In den Schuhen des Anderen - Maurizio Poggio - E-Book

In den Schuhen des Anderen E-Book

Maurizio Poggio

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Beschreibung

Der Protagonist Martin hat auf einer Weltreise sein Gedächtnis verloren und versucht nach der Rückkehr in Deutschland seine Vergangenheit wiederzufinden. Dabei helfen ihm in Ansätzen seine Tagebuchaufzeichnungen, die er der Schwester aus unterschiedlichen Ländern geschickt hatte. In Berlin baut er sich ein neues Leben auf, wobei ihm seine alte Liebe Gitte, hilfreich zur Seite steht. Selbst unter großen Anstrengungen gelingt es ihm allerdings nicht, die Erinnerungen an sein vorheriges Leben zu vervollständigen. Erst auf einer Lesereise, welche ihn durch Europa führt und in Wien endet, erlangt er auf einem Friedhof vage Erinnerungen. Diese führen ihn nach Spanien. In Malaga findet er den Schlüssel, welcher ihm die Türe in die Vergangenheit öffnet. Um sich Gewissheit zu verschaffen reist er zunächst erneut nach Österreich und später mit seiner neuen Freundin nach Griechenland. Hier bietet sich ihm die Möglichkeit sein Lebenspuzzel zu vervollkommnen. Ein paar alte Schuhe, mit denen er häufig Friedhöfe besucht und von denen er sich nicht zu trennen vermag, spielen in seinem Leben eine wichtige Rolle.

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Das Schicksal ereilt uns oft auf Wegen, die man eingeschlagen hat, um ihm zu entgehen. -Jean de la Fontaine

In liebevoller Erinnerung der Familie Bugas gewidmet. Αφιερωμένο στην οικογένεια Μπουγά στη μνήμη του.

Inhaltsverzeichnis

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

1. Kapitel

Als der Mann dem Flugzeug am späten Nachmittag entstieg, wurde er von zwei Sanitätern in Empfang genommen, die ihn mit einem Rettungswagen in ein Krankenhaus brachten.

Nachdem ihm dort ein Bett zugewiesen worden war, betraten kurze Zeit später zwei Mediziner das Zimmer.

„Guten Tag Herr…., entschuldigen sie bitte, aber wir kennen ihren Namen leider nicht“, sagte einer der beiden. „Ich bin Doktor Bergheim, ihr behandelnder Neurologe und das ist Doktor Schmalz, der zuständige Chirurg. „Sie wissen wo sie sich hier befinden?“

Der Mann nickte und sagte: „In einer Berliner Klinik!“

„Das ist richtig. Sie befinden sich in der neurologischen Klinik der Charité. Wir haben einen Bericht von jenem Spital erhalten, welches ihre Erstversorgung im Ausland vorgenommen hat. Daraus ist ersichtlich, dass sie eine Form von Bewusstseinsstörung haben, die auf eine Hirnverletzung zurückzuführen ist.“

„Die Charité liegt doch in Ostberlin, in der DDR“, sagte der Mann und sah den weiß bekittelten fragend an, welcher ihm allerdings eine weitere Erklärung schuldig blieb.

Lediglich ein: „In der ehemaligen DDR“, lächelte der Mediziner. Der Chirurg, untersuchte die mit zehn Stichen genähte und mittlerweile gut verheilte Kopfwunde des Mannes.

„Wir gehen anhand dieses Berichts davon aus, dass ihr episodisches Langzeitgedächtnis betroffen ist, was wir Ärzte als retrograde Amnesie bezeichnen“, erklärte der Neurologe weiter. „Sie wurden aufgrund ihrer möglichen deutschen Staatsbürgerschaft unter Mitwirkung der deutschen Botschaft zu uns überwiesen, um die medizinische Ursache zu diagnostizieren. Das bedeutet, dass wir sowohl ihr Kurzzeit-, wie auch das Langzeitgedächtnis mithilfe von standardisierten Tests auf ihre Funktionen überprüfen. Gleichzeitig werden wir eine Kernspinund Computertomografie vornehmen, um eine Schädigung des Gehirns, die für die Amnesie verantwortlich sein kann, auszumachen. Damit lassen sich Hirnblutungen, Blutergüsse oder anderweitige Verletzungen erkennen, welche wir in einem solchen Fall behandeln werden. Der Krankheitsverlauf hängt stark von dieser Diagnostik ab und ist noch nicht vorhersehbar.“

Der Chirurg nahm erneut das Wort. „Wir sind allerdings lediglich für ihre medizinische Versorgung zuständig. Es werden sich während ihres Aufenthalts in unserem Haus zudem behördliche Stellen um die Klärung ihrer Identität bemühen.“

„Wir hoffen, dass sie uns bei unserer Arbeit nach bestem Vermögen unterstützen werden, was bestimmt auch in ihrem eigenen Interesse sein dürfte“, fügte Dr. Bergheim hinzu. „Aber nun ruhen sie sich erst einmal aus, denn die Reise war sicherlich anstrengend für sie. Wir werden morgen mit den Untersuchungen beginnen.“

Der Mann nickte und sah verstört zu ihm, als die Mediziner mit Genesungswünschen den Raum verließen. Tränen liefen über seine Wangen.

Was war mit ihm los? Warum konnte er sich nicht erinnern? Was war geschehen?

Alle Bemühungen Anhaltspunkte in seinem Leben zu finden, schlugen fehl.

Wer war er? Vermisste ihn jemand? Hatte er Familie?

So sehr er sich auch in dieser Nacht erinnern wollte, er konnte es nicht!

Am nächsten Morgen erschienen zwei Herren, die sich als Kriminalisten vorstellten, ihm Fingerabdrücke abnahmen und wieder diese, ihn beängstigenden Fragen stellten, welche er nicht zu beantworten wusste, ihm stattdessen Tränen in die Augen trieben.

Einfühlend brachen sie schließlich die Befragung ab und beteuerten, bevor sie ihn wieder verließen, dass sie sich bemühen würden, ihm zumindest sein behördliches Leben wiederzugeben.

Wie der Arzt angekündigt hatte, folgten in den darauffolgenden Tagen medizinische Untersuchungen und psychologische Tests, deren Ergebnis Dr. Bergheim ihm an diesem Tag mitteilte.

„Wie wir bereits vermuteten, erhärteten sich unsere anfänglichen Annahmen. Ihre Gedächtnisstörung wurde durch den Unfall, oder Überfall verursacht. Dabei erlitten sie ein Schädel-Hirn-Traumata. Nach dem CMT und MRT ihres Kopfes, konnten wir zum Glück keine Verletzungen ihres Gehirns feststellen. Bei ihrer retrograden Amnesie ist das episodische Langzeitgedächtnis betroffen, wobei das Gehirn im Hier und Jetzt kaum eingeschränkt ist. Wie sie selbst feststellen können, sind dagegen Information aus ihrem eigenen Leben verloren gegangen. In ihrem Fall wissen sie nicht mehr wer sie sind und was sich in ihrem Leben ereignet hat. Dieser Zustand kann für Minuten, Stunden, Tage, Wochen oder gar Monate und Jahre andauern. Sie sollten sich daher mit dem Gedanken vertraut machen, dass, auch wenn sich ihr Zustand wieder bessert und sich die Amnesie zum Teil zurückbildet, ein Teil des Gedächtnisverlusts bestehen bleiben wird. Zusammenhänge, Erlebnisse und Erinnerungen aus der Zeit vor dem Trauma bleiben für immer verschollen. Ich empfehle ihnen daher, sich in eine psychologische Behandlung zu begeben, da sie alleine, die auf sie zukommenden Belastungen nicht werden meistern können. Eventuell werden ihnen Psychopharmaka in der ersten Zeit dabei sehr hilfreich sein.

In ihrem Sinne kann ich aber erst einmal hoffen, dass die Behörden ihre Identität feststellen können. Heute Nachmittag haben sich Herren des Polizeipräsidiums angemeldet, die mit ihnen diesbezüglich sprechen möchten. Ich wünsche, dass ihnen das weiterhelfen wird.“ Mit einem bedrückenden Gesichtsausdruck und letztem Zuspruch verließ er das Zimmer.

Wie von dem Mediziner angekündigt besuchte den Mann am Nachmittag ein Beamter der Polizeibehörde.

„Mein Name ist Dietrich“, stellte er sich vor, „und ich habe ihnen erfreuliches mitzuteilen. Sie sind deutscher Staatsangehöriger und heißen Martin Zimmermann!“

Der Angesprochene schloss zunächst fest seine Augen, starrte ihn dann wortlos an, wobei seine Wangen feucht wurden. „Ich heiße ‘Martin Zimmermann‘“, stammelte er und wiederholte diesen Namen mehrfach.

Der Beamte ließ sich Zeit und wartete, bis der Mann sich wieder beruhigt hatte. Weiter teilte er ihm nochmals mit, dass sein Name Martin Zimmermann, und er am 24. April 1963 in Berlin geboren sei. Vor mehr als zehn Jahren habe er Deutschland verlassen. Auf der Berliner Stadtautobahn habe es einen tragischen Verkehrsunfall gegeben, bei dem seine Frau und die zwei Kinder ums Leben kamen.

Unruhig warf der Mann seinen Kopf von der einen auf die andere Seite und vergrub sein Gesicht anschließend in den Kissen.

