Im wilden Westen Nordamerikas 10: Fragwürdige Gentlemen -  - E-Book

Im wilden Westen Nordamerikas 10: Fragwürdige Gentlemen E-Book

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Beschreibung

Frachtstücke einer großen Firma in Kansas verschwinden, ebenso verliert sich die Spur von Old Shatterhands Kollegen Shamus O'Conell. Und so wird Old Shatterhand wieder für seine alte Detektei tätig. Doch bevor er die Ermittlungen aufnehmen kann, wird ein Zug überfallen.Die Printausgabe umfasst 210 Buchseiten.

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Seitenzahl: 197

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Im Wilden Westen NordamerikasFRAGWÜRDIGE GENTLEMEN

In dieser Reihe bisher erschienen

2201 Aufbruch ins Ungewisse

2202 Auf der Spur

2203 Der schwarze Josh

2204 In den Fängen des Ku-Klux-Klan

2205 Heiße Fracht für Juarez

2206 Maximilians Gold

2207 Der Schwur der Blutsbrüder

2208 Zwischen Apachen und Comanchen

2209 Der Geist von Rio Pecos

2210 Fragwürdige Gentlemen

2211 Jenseits der Grenze

2212 Kein Glück in Arizona

H. W. Stein (Hrsg.)

FragwürdigeGentlemen

Diese Reihe erscheint in der gedruckten Variante als limitierte und exklusive Sammler-Edition!Erhältlich nur beim BLITZ-Verlag in einer automatischen Belieferung ohne ­Versandkosten und einem Serien-Subskriptionsrabatt.Infos unter: www.BLITZ-Verlag.de© 2019 BLITZ-VerlagRedaktion: Jörg KaegelmannAutor: Hymer GeorgyÜberarbeitung: Thomas OstwaldTitelbild: Ralph KretschmannLogo: Mario HeyerSatz: Harald GehlenAlle Rechte vorbehaltenISBN 978-3-95719-440-4Dieser Roman ist als Taschenbuch in unserem Shop erhältlich!

1.

Der Dampfkessel der American-Standard-Lokomotive gab sein Bestes. Das fauchende Ungetüm zog den niedrigen Kohlenwagen sowie die acht sich dahinter befindlichen hohen, lang gestreckten Waggons in zunehmend schnellerem Tempo durch die abwechslungsreiche, hier noch nicht gänzlich vegetationsarme Region von Ostkansas auf dem Weg nach Parsons. Kohlen glühten auf, als von einer rußgeschwärzten Schippe nachgelegt wurde. Dunkler, dichter Qualm breitete sich unablässig aus, und die verbindenden Gestänge der Achsen drehten sich kreischend ohne Unterlass. In das Fahrgeräusch des vielrädrigen Eisenbahnzuges der Missouri-­Kansas-Texas Railroad1 mischten sich zunehmend immer häufiger Schüsse aus zahlreichen Feuerwaffen. Die Scheiben, die nicht durch Kugeln getroffen wurden und zerplatzten, zerschlugen die Passagiere selbst von innen heraus mit den Kolben ihrer Gewehre und Pistolen, um ein besseres Schussfeld zu erhalten.

An die dreißig etwas verwildert wirkende Reiter, größtenteils mit Filzhüten auf den Köpfen und mit bunten Halstüchern vor den Gesichtern, stoben auf einer Seite neben dem dahinrasenden Zug daher. Sie feuerten scheinbar ungezielt von ihren Reittieren her seitwärts auf die Scheiben der sechs hinteren Waggons. Der eine oder andere Passagier, eher zufällig getroffen, brach hinter den Fenstern zusammen oder stürzte blutend zwischen die Reihen der Sitze. Die entsetzten Schreie junger Frauen waren zu vernehmen, die hier und dort wenig damenhaft auf dem Boden in Deckung lagen und sich erschrocken die Hände vor das Gesicht schlugen.

Dann wurden jedoch auch mehrere Banditen getroffen. Sie stürzten über ihre stolpernden Pferde in vollem Ritt hinweg in den Staub zwischen das dürre Gras und blieben liegen, wo sie gefallen waren.

