes Gesicht, bei dem das Kinn kein bisschen zu der Stirn und den Augenbrauen passte. Dennoch sollte ich dieses misslungene Gesicht drei Monate später beim Schlafen betrachten und flüstern: Du bist es, dich habe ich gesucht, endlich habe ich dich gefunden.
Guten Abend, sagte er zu mir.
Ciao, meine Süße, sagte er zu Frida. Sie schien wie immer ganz woanders zu sein, in einer Art Wartezimmer zur Welt, ein flauschiger Ort, der mir von Anfang an harmlos erschienen war und der sie immer zum Lächeln brachte.
Ich hingegen fing wie üblich an, ohne Punkt und Komma draufloszuplappern. Seit meiner allerersten Menstruation tue ich das immer: Bis dahin war ich so gut wie stumm gewesen, sagte nur ja, nein, ist gut, danke, doch ab da fing ich an, mein Gegenüber völlig ungewollt, wie mir schien, mit Wörtern niederzubügeln – eine ziemlich clevere Art, sich vor Beziehungen zu drücken und zugleich rüberzukommen, als wäre man für Vertraulichkeiten total offen, behauptete Dottoressa Della Penna.
Von Wörtern redete ich auch jetzt: von denen, über die meine Tochter stolperte, und denen, die sie noch nicht sagte, die anderen Kinder aber schon.
»Also habe ich um ein Treffen mit den Erzieherinnen der Krippe gebeten, und die haben mich beruhigt und mir versichert, Frida zeige keinerlei besorgniserregende Auffälligkeiten, sie isst, interagiert, spielt, deren Meinung nach versteht sie alles und ist wohl nur ein bisschen faul, aber dann hat eine der Erzieherinnen angemerkt, die Vaterfigur würde zweifellos zur Sprachentwicklung beitragen, und da, tja, Dottore, hat sich alles in mir zusammengezogen. Inwiefern?, habe ich sie gefragt, wollen Sie damit sagen, meine Tochter sei kognitiv zurückgeblieben, weil sie nur mit ihrer Mutter aufwächst? Um Himmels willen, das wollte ich damit nicht sagen, ist sie hastig zurückgerudert. Was wollten Sie dann sagen?, habe ich nachgebohrt. Glauben Sie mir, ich war kein bisschen beleidigt, ich wollte das nur verstehen, denn wissen Sie, Frida hat nun einmal keinen Vater, sie gehört mir, mir allein.«
Er unterbrach mich und legte mit den üblichen Fragen los, an die ich mich im Laufe zweier Jahre gewöhnt hatte.
»Ja, in Spanien.«
»Am Institut Bernabeu in Alicante.«
»Künstliche Befruchtung.«
»Ich kenne den Arzt nicht persönlich.«
»Beim ersten Versuch. Ich weiß nicht, ob ich sonst den Mut gehabt hätte, es noch einmal zu versuchen, das war alles andere als eine rationale Entscheidung.«
»Aber das ist eine andere Geschichte.«
»Am fünfundzwanzigsten November zweitausendsechzehn.«
»Wir leben allein.«
»Kein Kindermädchen.«
»Viele Freunde.«
»Hin und wieder kommen meine Eltern aus ihrem Dorf herauf und gehen mir zur Hand.«
»Ich habe sie zum frühestmöglichen Zeitpunkt bei der Krippe angemeldet, da war sie zehn Monate alt.«
Er fragte, ich antwortete, er senkte nie den Blick, ich ebenso wenig, Frida spielte mit meinem Schlüsselbund.