Der Polizist wartete geduldig bis ihn der Mann fragend ansah. „Aus den damaligen Ermittlungsakten geht hervor, dass sie an diesem Unfall keine Schuld trugen, was sie zumindest ein wenig beruhigen dürfte. Dieses Ereignis wird sie wohl auch veranlasst haben, ein neues Leben zu beginnen, nachdem sie versucht hatten, sich das Leben zu nehmen. Weiter haben wir ermittelt, dass ihr Vater nicht mehr lebt, sie allerdings eine Schwester haben, die in Stuttgart wohnt. Ich gebe ihnen ihre Adresse und Rufnummer. Wir haben sie bereits unterrichtet, dass sie wieder in Deutschland sind, ihr aber nichts über ihren Gesundheitszustand mitgeteilt. Ich glaube, dass sie das später besser selber tun. Wir versicherten ihr allerdings, dass sie sich in absehbarer Zeit bei ihr melden würden. Ich hoffe, dass das in ihren Sinn war, Herr Zimmermann.“

Er hatte ihn bei einem Namen genannt, mit dem er nichts anfangen konnte. Aber es war ein Name! Es war ein Name, der eine Lebensgeschichte hatte. Eine Lebensgeschichte, die ihm verborgen war.

Der Mann nickte dankbar mit dem Kopf.

„Sie haben jetzt schon einmal eine Identität“, sprach der Beamte weiter, „aber sie werden noch einige Hürden überwinden müssen, damit sie diese auch belegen können. Dazu benötigen sie nämlich Personalpapiere. Sie bekommen von mir einen Behelfspass mit einer Gültigkeit von drei Wochen. In dieser Zeit müssen sie bei der Meldestelle ihren Ausweis oder Pass beantragt haben. Ich gehe einmal davon aus, dass sie ihre Schwester aufsuchen werden und eventuell zunächst auch bei ihr wohnen. Daher ist die Meldebehörde in Stuttgart sowohl für ihre Anmeldung der Adresse, wie auch die Beantragung der Personalpapiere zuständig. Ich habe ihnen zur Hilfe, neben den von mir bereits genannten Informationen ein Papier zusammengestellt, welches die notwendigen Schritte aufzeigt, die sie unternehmen müssen, um wieder ein vollwertiges Mitglied unserer Gesellschaft zu werden. Zusätzlich konnte ich, da sie anscheinend mittellos sind, vom Sozialamt einen kleinen Geldbetrag beschaffen, der ihnen über die ersten Runden helfen soll.

Der Beamte übergab ihm zweihundert Mark in Scheinen und Münzen, sowie eine kleine Mappe.

Nachdem der Mann den Empfang quittiert hatte, verabschiedete sich der Besucher mit einem freundlichen Lächeln und den besten Wünschen zu seinem weiteren Lebensweg.

Im Türrahmen blieb er noch einmal stehen. „Fast hätte ich es vergessen“, sagte er nachdenklich. „Sie wurden viele Jahre wegen Steuerhinterziehung und nicht abgeführter Sozialbeiträge polizeilich gesucht. Aber der Haftbefehl wurde wegen Verjährung der Tat vor neun Monaten aufgehoben, was allerdings nicht heißt, dass sie auch von den Zahlungsverpflichtungen befreit sind. In dieser Angelegenheit wird die Finanzbehörde irgendwann bei ihnen vorstellig. Aber jetzt werden sie erst einmal gesund.“

Er nickte dem Mann wohlwollend zu und verließ das Krankenzimmer. Am folgenden Morgen wurde er aus der Klinik entlassen.

*

Verlassen stand er in zerschlissenen Jeans, mit kaputten Schuhen und einem alten, braunen Hut auf dem Kopf vor dem Portal und wusste nicht, was er nun tun sollte. Dann entschied er sich, suchte die Telefonnummer der Schwester aus den Unterlagen heraus, ging zurück zum Empfang und erkundigte sich, wo er telefonieren könne. Die freundliche Dame wies auf eine Wand, an der einige Telefonapparate hingen.

Nachdem er die Münzen in den Automaten geworfen und die Nummer gewählt hatte, meldete sich eine weibliche Stimme. „Wer ist denn da?“, fragte die Frau zweimal, bevor der Mann leise sagte: „Hier spricht Martin Zimmermann. Sind sie meine Schwester?“ „Was stellst du für dumme Fragen? Natürlich bin ich deine Schwester! Wo bist du? Die Polizei in Berlin hat mich angerufen und mir gesagt, dass du in Deutschland bist.“

„Ich bin gerade aus dem Krankenhaus entlassen worden.“

„Hattest du einen Unfall? Bist du verletzt?“

„Es geht schon wieder. Kann ich zu ihnen kommen?“

„Was ist los? Warum siezt du mich?“

Der Mann schwieg.

„Bist du noch dran?“, wollte die Frau am anderen Ende der Leitung wissen.

„Ja!“

„Am besten, du kommst erst einmal zu uns. Hast du unsere Adresse?“

„Ja.“

„Wann wirst du hier sein?“

„Das weiß ich nicht. Ich muss erst einmal zum Bahnhof kommen und sehen, wann die Züge fahren.“

„Dann bist du also in Berlin? Darum auch der Anruf der Polizei von dort.“

„Ja.“

„Meldest du dich, wenn du die Zugauskunft hast?“

„Ja.“

Er hatte den Hörer zurück in die Schale gehängt.

Wenig später, nachdem er sich von der Auskunft die Zugverbindungen hat gegeben lassen, rief er erneut an und sagte der ihm unbekannten Frau, dass er in Kürze die Bahn besteigen und um 20:53 Uhr in Stuttgart ankommen werde.

„Ich hole dich natürlich am Bahnhof ab“, sagte sie ihm.

„Aber wie erkenne ich sie?“

Sie hatte bereits abgehängt.

*

Als er dem Zug entstiegen war und auf dem Bahnsteig stand, lief eine dunkelhaarige, gut gekleidete Frau auf ihn zu.

„Martin“, rief sie und umarmte ihn herzlich.

Der Mann löste sich, bevor sie ihm einen Kuss geben konnte.

„Was ist los? Willst du der Gabi keinen Kuss geben?“, fragte sie verdutzt.

„Ich…, ich kenne sie nicht! Und es ist mir peinlich, eine fremde Frau zu küssen!“

„Ich bin doch keine fremde Frau, ich bin deine Schwester!“

„Das hat man mir gesagt, aber ich kenne sie trotzdem nicht, tut mir leid.“

„Was ist mit dir? Was ist geschehen?“

„Später! Ich erkläre es ihnen später, bitte.“

„Gut, lasse uns erst einmal nach Hause fahren“, forderte sie ihn auf und nahm seinen schmuddeligen Rucksack auf.

„Lassen sie, ich trage ihn lieber selber“, sagte der Mann und nahm ihr das Gepäckstück aus der Hand.

Sie fuhren vom Bahnhof zu einer Siedlung in den Ortsteil Degerloch, welcher aus Einfamilienhäusern bestand. Die Frau hielt vor einem schmucken Haus mit ockerfarbenem Anstrich und kleinem Vorgärten.

„Wir sind da“, sagte sie und forderte ihn auf, auszusteigen.

Zögernd nahm er seinen Rucksack und folgte ihr zum Eingang. Hauke ist noch nicht zuhause. Er musste auf eine Sitzung und ich weiß, dass das länger dauern kann.“

Dem Mann war es mulmig zumute, als sie ihm das Haus zeigte, bevor sie sich im Wohnzimmer auf das Sofa setzten. Sie bot ihm ein Glas Wein an.

„Ich weiß nicht, ob ich Alkohol vertrage?“, sagte er.

„Na, nun komm schon, du hast doch immer einen guten Tropfen getrunken. Jetzt nicht mehr?“

„Ich weiß es nicht!“

„Was ist los? Du bist so komisch, siezt mich und tust so, als seien wir Fremde.“

„Es ist nicht so einfach“, stotterte er. „Die ganze Situation, alles was ich nach dem Ereignis erlebe, ist mir so fremd, manchmal gar unheimlich!“

„Was für ein Ereignis?“, hakte die Frau nach. „Was ist mit dir geschehen?“

„Ich…., ich habe…, Ich habe meine Erinnerungen verloren“, erklärte er und begann zu weinen.

Als er sich wieder ein wenig beruhigt hatte, sprach er weiter: „Bei mir wurde in Berlin eine retrograde Amnesie festgestellt.“

„Was heißt das?“, wollte seine Schwester wissen.

„Das heißt, dass ich keine persönlichen Erinnerungen an die Zeit vor dem Ereignis habe. Ich kenne keine Orte, an denen ich war, weiß nicht, was ich gemacht habe und bis vorgestern auch nicht, wer ich überhaupt bin. Jetzt habe ich zwar einen Namen, kann damit aber nichts anfangen!“

„Das ist ja schlimm! Aber ich bin deine Schwester und werde dir natürlich so gut helfen, wie es mir möglich ist. Was war denn dieses Ereignis, der Auslöser für diese Amnesie?“

„Ich weiß es nicht! Auch die Polizei nicht.“

„Komm, lasse dich in den Arm nehmen und trösten! Du bist mein Bruder Martin und wir haben uns immer gut verstanden.“

„Ich habe zwar jetzt wieder eine Identität, aber keine Persönlichkeit. Es werden wohl noch viele Schwierigkeiten vor mir liegen, zumal ich noch nicht einmal einen Pass oder so etwas besitze.

Gabi nahm seinen Kopf in ihre Hände, streichelte ihn lange und gab ihm einen Kuss auf die Wange. Erneut rannen Tränen an ihnen entlang, die ihre Lippen benetzten. Dann legte er seinen Kopf auf ihre Schultern und seufzte: „Es ist so verdammt schwer, damit umzugehen.“

„Das glaube ich dir, Bruder! Wir werden dir helfen zumindest ein Stück deines Lebens zurückzuholen.“

Martin war bei ihren Worten eingeschlafen.

Sie ließ ihn zurücksinken, legte seine Beine hoch und deckte ihn zu. Lange stand sie neben ihm und sah ihn an.

Er war gealtert, hatte stark an Gewicht verloren und wie sie beim Sprechen bemerkte, fehlten ihm zwei Vorderzähne. Sein Haar war schüttern und an manchen Stellen grau geworden. Er musste viel durchgemacht haben!