Die meisten, äußerst zielsicheren Schüsse, kamen in schneller Folge hauptsächlich aus jenem ganz bestimmten Gewehrlauf, der ein Stück weit aus einem der hinteren Fenster im vorletzten Wagen ragte. Zehn, zwölf, vierzehn Mal verließ eine Kugel nach der anderen die präzise Waffe, ohne dass nachgeladen wurde. Die ausgeworfenen Patronenhülsen prasselten auf den Wagenboden. Immer mehr Angreifer oder deren Pferde ereilte ihr Schicksal. Das Reittempo der verbliebenen Banditen schien etwas nachzulassen, vielleicht wurde aber auch der Zug nochmals etwas schneller. Die Passagiere konnten beobachten, dass die Angreifer immer mehr zurückblieben und selbst die Kugeln aus deren Gewehren die Waggons schließlich nicht mehr zu erreichen vermochten. Zuletzt sah man die Pferde der Banditen in der Landschaft gänzlich anhalten. Aus der Ferne waren deren einzelne Gesichter nicht zu erkennen, auch nicht, als sie sich jetzt, ihrem skrupellosen Anführer folgend, die maskierenden Tücher ebenso wütend wie enttäuscht von den Gesichtern rissen. Mit so heftiger Gegenwehr hatten sie offenbar nicht gerechnet gehabt!

Vielfältiges Stimmengewirr erfüllte nunmehr die bei schneller Fahrt schaukelnden Waggons. Hier und da war ein erleichtertes, seufzendes Aufatmen zu vernehmen. Manch einer der Fahrgäste dankte im Stillen Gott für dessen Eingreifen in der Not, nachdem ihnen nun bewusst wurde, dass doch noch nicht das letzte Stündlein geschlagen hatte. Diejenigen Männer, die hinter den Fenstern Position bezogen und auf die Angreifer gefeuert hatten, erhoben sich vorsichtig, obwohl der Zug weiterhin mit fast eineinhalbfacher als gewöhnlicher Geschwindigkeit dahinraste. Gutes Festhalten war allseits erforderlich.

Zu diesen sich nun wieder in eine würdigere Position begebenden Personen gehörte auch ein mittelgroßer Mann mit auffallend spitzem Gesicht. Er kauerte zuvor noch in derselben Sitzgruppe neben dem für seine Begriffe äußerst treffsicheren Schützen. Er war um die fünfunddreißig Jahre alt, von kräftiger Statur, trug einen hellgrauen Anzug, wie ihn die Städter der Ostküste des Landes bevorzugten, sowie zum weißen Hemd einen dünnen, schwarzen Schleifenbinder. Breite, dichte Koteletten ragten von den Seiten des vollen schwarzen gekräuselten Haupthaares bis hinab zu seinem Kinn. Die Augen lagen dunkel und beinahe ein wenig verschlagen tief in ihren Höhlen. Den Revolver, ein Smith & Wesson No. 1 1/2, Kaliber .32 Rimfire, mit dem er selbst nur vier oder fünf Mal durch jenes zerborstene Abteilfenster gefeuert hatte, dessen scharfe zackige Glasreste nun noch bedrohlich im Rahmen steckten, schob er mit beinahe lässiger Bewegung in das hierfür gedachte Holster seitlich vor seinem Bauch unter der halb offenstehenden Jacke. Dann wandte er sich etwas schief lächelnd seinem Nachbarn mit dem Gewehr zu, der sich soeben ebenfalls erhob.

„Meine Güte!“, gab er laut gegen den hereindringenden Fahrtwind mit einem deutlich Bostoner Akzent von sich, und blickte auf. „Ihr schießt wie der Teufel! Was ist denn das für eine Zauberflinte? So etwas habe ich ja noch niegesehen. Vielen Dank! Das war ausgezeichnet geschossen, Mister ...“

Er kam nicht dazu, zu Ende zu sprechen, denn in diesem Augenblick traf ihn eine Faust gegen den Kopf, seitlich an der Schläfe. Der Mann aus dem Osten verdrehte schlagartig die Augen und fiel wie vom Blitz gefällt zurück auf die gepolsterte ­Sitzbank hinter ihm. Dort kippte er ohnmächtig mit dem Oberkörper zur Seite. Keinen weiteren Mucks von sich gebend, blieb er dort in dieser Verrenkung liegen.

