Wir tun nur unsere Pflicht - Maurizio Poggio - E-Book

Wir tun nur unsere Pflicht E-Book

Maurizio Poggio

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Beschreibung

Vor dem Hintergrund des im 2. Weltkrieg von den Deutschen besetzten Frankreich, beschreibt der Autor Maurizio Poggio in seinem neuen Roman, die damit verbundenen Einschränkungen und Repressalien der Pariser Bevölkerung. Vor allem Juden, Kommunisten und dem Regime nicht opportun erscheinende Menschen müssen neben einer Inhaftierung jederzeit ihr Deportation in Vernichtungslager befürchten. Die jüdische Christine, welche sich dem Widerstand anschließt und eine für sie unerträgliche Aufgabe zu erfüllen hat, stößt oft an ihre psychischen und physischen Grenzen. Doch ihr Hass auf die Besatzer, lässt sie bei der Ausführung ihres Auftrags auch die schlimmsten Demütigen ertragen. Die Zweifel an der Richtigkeit ihrer Handlungen in der Résistance bringt sie nicht nur in moralische, sondern ebenso in existentielle Nöte. Fabien, ein Historiker arrangiert sich hingegen mit einem deutschen General, der ihn mit der Erarbeitung seiner Biografie betraut. Er genießt dadurch nicht nur Vorteile und Respekt, sondern auch den Neid und die Verachtung der Mitmenschen. Der Autor schildert die Geschichte eines aus dem Warschauer Ghetto entflohenen Polen, der sich dem Widerstand anschließt ebenso, wie spektakuläre Aktionen seiner übrigen Protagonisten. Ein spannungsgeladener Roman, der die Zeit der 1940er Jahre in Paris wiederspiegelt!

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Nicht am Reißbrett gewinnen Revolutionen Gestalt,

sondern in den Herzen und Hirnen widerspruchsvoller Menschen

-Willy Brandt-

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

1

Zum ersten Mal sah Fabien sie Anfang Juni allein an einem der Bistrotische vor dem Les Deux Magots am Boulevard Saint Germain sitzen. Ihm fiel sofort ihr blauer, breitkrempiger, blauer Hut ins Auge. Darunter wellte sich blondes Haar bis auf die Schultern. Eine Sonnenbrille verdeckte ihre Augen. Sie trug ein eng anliegendes, ärmelloses, Kleid und hatte ihre langen Beine übereinandergeschlagen, so dass sein Blick auf die leichten Sandaletten fielen, in welchen zierliche Füße steckten, deren Nägel rot lackiert waren.

Er war auf der gegenüberliegenden Straßenseite im Schatten der Kirche stehengeblieben, um sich eine Zigarette anzuzünden, nachdem er den Tiefen der Metrostation entstiegen war. Erst beim dritten Versuch entzündete sich ein Streichholz an der bereits abgenutzten Reibfläche, mit dem er eine Caporal zum Glühen brachte und begierig den kratzigen Rauch inhalierte. Damit der blaue Qualm ihm keine Tränen in die Augen trieb, schloss er sie für einen Moment.

Schon mehrfach hatte der Mann versucht dieses Laster aufzugeben, doch bereits nach drei-, spätestens aber vier enthaltsamen Tagen, war er wieder rückfällig geworden. Es nutzte auch nichts, dass er an Tagen und noch mehr in Nächten in denen er an seinem Schreibtisch saß, um Zeilen für sein Buch zu formulieren, stattdessen Bonbons lutschte. In jenen Zeiten verzichtete er auch auf das Glas Wein, was im Laufe der Jahre obligatorisch geworden war, wenn er schrieb.

Fabien musste sich eingestehen, süchtig zu sein, obwohl er sich sonst sehr diszipliniert verhielt.

Es waren nicht alle Plätze an den runden Tischen mit ihren gusseisernen Füßen und weißen Marmorplatten besetzt. So wartete er, bis sich ein älterer Mann an den letzten freien Tisch setzte und eine Bestellung aufgab. Nun hatte Fabien einen Vorwand, sich des Platzmangels wegen, zu dieser eleganten Frau setzen zu können. Eilig überquerte er die Rue Bonaparte und schritt auf den Tisch zu, an welchem sie saß und fragte: „Darf ich mich zu ihnen setzen, die anderen Plätze sind leider alle belegt?“

„Gerne“, sagte sie mit tiefer Stimme, die nicht richtig zu ihrer Figur passte. „Die Stühle gehören schließlich nicht mir.“

Fabien setzte sich ihr gegenüber und bestellte beim Garçon einen Pastis, den er gerne vor dem Mittagessen trank.

„Sie sind zu Besuch in Paris?“, versuchte der Mann mit ihr ins Gespräch zu kommen.

„Nein“, gab sie schmallippig zur Antwort und nippte an ihrem Cappuccino.

„Also eine echte Pariserin?“, probierte er es erneut. „Sind sie von der Polizei oder einem Nachrichtendienst, weil sie versuchen mich derart auszufragen?“, sagte sie in einem abweisenden Ton.

„Soll ich ehrlich sein?“

„Ich bitte darum“, forderte sie ihn auf.

„Mein Interesse ist rein privater Natur. Sie sind eine attraktive Frau mit der ich gerne ins Gespräch kommen würde. So einfach ist das“, erwiderte der Mann und goss ein wenig Wasser auf den Alkohol, der daraufhin milchig wurde.

„Das ist aber nicht gerade originell! Da habe ich schon bessere Sprüche gehört.“

„So war das nicht gemeint, oder haben sie etwas gegen eine Unterhaltung?“

Sein Blick wanderte von den strahlendblauen Augen zu ihrem Dekolleté, welches volle Brüste vermuten ließ.

„Im Grunde nicht, wenn sie substanziell ist. Aber lassen sie mich raten, sie sind…“

Sie unterbrach den Satz und sah ihn lange an. Schließlich sagte sie: „Sie sind Fotograf!“

Als er nicht antwortete, hakte sie nach: „Habe ich recht?“

„Wie kommen sie darauf?“

„Ich habe es an ihren hungrigen Augen gesehen. Sie sind so neugierig. So, als wären sie ein Objektiv, welches den fokussierten Ausschnitt eines bestimmten Objekts suche.“

Er antwortete wieder nicht, schmunzelte und ließ sie weiter rätseln.

„Jetzt sagen sie bloß nicht, ich wäre als Modell geeignet und solle in ihr Studio kommen, um Aufnahmen für ihr Privatarchiv zu machen!“

Sie lachte und nahm die Sonnenbrille ab, um sich eine Träne unterhalb des Auges mit dem Taschentuch abzutupfen.

„Sie trauen mir wohl so einige Schmutzigkeiten zu. Da liegen sie jedoch völlig falsch“, entgegnete der Mann und sagte, dass er sich mit anderen Dingen beschäftige. Sie entschuldigte sich ihrer schlechten Gedanken wegen, fügte dann doch noch hinzu: „Wäre auch nicht schlimm gewesen. Schließlich sind sie ein Mann, denen derartige Gedanken nicht fremd sein dürften.“

„Und was machen sie, wenn ich fragen darf?“, lenkte er ab.

„Sie meinen beruflich?“

„Auch.“

Die Frau zog eine filterlose Zigarette aus einem kleinen Lederetui, und stieß sie zweimal auf die Tischplatte, damit der Tabak nicht herausrieseln konnte. Dann sah sie ihren Tischnachbarn fest an und sagte mit zusammengekniffenen Augen: „Ich glaube, dass sie doch kein Fotograf sind, sondern eher ein Schnüffler. Wir kennen uns nicht, und sie möchten mein Privatleben ausforschen!“

Fabien streifte ein Streichholz über die Reibefläche und bot ihr Feuer an, bevor er sich selbst ein Nikotinstäbchen anzündete.

„Lassen wir also das Versteckspiel! Ich bin Schriftsteller“, offenbarte er ihr, woraufhin sie lachte.