Als ihr Mann nach Hause kam, erzählte sie von der Zusammenkunft mit dem Bruder und dass er nun im Wohnzimmer schlafe.

„Wie lange wird er bleiben?“, erkundigte sich Hauke.

„Das weiß ich nicht, er ist sehr verstört und unsicher. Es wird schwierig für ihn sein, sich in unserer Welt zurechtzufinden. Zuerst muss er sich um Personalpapiere bemühen. Ich werde ihn daher morgen oder besser übermorgen zur Meldestelle begleiten, um auch selbst zu erfahren, wie es weitergeht.“

„Mache das mein Schatz“, ermutigte er sie. „Schließlich ist er dein Bruder und ich weiß, wie sehr du ihn vermisst hast. Als ich dir empfohlen habe, ihn für tot erklären zu lassen, hast du dich immer vehement dagegen ausgesprochen, weil du der Überzeugung warst, dass er noch lebe. Wie nun zu sehen ist, hattest du mal wieder, wie immer recht!“ „Auf jeden Fall muss ich ihm in dieser schwierigen Zeit zur Seite stehen“, beendete sie das Gespräch und ging schlafen.

Die Schwester hatte das Gästezimmer für Martin gerichtet, wo er den kommenden Tag verschlief.

Am Abend lernte er den Schwager kennen. Beide waren sich auf Anhieb sympathisch.

Sie aßen gemeinsam zu Abend, wobei weder Gabi, noch Hauke sein Leben ansprachen, was dem Mann mehr als recht war, denn eigentlich wollte er die Sache mit sich allein ausmachen, obwohl er wusste, dass er seine Vergangenheit nur mithilfe anderer Menschen wiederfinden konnte. Er brauchte dafür aber noch Zeit!

*

Als der Beamte von seinem Schreibtisch aufstand und hinter dem Tresen nach den Wünschen der Antragsteller gefragt hatte, hielt Martin ihm den Behelfsausweis hin. „Den habe ich von der Polizei in Berlin bekommen. Man sagte mir, dass ich mich bei einer Meldestelle vorstellen solle, um richtige Papiere zu bekommen.“

„Dazu benötige ich ihre Geburtsurkunde und wenn sie verheiratet sind auch die Heiratsurkunde des zuständigen Standesamtes.“ Der Mann drehte sich um und weinte.

„Ich glaube, ich muss ihnen da etwas erklären“, ergriff Gabi das Wort. „Sie entschuldigen, aber mein Bruder leidet unter irgendeiner Amnesie. Ich habe den lateinischen Begriff vergessen, aber er hat sein Gedächtnis verloren und war viele Jahre im Ausland. Jetzt ist er wieder in Deutschland und braucht einen Ausweis!“

„Das tut mir leid, aber zur Ausstellung von Personalpapieren wie Ausweis oder Reisepass benötige ich die bereits genannten Urkunden und ein Passbild ihres Bruders. Ich nehme an, dass er derzeit bei ihnen wohnt. Ich kann natürlich schon einen Aktenvermerk anlegen, damit er bei uns zumindest registriert ist. Darf ich ihren Ausweis haben?“

Der Beamte setzte sich wieder an seinen Schreibtisch und füllte ein Formular aus. Anschließend wünschte er Martin, der sich wieder umgedreht hatte, viel Glück und sagte: „Das wird schon wieder“, wohl sich der Bedeutung seiner Worte nicht bewusst.

Noch bevor sie nach Hause fuhren, besuchten sie einen Fotografen, der die benötigten Bilder von Martin machte.

Gabi brachte sie nach der Entwicklung noch am Nachmittag zur Meldestelle.

Als sie später im Wohnzimmer zusammensaßen, holte die Schwester verschiedene Kladden aus dem Schrank, wovon einige stark verunreinigt und eingerissen waren.

„Das sind Sachen, die du mir immer mal wieder aus aller Welt geschickt hast. Da gibt es Reisebeschreibungen, aber auch Geschichten, wovon ich nicht weiß, ob du sie erfunden, oder erlebt hast? Sie sind nämlich mit einem Pseudonym versehen.“

Bevor der Mann die Schriftsachen in die Hand nahm, fragte er: „Was für ein Pseudonym?“

„Du hast sie entweder selbst unter einem französischen Namen geschrieben, oder die Texte stammen von einer anderen Person. Ich weiß den Namen allerdings nicht mehr. Schließlich kam die letzte Post von dir vor über vier Jahren.“

Sie sah in eines der Hefte. „Jean-Baptist Petit“, ist der Verfasser. Martin schwieg und sann über den gerade gehörten Namen nach. Es schien ihm, als kenne er diesen. Zumindest hatte er ihn schon einmal gehört. Jedoch scheute er sich die Hefte aufzuschlagen, hatte Angst, mit der Vergangenheit konfrontiert zu werden, mit der er nichts anzufangen wusste.

„Möchtest du nicht nachschauen, was du, oder der andere Mann geschrieben hat?“, forderte ihn seine Schwester zum Lesen auf und schob die auf dem Tisch liegenden Kladden in seine Richtung.

Weitere Minuten des Schweigens verstrichen, bevor er den Mut fasste, eine der zahlreichen Hefte aufzuschlagen.

Es war eine Aufzählung von Kurzgeschichten, die mit dem gerade gehörten Namen übertitelt waren.

Lange konnten sich seine Augen davon nicht lösen. Dann überflog er das Inhaltsverzeichnis und las sich in eine der Geschichten ein. Ein Anflug von bruchstückhafter Kenntnis, jedoch kein genaues Wissen überkam ihn. Er nahm eine zweite Kladde auf, welche keinen Verfasser aufwies, in der diesmal Reiseberichte aus Indien und Nepal zu lesen waren.

„Ich muss mich damit in Ruhe auseinandersetzen“, sagte er und starrte Löcher in die Luft.

„Da musst du wohl überall gewesen sein“, resümierte die Schwester und fügte hinzu: „Du hast so viel Zeit, wie du brauchst. Vielleicht helfen dir die Aufzeichnungen, dich zu erinnern? Wir müssen aber auch sehen, dass wir die Unterlagen für die Meldebehörde beschaffen. Schließlich ist es wichtig, dass du legitimiert wirst. Ich werde gleich mit dem Standesamt in Berlin telefonieren, wo und wie wir schnellstens deine Geburts- und Heiratsurkunde herbekommen. Ich lasse dich also erst einmal alleine.“

Gabi stand bereits in der Türe, als sie ihn fragen hörte: „Erzähle mir etwas von uns, von unserer Kindheit und Jugendzeit. Sage mir etwas über unsere Eltern, über mein Leben und vielleicht auch etwas über meine Ehe, sofern du Einblick darin hattest.“

Die Schwester war auf diese Frage nicht gefasst. Hatte sie schließlich die Befürchtung, der Bruder könne die Wahrheit noch nicht verkraften.

Was sollte sie ihm erzählen? Die schrecklichen Begebenheiten im Elternhaus? Ihm sagen, wie furchtbar ihrer beiden Kindheit verlaufen war?‘

„Ich glaube, dass wir damit noch warten sollten“, denn es ist nicht so leicht zu ertragen, was damals alles vorgefallen ist.“

„Glaubst du, dass es später einfacher sein wird, die Wahrheit zu erfahren?“, entgegnete Martin. „Ich habe in den letzten Wochen immer gehofft, dass mir zumindest bruchstückhafte Erinnerungen zufliegen würden. Doch alle Überlegungen, alles Grübeln, blieb bereits in Ansätzen erfolglos! Es ist deprimierend nicht zu wissen, wer und was man war. Ich bin nur im Jetzt gegenwärtig! Ein Vorher gibt es in meinem Leben nicht. Da ist es doch nebensächlich, wie das Leben dieses, ja wie soll ich es bezeichnen, dieses Anderen verlaufen ist. Ich glaube auch nicht, wenn ich die Vergangenheit präsentiert bekäme, mich damit identifizieren zu können. Selbst mit diesem Namen: `Martin Zimmermann‘ weiß ich in Wirklichkeit nichts anzufangen und du bist mir auch immer noch fremd, obwohl ich unsere familiäre Bindung mittlerweile akzeptiere. Zukünftig muss ich wohl noch weiteres als Gegebenheit hinnehmen, auch wenn ich es emotional weder einzuordnen, noch zu verstehen vermag.“

Martin sah betrübt auf die vor ihm liegenden Hefte, welche sein Leben, zumindest in Ausschnitten, wiedergeben würden.

„Auf der einen Art bin ich gespannt darauf, was über mich hierin zu lesen ist, auf der anderen Seite befürchte ich, mich darin nicht wiederzufinden. Dass der Mensch, welcher die Zeilen verfasst hat, mit mir überhaupt nichts zu tun hat.

Aber ich glaube, dass ein Außenstehender es nicht verstehen kann. Es wird für mich schwierig werden, mich in der Gesellschaft einzufinden und noch schwieriger, von dieser Gesellschaft akzeptiert zu werden.“ „Ach Bruder“, sagte Gabi und sah Martin in die Augen, welcher jedoch ihrem Blick auswich.

„Du solltest dir den Kopf nicht so schwermachen. Vielleicht kommt ja doch alles wieder zurück. Möglicherweise braucht es nur noch ein wenig mehr Zeit. Lasse uns zunächst die behördlichen Sachen erledigen und mithilfe eines Psychologen die Vergangenheit aufarbeiten, denn ich bin mir nicht im Klaren darüber, ob ich dir in diesem Zustand alles sagen darf.“

„Ist es so schlimm?“

„Schlimm genug, um es dir vor dem Besuch eines Fachmanns vorzuenthalten. Ich werde mich, nachdem ich mit Berlin telefoniert habe, bei der Krankenversicherung nach einer Mitgliedschaft für dich erkundigen. Ohne Versicherungsschutz bekommen wir nämlich keinen Arzttermin, außer wir greifen ganz tief in die Tasche. Ich denke auch, dass uns das Sozialamt unterstützen wird. Du siehst, es gibt sehr viel zu tun. Am besten ist wohl, dass während ich diese Sachen erledige, du in deinen Aufzeichnungen liest.