Es war, die ihn traf, soviel sei nun hier verraten, meine Faust!

*

Ich stellte den Henry-Stutzen ungerührt mit dem Kolben nach unten auf die Sitzbank in die Ecke zur Außenwand des Waggons hin, sodass er trotz der schnellen Fahrt nicht umkippen konnte. Dann beugte ich mich über mein Opfer. Es war bewusstlos, daher gab es keine Schwierigkeiten, ihn zunächst des Revolvers zu entledigen und dann für einen Moment genauer zu betrachten. Letzteres tat ich, obwohl ich dazu in den letzten beiden Stunden eigentlich schon hinreichend Gelegenheit gehabt hatte, bevor der Überfall begann.

Willard Duncan Blackstone. So hatte er sich mir vorgestellt, kurz nach unserer Abfahrt in Kansas City am späten Vormittag. Inzwischen war ich allerdings völlig überzeugt, dass er mir in unserem oberflächlich gebliebenen Gespräch nicht seinen richtigen Namen verraten hatte. Der ganze Mann war falsch! Über Boston, seine angebliche Heimatstadt, wusste er nicht einmal zu sagen, dass Rebecca Lee Crumpler die erste Schwarze in den Vereinigten Staaten war, die dort, zehn Jahre war es wohl her, einen ­Hochschulabschluss in Medizin erhielt – noch vor der Sezession! Jeder Mensch, der wirklich in Boston geboren oder länger dort ansässig war, hätte das auf jeden Fall erwähnt. Zumindest, nachdem sich die Gespräche im Abteil um die langfristigen Folgen des Bürgerkrieges, also auch um die Freiheit der Schwarzen, drehten, und man ihn daraufhin ansprach.

Einige Minuten bevor dann der Überfall begann, beschlich Blackstone zudem eine sichtliche Nervosität, die mir nicht entging. Und während es mir selbst gelang, etliche Angreifer mit gezielten Schüssen aus dem Stutzen von ihren Pferden zu holen, hatte er hingegen nicht nur im Eifer des Gefechts für mich erkennbar deutlich daneben gefeuert. Entweder, ­Willard Blackstone war ein erbarmungswürdiger Schütze, seine Waffe war extrem verzogen oder er schoss aus irgendeinem Grunde absichtlich nicht sehr gezielt.

Gegen die erste Annahme sprach die Art und Weise, wie er seine Waffe trug. Ein solch spezielles Holster verwendeten nur städtische Revolvermänner, die ihr Handwerk beherrschten und von der Profession her sehr schnell im Ziehen und außergewöhnlich gut im Schießen sein mussten. Die zweite Überlegung vermochte mein Kennerblick zu entkräften: Es handelte sich bei seiner Waffe um einen womöglich ­oftmals verwendeten, aber äußerst gepflegten modernen fünfschüssigen Trommelrevolver. Der Knauf war ein sogenannter Bird’s Head, also abgerundet. Kimme und Korn bildeten eine gerade, saubere Linie. Die Banditen waren so nah neben dem Zug hergeritten, dass er sicher ein oder zwei mühelos damit hätte treffen können, wenn er es nur ernstlich gewollt hätte. Blieb die dritte Möglichkeit.

Ich klopfte seine Anzugjacke ab und förderte schließlich neben einer dicken ledernen Geldbörse und einem Billett, welches bis nach Chetopah reichte, ein doppelt zusammengefaltetes, innen mit Tinte beschriebenes Papierblatt zutage. Bevor ich jedoch alle Fundstücke einer weiteren Begutachtung unterziehen konnte, wurde ich gestört.