»Fühlen Sie sich sehr allein?«
»Nicht wirklich. Es ist, als wäre ich allein, aber zu zweit.«
»Eltern zu werden ist eine Frage der Anpassung …«
»Stimmt.«
»Das ist von Bettelheim. Er war der Ansicht, dass viele Ehen scheitern liege daran, dass die Menschen im Kindesalter nicht gelernt hätten, sich den Eltern anzupassen, weil die sich nicht an sie angepasst hätten.«
»Und was bedeutet es Ihrer Meinung nach, sich einem Kind anzupassen?«
»Es bedeutet vor allem, ein Gleichgewicht zwischen der Person zu finden, die wir vor dem Kinder-Big-Bang waren, und der, zu der wir danach werden.«
»Aber viele Frauen kriegen ein Kind, um die Person loszuwerden, die sie vorher waren, denn sie haben alles versucht und es einfach nicht geschafft, es ihr recht zu machen, damit sie Ruhe gibt …«
»Ihren Hunger zu stillen.«
»Ja, genau.«
»Aber ein Kind kann keine Lösung sein, allenfalls ein weiteres Problem. Ein wunderbares und endgültiges Problem.«
»Endgültig. Stimmt. Auch wenn ich hin und wieder …«
»Was?«
»Ach nein, entschuldigen Sie. Nichts.«
»Sagen Sie es ruhig.«
»Auch wenn ich hin und wieder darüber nachdenke, wissen Sie. Vor allem, wenn Frida einschläft. Stell dir vor, du wachst morgen früh auf, gehst in ihr Zimmer und stellst fest, dass alles gar nicht wahr und nur ein Scherz war, sage ich mir. Ich bin wieder neununddreißig Jahre alt und muss entscheiden, ob ich mit L’Adelescenza weitermache oder mir ein Jahr Auszeit nehme und mich an der Uni von Vancouver in einen Französischkurs einschreibe. L’Adelescenza war die Sendung, die ich vor meiner Schwangerschaft …«
»Daher kenne ich Sie also! Aber klar, L’Adelescenza. Meine Tochter hat keine einzige Sendung verpasst und war richtig sauer, als es damit vorbei war.«
»Sie kommt mit einer neuen Moderatorin zurück. Deliverù.«
»Mit der Deliverù? Der YouTuberin?«
»Genau genommen heißt das Creator.«
»Meine Tochter verbessert mich auch ständig, aber ich verstehe wirklich nicht, wo der Unterschied liegt …«
»Eine Creator entscheidet selbst, welche Geschichten sie erzählt.«
»Ah, genau. Also muss sich Deliverù von niemandem helfen lassen, um uns zu erzählen, was sie zum Frühstück gegessen hat, ein Genie …«
»Sie ist sympathisch.«
»Und hat viel gelitten, auch das hat meine Tochter mir erzählt.«
»Da bringen Sie etwas durcheinander, das ist Delirio.«
»Richtig. Jedenfalls kann ich mir vorstellen, dass Deliverùs Moderation ganz anders sein wird als Ihre.«
»Ich werde mich weiterhin um die Texte kümmern.«
»Die Creator, der Creator …«
»Es ist Zeit für einen Wechsel, sowohl für mich als auch für die Sendung.«
»Und das Französisch?«
»Natürlich spreche ich noch kein einziges Wort.«
»In Vancouver kommt man aus dem Staunen nicht raus. Früher oder später müssen Sie beide mal dorthin.«
»Ich habe keinen Partner.«
»Das habe ich verstanden. Ich meine, mit Frida.«
»Ah, sicher.«
»Sicher. Aber jetzt wollen wir mal sehen, wie es der Kleinen hier geht. Hast du Lust, ein bisschen mit mir zu spielen?«
Sie zeigte dieses Strahlen, das mich jedes Mal mitten ins Herz trifft. Sie ließ alles mit sich machen, messen, wiegen, den Hals, die Ohren, das Bäuchlein untersuchen, ohne den kleinsten Mucks.