Martin nickte. „Das muss wohl alles sein, damit ich zumindest halbwegs wieder ein Mensch werden kann.“

Bevor Gabi den Raum nun endgültig verlassen wollte, fiel ihr Blick auf Martins Schuhe.

„Ich glaube, wir sollten dir erst einmal ein paar Schuhe kaufen. Diese Treter sind ja vollkommen ausgelatscht. Mit ihnen kannst du dich nicht weiter unter die Menschheit wagen. Auch brauchst du insgesamt neue Sachen. Vielleicht passt dir ja etwas von Hauke?“

Noch bevor der Bruder seinen Widerspruch anbringen konnte, hatte Gabi die Türe hinter sich geschlossen.

Martin nahm nacheinander die Hefte in die Hand, blätterte sie kurz durch und legte sie nebeneinander zurück auf den Tisch. Dann entschied er sich für ein zerfleddertes Exemplar, nahm es hoch, besah es sich lange und entschloss sich es zu lesen.

Der Verfasser, von dem er nun annehmen musste, dass er es war, schilderte darin seine Ankunft in Istanbul.

*

Áls der Zug nach einer 48 stündigen Fahrt, mit kreischenden Bremsen in der Halle des Bahnhofs Istanbul-Sirkeci zum Stehen gekommen war, verließ er ihn unsicheren Schrittes. Wie ein Seemann, der nach langer Fahrt erstmals wieder festen Boden unter den Füßen spürte.

Anhand des Stadtplans war der Weg zu seiner nahegelegenen Unterkunft schnell gefunden und zurückgelegt. Er hatte sich ein Hotel der unteren Preisklasse für eine Übernachtung ausgesucht.

Dort machte er sich frisch und wechselte die Kleidung. Wichtig war dabei, den Blick auf das lockende Bett zu vermeiden, denn er hatte seit fast fünfzig Stunden kaum geschlafen und war todmüde.

Der Mittag war schwül und heiß, doch lockte die prächtige Stadt mit ihren unzähligen Sehenswürdigkeiten. Da musste der Schlaf noch etwas warten!

Istanbul, die Stadt am Goldenen Horn, war wie Rom auf sieben Hügeln errichtet und im Laufe seiner langen Geschichte mit sieben Namen versehen: Byzanz, Konstantinopel, Istanbul, Nova Roma, Zarigrad, Anthusa, Dar el-Sadat. Man traf hier auf eine reizvolle Mischung aus Abend- und Morgenland, Modernem und Archaischem, Orient und Okzident.

Die meisten historischen Gebäude waren vom Bahnhof Sirkeci aus sehr gut zu Fuß zu erreichen. Auf einer Fläche von ungefähr drei mal zwei Kilometer konzentrieren sich hier in Bahnhofsnähe die Highlights der Stadt.

Der Basar war ein unüberschaubarer, aber auch faszinierender Ort! Eine kleine, fremde Welt für sich. Ein Ort voller ungewohnter Gerüche und Geräusche. Viele Kilometer zogen sich die überdachten, im Halbdunkel liegenden Gassen, wie ein Labyrinth kreuz und quer hindurch. .

Die Geschäftsleute saßen geduldig auf ihren Teppichen und Stühlen in, oder vor ihren offenen Läden und beobachten wachsamen Blickes das Geschehen. Sie boten an, wägten ab, rauchten Zigarette,n oder nuckelten an Wasserpfeifen, redeten und tranken Tee. Bahnte sich ein Geschäft an, so standen die Verkäufer jedem Besucher mit ihren goldenen oder silbernen Waren, den Edelsteinen und Teppichen, dem Hausrat und den Lebensmitteln, der Kleidung aus Stoff, Seide oder Leder, den bunten, zu Türmen gehäuften Süßigkeiten und den betörend duftenden Gewürzen bereitwillig zur Verfügung.

Ein Tabakladen bot Meerschaumpfeifen an. Man zeigte Interesse und bekam einen Tee angeboten. Das Geschäftliche konnte erst einmal warten! Zuerst wurde Alltägliches debattiert und auf Deutsch nach dem Woher und Wohin gefragt. „Alemanya gut! Beckenbauer gut!“

Erst langsam näherte er sich dem Grund seiner Anwesenheit hier und dabei den Objekten der Begierde. Er hatte selbstverständlich gehandelt, wie es sich auf einem Basar gehörte, und war stolz auf den letztendlich erzielten Preis. Der Händler gab ihm jedenfalls das Gefühl, als Sieger aus diesem ungleichen Wettbewerb hervorgegangen zu sein.

Er kehrte irgendwo innerhalb des Basars in eine Lokanta ein und genoss reichlich von den orientalischen Gaumenfreuden. Hammelfleisch mit Reis und viele süße, unbekannte Sachen. Anschließend beendete er zufrieden und erschöpft den Tag in der Stadt auf den sieben Hügeln und lief zu seinem Hotel zurück. Endlich schlafen, schlafen, schlafen.

Die Abfahrt des Busses nach Izmir, dieses sagte man ihm im Hotel, war für elf Uhr von einer ‚‘Otobüsleri‘, einer modernen Karawanserei, auf dem asiatischen Teil vorgesehen.

Rechtzeitig stand er unausgeschlafen auf und nahm nach einem hastigen Frühstück eine Fähre, die ihn über das Getümmel des Bosporus, der Meerenge, die Europa von Asien trennte.

An der Anlegestelle war er unsicher, ob er in Üsküdar oder Harem gelandet war. Der Stadtplan half ihm auf der Suche nach dem Busbahnhof nicht weiter.

Als er sich mehrmals verlaufen hatte, fragte er einen vorübereilenden Passanten nach dem Weg.

Der Angesprochene, in Hemd und Krawatte, ein Aktenbündel unter dem Arm und offenbar in Eile, deutete mit seinem freien Arm in die Richtung, der er folgen solle. Die Erklärungen, welche der Mann in türkischer Sprache vorbrachte, wurden offensichtlich nicht verstanden, wie der ratlose Gesichtsausdruck seines Gegenübers erkennen ließ.

Da der Einheimische sich unverstanden fühlte, resignierte er, sah zum Himmel und geleitete ihn schließlich innerhalb der nächsten 20 Minuten quer durch die vor Hitze glühende Stadt. Zunächst steuerte er den Ticketschalter des Busbahnhofs an und brachte ihn anschließend gar noch zu seinem Bus. Händeschüttelnd verabschiedete er sich von dem Fremden und eilte davon.

Knappe zehn Stunden würde er für die rund 600 Kilometer mit dem nicht mehr neuen Bus brauchen, wurde ihm gesagt. Das Personal am Fahrkartenschalter hütete sich jedoch irgendwelche konkreten Angaben hinsichtlich der Ankunftszeit zu machen. Vieles könne geschehen, gab man zu bedenken, Regen könne die Straßen unpassierbar machen, ein Defekt den Bus außer Betrieb setzen, der Fahrer erkranken und Allah...

So oder so ähnlich lauteten die Auskünfte. Selbstverständlich gebe es einen Fahrplan, aber....

Der betagte Bus, in dem der Motor unter einer Abdeckhaube in der Fahrgastkabine montiert war, bot ihm genug Platz, um die Beine auszustrecken und auf eine angenehme Fahrt zu hoffen. Er musste nicht frieren, zumal die Sonne einerseits durch eine Dachluke und anderseits durch die Seitenscheiben brannte. Zudem wärmte ihn noch der Motorblock.

Die Luft flimmerte als er die Stadt verließ.

An den Haltestellen gab es den üblichen Wechsel an Fahrgästen. Gelegentlich wurden auch einige Hühner mitgenommen. Richtig voll wurde der Bus aber nie.

Die Mitreisenden suchten öfter den Kontakt zu ihm.

Hier in der Abgeschiedenheit traf er Menschen, die ihm herzlich zugetan waren und immer wieder die alte, deutsch-türkische Freundschaft hervorhoben. Der Fahrer, ein hünenhafter Kerl um die Dreißig, mit kantigem Gesicht, niedriger Stirn und kurz geschorenen Haare,n blieb ihm bis Izmir treu. Er hatte sein Möglichstes getan, den Fahrgästen die Fahrt so abwechslungsreich wie möglich zu gestalten. Manchmal pfiff er vor sich hin, ein anderes Mal sang er türkische Weisen.

Er fuhr den Bus nicht. Er ritt ihn!

So jedenfalls sah es aus, wie er auf der Kante des Sitzes, die er nur mit der Unterseite seiner Schenkel knapp berührte, mit halb zugekniffenen Augen durch das Fenster nach vorne blickte. Dabei peinigte er das kariöse Getriebe, wo es nur ging.

Vermutlich um die Fahrzeit zu verkürzen oder einem Kunden einen Gefallen zu tun, nahm er hinter Bursa, nicht wie vorgesehen die Hauptstraße geradeaus durch die Sümpfe nach Karacabey, sondern fuhr über die kaum befestigte Makadam-Straße in Richtung Mustafa Kemalpasa.

Auf der Karte war dazu eingetragen: ‘Karawanenweg, nur in Trockenzeiten beschränkt nutzbar‘.

Irgendwann verlor sich der staubige Fahrweg und endete auf einem Bauernhof.

Schluss! Das Vehikel stand. Es ging nicht weiter!

Umkehren?

Neugierig kamen einige Menschen neugierig aus dem Gehöft und den naheliegenden Feldern, bestaunten sowohl den Bus, wie auch dessen Insassen und vor allem ihn.

Halbwilde Hunde liefen irritiert umher und heulten furchterregend.