„Warum habt Ihr den Gentleman da niedergeschlagen?“, fragte mich nämlich nun eine aufgeregt klingende, helle männliche Stimme. Sie gehörte ebenfalls einer Person, welche die Reise mit mir zusammen im selben Abteil angetreten hatte, aber unterwegs bislang sehr schweigsam geblieben war. Er stand hinter mir im Gang und hielt sich gegen die schaukelnde Bewegung des Zuges am Rahmen des Abteilzugangs fest. Es handelte sich bei ihm um einen halbdeutschen Prediger mit dem wohlklingenden Namen Thaddaeus Milford. Er gehörte zur ­Kirche der Vereinigten Brüder in Christo2, denen nicht nur der Glaube an Gott das Mitführen einer Waffe oder gar deren Einsatz verbot, sondern dessen Angehörige damit auch im Zweifel nicht umzugehen verstanden. Daher war er während des Feuergefechts still für alle vor sich hin betend in Deckung geblieben. Sicher aber handelte es sich nicht um einen Feigling, so, wie er sich nun einmischte.

Ich blickte langsam zu ihm und setzte zu einer erklärenden, gelassenen Antwort an. Er fügte jedoch bereits tadelnd, als würde er eine ­vorbereitete Unwahrheit von mir erwarten, hinzu: „Leugnet es nicht! Ich habe es genau gesehen, und der Herr ist mein Zeuge!“ Bei seinem ersten Satz deutete er zunächst mit seiner fleischigen Hand auf das Häufchen Elend von Blackstone, bei dem zweiten dann mit dem Zeigefinger erst auf mich und dann gen Wagenhimmel sowie darüber hinaus.

„Ich leugne es ja gar nicht!“, antwortete ich ruhig und ließ von dem Bewusstlosen ab. In einer Hand hielt ich die beiden Fundstücke.

„Dann wolltet Ihr ihn ausrauben, wie?“, fragte der Prediger misstrauisch. „Die Gunst der Situation nutzen, wie?“ Das jeweilige wie stieß er spitz zwischen den Lippen seines kleinen runden Mundes hervor. Überhaupt war dieser Diener ­Gottes ein echtes Kuriosum. Das freundliche, bartlose, rosige Vollmondgesicht glänzte in der Nachmittagssonne, deren gleißende Strahlen in den ­Waggon hinein ­fielen. Seine Augen verrieten Güte und Barmherzigkeit, und die große Knollennase mittendrin spottete jeder Beschreibung. Er trug die schwarze Halbsoutane in voller Überzeugung zu seinem Berufsstand und verfügte trotz seiner merkwürdigen Gesamterscheinung über das rechte Maß der erforderlichen Autorität. Vor dem ansehnlichen Bauch baumelte ein goldenes Kreuz mit falschen Rubinen an einer langen Kette, die bis um seinen Hals reichte. Seine Kopfbedeckung hatte er aufgrund der Temperaturen abgelegt, die im Zug herrschten, bevor die Scheiben zu Bruch gingen. Daher wehte nun sein etwas angegrautes nackenlanges, strähniges Haar leicht im hereindringenden Fahrtwind. Es erinnerte mich entfernt an Bildnisse auf alten Seegemälden, bei denen die Unbill des Meeres und Stürme als das Gesicht eines weißhaarigen göttlichen Greises dargestellt wurden.

„Ich weiß, wie das für Euch vielleicht aussehen muss, Hochwürden. Aber wenn ich es Euch erklären darf ...“, begann ich vorsichtig, um mich dabei der Höflichkeit halber gänzlich zu ihm hinzuwenden, wurde aber von ihm erneut unterbrochen.

„Du sollst nicht begehren deines Nächsten ­Dollars!“, gab er allen Ernstes mit der Inbrunst der Überzeugung, aber eben seiner hellen Stimme, von sich.

Ich warf einen kurzen Blick auf die offenbar gut gefüllte fremde Brieftasche in meiner Hand. „Heißt das an betreffender Stelle der Bibel nicht vielmehr: Du sollst nicht stehlen?“, entgegnete ich lächelnd. Die Anspannung der überstandenen Attacke der Räuberbande wich von mir. Der Angriff war vorüber, und von dem Mann Gottes hatte ich sicher nichts Ernsthaftes zu befürchten. Auch, so fiel mir ein, wenn ich bei früheren Reisen in dieser Gegend bereits leidlich andere Erfahrungen gemacht hatte.3

„Wie auch immer: Stehlen ist Sünde!“, sagte er bestimmend und verzog dabei seine eigenwillige Schnute. Er besaß darin Zähne wie Stifte, sorgsam voneinander durch sichtbare Zwischenräume getrennt.