»Ihre Tochter ist eine Wucht. Segne sie.«
»Wie bitte, Entschuldigung?«
»Da, wo ich herkomme, ist das so eine Redensart, wenn man ein Mädchen wie Frida trifft, man will es damit vor Unglück und bösen Geistern schützen.«
»Segne sie.«
»Tja. Wie dem auch sei. In alleinerziehenden Familien entwickeln Kinder häufig eine größere Selbstständigkeit und sind weniger launisch, wissen Sie.«
»In Fridas Fall frage ich mich manchmal, ob sie so lieb ist, weil sie irgendwie spürt, dass ich keine richtige Mutter bin, sondern eher eine Art Spielkameradin, die genauso ängstlich ist wie sie und ihr keine Grenzen setzen kann, also muss sie sich selbst darum kümmern …«
»Das erscheint mir ein recht verquerer und Ihnen gegenüber sehr kleinherziger Gedanke. Ich würde eher sagen, das Verhalten Ihrer Tochter zeugt von einer ziemlich tollen Mutter, um mit Winnicott zu sprechen.«
Er bat mich, sie allein zu lassen, erneut fand ich mich vor diesem riesigen Bild wieder. Ja, das ist eindeutig Meer, dachte ich – und während mich jedes Mal, wenn ich Frida in der Krippe ließ und durch das Hoftor hinaustrat, das Offenkundige bei der Kehle packte, auch ohne sie noch zu existieren, noch immer einfach Adele zu sein, und sei es nur für wenige Stunden am Tag, und den unmöglichen Aufwand all dieser Adoleszenz somit nicht als abgehakt betrachten zu können, fühlte ich mich während der zehn Minuten, die ich sie bei Dottor Attanasio ließ, befreit. Aber wovon? Das war mir nicht klar. Von der lastenden Hoffnung, nur Mutter zu sein, sollte mir in den folgenden Tagen und Monaten aufgehen. Befreit von der Mühsal, ein Gleichgewicht zwischen der Person zu finden, die wir vor dem Kinder-Big-Bang waren, und der, zu der wir danach werden … Doch in dem Moment fragte ich die Sprechstundenhilfe nur nach der Toilette, ich brauchte einen Spiegel, denn schon immer hatte ich das Gefühl, zwei Gesichter und zwei Körper zu haben, die von Adele Dünn und die von Adele Dick, so nannte ich die beiden noch immer, obwohl ich seit zwanzig Jahren das Gleiche wog, zwischen fünfzig und zweiundfünfzig Kilo. Adele Dünn konnte man attraktiv finden, aber Adele Dick war eindeutig hässlich. Ihre Augen waren oft geschwollen und dennoch leer, ihr krampfiges Lächeln ließ ihre Züge nichtssagend wirken, das raspelkurze Haar gab ihr etwas von einer Klosterschwester. Adele Dünn sah dagegen wie ein kleiner Junge aus, aber sie hatte was – du bist meine perverse, supersüße Hieda, sollte er mir zuraunen, während er in mich glitt.
Es hing von der Stimmung ab, ob ich als Dicke oder Dünne aufwachte, von den Träumen, die mich in der Nacht heimgesucht hatten, und von den Männern. Wenn eine Beziehung begann oder endete, kam Adele Dünn. Wenn ich mich langweilte oder einigermaßen unbeschwert zu werden drohte, tauchte Adele Dick auf. Dass ich noch immer beharrlich so durch die Welt ging, sollte Dottoressa Della Penna sehr skeptisch werden lassen, aber was sollte ich machen.
Wenn mir etwas gefiel, nannte ich es noch immer dünn.
Wenn es mir nicht gefiel oder mir Angst machte, war es dick.
Doch heute Nacht scheinen sogar die Dicke und die Dünne verschwunden zu sein. Wer geblieben ist, weiß ich nicht, ich kenne sie nicht.
Jedenfalls war ich mir an jenem Tag sicher, Adele Dick zu sein. Aus dem Toilettenspiegel von Dottor Attanasio blickten mir indes die wachen, lebendigen Augen von Adele Dünn entgegen. Sie hatte sich schon seit einer ganzen Weile nicht mehr blicken lassen, seit Fridas Geburt tauchte sie immer seltener auf.
Die Tür zum Sprechzimmer öffnete sich, der Arzt bat mich wieder herein. Frida hockte auf dem Boden und war so vertieft darin, blaues Pulver von einem Glas in ein anderes zu schütten, dass sie nicht einmal aufblickte.
Wieder nahm ich ihm gegenüber Platz.