Es gab ein lautes und langanhaltendes Palaver zwischen den Bauernsleuten und dem Fahrer. Auch die anderen, mitleidenden Fahrgäste diskutierten lebhaft und laut miteinander, während er die Ereignisse interessiert und orientalisch-gelassen registrierte.

Mit sorgsam gedrosselter Geschwindigkeit überquerte der Fahrer nach einer Weile unter Führung eines Bauern einen Hühnerhof, durchfuhr einen mit brackigem Regenwasser gefüllten Bach und kam schließlich nach langer Schleichfahrt wieder auf eine befestigte Piste.

Später, kurz vor Balikesir, schien er wieder auf die richtige Straße gekommen zu sein. Gerade noch rechtzeitig, denn nun wurde es dunkel. ‘ Welch weise Propheten doch in dem Schalterhäuschen in Istanbul saßen!

Kurz nach Balikesir gab es sogar die in Aussicht gestellte Panne! Eine Bremsleitung hatte sich gelöst. Der Fahrer war jedoch in der Lage, diesen Schaden mit Hilfe des Schnürsenkels seines Turnschuhs selbst behelfsmäßig zu richten. Er musste allerdings alle paar Minuten den korrekten Sitz des Bändchens überprüfen und ihn gelegentlich neu justieren.

An der nächsten Tankstelle kümmerte sich dann erfahrenes Personal um den Schaden.

Zwischenzeitlich war es Mitternacht geworden.

Gegen drei Uhr erreichte er tatsächlich Izmir, fand schlaftrunken ein Zimmer im Efes-Hotel und fiel umgehend in ein Bett.

Nach tiefem Schlaf und einem späten und guten Frühstück, dem ersten seit Tagen, verließ er das Hotel und begab sich zu dem in der Nachbarschaft gelegenen Busbahnhof, denn seine Reise war in Izmir, dem alten Smyrna und der Heimat Homers, noch lange nicht beendet.

Er war bereits zeitig an der ‘Otobüslerie‘, um den Bus nach Kusadasi, der nachmittags um halb zwei abfahren sollte, nicht zu verpassen. Man konnte ja nie wissen, ob und wann der Bus das Terminal verlassen würde.

Auf der Station gab es die übliche emsige Geschäftigkeit. Busse fuhren unter lautem Hupen ab, oder kamen an. Menschen liefen hin und her. Hunderte waren in der Hitze auf den Beinen, um sich auf den Weg zu einem neuen Ziel zu machen.

Die fünfundneunzig Kilometer legte der neuere Bus in etwas mehr als zwei Stunden ohne Zwischenfälle zurück. Pünktlich kam er in dem idyllischen Ort Kusadasi an. Die letzten zehn Kilometer zu seinem Quartier fuhr er mit einem Dolmus, einem Sammeltaxi, in welchem sechs Leute Platz fanden.

‘Emek Palas-Oteli‘, Palast-Hotel! Welch eine grandiose Übertreibung! Es handelte sich hierbei um ein zweigeschossiges, sehr spartanisch eingerichtetes, einfachstes Nullsternehotel. Das weiß getünchte, winzige Zimmer enthielt lediglich einen kleinen Schrank, ein schmales Bett und einen wackeligen Stuhl. Dafür war der Preis niedrig und ließ daher auch kein Begehr auf Komfort zu. Außer ihm gab es nur wenige Gäste, die jeweils ebenfalls nur sehr kurze Zeit blieben.

Gegenüber dieser Herberge lag der Strand.

Um zu ihm zu gelangen musste nur die schmale Küstenstraße überquert werden.

Der kleine Sandstrand in einer sichelförmigen Bucht, welche von senkrechten Klippen begrenzt war, wurde regelmäßig mit Seegras und Tang überspült. Nachdem die nicht gerade groß zu nennende Flut sich zurückzog, trocknete das struppige Grün und es roch nach Meer.

Am Horizont war die Silhouette der griechischen Insel Samos zu erkennen.

Am Abend ging an dieser Stelle die Sonne rotglühend unter und tauchte alles in ein wundervolles, warmes Licht.

An einem Abend seines dreitägigen Aufenthalts gesellten sich drei junge Türken zu ihm. Dabei wurde große Weltpolitik gemacht.

Als der Blick seiner türkischen Freunde dabei in Richtung des griechischen Samos schweifte, verfinsterten sich die Mienen. Jeder von ihnen nahm einen kräftigen Schluck aus der mitgebrachten Rakiflasche und fuhr mit einer fahrigen Bewegung der waagerecht ausgestreckten Hand dicht an seine Kehle und rief laut: “Makarios! Ritz, ritz!“

Das war metaphorisch dafür, dem verhassten Erzbischof von Zypern, Makarios, die Kehle durchzuschneiden.

Anschließend wurde noch dem englischen Königshaus der sinnbildliche Garaus gemacht.

Es folgte die erneute Beteuerung der deutsch-türkischen Freundschaft. Dabei wurde an das gemeinsame Bündnis, des ruhmreichen Kemal Pasa, den die Türken als Atatürk verehren, mit Kaiser Wilhelm II. erinnert. Zwischenzeitlich war auch die zweite Flasche Raki geleert.

Außer Gras, dürrem Buschwerk, Fels, ein paar Bäumen und natürlich dem Palast-Hotel des Herrn Emek verteilten sich einige kleine Wohnhäuser entlang der Straße.

Etwa eine halbe Fußwegstunde querfeldein befand sich in der hügeligen Landschaft noch eine verlassene Hütte, neben der auf dem Boden ein leerer Benzinkanister mit der Prägung ‘Deutsche Wehrmacht‘ lag. Sicherlich gehörte er einmal zu dem Bus, der ihn von Istanbul nach Izmir transportiert hatte.

Plötzlich hielt oben an der Abbruchkante ein Polizeijeep mit quietschenden Reifen.

Vier Uniformierte stiegen aus, kamen zum Strand herunter und sahen verlangend nach dem Raki.

Ohne zu fragen setzten sie sich zu der Gruppe und tranken von dem Schnaps. Unter Verstärkung der halben Polizeitruppe Kusadasis mussten Makarios und Königin Elizabeth dann noch mehrfach ihr Leben lassen.

Der Oberleutnant, Vorgesetzter seiner Mannschaft, schickte unentwegt nach Bier und weiterem Schnaps.

Mittlerweile war es dunkel und alle betrunken!

Taumelnd wankten die Polizisten zu ihrem Jeep und luden ihn ein, jetzt sofort das Gefängnis von Kusadasi zu besichtigen.

Da einer der Polizisten nur noch unvollständig bekleidetet war und der Trunkenheit wegen laufend in den Sand fiel, trug er die Maschinenpistole des Beamten zum Wagen.

Sternhagelvoll fuhren sie mit dem offenen Jeep im Zickzack in Richtung Kusadasi. Unterwegs musste er sich einmal, aus dem fahrenden Fahrzeug beugend, übergeben.

Am folgenden Tag war er fürchterlich verkatert und blieb mit kalten Umschlägen auf dem Kopf im Bett. Schließlich sollte seine Reise erst am nächsten Morgen fortgesetzt werden, so dass er sich auskurieren konnte.

Dem bestellten Taxi, welches ihm für eine Besichtigungstour zur Verfügung stehen sollte, bevor es ihn später an der Busstation absetzen würde, fehlte die vordere rechte Türe. So war es eine sehr luftige Fahrt, die ihn die hohen Temperaturen nicht gar so sehr spüren ließ.

Der Taxifahrer führte ihn zu einem Wohnhaus, in dem einst Maria, die Mutter des Jesus von Nazareth, gewohnt haben und gestorben sein soll.

Nun stand er an der berühmten Wiese namens ‘Asia‘, die einem ganzen Erdteil seinen Namen gegeben hatte: ‘Asien‘!

Mit einem modernen Bus ging es über Antalya weiter nach Manavgat, wo er die Zeit am Meer verbrachte.

Es war für ihn ungewohnt, unter freiem Himmel zu schlafen.

Drei Tage später stellte er sich wieder an die Straße und erreichte per Autostopp, mit einem fröhlichen und singenden LKW-Fahrer, nach zwei Tagen Gaziantep. Hier nächtigte er in einem drittklassigen Hotel, nachdem er im Zimmer und der Etagendusche etliche Kakerlaken erschlagen hatte.

Tags danach setzte er seine Reise teils zu Fuß, teils als Mitfahrer auf der Ladefläche eines klapprigen Lieferwagens nach Birecik am Euphrat fort. Dort winkte ihn ein älterer Mann zu sich heran, welcher ihn auf ein umzäuntes Grundstück führte. Es handelte sich um ein Fidilirgi Müdürlügü, ein städtisches Forstamt, wo er einige Tage verweilte.

Hier konnte er an einem Brunnen Wäsche waschen und seine Sachen in Ordnung bringen. Der Direktor des Amtes bat ihn gar einige Male zum Essen. Sie verständigten sich auf Französisch.

Bei einem Spaziergang durch den Ort lernte er einen türkischen Berliner kennen, der ihn zu sich nach Hause einlud. Dort servierte dessen Frau deutschen Kaffee und als der Besucher seinen Beruf preisgab, tauchten auch gleich mehrere Elektroprobleme auf, die es zu beseitigen galt. Als Entlohnung gab es am Abend ein köstliches, türkisches Mahl.

Auf dem Weg zurück zum Forstamt wurden in der Stadt drei kommunistische Terroristen erschossen und ein kleines Kind totgetrampelt. –Grausam-! Später, er saß mit dem Direktor bei einem OK-Spiel zusammen, wurde im Fernsehen von einem Konflikt zwischen dem Iran und den USA berichtet. Drei amerikanische Hubschrauber seien über iranischem Hoheitsgebiet abgeschossen worden, übersetzte der Forstbeamte.

Bedenken über seine geplante Route kamen auf. Er erwog, seine Reise statt über Persien, besser über Syrien, Jordanien, Israel und Ägypten fortzusetzen, entschied sich letztendlich doch für den ursprünglichen Weg.