Der Zug verlangsamte nun die Fahrt und kehrte allmählich zu seiner normalen Geschwindigkeit zurück, während er in eine weite Kurve bog. Die Lokomotive stieß einen schrillen, lang anhaltenden Pfiff aus, als Dampf abgelassen und damit sogleich signalisiert wurde, dass die Gefahr überstanden war. Es klang fast zu freudig. Auch die letzten männlichen Passagiere erhoben sich daraufhin und die Ehemänner unter ihnen halfen ihren Damen auf. Vier der Passagiere in diesem Waggon würden sich allerdings nie mehr erheben, wie ein anwesender Arzt alsbald feststellen sollte. Wie viele es in den anderen Waggons letztlich waren, blieb zunächst unklar. Drei weitere hier hatten ebenfalls, wenn auch leichtere, Schusswunden oder solche von umherfliegenden Glassplittern davongetragen, die zu versorgen jener Doktor sich nun eilends anschickte.

Es herrschte fortan unter den übrigen Passagieren eine erhebliche Aufgeregtheit nach den soeben erlebten Geschehnissen. Überall wurde schnell, zumeist in amerikanischen oder englischen Mundarten, jedoch auch in anderen europäischen Sprachen, durcheinandergeredet. Offenbar erörterte man dabei vor allem die Frage, ob man denn nun mit dem Zug anhalten oder lieber so schnell wie möglich die nächste Station erreichen solle. Diese lag allerdings immer noch etwa eineinhalb Reisestunden entfernt, aber ich hörte kaum hin und wandte mich wieder an den Prediger.

„Wir sollten uns lieber ebenfalls erst einmal um die anderen Fahrgäste kümmern. Sicher benötigt mancher nicht nur medizinischen, sondern auch seelischen Beistand!“, forderte ich in Anbetracht des herrschenden Tohuwabohus den Mann Gottes auf. Leider waren solche Überfälle auf Eisenbahnen und Kutschen in dieser rauen Gegend keine Einzelfälle, und immer wieder gab es dabei Tote und Verletzte zu beklagen – und trauernde Hinterbliebene. Diesmal schien es einigermaßen glimpflich ausgegangen zu sein. Einigermaßen!

Der Prediger blickte besorgt um sich, ohne mich dabei gänzlich aus den kleinen Augen zu lassen, und erkannte wie ich einige verstörte Gesichter. Irgendwo weinte ein älteres Kind, und an anderer Stelle jammerte eine Frau, deren Gatte bei dem Überfall sein Leben verloren hatte oder zumindest schwer verletzt worden war. Die rosige Zungenspitze des Predigers fuhr kurz über seine Lippen, als würde ihm hierdurch eine himmlische Erkenntnis zuteil, wie weit er mir trauen könne.

„Na schön“, meinte er dann. „Vielleicht sollten wir das wirklich. Über das hier reden wir später noch! Aber gebt dem Mann sofort seine Sachen zurück, Mister ...?“ Bei dem letzten Wort legte er den Kopf leicht schräg, was bei seinem Rundgesicht kaum etwas veränderte. Dabei sah er mich fragend an, wobei die hellen Augen geradewegs in die Meinigen blickten.

„Charly ...“, antwortete ich ihm sogleich freundlich mit sicherer Stimme, ohne seinem energischen Blick auszuweichen, und setzte meinen bürgerlichen Familiennamen hinzu. „Wie ich bereits zu Beginn der Reise sagte.“ Dann ergänzte ich: „Meine Freunde hier im Westen der Neuen Welt allerdings nennen mich auch ... Old Shatterhand!“

2.