»Um Stottern zu diagnostizieren, wartet man für gewöhnlich bis zum sechsten Lebensjahr, wissen Sie. Nun, ich habe eine Viertelstunde mit Frida verbracht, wir haben viel miteinander geplaudert, und nur einmal hat sie eine leichte Unsicherheit gezeigt. Es stimmt, sie ist ein bisschen faul bei der Wörtersuche, aber das ist völlig unbedenklich, jedes Kind hat sein eigenes Tempo und macht seinen Weg. Bei der Interaktion mit einem Fremden ist Ihre Tochter übrigens großartig. Intelligenz hat viele Facetten.« Er unterstrich seine Worte mit den Händen, seine Hände bewegten sich schnell, die Worte dagegen langsam. Und sie trugen nichts Glänzendes am Finger. Seine linke Hand schon. »Stimmen Sie mir zu?«
»Sicher.«
»Zweifellos wächst Frida in einer ungewöhnlichen Situation auf. Diese kleinen Signale, die, klinisch gesehen, nicht besorgniserregend sind, könnten für Sie, Adele, jedoch wertvoll sein.«
»Inwiefern?«
»Zeigt sich ein Stottern sehr deutlich, hat es mitunter mit einem Geheimnis zu tun, das ein Kind vor einem Elternteil bewahren zu müssen glaubt, ohne im Mindesten zu ahnen, was dieses Geheimnis ist.«
»…«
»Ich bin überzeugt, dass die Generation unserer Eltern bei uns Kindern nichts falsch gemacht hat, weil sie Fehler gemacht hat. Wir alle machen Fehler. Aber sie hat uns nicht dabei geholfen, diese Fehler zu deuten. Habe ich mich verständlich ausgedrückt?«
»Ja«, antwortete ich, obwohl ich lieber gesagt hätte: nein. Du hast dich nicht verständlich ausgedrückt, oder das ist gar nicht der Punkt, der Punkt ist, dass, während du sprichst, etwas mit mir passiert, das sich mir entzieht, obwohl du von meiner Tochter redest und nichts mich je mehr interessiert hat als sie – was soll ich machen, wenn deine Stimme, statt mir etwas zu geben, es mir wegnimmt und mir einen unmenschlichen Kraftakt abverlangt, um es mir wiederzuholen, aufmerksam zu bleiben.
»Alles in Ordnung?«
»…«
»Es mag Ihnen lächerlich erscheinen, aber Gorgias, auf den ich mich immer gern beziehe, behauptete, das Wort sei ein großer Bewirker, der mit dem kleinsten und unscheinbarsten Körper göttlichste Taten vollbringt: ›Es vermag den Schrecken zu stillen, Schmerz zu beheben, Freude einzugeben und Rührung zu mehren …‹«
»…«
»Was ich damit sagen will, ist, dass Sie sich darum bemühen sollten, Ihre Situation mit Frida niemals zu einem Tabu werden zu lassen. Denn wenn Sie sie ganz selbstverständlich leben, wird auch Frida dazu fähig sein.«
»Danke.«
»Keine Ursache.«
»Obwohl, neulich Nachmittag in der Krippe.«
»Neulich Nachmittag in der Krippe?«
»Die Erzieherinnen haben verkündet, zum Vatertag würden alle Papas eingeladen, den Nachmittag mit ihren Kindern zu verbringen. Während die Kinder weiter im Hof spielten, plauderte der Mama-Chor natürlich über die Papas. Eine sagte, ihr Mann würde jeden Morgen im Bad beim Rasieren eine Opernarie schmettern und das Kind schnappe sich die Klopapierrolle und benutze sie als Mikrofon – schaut euch bloß das Video an, die beiden sind völlig crazy, ich könnte mich wegschmeißen … Eine andere sagte, ihre Kleine würde nur einschlafen, wenn der Papa sich neben sie lege und ihr ein Märchen vorlese, mein Sohn ist gestern mit seinem Vater auf dem Fahrrad los zum Eisessen, sie kamen gar nicht wieder, sagte eine, wenn die beiden zusammen sind, vergessen sie die Zeit, sie suchen nach Brunnen und kommen jedes Mal pitschnass zurück, man weiß nicht, wer von den beiden das größere Kind ist …«
»Was dachten Sie?«
»Ich hatte Angst, auch Frida könnte sich bald fühlen, wie ich mich immer gefühlt habe.«
»Nämlich wie?«
»Wie die Seltsame. Die Andere. Das ist furchtbar, wissen Sie.«
»Manchmal ist man seltsam und anders, weil man besonders ist.«
»Und wenn schon, den Vorteil haben immer die anderen.«
»Ich kann Ihnen nicht folgen.«
»Wer seltsam und anders ist, kann vielleicht die anderen dazu bringen, ihn besonders zu finden. Aber er selbst fühlt sich immer nur so. Seltsam und anders.«
»Darüber habe ich vor ein paar Tagen mit meiner Tochter gesprochen. Sie ist gerade sechzehn geworden, wir sind also mitten in der Adoleszenz … besser gesagt, in der Adeleszenz.« Er lächelte mich an. Ich lächelte ihn an. »Und sie hat sich in den Kopf gesetzt, wenn sie nicht fluid sei, würde die Gruppe ihrer Freundinnen sie bald ausgrenzen. Was bedeutet fluid?, habe ich sie gefragt, und sie hat mir geantwortet …«
»Papa, komm schon! Das bedeutet, dass du Jungs und Mädchen gut finden kannst und dass du nicht hetero und auch nicht schwul bist, sondern einfach nur du: Du bist fluid.« Ich imitierte die Stimme eines der zahllosen Mädchen, die ich im Laufe der Jahre für meine Sendung interviewt hatte.