Schließlich galt es auch hier Abschied zu nehmen, denn er hatte noch einen langen Weg vor sich, deren Endpunkt er allerdings nicht kannte. Der Weg war sein Ziel!

Über Urfa mit dem Abrahamteich, in welchem heilige Karpfen schwammen, ging es die 260 km in acht Stunden mit einem alten LKW weiter durch Anatolien nach Diyarbakir, wo er ein billiges Hotel fand.

Nach den 14 Nächten, die er ausschließlich im Schlafsack verbracht hatte, erholte sich sein Rücken hier in einem, wenn auch nicht gerade sauberen Bett.

Gut ausgeschlafen ging es am nächsten Tag nach einem süßen Frühstück mit dem Bus weiter in Richtung Landesinnere, nach Elazig. Kaum 40 km waren gefahren, als der Motor stotterte, um wenig später am Haziggölü den Dienst völlig zu versagen.

Notgedrungen baute er an einem kleinen See in der Nähe eines kleinen Dorfes sein Zelt auf.

Ein Lehrer hatte die grüne Kugel am See gesehen und kam mit seiner Klasse, gefolgt von der Hälfte der männlichen Dorfbewohner, zu ihm. Sehr viele von ihnen sprachen ein verständliches deutsch. Die Schulkinder küssten ihm bei der Begrüßung die Hand, was er anfangs abzulehnen versuchte. Doch erklärte ihm der Lehrer, dass das so Sitte sei.

Am Abend angelte er mit Mehmet, dem Lehrer und sie brieten die Fische über einem Holzfeuer. Anschließend lud der Türke ihn ein, auf seinem Weltempfänger deutsche Nachrichten zu hören. Dabei kam ihm zu Ohren, dass im Iran die amerikanische Botschaft gestürmt worden sei und etliche Botschaftsangehörige als Geiseln genommen wurden. Kurz zuvor war der Ayatollah Chomeni in das Land gekommen, nachdem der Schah geflüchtet war. Es wurde die islamische Republik ausgerufen.

Bevor er weiter gen Osten zog, musste er noch an einem dreitägigen Hochzeitsfest teilnehmen, wobei die Frauen von den Männern getrennt feierten.

Auf den Straßen sah man sie ohnehin nur selten und wenn, waren sie verschleiert.

Mit Traktoren, Pickups und verwahrlosten Lastkraftwagen erreichte er schließlich drei Tage später einen weiteren See, den ‘Vangölü‘, zu Deutsch: ‘Wannsee‘, an dessen Ufer die Stadt Tatvan lag.

Im Reiseführer hatte er gelesen, dass von dort eine Fähre auf die andere Seite nach Van fahren sollte.

Er erkundigte sich nach den Abfahrzeiten und bekam zur Antwort, dass man das nicht genau wisse, da ein Zug nach Teheran erwartet würde, dessen Ankunft allerdings zwischen einem und drei Tagen variieren könne.

An der Anlegestelle langweilte er sich. Hin und wieder gesellten sich einige dubiose Gestalten zu ihm, wollten wissen, wer er sei, was er hier täte und wohin er wolle?

Lediglich die unweit gelegene kleine Lokanta bot ihm ein wenig Abwechslung, wo er sich an Kartenspielen beteiligte.

Der englischsprechende Kapitän bot ihm schließlich an, während der Wartezeit auf seinem Schiff schlafen zu können und zeigte ihm eine leere Kajüte. Auch für sein leibliches Wohl, sowie eine heiße Dusche sorgte der Schiffsführer.

Vier Tage später, es war schon dunkel, rumpelte ein Güterzug mit sechs Waggons auf das Schiff.

Kurz nachdem die Fähre abgelegt hatte, bat man ihn zum Käpt´n, der auf der Back ein üppiges Mahl, Raki und Wein bereitstellen ließ.

Es wurde viel erzählt und noch mehr gelacht, wobei sich die Flaschen leerten und die Bäuche füllten.

Die Fahrzeit über den See betrug normalerweise nicht mehr als fünf Stunden. diesmal kam die Fähre allerdings erst am frühen Morgen des nächsten Tages am gegenüberliegenden Ufer an.

Die Frage, warum das Übersetzen so lange gedauert habe, beantwortete der Kapitän folgendermaßen: „Ich hatte schon lange nicht mehr die Gelegenheit mit einem zivilisierten Menschen zu feiern. Da sind wir einfach auf dem See herumgefahren.“

Dem Zug nach Teheran konnte die weitere Verzögerung wohl egal gewesen sein.

Nach einer kurzen Besichtigung der Stadt Van ging es zur Ausfallstraße, wo ihn, kaum hatte er den Daumen erhoben, ein LKW mitnahm. Der Fahrer erklärte, dass es zunächst nur bis Erciş gehen würde, um dort Ladung aufzunehmen. Danach würde er in den Iran weiterfahren.

In der Stadt, über Schotterstraßen fahrend angekommen, erwies es sich, dass die Ladung nicht vorhanden war und man auch nicht sagen könne, wann sie eintreffen würde.

Ihm blieb nichts anderes übrig, als sich wieder auf den Weg zur Durchgangsstraße zu machen, um einen anderen Lift zu bekommen.

Er musste nicht lange warten, dass ihn ein Pickup mitnahm, der ihn nach Agri brachte.

Der Fahrer setzte ihn direkt vor einer Polizeistation ab.

Ein Mann kam aus der Türe. Mit einer Schlafanzughose, welche zu kurz war, offener Dienstjacke und einer schiefsitzenden Mütze auf dem Kopf, stellte sich der nun vor ihm stehende Mann als diensthabender Polizist vor. Er sprach gebrochenes Englisch.

Die Frage nach einem günstigen Hotel beantwortete er mit einer Einladung in sein Dienstzimmer wo ihm Tee aus einem schmutzigen Glas angeboten wurde.

Ein Hotelzimmer sei viel zu teuer und bei dem schönen Wetter wäre der vor der Polizeistation liegende Park doch genau das Richtige.

Wieder auf der Straße pfiff er durch zwei Finger, wonach zwei uniformierte Männer herbeieilten. Anscheinend gab er ihnen die Anweisung, die Nacht über den Park zu bewachen, wo der Gast übernachten würde.

Es war eine ruhige Nacht, die allerdings bereits um fünf Uhr endete. Zu dieser Zeit weckte ihn der Polizist, dessen Dienst zu Ende ging, um ihn in eine Pastane einzuladen, wo sie gemeinsam Cay tranken und eine süße Kleinigkeit zu sich nahmen. Anschließend stoppte er einen nagelneuen Mercedes- LKW, der in den Iran überführt werden sollte.

Der Beamte öffnete die Beifahrertüre und nahm fünf Zigarettenschachteln, welche auf dem Beifahrersitz lagen an sich. Widerspruchslos ließ der bulgarische Fahrer das zu. Anscheinend dienten sie bei unvorhersehbaren Situationen als Bakschisch. Es war wohl in der Türkei eine gängige Praxis, auf die der Fahrer vorbereitet war.

Nun erklärte der Polizist dem Fahrer, dass er von nun an einen Fahrgast mindestens bis zur iranischen Grenze zu befördern habe. Er würde die Kollegen am Kontrollpunkt bitten, zu überprüfen ob dieser Lastkraftwagen, dessen KFZ-Nummer er sich notierte, mit zwei Leuten besetzt sei. Sollte das nicht der Fall sein, könne er mit Bestimmtheit, nicht mehr in dieses Land einreisen. Was blieb dem Fahrer übrig, als den Tramp mitzunehmen? Egal ob ihm das nun passte oder nicht.

Der Chauffeur zog ein missmutiges Gesicht, als der Fahrgast nach einer herzlichen Verabschiedung von seinem uniformierten Helfer zustieg und die Türe hinter sich schloss.

Der Truck setzte sich in Bewegung.

Im Schatten des schneebedeckten Agri Dagi, dem Ararat, dessen Spitze in der Sonne leuchtete, rastete der Fahrer, zog einen kleinen Teppich hinter seinem Sitz hervor, richtete sich nach Mekka, kniete nieder und betete.

35 Kilometer waren es noch bis zur iranischen Grenze, welche sie auch bald erreichten.

Die Abfertigung auf der türkischen Seite verlief zügig und problemlos. Anders gestaltete sich die Sache am iranischen Kontrollpunkt! Entgegen der Eintragungen im Reiseführer benötigten nach der Machtübernahme auch deutsche Staatsbürger ein Visum. Dieses wäre beim iranischen Konsulat in Erzurum erhältlich.

Was blieb ihm übrig, als die rund 280 km Strecke auf sich zu nehmen, um ein Visa zu bekommen?

Er fuhr mit einem Dolmuş, welches ihn in etwas mehr als fünf Stunden in die ostanatolische Provinzhauptstadt auf knapp 2000 Meter Höhe brachte.

Allerdings war es Freitag, der muslemische Sonntag, an dem sämtliche Behörden geschlossen hatten.

Erst am nächsten Tag erhielt er das begehrte Papier, welches ihm gestattete, sich zwei Wochen im Iran aufzuhalten.

Wieder zurück zur Grenze, wo ihm diesmal die Einreise gestattet wurde.

*

Gabi hatte mehrmals ins Zimmer geschaut, wollte Martin allerdings beim Lesen nicht stören. Hoffte sie doch, dass in seinen Aufzeichnungen Erinnerungen wach würden.

Nun saß er, das Heft in der Hand, aufgerichtet auf dem Sofa und starrte an die Decke.

„Wie geht es dir?“, fragte sie ihn leise.