Blicken wir etwas zurück: Vierzehn Tage war es her, dass ich New York im Auftrag der Tailor-­Detektei verlassen hatte. Wie der geneigte Leser wissen möge, hatte ich bereits vor wenigen Jahren einige Monate lang für jene berühmte Detektei gearbeitet. Dies aber lediglich, bis ich so viel erspart hatte, um nach einem da vorausgegangenen unseligen ­Schiffbruch vor den Keys wieder nach dem Westen vorstoßen zu können. Als ich dieses Mal in die Metro­pole an der Ostküste gelangte, um den durchaus lieb gewonnenen alten Josh Tailor zu besuchen, fragte er mich, ob ich nicht ausnahmsweise nochmals einen Fall übernehmen wolle. Einen, an dem sich mein Vorgänger allerdings die Zähne ausgebissen habe und schließlich gänzlich verschwunden sei. Es klang freilich ebenso besorgniserregend wie interessant, doch ich musste ihm entgegnen, hierfür eigentlich keine Muße zu haben, denn ich befand mich doch eigentlich auf dem Weg nach Montevideo. Allerdings bekniete er mich, versprach großartigste Bezahlung, die ich bei aller Bescheidenheit gar nicht ablehnen konnte, und erklärte mir dann bei gemeinsamem Zigarrenkonsum die Einzelheiten.

Die Angelegenheit, die mich daraufhin anfangs nach Kansas City führte, sollte der aufregendste Fall werden, mit dem ich je zu tun hatte. Aber das wusste ich freilich zu diesem Zeitpunkte noch nicht. Zunächst klang alles recht gewöhnlich: Ein in mehreren Bundesstaaten bis hin zu den Indianer-­Territorien des Mittelwestens tätiges namhaftes Frachtunternehmen büßte seit einiger Zeit in Kansas immer wieder an sich nur mäßig wertvolle Ladung ein, sei es durch Diebstahl oder durch Unterschlagung. Es war nicht die Tatsache selbst, sondern die Vielzahl der Fälle, die Kopfzerbrechen bereitete, denn dadurch ergab sich insgesamt dann doch ein beträchtlicher Schaden.

Da sich die örtlichen Behörden überfordert zeigten, weil ja nicht wirkliche Dinge von Wert abhandenkamen, hatte man schließlich Josh Tailor gebeten, mit seinem Detektiv-Korps der Angelegenheit auf den Grund zu gehen. So kam ich zu dem Auftrag, weil ich inzwischen auch ihm als erfahrener Westmann galt und über Erfahrungen in der Region verfügte, in welche die Spur führte. Von Shamus O’Conell, jenem Tailor-Detektiv irischer Herkunft, der vor mir mit exakt dieser Sache beschäftigt gewesen war, fehlte weiterhin jede Spur; die Nachforschungen in Kansas City blieben ohne Erfolg. Der abgewehrte Überfall stand zu der ganzen Angelegenheit kaum in einem Zusammenhang, denn bislang bedienten sich die geheimnisvollen Diebe niemals solcher Gewalt. Ganz im Gegenteil wurde stets versucht, das ­Abhandenkommen der Ladung zu verschleiern und so still und heimlich wie möglich vonstattengehen zu lassen.

Ich hatte es mit meinen Auftraggebern so ­arrangiert, dass eine ins bisherige Schema passende Fracht an Bord dieses Zuges befördert wurde, um herauszufinden, wie die Diebe vorgingen: also nichts besonders Wertvolles, vielleicht aber eben Interessantes für diejenigen, die hinter der Angelegenheit steckten.

Nachdem der Prediger und ich uns um die nach den Geschehnissen verstörten Passagiere unseres Waggons gekümmert hatten, kehrten wir zu dem Abteil zurück. Dort lag das Opfer meines Fausthiebes unverändert auf der Sitzbank. Blackstone erwachte nur allmählich aus dem Land der Träume, in das ihn mein Jagdhieb geschickt hatte. Um den Vorgang zu beschleunigen, erteilte ich ihm rechts und links mit der flachen Hand je zwei bis drei leichte Ohrfeigen. Tatsächlich öffnete er die Augen, schien einen Moment lang verwirrt, um sich dann jedoch schnell zu besinnen. Noch im Liegen fasste er mit einer Hand reflexartig zu dem Holster, in welchem normalerweise sein Revolver steckte. Dann richtete er sich mit verbissenem Gesichtsausdruck auf, bereit, möglicherweise handgreiflich zu werden. Er leckte sich die Lippen und sah anschließend wohl etwas klarer.