„Jetzt verstehe ich“, sagte sie etwas besänftigt. „Sie schreiben gerade an einem Roman und suchen dafür noch eine Protagonistin, welche eine Nebenrolle in ihrem Buch spielen soll. Der Held wird, wie könnte es wohl anders sein, natürlich ein kräftiger, gutaussehender und charmanter Mann, welcher in diesem Falle mich, um den Finger wickelt!“

Fabien entgegnete, dass er solche Art Bücher nicht schreiben würde, wobei er allerdings das Genre womit er sich beschäftigte nicht preisgab.

„Schreiben sie vielleicht unanständige Sachen? Ich würde es ihnen zutrauen“, provozierte sie ihn erneut, als er seinen Blick wieder auf ihren Busen gerichtet hatte.

„Auch das nicht“, widersprach er. „Ich schreibe über Menschen!“

„Ich gebe auf“, resignierte die Frau. „Entweder liegt in ihrer Arbeit ein Geheimnis, oder sie dürfen darüber nicht sprechen.“

„Dürfte schon, aber ich möchte es nicht“, erklärte er.

„Und sie?“, fragte Fabien erneut.

„Nein, nein mein Lieber, wenn sie Heimlichkeiten haben, bin auch ich nicht bereit, mich ihnen gegenüber zu offenbaren. Außerdem muss ich jetzt gehen“, sagte sie nach einem kurzen Blick auf ihre Armbanduhr. „Ich habe mich ohnehin schon verspätet!“

Als sie aufstand und einige Münzen für die Bedienung auf den Tisch legte, fragte er sie, ob er sie zu einem Klavierabend einladen dürfe. „Wissen sie“, sagte er, „meine Begleitung musste kurzfristig absagen und ich möchte nicht alleine ins Le Grand Rex. Es wäre nett, wenn sie mich begleiten würden.“

„Hat die Dame sie versetzt?“

„Nein, mein Lektor! Er hat eine Erkältung und muss das Bett hüten.

„Ist das der Filmpalast am Boulevard Poissonnière, im zweiten Arrondissement?“

„Ja, es wird heute allerdings kein Film gezeigt, sondern Yvonne Lefébre gibt ein Konzert. Sie spielt Chopin! Im Untergeschoss des Gebäudes gibt es ein Tanzcafé. Dort könnten wir uns vor der Vorstellung treffen. Sagen wir um sieben?“

„Und wen soll ich dort treffen? Ich kenne nicht einmal ihren Namen.“

„Entschuldigung, ich habe mich überhaupt nicht vorgestellt. Fabien! Und wie heißen sie, wenn ich das wissen dürfte?“

„Christine! Aber jetzt muss ich wirklich los“, sagte sie erregt nach einem weiteren Blick auf ihre Uhr.

„Kommen sie?“, fragte er, als sie ihre Sonnenbrille wieder aufgesetzt hatte und sich von ihm abwandte. Dann drehte sie sich noch einmal kurz zu ihm um.

„Versprechen kann ich es nicht, aber mal sehen!“

Fabien sah ihr noch nach, als sie eilig den Boulevard entlangging und schließlich in der Menschenmenge verschwand.

Er zündete sich erneut eine Zigarette an, bestellte noch einen Einundfünfziger und freute sich auf den Abend mit seiner neuen Bekanntschaft, bevor er im nicht weit entfernt liegendem Le Petit Prince, entgegen seiner Gewohnheit, etwas verspätet zu Mittag aß.

*

„Du siehst wie immer fantastisch aus“, sagte der Mann, der aufstand, als Christine Weißenbaum die weißlackierte, kleine Bank im Jardin du Luxembourg erreicht hatte.

Er legte ihr eine Hand auf die Schultern und hauchte ihr je einen Kuss auf die rechte und linke Wangenseite.

„Irgendwann kriege ich dich rum und du heiratest mich doch noch“, sagte er scherzend.

Christine nahm ihre Sonnenbrille ab, schaute sich argwöhnisch um und sah ihm schließlich fest in die Augen.

„Du solltest es langsam aufgeben, mir immer wieder Annoncen zu machen. Du musst dich endgültig einmal damit abfinden, dass aus uns beiden nichts wird“, erklärte sie ihrem Gegenüber.

„Es gibt Neuigkeiten“, beruhigte er sie in einem besorgten Tonfall „Wir wissen aus sicherer Quelle, dass es in den nächsten Stunden passieren wird und wir vorbereitet sein müssen. Darum treffen wir uns nicht erst, wie verabredet am Sonntag, sondern schon heute Abend. Es müssen Vorkehrungen getroffen werden.“ „Natürlich! Ich hatte mir den Abend zwar etwas anders vorgestellt. Aber es gibt halt Dinge, die wichtiger sind, als ein angenehmes Klavierkonzert. Also wie immer um acht?“

„Wir dürfen uns nicht stets zur gleichen Zeit treffen. Diesmal um sieben! Auch sollten wir die Zusammenkünfte an unterschiedliche Orte verlegen, um die Aufmerksamkeit nicht auf uns zu ziehen. Aber das bereden wir noch. Heute also auf jeden Fall noch einmal am Gare d'Austerlitz. Und passe auf dich auf! Wir können auf dich nicht verzichten, hörst du?“

Christine nickte schweigend mit dem Kopf.

„Dann bis heute Abend“, flüsterte der Mann, gab ihr die Hand, welche er als Zeichen der Verbundenheit ein wenig kräftiger drückte und wandte sich von ihr ab. Christine setzte sich ihre Sonnenbrille wieder auf und verließ in gegensätzlicher Richtung den Park.

*

Die recht neugierige Concierge, welche die geblümte Kittelschürze überwarf, sobald sie jemanden die ein wenig knarrende Treppe herunterkommen hörte, schob die Gardine ihres kleinen Fensters beiseite, um zu sehen, welcher Bewohner das Haus verließ.

Fabien Sautter war bemüht, recht leise herunterzugehen, um einem Gespräch auszuweichen. In jenem Moment, als er die Haustüre öffnete hörte er hinter sich das Fenster öffnen. Eilig drückte er sich durch die Türe und trat hinaus auf die Rue Descartes Nummer 7 in Montrouge, um von der Station Barbara mit der Metrolinie 4 direkt bis zur Station Strasbourg-Saint Denis zu fahren.

Als Fabien aus dem Untergrund kam, sah er kurz zum Triumphbogen und ging anschließend gemächlich den Boulevard de Bonne Nouvelle zum Le Grand Rex entlang. Er hätte ebenso an der gleichnamigen Station aussteigen können, doch wollte er noch in Ruhe eine Zigarette rauchen, bevor er sein Ziel erreichen würde.

Bewundert stand er wenig später, sich über den Oberlippenbart streichend, vor dem im Jugendstil erbauten und unter Denkmalschutz gestellten größten Kinopalast Europas, welcher mit seiner Art déco-Fassade erst vor ein paar Jahren erbaut worden war.

Bereits um kurz nach sechs betrat er das Le Rêve. Ein Café im Untergeschoss dieses Monumentalbaus. Es war an jenem Nachmittag nur wenig besucht, so dass er sofort einen Platz nahe des Eingangs fand.

Nachdem er sich ein Glas Rotwein bestellt hatte, nestelte er sich erneut nervös eine Zigarette aus der bereits stark zerknüllten Schachtel, die er gewohnheitsmäßig in der Hosentasche trug.

Fabien hatte sich für diesen Abend einen dunklen Anzug angezogen. Schließlich erwartete er eine Dame, die bereits am Mittag außerordentlich gut gekleidet war. Er ging daher davon aus, dass sie in einer eleganten Abendgarderobe erscheinen würde.

Bei dem Mädchen mit dem Bauchladen, welches in seinem kurzen, glitzernden Röckchen und ebensolchem Bolero von Tisch zu Tisch ging, kaufte er sich deshalb eine neue Schachtel Caporal, welche er diesmal in die Jackentasche steckte.