Er sah sie lange an, dann sagte er: „Du bist meine Schwester Gabi und wir haben zusammengespielt, dann warst du böse zu mir und ich habe deine Puppe zerschlagen!“

„Martin“, schrie die Frau, lief auf ihn zu und umarmte ihn. „Du erinnerst dich! Du weißt wieder alles?“

Der Mann schüttelte den Kopf. „Nein, ich habe gerade nur dieses eine Bild gesehen, mehr nicht!“

„Aber das ist doch schon einmal etwas. Das heißt doch, dass deine Erinnerungen wiederkommen. Ein gutes Zeichen!“

„Meinst du?“, fragte er mit einem Anflug von Lächeln auf dem Gesicht.

„Auf jeden Fall ist es ein zuversichtlicher Anfang“, bestätigte sie und küsste ihn auf die Wange.

„Ich habe mit dem Sozialamt und dem Standesamt in Berlin gesprochen. Du musst einen schriftlichen Antrag stellen, um die nötigen Urkunden zu erhalten und die Dame im Sozialamt bittet dich bei ihr vorzusprechen. Sie glaubt, dass sie etwas für dich tun kann. Wir sollten gleich morgen früh zu ihr gehen.“

„Ich danke dir, dass du mir hilfst“, sagte Martin. „Aber sollten wir nicht einmal zu unserer Mutter gehen, vielleicht erkenne ich sie ja?“ „Der Vater ist vor zwei Jahren gestorben und die Mutter hatte daraufhin einen Schlaganfall. Später erkrankte sie an Alzheimer. Ihr Zustand verschlimmerte sich schnell und sie erkannte sogar mich nicht mehr. Selbst Telefonate hatten keinen Zweck. Sie sprach nur noch wirres Zeug. Es blieb uns nichts Anderes übrig, als sie in ein Pflegeheim zu geben, damit sie professionell versorgt wird.

Die Schwester machte eine Pause, bevor sie weitersprach. „Sei froh darüber, denn solltest du dich an sie erinnern, wäre das vielleicht ein weiterer Schock für dich, den du möglicherweise nicht verkraften könntest! Lasse uns erst einen Psychiater oder Psychologen finden, der uns sagt was dir in deinem Zustand zuzumuten ist.“

„Dann erzähle mir wenigstens, was damals auf der Autobahn in Berlin geschehen ist. Die Beamten in Berlin haben mich bereits darüber aufgeklärt, dass ich meine Familie zu Tode gefahren habe.“

„Nein, das hast du nicht! Du hast sie nicht umgebracht! Wie wir wissen, hast du deine Kinder aus dem Kindergarten abgeholt, bevor du auch Doris an ihrer Arbeitsstelle in dem VW-Bus mitnahmst. Ihr befandet euch auf dem Weg nach Hause, als du am Hohenzollerndamm vorbeikamst. Ein junger Mann fuhr mit seinem BMW in diesem Moment mit 60 Stundenkilometer die Auffahrt hinunter, verlor die Kontrolle über seinen Wagen und krachte in euer Auto. Du hattest keine Chance ihm auszuweichen, weil dich in diesem Moment gerade ein anderes Auto überholte.“

Gabi stockte und Tränen rannen über ihre Wangen.

„Der Bus wurde zwischen Beifahrersitz wo Doris saß und den Rücksitzen voll getroffen, so dass er umkippte und auf den überholenden Wagen stürzte. Doris und Evelin sollen sofort tot gewesen sein, wogegen die kleine Birgit in der Nacht darauf ihr Leben verlor. Du warst bewusstlos und lagst mehrere Tage im Koma. Der Fahrer des Unfallwagens und der in Mitleidenschaft gezogene Fahrer kamen mit leichten Verletzungen davon.

Ein halbes Jahr später wurde der Fall vor Gericht verhandelt, wo der Verursacher, der wie sich herausstellte angetrunken war, wegen Körperverletzung mit Todesfolge in drei, und Körperverletzung in zwei Fällen, zu drei Jahren und sechs Monaten Freiheitsstrafe verurteilt wurde“ An dieser Stelle wollte die Schwester ihren Bericht beenden, doch bohrte Martin nach.

„Wie alt waren die Kinder?“, wollte er wissen.

„Evelin war gerade vier geworden und Birgit drei.“

„Waren wir glücklich verheiratet?“

„Du hast zwar viel gearbeitet, aber ich denke schon.“

Die Frau war aufgestanden und zur Anrichte gegangen, wo sie ein Fotoalbum aus der unteren Schublade holte.

Sie setzte sich neben ihren Bruder und schlug das Album auf. Ein Bild zeigte eine junge Frau mit zwei lächelnden Kleinkindern an der Hand vor einem schmucken Häuschen.

„Das sind sie vor eurem Haus in Zehlendorf.“

Sie blätterte weiter.

Auf dem nächsten Bild posierte die ganze Familie vor einem schön geschmückten Tannenbaum.

„Es war das Weihnachten vor dem Unfall. Hauke und ich waren bei Euch zu Besuch und Hauke hat dabei das Bild gemacht. Doch, ihr seid eine glückliche Familie gewesen!“

„Wie ging es nach dem Unfall weiter?“, fragte Martin, der sich mit den gezeigten Bildern nicht identifizieren konnte und ihm die dargestellte Frau und Kinder fremd waren.

„Nachdem du aus dem Koma erwacht warst, hast du Hals über Kopf, ohne den Eltern oder uns eine Nachricht zu hinterlassen, Deutschland verlassen. Wichtig ist aber, dass wir dich jetzt wiederhaben!“

„Es tut mir leid“, sagte Martin leise. „Wahrscheinlich wusste ich nicht was ich tat“, entschuldigte er sich. „Wenn du mir das alles erzählst, kannst du mir doch auch von unserer Kindheit und den Eltern etwas erzählen.“

„Ich sagte dir doch schon, dass ich das nicht möchte.“

„Schlimmer als das, was ich gerade gehört habe, kann es doch nicht sein?“

„Ist es lieber Bruder! Es könnte dich vollkommen aus der Bahn werfen!“

„Gut, dann werde ich warten bis der Psychodoktor seine Zustimmung gegeben hat und nicht weiter in dich dringen.“

„Lasse uns jetzt das Schreiben an das Standesamt aufsetzen, damit sie uns bald die Heirats- und deine Geburtsurkunde zuschicken können, denn ohne diese Papiere musst du weiter auf die Ausstellung eines Personalausweises warten.“

Gabi half ihrem Bruder bei der Formulierung des Briefes, was ihr als gelernte Rechtsanwaltsgehilfin nicht schwerfiel.

Am Abend nahm sich Martin die Kladde von dem Stapel, ging damit auf sein Zimmer und las weiter.

*

Bei einem Geldwechsler tauschte er kurz hinter der Grenze seine türkischen Lira in iranische Rial und hielt an der Straße den Daumen hoch, um eine Mitnahmemöglichkeit zu bekommen. Es stellt sich aber bald heraus, dass in diesem Land das Trampen wesentlich schwieriger war, als in der Türkei.

Nach einer sehr langen Wartezeit nahm ihn ein türkischer Fahrer endlich mit. Mit ihm erreichte er Täbriz. Weitere Stunden des Wartens vergingen, ehe ein PKW anhielt, um ihn die gesamte Strecke von über 600 km mitzunehmen. Bei den guten Straßenverhältnissen dauerte die Fahrt kaum sechs Stunden.

Der Fahrer ließ es sich nicht nehmen, ihn bis vor das Youth Hostel zu fahren. Hier war es ihm nach langer Zeit wieder einmal möglich zu duschen und seine Wäsche zu waschen.

Als er durch die Straßen von Teheran lief, sah er tausende, schwarz vermummte Frauen mit erhobenen Fäusten und Schmährufen auf den amerikanischen Präsidenten Carter, über die Ferdowsi Avenue in Richtung der besetzten amerikanischen Botschaft laufen. Etwas weiter wurde gerade deren Flagge verbrannt.

In der Jugendherberge bekam er den Hinweis, ein deutsches Emblem an den Rucksack zu heften, um nicht für einen Amerikaner gehalten zu werden, was ihn in erhebliche Schwierigkeiten bringen würde.

Der nächste Weg führte ihn am folgenden Tag zur deutschen Vertretung, wo er sich nach den Einreisebestimmungen für Afghanistan erkundigte.

Man erklärte ihm, dass es derzeit nicht ratsam, nein gar unmöglich sei, das Nachbarland zu bereisen, da es von sowjetischen Truppen besetzt worden wäre und es zu kriegerischen Handlungen käme. Die einzige Möglichkeit in Richtung Osten weiterzukommen, sei die Route über Pakistan. Zahedan im Süden des Iran wäre die einzig mögliche Grenzstation.

Er blieb noch weitere zwei Tage in der Hauptstadt, in welcher es zunehmend rumorte.

Auf dem Postamt sandte er ein Telegramm an seinen Geschäftsführer, in welchem er um eine Geldzahlung nach Isfahan bat.

Zusätzlich besorgte er sich bei der pakistanischen Botschaft ein kostenpflichtiges Visum für das Land, dessen Bearbeitung zwei Tage in Anspruch nahm und begab sich erneut auf die Weiterreise.

Die über 1600 km lange Strecke über Isfahan wollte er mit dem Bus zurücklegen. Schließlich konnte er sich die Schönheit dieser Stadt nicht entgehen lassen.

Dort angekommen bestaunte er die zahlreichen Prachtbauten und Gärten. Die Nachfrage nach einer Expressüberweisung wurde abschlägig beschieden. Ein Telefonat nach Germany würde ca. drei Tage dauern, erklärte man ihm auf dem Telegrafenamt. Also schickte er eine neue Nachricht, worin er diesmal von seinem Betriebsleiter eine sofortige Zahlung auf sein Privatkonto einforderte.

Schließlich wurde es höchste Zeit zur Grenze zu kommen, denn sein Iranvisum lief bald ab.