»…uid«, wiederholte Frida und kletterte auf meinen Schoß.
»Du nicht auch noch, Frida, bitte!«, sagte er. Und zum ersten Mal hörte ich sein Lachen – dieses Lachen, das ich jetzt am liebsten zusammen mit seinem Rasierer und seinem Schlafanzug in den dafür vorgesehenen Sack stopfen würde, den es nicht gibt.
»Wenn Ihre Tochter Sie hören könnte …«
»Ich fürchte, sie würde mir von ihrer gesamten Freundinnengruppe den Prozess machen lassen.«
»Verzeihung, Dottor Attanasio, wieso sollte man sich wünschen, dass Frida nicht fluid wird? Fühlen Sie sich im Jahr zweitausendneunzehn noch immer so unsicher, dass Sie das Bedürfnis verspüren, die Welt in Männchen, Weibchen, Heteros und Schwule einzuteilen?« Diesmal klang ich wie ein stinksaures kleines Mädchen. Er lachte erneut, und seine Augen wirkten heller.
»Kommen wir zu uns zurück, Ade’.«
Ade’. Das hat er gesagt. Und plötzlich war es, als würde jemand an mein Blut klopfen. Sag es nicht noch einmal, ich bitte dich. Sag es nicht noch mal, sag es noch mal, sag es noch mal. Aber inzwischen hatte ich eh schon aufgemacht.
»Für Frida verschreibe ich Ihnen ein bisschen Ignatia, das ist ein homöopathisches Mittel, um die kleinen Anspannungen zu lösen, die ihre Emotivität eventuell beeinflussen könnten. Drei Globuli morgens und drei abends, einen Monat lang. Ihnen hingegen verschreibe ich ein Medikament, das Sofort Aufhören heißt. Denn von diesem Moment an müssen Sie sofort aufhören, Fridas Entwicklung mit der anderer Kinder und irgendeinem Hohelied, das der Mama-Chor anstimmt, wie Sie ihn nennen, mit den Grundmustern Ihres Lebens zu vergleichen. Klar?«
Ich senkte den Blick: »Klar.«
»Mit Verlaub, es macht mich ein bisschen sauer, dass eine ungewöhnliche Frau wie Sie in eine so banale Falle tappt, abgesehen davon, dass es äußerst schädlich ist, solche Ängste auf ein Kind zu übertragen … In unserem Alter sollten wir das eigentlich gelernt haben, nicht wahr? Dass die anderen uns wie unerreichbare Gottheiten oder potenzielle Mörder erscheinen mögen, aber genauso arme Teufel sind wie wir, die an Verstopfung leiden und gern größer oder kleiner oder weniger verpeilt wären, als sie sind. Meinen Sie nicht, Ade’?«
Und die anderen? Was haben die anderen gekriegt?
Weiß ich nicht, Papa.
Hat jemand was Besseres gekriegt als du?
Ich sag doch, ich weiß es nicht.
Hmmm.
Es war nicht so, dass er wollte, dass es für die anderen in der Schule schlecht lief.
Im Gegenteil: Je besser die anderen abschnitten, desto mehr waren sie ein Ansporn, eine Inspiration. Bei diesem Kampf ging es einzig und allein um unsere Grenzen und was meine Brüder und ich tun konnten, um sie zu überwinden. Wenn man eine gewisse Note ergattern konnte, verlangte mein Vater, dass wir sie ergatterten. Mehr nicht.
Ganz gleich, ob ich eine Zwei oder eine Eins oder, wie manchmal in Latein oder Italienisch, eine Eins plus bekam, er hielt sich nie damit auf, mich zu loben.