‚Ich rauche zu viel‘, ging es ihm wieder einmal durch den Kopf. ‚Und der Alkohol tut mir auch nicht gerade gut. Vielleicht sollte ich doch auf Doktor Betrand hören und beides aufgeben. Zumindest ein wenig einschränken.‘ Dann verwarf er den Gedanken wieder. ‚Später vielleicht! Wenn ich dieses in Arbeit befindliche Projekt zu Ende gebracht habe. Doch macht mir meine derzeitige Schreibblockade zu schaffen. Ich muss mich zusammenreißen und endlich wieder konzentrierter arbeiten, statt meine Zeit mit unnötigem Zeug zu vertrödeln‘.

Als Fabien seinen Gedanken nachhing und im Kopf neue Vorsätze formulierte, füllte sich das Lokal langsam. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihm, dass es bereits Viertel vor sieben war.

Er winkte den Kellner herbei, bei dem er ein weiteres Glas Rotwein bestellte und sich eine neue Zigarette anzündete.

Der Minutenzeiger bewegte sich mittlerweile auf die volle sieben zu, dann auf viertel nach und schließlich auf halb acht.

Sein Blick blieb auf die Türe geheftet, durch welche sich weitere Gäste drängten. Andere schoben sich hinaus. Wahrscheinlich hatten diese auch Karten für die Vorstellung und wollten pünktlich ihre Plätze im Saal einnehmen.

Um Viertel vor acht wurde Fabien klar, dass Christine ihn versetzt hatte. Doch konnte er ihr böse sein? Schließlich hatte sie nicht fest zugesagt.

Er entschloss sich, nach oben zu gehen. Vielleicht wartete sie im Foyer auf ihn?

Aber auch dort konnte er sie nicht ausfindig machen. Ohne sie wollte Fabien die Vorstellung nicht besuchen. Er war zu enttäuscht und würde keinen rechten Spaß an dem Konzert haben.

Er sah zwei Studenten, von denen das Mädchen ein Schild in der Hand hielt, worauf gut leserlich geschrieben stand, dass sie noch Karten für die Veranstaltung suchten. Anscheinend war das Konzert ausverkauft. Kurz entschlossen drückte er dem jungen Mann der neben ihr stand, seine Karten in die Hand. Dieser zog seinen Geldbeutel aus der Gesäßtasche und erkundigte sich nach dem Preis.

Fabien schüttelte den Kopf. „Lassen sie es gut sein“, lächelte er. „Sehen sie es als Geschenk an und genießen sie mit ihrer Freundin den Abend!“

Dann wandte er sich ab, verließ das Gebäude und rauchte noch eine Zigarette, bevor er langsam die Stufen der Metrostation hinunterging.

*

Christine erreichte den Bahnhof, in dessen Halle sich unzählige Menschen tummelten.

Die Fahrkartenschalter waren von aufgeregten Frauen und Männer umlagert. Es kam mitunter zu unschönen Vorfällen, so dass die Gendarmerie hin und wieder einschreiten musste.

Auf den Bahnsteigen, an denen die Züge nach Marseille, Bordeaux und Nizza abfuhren, rangen die Leute an den Türen, um in das Innere der Waggons zu gelangen.

Die Frau kämpfte sich durch das Gewühl und erreichte nur unter großen Schwierigkeiten den Niedergang, der in den Untergrund führte.

Christine klopfte dreimal lang und ebenso oft kurz an die grau gestrichene Metalltüre, welche am Ende des spärlich beleuchten Gangs unterhalb der Schienenstränge im Gare d'Austerlitz lag.

Minuten verstrichen, ehe sie einen Spalt geöffnet wurde. Ein schnauzbärtiger Mann von vielleicht dreißig Jahren steckte seinen Kopf hindurch.

Nachdem er die Frau erkannte, schob er die Türe ein Stück weiter auf und gewährte ihr den Eintritt.

Die Werkstatt, an deren Wände Schraubenschlüssel und weitere unterschiedliche Gerätschaften hingen, erhellte die einzelne, von der Decke herunterhängende Glühbirne nur schwach. Zudem war der Raum derart rauchgeschwängert, dass es Christine schwerfiel, die einzelnen Personen zu erkennen, welche an dem, in der Mitte stehenden Tisch saßen und aufgeregt miteinander diskutierten.

Sie hörte, wie einer der anwesenden Männer davon berichtete, dass eine Heeresgruppe der deutschen Wehrmacht in Richtung der Marne-Linie vorgerückt sei und die Einnahme von Paris unmittelbar bevorstünde. Die französische Regierung habe sich bereits über Tours nach Bordeaux zurückgezogen. Auch seien mittlerweile tausende Einwohner aus der Metropole geflüchtet.

Nachdem Christine sich auf den letzten freien Stuhl gesetzt hatte und ihr eine Zigarette angeboten worden war, beratschlagte die Gruppe das weitere Vorgehen ihrer konspirativen Organisation. Das Eine oder Andere wurde ausgiebig erörtert, für gutgeheißen, oder auch wieder verworfen. Schließlich einigte man sich nach unzähligen Debatten auf ein gemeinsames, patriotisches Vorgehen, sollten die Deutschen in ihrer Hauptstadt einmarschieren.

„Was auch geschieht, die Flamme des patriotischfranzösischen Widerstands darf nie erlöschen“, rief einer der Anwesenden, den Christine zuvor noch nie gesehen hatte.

Ein anderer Mann, welcher mit dem Rücken zur Gruppe stand und mit einem Schraubenschlüssel an einer größeren Dose hantierte, aus welcher zwei Stromkabel herausragten, pflichtete seinem Vorredner bei und ergänzte: „Die Zeit des Handelns ist gekommen!“

Abschließend verabredeten sie einen neuen Treffpunkt, da ihnen der bisherige nicht mehr sicher zu sein schien.

Erst spät in der Nacht trennten sie sich, wobei die einzelnen Teilnehmer der Runde in zeitlichen Abständen den Bahnhof wieder verließen.

Christine überquerte in Gedanken versunken, die Brücke über die Seine, deren Wasser ihr fast schwarz zu sein schien und lief durch die Nacht zu ihrer Wohnung in der Rue Abel.

Auf den Straßen der Stadt gab es eine Geschäftigkeit, die zu dieser nächtlichen Stunde sehr ungewöhnlich war. Frauen, Kinder, Männer hetzten ihr mit Fahrrädern, Schubkarren und den in Eile zusammengesuchten Habseligkeiten entgegen. Wohl waren diese Menschen ebenfalls auf dem Weg zum Bahnhof, um einen der maßlos überfüllten Züge in den Süden zu erreichen. Eine heillose Huperei der Autos und Motorräder, welche sich neben ihr auf dem Fahrdamm verkeilt hatten, übertönte das Stimmengewirr der Dahineilenden.

*

Fabien war an diesem Morgen statt um sechs erst nach sieben Uhr aufgestanden, denn er war erst spät ins Bett gekommen. Vielleicht waren es auch die zu viel getrunkenen Gläser Rotwein gewesen, die ihm nun Kopfschmerzen bereiteten. Wie er meinte, war das der einzig richtige Weg, um den Kummer über Christines Nichterscheinen verwinden zu können. Er musste sich eingestehen, dass er wieder einmal in der Bar de L'Entracte versackt war, nachdem er bei Gesprächen mit dem Romanautor Raymond Queneau im Café de Flore bereits reichlich über den Durst getrunken hatte. An der authentischen Zinktheke sitzend, war ihm aufgefallen, dass wie sonst üblich, kaum Schauspieler aus dem Palais Royale Theatre nach der Aufführung auf ein Glas Wein hereinkamen. Lediglich zwei weitere Gäste waren anwesend.

Dagegen herrschte auf den Pariser Straßen ein fieberhaftes Treiben. Er erinnerte sich, dass Menschen ungestüm ihre Autos beluden und andere mit Koffern in den Händen die Metrostationen stürmten. Kinder, welche von ihren Müttern in den Armen gehalten wurden, waren anscheinend aus dem Schlaf gerissen worden, weinten, oder schrien ihren Missmut darüber lauthals hinaus.

Wohl dem Alkohol geschuldet, schenkte Fabien dem Geschehen um ihn herum keinerlei Beachtung, sondern schwankte seinem Zuhause entgegen.