„Suchst du vielleicht den hier?“, fragte ich ihn mit betont freundlicher Stimme, hielt ihm aber zugleich den Revolver unter die Nase, um ihn von feindseligen Gedanken abzubringen. Mein Gegenüber erschrak sichtlich, Auge in Auge mit der Mündung, und prallte leicht zurück, soweit dies in der Sitzbank des Abteils überhaupt möglich war. Ich setzte mich neben ihn auf einen freien Platz, ohne den Lauf aus der Schussbahn zu lenken. Die Angst in Blackstones Augen war offensichtlich, und das wollte ich ausnutzen.

„Was ... was wollt Ihr von mir?“, brachte er leicht stotternd hervor. Er blickte an mir vorbei und erkannte den Mann der Kirche. „So helft mir! Der Kerl hier scheint wahnsinnig geworden zu sein!“, protestierte er dann.

„Der Kerl, wie du ihn bezeichnet, mein verirrtes Schaf, ist kein geringerer als Old Shatterhand!“, gab der Prediger zurück. „Und wir alle können froh und dankbar sein, dass der Herr ihn ausgerechnet diesen Zug hat nehmen lassen. Andernfalls wären wir jetzt wohl alle die Opfer jener Mörderbande geworden, die hier in der Gegend seit einiger Zeit ihr Unwesen treibt!“

„Old ... Old Shatterhand?“, fragte Blackstone ungläubig. Dessen Blick, der nun wieder zu mir wechselte, drückte erschrockenes Erstaunen aus. Dann fasste er sich ein wenig. „Ich habe durchaus wohl schon mal von Euch gehört“, sagte er und gab ein grunzendes Geräusch von sich. „Aber wenn Ihr tatsächlich Old Shatterhand seid, warum habt Ihr mich dann bewusstlos geschlagen und mir meine Waffe abgenommen?“ Unwillkürlich kam eine seiner Hände in die Höhe, um die Stelle an der Stirn zu betasten, an welcher ich ihn mit der Faust getroffen hatte. Dort würde es einen schönen blauen Fleck geben.

„Sagen wir mal so: Als uns die Banditen vorhin angriffen, hast du absichtlich danebengeschossen. Und ich frage mich natürlich, warum!“

„Absichtlich danebengeschossen? Herrgott! Das war doch nicht absichtlich! Ich war aufgeregt!“, erregte er sich erneut. „Und mit dem Smith & ­Wesson war es ein wesentlich schwierigeres Unterfangen, als von Euch mit Eurem Zaubergewehr da.“ Er machte eine kurze, deutende Bewegung mit dem Kopf zu dem Stutzen hin.

„Zweimal waren uns die Banditen so nahe, dass selbst ein Kriegsveteran ohne Augenlicht sie zu treffen vermochte, aber deine Kugeln gingen meilenweit daneben. Und das hier“ – ich hob den Revolver etwas an – „ist eine Waffe, mit der man trifft! Zudem, ja: Du warst aufgeregt! Das warst du aber auch schon, bevor der Überfall begann!“

„Was wollt Ihr damit sagen?“, brauste er auf.

„Dass du sehr wahrscheinlich wusstest, was auf uns alle zukommen würde“, fuhr ich ihn an. ­Blackstones Blick glitt nach unten. Er schwieg betreten.