Wenn man jemanden lobt, will man ihm das Gefühl geben, er sei schlau, obwohl man ihn in Wahrheit für eine Pfeife hält, behauptete er – und meinte damit mindestens vier der sechs Leute, die ihm unterlegen waren, Geschwister und Cousins von ihm oder meiner Mutter. Ihr müsst lernen, sonst nichts, sagte er immer wieder zu uns, lernen, euch die Zahlen zunutze zu machen, damit die Zahlen euch nicht ausnutzen. In eurem Alter hatte ich niemanden, der mich auf die Oberschule schicken konnte. Ihr habt mich, um euch Bücher zu kaufen, und eure Mutter, die eure Sachen bügelt, aber wenn ihr durchrasselt, ist es mit dem Spaß vorbei, dann fangt ihr eben gleich im Supermarkt an. Aber mit dem Spaß ist es dann vorbei.
Mit durchrasseln meinte Papa auch eine Drei. Eine Vier. Dass eine Fünf ihre Spur in einem der Hefte seiner Kinder hinterlassen könnte, fiel ihm im Traum nicht ein.
Im Dorf gab es nur die Gewerbeschule und ein naturwissenschaftliches Gymnasium mit einem so guten Ruf, dass sogar Schüler aus der Kleinen Stadt dorthin gingen, und ich hatte mich dort angemeldet, auch wenn Zahlen mich nicht restlos davon zu überzeugen vermochten, dass sie mir etwas nützten und ich sie mir zunutze machen konnte, Wörter allerdings schon, die überzeugten mich. Denn ausgerechnet im Sommer zwischen dem letzten Jahr auf der Mittelschule und dem ersten auf der Oberschule hatte ich meine Tage bekommen und es hatte diesen Wandel gegeben.
Ade’, halt den Mund, tu uns den Gefallen.
Ade’, Himmel noch eins, es reicht.
Ade’, lass gut sein, ist angekommen.
Verzieh dich, Ade’. Wir brauchen ’ne Pause.
Wörter überzeugten mich, sie erschienen mir wie die einzig mögliche Rettung vor den allzu vielen, die bei uns zu Hause nicht benutzt wurden und deshalb uns benutzten – das ist nur eine rückblickende Fantasie, sollte mir Dottoressa Della Penna fünf Jahre später sagen, in Wirklichkeit walzen Sie Ihren Gesprächspartner mit all Ihrem Gerede nieder und dessen Problem bleibt bestehen. Wie um zu sagen, dass ich redete und redete, fragte und fragte und trotzdem nichts von mir gab, sofern etwas von sich zu geben bedeutet, keine Angst vor seinem Gegenüber zu haben, seinem Geheimnis zu lauschen, statt sich vorzumachen, mit einem Dauerfeuer an Fragen ließe sich möglichst schnell dahinterkommen, wie und warum er einem wehtun könnte.
Doch am Ende dieses Sommers war all das noch weit weg, ewig weit weg – Dottoressa Della Penna, der Gardasee, Hunger, L’Adelescenza, die Männer, denen ich nicht erlauben sollte, mir wirklich wehzutun, die Männer, denen ich nicht erlauben sollte, mir wirklich gutzutun, um am Ende zu Frida und Nicola zu gelangen. Nicola, Frida.
Ich war dreizehn Jahre alt, hatte meine Regel und ein neues Haus mit zwei Bädern, einer Küche, einem Wohnzimmer und drei Schlafzimmern.
Ich ging aufs Gymnasium und, nein, Papa, ich habe alle gefragt, niemand hat eine Eins plus bekommen.
Die Bestnote war eine Eins, und die haben noch zwei andere bekommen. Aber egal, habt ihr gehört, dass einer aus der Zwölften, Salvatore, der Sohn von Luigi von der Bar dei Fanti, heute Morgen mit Kreide FRANCA, ICH LIEBE DICH auf den Gehweg vor der Schule geschrieben hat? Franca Carlomagno, die kommt aus dem Nachbardorf, die ist so was von hübsch, deren Haare sehen total unecht aus, schwer zu sagen, ob die blond oder rot sind, kommt aufs Licht an, und ich glaube, die weiß, dass alle Jungs auf sie stehen, denn wenn sie in die Schule kommt …
Ade’, es reicht: Jetzt iss deine Nudeln, sonst werden sie kalt.
Ist noch was da, Tere’?
Sicher, hier.
Sind das die Tomaten, die gestern geliefert wurden?
Ja.
Die schmecken wie frisch gepflückt.
Ganz süß.