Nachdem er sich einer Katzenwäsche unterzogen hatte und in die Hose schlüpfte, stellte er fest, dass der Heimweg wohl mit einigen Erschwernissen verbunden gewesen sein musste. Sie wies neben bräunlichen Flecken, einen Riss in Kniehöhe auf.

Wieder einmal schwor er beim Augenlicht seiner Mutter dem Alkohol ab und bezog das Rauchen gleich mit ein.

Fabien schaltete das Radio ein, wo entgegen der ansonsten vormittäglichen Chansons, tragende Musik gesendet wurde. Er vermutete, dass die Klänge von Gabriel Fauré oder Etienne Debussy komponiert sein mussten, gestand sich jedoch ein, dass er von dieser Musikrichtung nichts verstand. Also hätte es auch Beethoven oder Bach sein können.

Plötzlich erklang das Erkennungszeichen von Radio Paris. Seine Tonalität war seit Kriegsbeginn geändert worden und Fabien wusste, dass danach wieder unheilvolle Berichte folgen würden.

Er sah auf die Uhr, als er in die kleine Küche gehen wollte, um sich zwei Spiegeleier zu bereiten. War sie stehengeblieben? Es war keine volle Stunde, an welcher sonst die Nachrichten gesendet wurden und nur dann waren sie gewohnheitsmäßig zu hören, wenn anschließend die Neuigkeiten des Tages verlesen wurden.

„Wie wir bereits berichteten, verließ unsere Regierung unter Paul Reynaud, welcher bisher einen Konfrontationskurs gegen das nationalsozialistische Deutschland fuhr, bereits am 10. Juni Paris. Sie hat ihren provisorischen Regierungssitz in Bordeaux eingerichtet. Seit fünf Uhr dreißig am heutigen Morgen geschah das, was unsere Bevölkerung nicht für möglich hielt. Die Hauptstadt ist von einem deutschen Truppenverband besetzt. Auf Motorrädern und Lastwagen erreichten die Deutschen bereits die Porte de la Vilette am nördlichen Stadtrand“, hörte er den Sprecher sagen.

Fabien lauschte weiter dem Kommentar des Nachrichtensprechers. „Auf den großen Verkehrsachsen rücken seitdem die Deutschen ins menschenleere Zentrum der Stadt vor. Auf dem Dach des Marineministeriums an der Place de la Concorde, also im Herzen unseres geliebten Paris, weht die Hakenkreuzfahne.

Gerade höre ich, dass nun auch auf dem Außenministerium das faschistische Symbol des Aggressors weht. Es ist in Kürze damit zu rechnen, dass die Stadt vollständig besetzt sein wird. Aus unterrichteten Kreisen ist weiter zu hören, dass der deutschen 18. Armee unter Generaloberst Georg von Küchler die Räumung der Stadt durch unsere 7. Armee zugesichert und Paris zur offenen Stadt erklärt wurde. Weiter wird berichtet, dass der Marschall und Politiker Philippe Pétain, als französischer Diplomat beabsichtigt, einen Waffenstillstand mit Nazideutschland zu erringen.

Soweit unsere Kurznachrichten! Lassen sie bitte ihre Empfänger eingeschaltet, denn wir werden sie weiterhin über die Ereignisse des Tages unterrichten!“

Fabien setzte sich bestürzt über das Gehörte in den verschlissenen, alten Sessel und zündete sich eine Zigarette an.

Nun war es soweit! Die Deutschen in Paris! Wie schrecklich! Die schnelle und verlustreiche Niederlage der französischen Armee, die doch im Ruf stand, eine der besten der Welt zu sein, schockierte ihn.

Sein Vater war 1914 freiwillig in den Krieg gegen die Deutschen gezogen. Er war ein Patriot, hatte ihm seine Mutter später einmal erzählt.

Leider konnte der Vater den Sieg der Franzosen nicht miterleben. In der Schlacht an der Marne wurde er noch im gleichen Jahr schwer verwundet. Es war ein Bauchschuss, dem er wenig später, noch im Felde erlag. Fabien hatte ihn immer vermisst.

Als er sich selbst, wie damals sein Vater, 1939 freiwillig zum Militär meldete, wurde er aufgrund eines Schattens auf der Lunge, als dienstuntauglich befunden. Er bedauerte, dass er gegen den Aggressor nicht ins Feld ziehen durfte. Gerne hätte er mit seinem Freund René, Seite an Seite dem Feind unter Einsatz seines Lebens Verluste beigebracht.

Das nazistische Expansionsstreben der Nazis hatte er zu Anfang dieses Krieges nämlich noch zusammenbrechen sehen. Doch befand sich Frankreich stattdessen nun im nationalsozialistischem Herrschaftsbereich. Die französische Armee war vernichtend geschlagen, die Transportwege, Schienen und Straßen, sowie viele Städte zerstört. Das Herz Frankreichs war nun in ihren schmutzigen Händen.

All diese Gedanken gingen ihm durch den Kopf, als er sich des ratternden Lärms bewusstwurde, welche die Ketten der vorbeifahrenden Panzer verursachten. Fabien öffnete das Fenster und sah, wie sich einige Pariser auf den Trottoirs verschämt etwas zutuschelten. Andere hingegen schlugen ihre Fensterläden zu, um wohl das unvorstellbare Geschehen von sich fern zu halten.

Fabien entschloss sich, statt seine Arbeit am Schreibtisch fortzusetzen, hinunterzugehen. Er wollte mitansehen, wie sich die Besatzer benahmen.

Ohnehin tat er sich schwer, die richtigen Sätze zu formulieren, welche vonnöten gewesen wären, um die Biografie über den Maler Jacques Louis-David einer breiten Leserschaft schmackhaft zu machen.

Bislang war er über die Seite 75 nicht hinausgekommen und hatte öfter darüber nachgedacht, das Ganze wieder in der Versenkung verschwinden zu lassen.

Eilig zog er sich darum eine andere Hose an, knöpfte das blaue Hemd zu und schlüpfte barfuß in die Schuhe.

Die beabsichtigten Spiegeleier waren nicht mehr wichtig und außerdem war ihm der Hunger ohnehin vergangen.

*

2

Die neuen Herren hatten viele Gebäude und Hotelpaläste besetzt. Sofort nachdem die ersten deutschen Soldaten am14. Juni 1940 mit einer spektakulären Truppenparade über die Camps Elysee in die Hauptstadt einmarschiert waren, sendete Radio Paris nicht mehr in Französisch. Die Pariser waren von nun an auf die Ausstrahlungen aus England angewiesen.

Neben dem Telegrafenamt an der Rue de Grenelle stürmten die Besatzer auch das „Meurice“ an der schnurgeraden Rue de Rivoli ebenso wie das „Lutetia“ am linken Seine-Ufer, welches zum Sitz der Abwehr und Gegenspionage wurde.

Am 16. Juni 1940 ersetzte die neu eingerichtete Regierung unter Marschall Pétain, welche sich in Vichy etabliert hatte, die Regierung Reynaud. Pétain hielt erklärtermaßen eine Fortsetzung des Zweiten Weltkriegs von französischer Seite für aussichtslos.

Viele Franzosen waren von ihm enttäuscht. Galt dieser hochdekorierte Mann doch als Retter von Verdun. Nicht zuletzt, weil die französische Armee unter seinem Befehl damals ihre Stellungen erfolgreich verteidigen konnte. Von ihm erhofften sich viele auch in diesem Krieg eine Wendung zum Sieg. So auch General de Gaulle, welcher bereits einen Tag nach der Besetzung von Paris mit einem britischen Flugzeug, das von einem Freund namens General Edward Spears organisiert wurde, nach England flog. De Gaulle hatte beschlossen, nicht mit der französischen Regierung zu kollaborieren. Er gründete eine eigene Bewegung, um Frankreich zu befreien.

Statt den Widerstand gegen die einmarschierende Wehrmacht fortzusetzen, unterzeichnete Marschall Pétain am 22. Juni im Wald von Compiègne einen Waffenstillstand mit Deutschland.