Ein weiterer Mann, recht jung, schneidig, vielleicht nicht ganz Mitte zwanzig, gesellte sich nun zu uns, bevor ich die Befragung fortsetzen konnte. Im Schlepptau hatte er eine sehr schöne, schlanke, mädchenhafte Frau mit aufgestecktem, hellblondem Haar. Sie war sicher einige Jahre jünger als er, relativ hochgewachsen, dabei insgesamt eher zierlich. Die junge Dame trug ein die Figur exakt betonendes Kostüm aus lang herabfallendem dunkelblauem Faltenrock, heller, geschlossener Bluse mit Rüschen und zugehöriger Jacke. Letztere wurde vorne durch zwei große hölzerne Knöpfe zusammengehalten und zog sich recht fest um ihre schmale Taille. Ihr kleines, beinahe herzförmig zu nennendes Antlitz, strahlte eine unverkennbare Lebensfreude und Verliebtheit aus. Zwei makellose Schneidezähne blitzten hinter den Lippen ihres nicht sehr großen, leicht geöffneten Mundes hervor. Die Stupsnase zwischen ihren hellblauen Augen besaß etwas angenehm Verspieltes.

Mein erster Blick galt freilich der äußerst hübschen Person, ohne dass ich sie wirklich anstarrte. Erst mein zweiter Blick galt dem jungen Herrn an ihrer Seite. Er war beinahe so groß wie ich selbst und besaß äußerst markante Gesichtszüge, die mich ein wenig an Pueblo-Indianer erinnerten. Er trug das volle, braune Haar lang und wellig, bis etwas über die Schultern. Sein ansonsten scharf rasiertes, ­glattes Gesicht zierten die dünnen Streifen eines winzigen Kinn- und Schnauzbartes, die ihn nur geringfügig älter erscheinen ließen, als er es war. Seine grauen Augen wirkten ein wenig zu kalt für einen derart jungen Menschen, daher war ich überzeugt, dass er den Tod schon oft gesehen hatte. Er trug saubere Hosen über festem Schuhwerk mit hohem Schaft. Sein Oberkörper kleidete eine gut hüftlange, grobe dunkle Lederjacke, ein weißes Hemd sowie eine mit dünnen Fäden durchsetzte, ansonsten einfarbige Weste. Ein cremefarbener Binder um den Hals, der in einer fast zu schrägen breiten Schleife endete, sowie ein flacher, kreisrunder Filzhut mit breiter Krempe ohne Aufschlag rundeten seine Erscheinung ab.

„Was ist hier denn los?“, fragte er mit sicherer Stimme, die trotz seiner äußerlichen Jungenhaftigkeit bereits von ausgeprägter Lebenserfahrung, Durchsetzungswillen, Charakterstärke und ordentlichem Zigarettenkonsum zeugte. Besonderen Nachdruck erhielt seine Frage aber auch durch das angesteckte Abzeichen auf seiner Brust.

U.S. Marshal, STATE OF KANSAS, war dort zu lesen. Er musterte zunächst kurz den Prediger, dann Blackstone etwas länger, und schließlich mich noch ausgiebiger mit grimmigem Blick, da ich ja den Revolver in der Hand hielt. Die Finger der rechten Hand des Marshals lagen dabei wie zufällig locker um den Knauf seiner eigenen Waffe im ­Gürtelholster. Die Jacke hatte er zu diesem Zweck etwas zurückgeschoben. Er war zweifellos bereit, schnell zu ziehen und zu schießen, wenn es sein musste, und sicher war er sehr geübt in dieser Fertigkeit. In diesen Breiten überlebte man mit einem Stern an der Brust sonst womöglich nicht allzu lange. Ich legte den Revolver Blackstones, mich kurz und vorsichtig vorbeugend, auf den Sitz gegenüber, außerhalb meiner und der Reichweite des eigentlichen Eigentümers. Die Haltung des Marshals entspannte sich daraufhin etwas. „Also?“, fragte er dennoch recht scharf.

„Ich glaube, wir haben hier einen Verräter unter uns!“, antwortete ich und deutete mit einer Kopf­bewegung zu Blackstone hin.

„Einen Verräter? Wie meint Ihr das?“

Ich klärte ihn in wenigen Worten über die Situation sowie meine Beobachtungen auf, und auch darüber, dass ich den Mann deshalb zuvor niedergeschlagen hatte. Dabei nannte ich auch den Namen, unter dem ich im Westen bekannt war. Der Prediger bestätigte eifrig nickend alle meine Angaben.

„Old Shatterhand?“, hakte der Marshal nach. „Ich kenne nur einen