… Wenn sie in die Schule kommt, macht Franca mit ihren Haaren so, sie schüttelt sie, weil sie sich sonst in den Riemen ihrer Schulmappe verheddern, klar, aber ich glaube, sie macht es nicht deswegen, sondern um den Jungs zu sagen, schaut mich an, schaut mich an, und die glotzen sie wirklich alle an, Salvatore ist längst nicht der Einzige, der auf sie abfährt.
Kinder, helft Mama beim Abräumen.
Gehst du schon? Und der Kaffee?
Tere’, es ist fast drei, wir machen gleich wieder auf, den Kaffee trinke ich unterwegs.
Ciao, Papa.
Ciao, Papa.
Ciao, Papa.
Wenn ihr abgeräumt habt, macht ihr euch sofort ans Lernen. Wann hast du die Lateinprüfung, Ade’?
Übermorgen.
Also, sieh zu.
Wenn ich früh mit dem Lernen fertig bin, kann ich dann in den Supermarkt kommen und du fährst mich später in die Kleine Stadt, um ein Buch zu kaufen?
Nein, heute wird gelernt. Das machen wir morgen. Nur Dummköpfe pauken am Tag vor einer Prüfung bis in die Puppen, wer alles draufhat, kann am Tag vorher sogar bummeln gehen, aber das Buch gibt’s nicht, vorgestern hat deine Mutter dir die Bluse gekauft, nur Hätschelkinder kriegen zwei Geschenke pro Woche. Stimmt’s?
Stimmt, Papa.
Und er ging, in seinem dunkelgrünen Mantel, den er sich von Tante Rosanna, Mamas älterer Schwester, hatte maßschneidern lassen, als er den ersten Supermarkt eröffnet und nicht mehr als Danke herausgebracht hatte.
Danke, danke, zu denen, die ihm die Hand drückten, den Mund voller Caciocavallowürfel und Salamischeiben, die meine Mutter und ich für eine kleine Verkostung aufgeschnitten hatten.
Danke. Eins nach dem anderen kamen die Gesichter des Dorfes auf ihn zu, Gesichter mit stets erhitzten Wangen, wie von einer unheilbaren Couperose gezeichnet, leicht dümmliche Gesichter, selbst wenn in den Augen ein schlaues Funkeln lag, harte Gesichter, selbst wenn der Blick sich gütig öffnete, Züge, die das Meer nicht weichgegerbt hatte.
Danke dir, Rocco.
Wer hätt’s gedacht, dass wir das erste Dorf am Monte Panettone mit Supermarkt werden.
Wer hätt’s gedacht, dass ausgerechnet wir dem Markt in der Kleinen Stadt das Fürchten lehren.
Wer hätt’s gedacht, wer hätt’s gedacht, sagten alle. Dass ein Habenichts einmal richtig reich werden würde, wollten sie sagen, sagten es aber nicht.
Und während er diese Hände drückte und ihnen einem nach dem anderen in die Augen und Gesichter sah, mit seinen pechschwarzen, abgrundtiefen Augen, in denen alles, was hineinfiel, hoffnungslos und endgültig verloren ging, antwortete mein Vater, ohne zu antworten: Ich.
Ich hätte es euch gesagt, wenn ihr mich gefragt hättet.
Hättet ihr mich gefragt, ob es die Habenichtse wohl je zu etwas bringen würden, hätte ich euch geantwortet, klar.
Mehr noch: Rocco Habenichts wird sich nicht mit irgendetwas zufriedengeben.
Er holt sich alles.
Und trotzdem wird er nie jemandem etwas wegnehmen.
Denn weißt du, Ade’, sollte er mir an einem der zahllosen Nachmittage vor einer Prüfung erklären, an dem nur Dummköpfe auf den letzten Drücker paukten. Verstehst du? Das Wichtigste im Leben ist, niemals Hilfe zu brauchen.
Ja, Papa.
Aber vielleicht hätte ich das nicht begriffen, wenn ich nicht unter diesem Bus gelandet wäre, und ich fürchte, du und deine Geschwister habt ein zu leichtes Leben …
Das, was für mich wie ein Schauermärchen klang, bei dem ich als kleines Mädchen, sobald es zur Sprache kam, Mühe hatte, in meinem Bett zu bleiben, und zu meinen Kopf an Fuß schlafenden Brüdern schlüpfte, war für meinen Vater eine strahlende Legende.