Adolf Hitler hatte diesen Ort bewusst für die Unterzeichnung gewählt, wo am 11. November 1918, der für die Deutschen erniedrigende Waffenstillstand des Ersten Weltkrieges unterzeichnet worden war und von den Franzosen daraufhin zum Feiertag erklärt wurde.

Den historischen hölzernen Salonwagen, in dem damals der französische Marschall Ferdinand Foch den Deutschen die Bedingungen diktiert hatte, ließ der Führer eigens aus dem Museum von Compiègne zu derselben Stelle im Wald bringen. Dort wollte er Revanche für die deutsche Niederlage im Ersten Weltkrieg und für die von den meisten Deutschen empfundene nationale Schmach des Versailler Vertrages nehmen.

Mit dem Waffenstillstand gab Hitler der neuen französischen Regierung zu verstehen, dass eine Fortsetzung des Krieges keinen Sinn mache.

Allerdings unterzeichnete Pétain damit auch den Beginn der Kollaboration Frankreichs mit NS-Deutschland. Anscheinend hoffte er, dass bei der Neuordnung Europas, Frankreich einen privilegierten Platz an der Seite Deutschlands zugesichert würde.

Wenige Tage zuvor hatte General de Gaulle, ein unbekannter Militär, die Franzosen mit beschwörenden Worten im britischen Rundfunk dazu aufgerufen, Widerstand gegen Nazideutschland zu leisten.: „Deshalb rufe ich alle Franzosen, wo immer sie sich gerade befinden, dazu auf, sich mir anzuschließen im Kampf, im Opfergeist, in der Zuversicht. Unser Land ist in Lebensgefahr. Lasst uns gemeinsam kämpfen um es zu retten. Es lebe Frankreich!“

*

Der Tag war sonnig und das Thermometer zeigte trotz des fortgeschrittenen Jahres 22° Celsius, als Christine um 14 Uhr ihren Arbeitsplatz im historischen Ensemble des Haupttelegrafenamtes gegenüber des Invalidendoms verließ.

Die Sonne blendete sie, als sie aus dem monumentalen Gebäude trat. Mit der Hand verdeckte sie einen Moment ihre Augen.

Seit einigen Tagen hatte sich im Amt ein Führungswechsel vollzogen. Es fanden nun strenge Kontrollen und eine allgegenwärtige Überwachung statt, seitdem die Deutschen die Verwaltung übernommen hatten. Christine konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Gespräche abgehört, wenn nicht gar aufgezeichnet wurden. Des Öfteren bemerkte sie ein Knacken in der Leitung, nachdem sie den Stecker eingestöpselt hatte. Besonders bei der Verbindung mit öffentlichen Stellen war das üblich geworden. Doch konnte sie nicht sicher sein, dass es auch bei Privatanschlüssen geschah.

Als Christine die Esplanade des Invalides fast durchquert hatte fiel ihr Blick auf ein Plakat, welches ihr zuvor nie aufgefallen war. Wahrscheinlich wurde es erst kurz zuvor angeklebt. Es zeigte Pétain in Zivil, der mit ausgestrecktem Finger auf den Betrachter zeigte. Der Text konnte zynischer nicht sein: ‚Franzosen! Ihr seid weder verkauft, noch verraten, noch verlassen. Kommt vertrauensvoll zu mir.‘

Christine war versucht das Poster anzuspucken, beherrschte sich jedoch wegen der zahlreich anwesenden Passanten.

Sie wandte sich ab und schritt auf den Pont Alexandre III. zu. Sie spürte, dass ihr jemand folgte. Zum Glück hatte sie der Versuchung wiederstanden, diesem Verräter Pétain ihre Verachtung zu zeigen.

Sie blieb stehen und sah über die Brüstung auf die Seine, um sicher zu sein, dass sie sich vielleicht doch getäuscht hatte. In dieser Zeit konnte man vor Überraschungen schließlich nie sicher sein und es gab genügend Kollaborateure.

Der Fremde war neben sie getreten und beugte sich ebenfalls über die Balustrade.

„Frau Weißenbaum, nicht wahr?“, fragte der etwa 35-jährige, gutaussehende Mann mit einer tiefen Stimme. „Liegt die wahre Welt in uns?“, fragte er etwas leiser und sah Christine ins Gesicht.

„Ich dachte schon…“, begann sie ihren Satz, doch unterbrach er sie.

„…dass ich jemand sei, der nichts Gutes im Schilde führen würde. Ich habe zwar eine Fotografie von ihnen gesehen, muss aber sicher sein, dass ich es hier mit der Person zu tun habe, welche auch die Antwort weiß!“

Sie lächelte ihn an und sagte ebenso leise: „Die Zukunft ist ungewiss!“

„Ich heiße Henri Frenay und komme aus Marseille. Wir haben dort die Gruppe Combat gegründet. Doch lassen sie uns lieber weitergehen. Es ist jetzt schließlich immer möglich, beobachtet zu werden. Vor allem hier in Paris.“

Er ließ sie in geringem Abstand vor sich hergehen, wobei Henri von seiner Tätigkeit im Süden sprach, sofern sich keine anderen Menschen in ihrer Nähe befanden. Christine hörte aufmerksam zu und war über seine Aussagen mal erschrocken, ein anderes Mal davon begeistert.

Kurz bevor sie gemeinsam die Champs-Élysées erreichten, verabschiedete sich der Mann von ihr. „Ich muss noch ein paar Leute treffen, doch sehen wir uns sicherlich bei der Versammlung am Abend.“

Christine wollte noch etwas sagen, doch war er in der Menge der Passanten bereits verschwunden.

Deutsche Soldaten, welche anscheinend dienstfrei hatten, schlenderten den breiten Boulevard entlang, über welchen mehr deutsche Militärfahrzeuge rasten, als hier jemals zuvor Privatautos zu sehen waren.

Sie sahen den Frauen nach, die auf dem Boulevard flanierten oder Einkäufe tätigten. Manchmal pfiffen sie, im Besonderen jungen Mädchen hinterher, worüber man brüskiert den Kopf schüttelte.

Christine besorgte sich neben einer Zeitung einige Kleinigkeiten, bevor sie sich vor eine Patisserie setzte und einen Café creme bestellte.

In der Le Matin las sie die neuesten Nachrichten, welche ihr auch diesmal zensiert vorkamen. Mit Schrecken entnahm sie der Nachrichtenseite, dass am Vortag, dem Yom Kippur, also dem jüdischen Versöhnungsfest die Agudath-Hakehilot-Synagoge im jüdischen Viertel von den Deutschen gesprengt worden sei. Lediglich drei Zeilen war den Redakteuren diese Meldung wert. Dass sie mit der Kürze die jüdische Bevölkerung schonen wollten, war eher nicht anzunehmen.

Ein sehr junger Mann in deutscher Uniform setzte sich an ihren Tisch.

In gebrochenem Französisch, was er wohl vor nicht allzu langer Zeit in der Schule gelernt hatte, stellte er sich als Werner vor und lud sie zu einem weiteren Getränk ein, welches sie frei wählen durfte.

Ein Boche an ihrem Tisch, das konnte sie nicht ertragen! Dazu wollte dieser Eindringling sich auch noch mit ihr unterhalten! Das war zu viel für ihre patriotische Seele.

Eilig legte sie das Geld für ihren Kaffee auf den Tisch, stand auf und verließ grußlos die Terrasse vor dem Café.

Christine spürte förmlich die ihr folgenden Blicke und fühlte sich unwohl. Sie war ärgerlich darüber, dass sie bei der Lektüre der Tageszeitung unterbrochen worden war.

Entgegen ihrer Absicht, die Zeit bis zur Versammlung in der Innenstadt zu verbringen, nahm sie den Bus und fuhr hinaus nach Saint Denis.

Als sie vor einigen Jahren nach Paris gezogen war, hatte sie den Pariser Außenbezirk schon einmal besucht und erinnerte sich an den, mit alten Bäumen bestandenen Parc de la Légion d'Honneur. Hier würde sie Ruhe vor den Deutschen haben, die wärmende Sonne genießen und ihre Zeitung weiterlesen können.