Es ging mit einem klimatisierten Luxusbus in 24 Stunden durch die Wüste Lut, an einigen Oasen vorbei, nach Zahedan, einer Stadt im Süden des Iran. Zur Grenze waren es noch einmal 120 km, die er in einem überhitzten Sammeltaxi bewältigte.

An einer Hüttenansammlung hielt der Fahrer und bedeutete, dass hier die Grenze sei.

Keine Landesflaggen, kein Zoll- oder Grenzhäuschen waren erkennbar. Am Ende des Dorfes sah er einen Mann auf einer baufälligen Terrasse sitzen. Er trug eine Dienstmütze.

Als er ihn kommen sah, zog er eine Dienstjacke über den Schlafanzug und gebot dem Reisenden die Papiere vorzuzeigen, bevor er die islamische Republik verlassen könne.

Um seinen Schlaf wohl fortzusetzen drückte er schnell einen Stempel in den Pass und entließ den Deutschen, wobei er auf ein großes Steinfeld zeigte. Dahinten sei Pakistan sagte er noch, bevor er die Dienstjacke wieder auszog.

*

Martin fiel das Heft aus der Hand. Er war eingeschlafen. Am Morgen war er früh erwacht, war in die Küche gegangen und hatte sich einen Kaffee zubereitet, als Hauke hinzukam.

„Nun Schwager“, begrüßte er Martin. „Wie geht es dir? Fühlst du dich hier schon ein Stück zuhause?“

„Es geht nicht so einfach, wie du dir das vielleicht vorstellst. Hier bei euch ist alles erträglich, aber die Welt da draußen, die Zivilisation und meine Umstände machen mir weiterhin Angst.“

„Die brauchst du bestimmt nicht zu haben! Gabi kümmert sich um dich und ist dir bei allen Angelegenheiten soweit behilflich, wie es ihr nur möglich ist. Und solltest du meine Hilfe benötigen, so brauchst du es mir nur zu sagen. Ich helfe dir gerne, denn schließlich gehörst du ja zur Familie!“

Martin wollte gerade etwas sagen, als seine Schwester ins Zimmer kam.

„Gut geschlafen?“, fragte sie ihn.

„So gut wie lange nicht mehr“, entgegnete Martin. Mir ist beim Lesen sogar die Kladde aus den Händen gefallen. Es strengt mich doch alles sehr an. Vor allem wenn ich etwas lese, wobei ich einen Zipfel von Kenntnis in meinem Kopf habe. Versuche ich jedoch Zusammenhänge herzustellen, entgleiten mir die Gedanken und ich stehe wieder vor der großen Mauer des Nichterkennbaren. Du wirst bestimmt verstehen, dass mich das sehr frustriert.“

„Lasse den Kopf nicht hängen. Noch wissen wir nicht, ob dir ein Arzt weiterhelfen kann. Du musst der Situation positiv gegenüberstehen. Heute machen wir auf jeden Fall einen großen Schritt in dein neues Leben. Schließlich gibt es nicht nur eine Vergangenheit, sondern auch eine Zukunft!“

„Ein zukünftiges Leben ist aber nur ein halbes, wenn man keine Vergangenheit hat“, widersprach er.

Gabi sah Hauke fragend an.

„Ich muss los“, sagte er. „Ich bin schon spät dran. Macht’s gut ihr Beiden. Wir sehen uns am Abend.“

Er zog sich eine Jacke über, und verließ den Raum. Draußen hörte man einen Motor starten.

„Wir sollten uns dann wohl auch fertigmachen“, mahnte die Schwester. „Das Sozialamt öffnet um acht Uhr. Wollen wir mal sehen, was in Haukes Kleiderschrank für dich zu finden ist. Schließlich solltest du einen guten Eindruck bei den Behörden machen.“

Sie nahm ihren Bruder bei der Hand und zog ihn hinter sich her ins Obergeschoss, wo sie den großen, verspiegelten Kleiderschrank öffnete.

Gabi entnahm ihm einen Anzug und warf ihn aufs Bett. „Er müsste dir passen“, forderte sie ihn auf die Kleidungsstücke anzuprobieren und suchte im Hemdenregal weiter.

„So etwas ziehe ich nicht an“, widersprach Martin. „Das passt nicht zu mir!“

„Du hast doch früher gerne Anzüge getragen“, sagte sie erstaunt. „Was passt dir denn daran nicht?“

„Es ist nicht mein Stil. Ich würde mich darin nicht wohl fühlen. Hast du nicht etwas Legereres?“

Sie suchte eine dunkle Bundhose, ein blaues Hemd und einen dunkelblauen Pullover heraus. „Wäre das vielleicht nach deinem Geschmack?“, wollte sie wissen und sah ihn fragend an.

Zögernd probierte Martin die Sachen an. „Na ja, das geht gerade so. Aber wohl fühle ich mich darin nicht!“

„Es steht dir aber gut und du machst darin einen besseren Eindruck, als in deinen zerschlissenen Jeans. Fehlen nur noch die Schuhe. Deine können wir ohnehin in die Mülltonne werfen. Mit denen kannst du nirgendwo mehr hingehen.“

Martin hob die abgetragenen Schuhe hoch und drückte sie an seine Brust. „Die werden nicht weggeworfen“, sagte er entschieden. „Sie sind ein Stück meiner Vergangenheit!“

Die Schwester wollte sie ihm gerade wegnehmen, als sie sich eines Besseren besann.

‘Er hängt daran. Vielleicht hat er recht? Vielleicht würden diese alten, teilweise kaputten Schuhe ihm helfen, sich zu erinnern? Wer weiß, was er mit ihnen erlebt hat?‘

Sie zog ihre Hände zurück und entschuldigte sich. „Natürlich, es sind deine Schuhe und ich habe kein Recht darüber zu entscheiden. Behalte sie, wenn du so daran hängst. Aber tue mir den Gefallen, heute welche von Hauke anzuziehen. Als auch Gabi sich fertiggemacht hatte, verließen sie das Haus.

Schon wenig später saßen sie einer Sachbearbeiterin des Sozialamtes gegenüber.

Nachdem Gabi ihr den Sachverhalt erklärt hatte, schob die Dame Martin einen Fragebogen hin, den er nicht fähig war auszufüllen. Die Frau übernahm das für ihn, soweit er ihre Fragen beantworten konnte. Nach einigen Telefonaten, die sie unter anderem mit der Meldestelle führte, wandte sie sich wieder Martin zu. „In Anbetracht ihrer jetzigen Situation Herr Zimmermann, und der Tatsache, dass sie eine einstweilige Wohnanschrift bei ihrer Schwester haben, werde ich die Sozialhilfe für sie bewilligen. Auf welches Konto soll denn die Beihilfe überwiesen werden?“

„Ich glaube, ich habe kein Konto mehr“, entschuldigte sich Martin.

„Sie glauben, oder wissen nich, dass sie kein Konto haben?“

„Ich weiß es nicht!“

„Dann müssen sie eins eröffnen, damit wir das Geld überweisen können!“

Gabi schaltete sich ein. „Wie soll er ein Konto eröffnen, wenn er keine Personalpapiere hat? Kann er das Geld einstweilen nicht in bar ausgezahlt bekommen?“

„Ich kann ihm jetzt einen Barscheck ausstellen, den er in jeder Bankfiliale einlösen kann. Er sollte sich aber, sobald er neue Papiere bekommen hat, schnellstmöglich ein Konto einrichten. Ein Mann ohne Konto ist doch kein vollkommener Mensch!“

Sie lächelte Gabi an und fügte hinzu: „Sie verstehen was ich meine, nicht wahr?“

Dann wandte sie sich wieder Martin zu. „Ich habe bereits die Übernahme ihrer Krankenversicherung bei der AOK veranlasst. Sie müssen sich jetzt mit der Bescheinigung die ich ihnen gebe dort vorstellen, damit sie auch zu einem Arzt gehen können. Dieser muss ihnen bestätigen, dass sie arbeitsunfähig sind. Andernfalls muss ich die Übergangszahlungen sofort wieder einstellen und sie müssen sich beim Arbeitsamt um eine Stelle bemühen.“

Martin bedankte sich, wonach ihn die Frau mit den Worten: „Ich wünsche ihnen für die Zukunft alles Gute“, verabschiedete.

Gabi zog ihren Mundwinkel hoch, um der Sachbearbeiterin zu bedeuten, dass dieser Satz wohl völlig fehl am Platze war.

Noch am gleichen Vormittag besuchten sie die Geschäftsstelle der örtlichen Krankenversicherung, um auch hier einen entsprechenden Antrag zu stellen.

Anschließend gingen sie auf Martins Wunsch in ein türkisches Restaurant.

Beim Essen schien er sich an etwas zu erinnern, konnte aber nicht sagen, an was. Er kannte jedoch den Geschmack und war sich sicher, ihn schon einmal genossen zu haben. Oder waren es die Geschichten, die er gelesen hatte und die Gedanken daran ihm jetzt einen Streich spielten?

Nein, er hatte diese Speise schon einmal, zusammen mit anderen Personen in einem alten Chateau zu sich genommen. Nur kam ihm nicht in den Sinn, wo das gewesen war. Er musste die Aufzeichnungen des ersten Heftes noch einmal lesen. Vielleicht wüsste er dann, wo sich das ereignet hatte.

Zum ersten Mal kam die Hoffnung bei ihm auf, dass vergangene Erlebnisse, wenn auch nur bruchstückhaft, wiederauftauchen könnten. Gabi sah ihn lange an und spürte, dass er auf irgendeine Weise glücklich war.

Am Haus angekommen bat er darum noch einige Schritte alleine laufen zu dürfen.

„Ich muss mir doch keine Sorgen machen?“, fragte sie. „Du bleibst nicht zu lange und findest auch wieder zurück?“

„Ich habe zwar einen Dachschaden“, beruhigte er seine Schwester, „aber der bezieht sich ausschließlich auf die Vergangenheit. Mache dir also keine Gedanken, ich komme bald zurück!“