Darin war er die Hauptfigur, mit fünf. Zum ersten Mal hatte sein Vater ihm vorgeschlagen, zusammen den Bus zu nehmen, um ihn in die Kleine Stadt zu begleiten, in die er zweimal im Jahr fuhr, um das Kleiderpaket bei der Post abzuholen, das der nach Caracas ausgewanderte Bruder ihm schickte, wenn dessen Kinder aus ihren dicken Pullovern und Hosen herausgewachsen waren. Jedenfalls biss der Schnee an jenem Morgen in die Wangen und verdammte sie zu ewiger Röte, und mein kleiner Vater musste entsetzlich dringend pinkeln. Doch statt seinem Vater zu beichten, ich mache mir gleich in die Hose, hatte er sich hinter etwas geflüchtet, das er im Schneegestöber für einen Baum gehalten hatte, jedoch der Pfosten der Bushaltestelle war. Als er gepinkelt hatte, schlüpfte er hinter dem Baum hervor, der keiner war, und in dem Moment war der Bus gekommen und hatte ihn umgefahren.
So endete sein erster Besuch in der Kleinen Stadt im Krankenhaus, wo er sieben Monate bleiben sollte, vom Hals bis zu den Füßen eingegipst, bis sämtliche Brüche, die die Arm-, Bein- und Beckenknochen hatten zersplittern lassen, wieder zusammengewachsen waren. In diesen sieben Monaten sollten sein Vater und seine Mutter ihn kein einziges Mal besuchen. Sie hatten ihm nur ein Stück Schokolade und eine Weihnachtskarte geschickt, alles Gute. Basta.
Wären diese sieben Monate nicht gewesen, gäbe es heute diesen Supermarkt nicht.
Es gäbe dieses Haus nicht.
Ich wäre ein anderer Mensch, sagte er.
Wenn meine Mutter in der Nähe war und die Geschichte mit dem Bus zur Sprache kam, seufzte sie, mein armer Rocchino, was du alles durchmachen musstest.
Tere’, was soll das Gejammer? Ich kann meiner Mutter und meinem Vater nur dankbar sein, ein Kuss ihrer Seele.
Glaubst du etwa, du und ich würden die Kleinen so lange Zeit im Krankenhaus allein lassen?
Adele ist die eine Sache, die Jungs sind Jungs, das ist was anderes – aber Adele ist trotzdem stark.
Selbst wenn sie zwanzig sind, werde ich meine Kinder niemals allein im Krankenhaus lassen.
An dem Punkt hing alles von der Laune meines Vaters ab.
Wenn es im Supermarkt gut lief, zog er meine Mutter auf, Teresa die Glucke, gack-gack, die Kleinen müssen an meinem Rockzipfel hängen, äffte er ihren Singsang nach, und manchmal ließ er sich sogar zu einem kleinen Klaps auf ihren Hintern hinreißen, zu einem flüchtigen Streicheln mit den Fingerrücken über ihre Wange, gerade genug, um meine Mutter für mindestens drei Tage zufriedenzustellen.
Wenn es im Supermarkt schlecht lief, sagte er, wenn ich nicht wäre, würdest du mir die Kinder zu Luschen erziehen. Oder wenn ich nicht wäre, würde Adele werden wie diese Caterina, die nichts weiter kann, als im Soßentopf zu rühren. Oder aber, ich würde sie extra unter einem Bus landen lassen, einen nach dem anderen, damit sie mal endlich aufwachen.
Zum Glück lief es seit unserem Umzug im Supermarkt fast durchweg gut. An manchen Abenden kam er dennoch schlecht gelaunt von der Arbeit heim, und wehe, man kam ihm in die Quere.
Davor hüteten sich meine Brüder auch, wenn er gut gelaunt war, sie schienen von Geburt an einen Pakt geschlossen zu haben, wir sind zu zweit, die Welt ist eine, wir gewinnen, wäre doch witzlos, einen Krieg vom Zaun zu brechen, solang uns niemand stört, stören wir auch niemanden.
Meine Mutter erkannte die Gefahr sofort und machte trotzdem alles falsch. Los, zu Tisch, sagte sie, doch statt selbst Platz zu nehmen, wetzte sie wie von der Tarantel gebissen dauernd zum Herd, es fehlt noch das Öl, es fehlt noch das Salz, der Käse.
Himmel noch eins, Tere’, setz dich.