Schließlich lag der neue Treffpunkt den die Gesinnungsgenossen vereinbart hatten, in unmittelbarer Nähe.

Christine setzte sich auf eine Bank unter einer Buche, welche ihr Schatten spendete und las. Schließlich schloss sie die Augen und dachte über die vergangenen, so ereignisreichen Tage nach. Dabei hatte sie die Zeit vergessen. Erst als ihr jemand auf die Schulter klopfte, nahm sie ihre Umgebung wieder wahr.

Es war Etienne, der sie ins Diesseits zurückgeholt hatte. Als sie sich nach ihm umdrehte, sah sie in sein lächelndes Gesicht. Seine Brille war ein wenig angelaufen und die dunkelblaue Baskenmütze saß wie immer schief auf dem Kopf.

„Wie geht es dir?“, wollte er wissen.

„Wie soll es einem in dieser schrecklichen Zeit schon gehen?“

„Alles wird nicht so heiß gegessen, wie es gekocht wird, meine Liebe. Es werden bestimmt bald wieder bessere Zeiten kommen!“

„Woher nimmst du eigentlich diesen Optimismus her?“ Sie stand auf und sah ihn streng an.

„Hast du schon welche von uns gesehen?“

„Nein, zumindest hat mich niemand angesprochen, aber ich habe nach vorne geschaut. Was hinter mir passiert ist, weiß ich nicht.“

Etienne sah auf die Uhr und kam dabei zu der Überzeugung, dass sie sich auf den Weg zur Versammlung machen sollten.

„Hoffentlich sind wir nicht die Letzten“, sagte er und reichte ihr die Hand.

„Das sollten wir lieber sein lassen“, erklärte sie ihm und zog ihre Hand zurück. „Schließlich könnte man eine Verschwörung wittern“, sagte sie fast entschuldigend.

„Wie viele Pärchen auf dieser Welt, gibt es auch in Paris Paare, die Hand in Hand durch die Straßen schlendern? Meinst du, wir wären die Einzigen. Vielleicht sollten wir uns sogar leidenschaftlich küssen, damit es noch glaubhafter wirkt.“

Als er den Gedanken in die Tat umsetzen wollte, hielt Christine ihre Hand vor seinen Mund und sagte: „Nein, nein mein Guter, so haben wir nicht gewettet. Du bist zwar ein netter und lieber Kamerad, aber soweit möchte ich nun doch nicht gehen. Dafür musst du dir eine andere Gespielin suchen.“

“Wir haben aber nur dich als einzige Frau bei uns.“. Sie unterbrach ihn: Vielleicht solltest du dir woanders etwas suchen. Es gibt momentan doch einen großen Frauenüberschuss. Viele Männer sind im Krieg gefallen, oder werden vermisst. Da ist bestimmt eine dabei, die auf so einen schmucken Kerl wie dich förmlich wartet.“

Etienne errötete leicht und ließ das Thema endgültig fallen. Stattdessen lief er ein paar Schritte vor ihr her, bis sie die Abteikirche erreichten.

Die Kirche Saint Denise mit ihrem wehrhaften Charakter erinnerte Christine an eine Burganlage.

Bevor sie die Abteikirche betraten, hielt sie ihren Begleiter zurück und bewunderte das Mittelportal unterhalb des großen Rosenfensters. Es war mit reichhaltigem Skulpturenschmuck ausgestattet und auf dem Tympanon thronte Jesus als Richter des Jüngsten Gerichts.

Eine angenehme Kühle war in dem mit burgundischen Spitzbögen und normannischen Rippengewölben ausgestatteten Gotteshaus zu spüren, nachdem sie die schwere Eingangstüre des Seitenportals geöffnet hatten. Das Licht flutete durch die zahlreichen, großen, wundervoll bemalten Fenster, als die zwei an den imposanten Säulen vorbeischritten.

Ein in einer Mönchskutte gekleideter Mann trat plötzlich hinter einer Statue hervor. „Sie möchten beichten?“, fragte er.

Etienne antwortete dem Code entsprechend: „Die Sünder befinden sich an anderer Stelle!“

Als der Mönch die Kapuze ein wenig zurückgeschoben hatte, erkannte Etienne in diesem einen Freund. Der vermeintlich Geistige wies auf eine schmale Treppe, welche ins Untergeschoss führte. Dabei hüstelte er kurz. Obwohl sich keine Menschen mehr in der Kirche befanden flüsterte er: “Die Kathedrale ist für Besucher bereits seit 15 Uhr geschlossen, doch haben sich noch einige Gemeindemitglieder zum Gebet bei den Königsgräbern eingefunden. Sicherlich finden sie dort den richtigen Weg zum Heil!“

Christine folgte Etienne nach unten, der sich zunächst erst orientieren musste, um in der weitläufigen Krypta die Gesinnungsgenossen zu finden.

Im Hintergrund sagte jemand: „Ich danke dir für deine Hilfe, heiliger Dionysius.“

Sie folgten der Stimme und trafen auf die fünf oder sechs Anwesenden, welche sie durch Kopfnicken begrüßten. Dann setzten sie ihre begonnene Diskussion fort.

Nachdem auch beide Platz gefunden hatten, richtete Henri Frenay das Wort an Christine. „Ich bin doch richtig informiert Frau Weißenbaum, sie sind Jüdin?“ Christine bejahte die Frage und fügte hinzu: „Spielt das hier eine Rolle?“

„Und ob das eine Rolle spielt! Eine große sogar!“ Christine fühlte sich angegriffen. „Was hat mein Glaube, den ich übrigens nicht praktiziere, mit meiner Arbeit in der Résistance zu tun? Oder hat sich jemand darüber beschwert? Sie kommen aus Marseille hierher und führen sich wie der Präsident der Republik auf. Das lasse ich mir nicht gefallen!“ „Sachte, junge Frau“, versuchte er sie zu beruhigen.

„Ich bin hier, um ihnen persönlich zu helfen und damit gleichzeitig die Untergrundkämpfer der Mouvement de Libération Nationale zu schützen! Alle Menschen, die der jüdischen Konfession angehören, sind in ganz Europa in Gefahr, das sollten sie eigentlich wissen. Nicht nur in Deutschland und Österreich, sondern auch in Polen und der Tschechoslowakei werden sowohl Menschen ihres Glaubens, wie auch Zigeuner und Regimegegner in Lager deportiert. Es steht daher zu befürchten, dass das in Kürze auch in der von den Deutschen besetzten Zone passieren wird. Vielleicht habt ihr alle schon einmal vom Lager Rivesaltes gehört?

Es war zunächst ein Internierungslager für spanische Kriegsgefangene. Diese wurden mittlerweile alle entlassen. Jetzt soll dort, so haben wir in Erfahrung gebracht, ein Lager für eine Nationale Revolution entstehen. Das hört sich nicht weltbewegend an, hat allerdings großes Potential, zumal die ersten Widerständler dort bereits inhaftiert wurden. Es bleibt zu befürchten, dass bald auch Jüdinnen und Juden folgen werden. Das bedeutet, dass sie Frau Weißenbaum, sich bereits schon jetzt in großer Gefahr befinden und somit die Pariser Gruppe in Bedrängnis bringen.

Daraus folgt, dass sofort gehandelt werden muss. Wenn sie bereit sind, eine neue Identität anzunehmen…“

Henri unterbrach sich und suchte nach passenden Worten. „…dann wären sie erstens nicht mehr in Gefahr und könnten zweitens dem Untergrund große Dienste erweisen!“

Christine hatte aufmerksam zugehört und schwieg. Alle Blicke waren auf sie gerichtet, denn man erwartete eine Antwort.

„Und wie soll das gehen?“, wollte sie schließlich wissen.

„Sie bekommen nicht nur einen neuen Pass, sondern gleichzeitig auch eine Geburts- und Heiratsurkunde!“

“Ich wäre also verheiratet?“

„Nur auf dem Papier. Es gibt eine, für die Deutschen arische Frau, welche nach England emigriert ist, wovon die Boches, also die Deutschen, allerdings nicht wissen, dass sie dort lebt. Sie hat mittlerweile einen Engländer geheiratet und trägt somit natürlich auch seinen Namen.

Mit ihrer Identität könnten sie unbehelligt deren Platz einnehmen. Sie ist in ihrem Alter, sieht ihnen sehr ähnlich, hat ihre Statur und…“ Der Mann unterbrach sich erneut und es dauerte eine Weile, ehe er weitersprach: „…und hat einen Beruf, sagen wir einmal, der für unsere Zwecke nützlich sein dürfte.“

„Jetzt sagen sie schon! Wenn sie so herumdrucksen, wird es sicherlich etwas Besonderes sein, habe ich recht?“

„Nun ja, ich will es mal so ausdrücken, sie ist, nein war neben ihrem Hauptberuf als Sekretärin auch Bardame!“

„Also eine Prostituierte?“

„Ich würde es so nicht benennen. Wenn ja, dann aber eine, die in besseren Kreisen verkehrte.“

„Verstehe ich sie richtig? Sie wollen mich zur Hure machen? Vermutlich denken sie auch noch daran, dass ich für einen Deutschen die Beine breitmache?“

Christine war aufgesprungen, sah Henri Frenay wütend an und wollte die Kapelle verlassen, als Etienne sie zurückhielt.

„Nun warte doch einmal und setze dich wieder. Du weißt doch gar nicht, um was es geht. Ich dachte immer, du seiest aufgeschlossen.“

„Eine Nutte? Da mache ich nicht mit und ihr müsst euch für solche Schweinereien eine andere suchen!“ „Bedenken sie doch ihre Lage, Frau Weißenbaum“, redete Henri auf sie ein. „Sie sollen sich nicht prostituieren, sondern den richtigen Offizier finden, der sie als Sekretärin engagiert. Wie sie das anstellen, überlassen wir vollkommen ihnen.“

„Also doch! Ich soll mit so einem ins Bett, so denken sie doch?“

„Wie gesagt, die Vorgehensweise bestimmen sie selbst!“

Christine beruhigte sich wieder ein wenig .

Schließlich hatte der Mann aus Marseille auf eine Art recht. Sie war als Jüdin nicht nur in Paris, sondern überall in Frankreich in Gefahr. Selbst nun auch im unbesetzten Teil des Landes

„Also gut, wenn es der Sache Frankreichs dient“, willigte sie schließlich ein. „Und wie denkt ihr, soll das Ganze ablaufen?“

„Wir brauchen zunächst ein aktuelles Passfoto von ihnen. Ich gebe ihnen die Adresse eines zuverlässigen Fotografen, zu dem sie gehen können. Anschließend bringen sie das Bild einem blinden Mann im Bahnhof Gare du Nord. Sie müssen ihn fragen, ob er auch Socken zu verkaufen hat, worauf sie ihm den Codesatz nennen. Der lautet: ‚Ich hatte einen Nagel im Schuh, der mir den linken Strumpf kaputt gemacht hat. Er wird ihnen zum Zeichen, dass er verstanden habe antworten, dass er nur Rote habe. Daraufhin verkauft er ihnen Socken, welche sie mit einem Geldschein bezahlen, in den sie das Bild eingewickelt haben.

Sie müssen sich den Code unbedingt wortgetreu merken, damit alles ohne Schwierigkeiten abgewickelt wird. Ich schreibe ihn für sie auf und sie lernen ihn auswendig.

Bei der nächsten Zusammenkunft erhalten sie dann alle Papiere, um sich mit der neuen Identität frei bewegen zu können.

Aufgrund der Zurede Etiennes sagte Christine schließlich schweren Herzens zu, wobei sie immer wieder betonte, dass sie es niemals zum Äußersten kommen lassen würde.

Im Laufe des Abends wurden weitere Details besprochen und über die unterschiedlichsten, bereits in Vorbereitung stehenden Aktionen debattiert, bevor die Beteiligten einzeln und in zeitlichen Abständen das Gotteshaus wieder verließen.

Auf dem Weg von Saint Denis zur Bushaltestelle dachte die Frau über ihre Zukunft nach.

Gedankenverloren schaute Christine auf die Uhr und erschrak. Dann beschleunigte sie ihre Schritte, um den letzten Bus nicht zu verpassen.

Es war kurz vor Beginn der Ausgangssperre, als sie den Hausflur betrat und einen Brief ihrer Eltern im Briefkasten vorfand.

Sie entschied sich, ihn trotz ihrer Neugierde nicht sofort zu öffnen, sondern erst in der Wohnung zu lesen.

*

Fabien Sautter eilte die Treppe hinunter und trat hinaus auf das Trottoir. Auf der Straße herrschte reger Betrieb. Die Leute wollten mitansehen, wie die Deutschen ihre geliebte Stadt in Besitz nahmen. Einige Bürger hatten weiße Bettlaken aus ihren Fenstern gehängt. Wohl aus Angst darüber, dass es zu Gefechten kommen könnte. Andere streckten ihre geballten Fäuste in die Höhe und beschimpften die auf Ladeflächen der LKWs sitzenden deutschen Soldaten.

‚Wenn bereits hier draußen in Montrouge, in dem südlichen Außenbezirk die Militärfahrzeuge zu sehen waren, wie sollte es erst dann in den zentralen Arrondissements aussehen?‘, fragte er sich, vermied es allerdings ins Zentrum zu fahren, um sich ein eigenes Bild von den Geschehnissen zu machen.

Einige Tage später entschloss er sich, mit der Metro bis zur Station Porte d'Orléans zu fahren.

Als er aus dem Untergrund kam, sah er die ersten Wegweiser in deutscher Sprache. Er, der zweisprachig aufgewachsen war, konnte deren Bedeutung erfassen, doch kaum ein anderer Franzose verstand‚ was hier auf diesen Schildern geschrieben stand. Zum Beispiel: ‚Heereskraftfahrpark, Waffenwerkstatt‘, oder ‚OKW-Reifenlager‘.

An einer Litfaßsäule sah er ein Plakat, worauf hingewiesen wurde, dass am Abend im Wehrmachtskino ‚Lili Marleen‘ gezeigt würde. In Klammern war dahinter gesetzt, ‚im ehemaligen Le Grand Rex‘.

Das größte Pariser Filmtheater, wo er vor kurzem noch auf die Frau aus dem Café gewartet hatte, war nun auch von ihnen vereinnahmt worden. Paris wurde zunehmend Deutsch, stellte Fabien fest.

Als er die Avenue du Général Leclerc in Richtung Place Basch entlanglief, auf der ein reger Betrieb herrschte, begegneten ihm Fahrzeugkolonnen deutscher Militärfahrzeuge.

Die Menschen, welche unter schattenspendenden Bäumen vor den Cafés saßen und ihren Pastis, Café créme, oder ein viertel Rotwein tranken, schienen sich nicht sonderlich dafür zu interessieren. Auf den ersten Blick deutete nur wenig auf einen Umschwung der Verhältnisse hin. Die oft gepriesene französische Nonchalance war bei der Bevölkerung zurückgekehrt.

Vor einer Brasserie sah er gar eine Frau sich mit einem deutschen Offizier angeregt unterhalten. Auf dem Tisch stand eine Flasche Champagner in einem Sektkübel. Wahrscheinlich war es die Ehefrau des Soldaten, die ihm in sein Einsatzgebiet gefolgt war, beruhigte Fabien seine Gedanken, denn er konnte sich nicht vorstellen, dass eine Französin einen derartigen Verrat begehen könne.

In einer kleinen Bar trank er einen Roten und fuhr mit der Metro wieder nach Hause. Er hatte genug gesehen und musste sich noch entsprechend für den Abend vorbereiten. Schließlich durften die Zuhörer im Gibert bei einer Lesung einen aufgeräumten und gut rezitierenden Literaten erwarten.

Zwar hatte er das Buch selbst geschrieben und kannte jede Stelle, doch war es etwas anderes, jene Stellen auszusuchen, die er vorzutragen gedachte.

Also kaufte er sich ein Billett und fuhr von Alésia zurück nach Montrouge.

Madame Beaucourt stand wie immer mittwochs, mit ihrer schmuddeligen Kittelschürze bekleidet und einer Zeitung unter dem Arm an der Haustüre.

Fabien war sich im Klaren darüber, dass er einer Unterhaltung nicht mehr ausweichen konnte, denn sie hatte ihn bereits gesehen, als er noch zwei, drei Häuser von ihr entfernt war. Sie winkte ihm zu.

Um dem ihm unbequemen Gespräch vielleicht doch noch ausweichen zu können, verhielt er im Schritt inne, beugte sich hinab, um sich den rechten Schuh neu zu schnüren.

Die Concierge stand wie angewurzelt weiterhin an der Haustüre, als er sich wieder aufrichtete.

‚Also hinein ins Gefecht‘, dachte Fabien und begrüßte die Frau, der eine fettige Haarsträhne in die Stirn gefallen war.

„Nun, Monsieur Sautter, wie gefällt ihnen die neue Herrschaft? Sie müssten mit deren Sitten ja bestens vertraut sein. Schließlich sind sie ja Deutscher!“

„Wie kommen sie denn darauf, Madame Beaucourt, ich bin Franzose, so wie sie Französin sind!“

„Vielleicht auf dem Papier, aber bestimmt nicht von ihrem Naturell her!“

„Was soll das denn heißen?“, wollte Fabien erbost wissen.

„Nun ja, ihre Mutter ist doch Deutsche und in Berlin geboren. Oder stimmt das etwa nicht?“

„Kommen sie jetzt mit französischer Arisierung? Ich bin ebenso wie mein Vater hier in Paris geboren. Er hat im Ersten Weltkrieg sein Leben für unser Vaterland gegeben. Genügt ihnen das nicht?

Wie ich sehe, haben sie doch den Canard abonniert und werden ihn bestimmt auch lesen. Ich dachte immer, das sei ein linkes Blatt. Da passen ihre Ansichten aber überhaupt nicht dazu.“.

„Was schert es sie, was ich lese und welche Einstellung ich habe? Das geht sie einen Kehricht an, sie…sie…“ „Na, jetzt sagen sie schon, was brennt ihnen denn auf der Seele?“

Die Concierge schloss, ohne zu antworten die Haustüre auf, öffnete sie einen Spalt, so dass sie gerade noch alleine hindurchschlüpfen konnte und ließ sie hinter sich wieder ins Schloss fallen.

Fabien kramte seinen Schlüssel aus der Hosentasche hervor und betrat den Hausflur gerade in dem Moment, als die Gardine an ihrem Flurfensterchen zugezogen wurde.

In seiner Wohnung widmete sich Fabien dem Vortragsmanuskript, welches er bisher lediglich fragmentarisch erarbeitet hatte. Einige Passagen strich er wieder, wogegen er neue Abschnitte einfügte.

Er tat sich mit dieser Arbeit schwer, denn seine Gedanken beschäftigten sich immer noch mit den politischen und militärischen Vorgängen in der Stadt.

Es war bereits kurz nach 16 Uhr, als er es endlich geschafft hatte.

Eilig überflog er nochmals die Seiten, verstaute sie in seiner alten, verschlissenen Aktentasche, zog sich rasch um und eilte die Treppe hinunter.

Er sah den Schatten der Concierge im Flurfenster und ahnte, dass sie ihn beobachtete.

Auf der Straße hielt er eine Taxe an, denn mit der Metro hätte er seinen Auftritt verpasst.

Der Saal in der Buchhandlung Gibert an der Place Saint-Michel war zu dreiviertel mit Besuchern gefüllt, als er hinter dem kleinen Tischchen Platz nahm, auf welchem eine Tischlampe sein Manuskript beleuchtete.

Nachdem Ruhe in dem Raum eingekehrt war, rezitierte er aus der von ihm geschriebenen Biografie über den Maler Louis Anquetin, welcher in Paris sein Atelier hatte und 1932 verstorben war.

Besonders, als Fabien von seiner Begegnung mit dem Künstler berichtete, hingen die Zuhörer an seinen Lippen.

Ein gutgekleideter, etwas in die Jahre gekommener Mann mit etwas schütterem Haar, saß in der ersten Reihe hörte ebenfalls ausnehmend interessiert zu. Es kam Fabien so vor, als sei es der Mann in deutscher Offiziersuniform gewesen, den er vor einigen Stunden mit einer Frau Champagner trinken gesehen hatte.

Mit dem Hinweis auf die in Kürze einsetzende Ausgangssperre, unterband er schließlich weitere Fragen. Er packte seine Sachen zusammen, kassierte sein Honorar und wollte sich gerade eine Taxe rufen lassen, die ihn zurück nach Montrouge bringen sollte, als dieser Herr ihn zurückhielt. In akzentfreiem französisch bot er Fabien an, ihn in seinem Wagen mitzunehmen.

Der Mann stellte sich als Alfred Streccius vor und sei erst kürzlich mit seiner Frau nach Paris gekommen. Fabien hatte nicht die Absicht, sich mit einem Besatzer zu unterhalten und erst recht nicht, sich von ihm in dessen Auto mitnehmen zu lassen.

Demzufolge wandte er sich von dem Mann mit den Worten ab: „Ich habe es eilig und nehme…“ „Der Deutsche unterbrach ihn und hielt ihn mit leichtem Druck am Arm zurück. „Sie möchten noch vor der Ausgangssperre zu Hause sein, aber das ist in diesem Fall nicht unbedingt nötig. Ich garantiere dafür!“ „Das mag ja sein, doch…“, diesmal unterbrach Fabien sich selbst, denn er fand nicht die richtigen Worte, um nicht unhöflich zu werden.

„Doch möchten sie sich nicht mit jemanden unterhalten, der mitverantwortlich dafür ist, dass sie jetzt unter deutscher Verwaltung stehen. Habe ich recht?“

„Genau das möchte ich nicht und nun lassen sie mich bitte gehen und belästigen mich nicht weiter“, sagte Fabien schroff.

Der Deutsche stellte sich vor ihn, um ihm den Weg zu versperren. „Hören sie mir zumindest noch einen Moment zu“, sagte er mit einem freundlichen Lächeln, welches Fabien ein wenig besänftigte.

„Ich kenne ihre Arbeiten! Sie sind ein hervorragender, sehr gut recherchierender Historiker und Biograf, wovon ich mich heute persönlich überzeugen konnte. Darum habe ich ihnen einen interessanten und auch lukrativen Vorschlag zu machen.“

Fabien wusste plötzlich nicht, wie er sich diesem Mann gegenüber verhalten sollte. Schließlich handelte es sich nicht um einen ungehobelten Barbaren, der Menschen hinschlachtete, sondern um einen gebildeten und wohl gutsituierten Menschen.

Nach erneutem Zureden stimmte er daher schließlich dem Vorschlag des Mannes zu, sich von ihm chauffieren zu lassen.

Gemeinsam verließen sie die Buchhandlung.

Just in diesem Moment, fuhr eine schwarze Mercedeslimousine vor.

Der Fahrer öffnete den hinteren Wagenschlag.

Als sie im Fond Platz genommen hatten, setzte sich der Wagen in Bewegung.

Durch die nahezu menschenleeren und nur notdürftig beleuchteten Straßen ging es durch die Innenstadt. Dabei sprach Herr Streccius fortwährend auf ihn ein.

Zweimal wurde der Wagen auf dem Weg nach Montrouge von deutschen Posten angehalten. Doch nachdem der Offizier seinen Dienstausweis gezeigt hatte, standen die Soldaten stramm und grüßten militärisch. Schließlich hielt das Auto vor Fabiens Haus.

Wieder stieg der Fahrer aus, um ihm die Türe zu öffnen.

„Bis dann. Ich schicke ihnen einen Wagen, der sie abholt“, verabschiedete Streccius seinen Fahrgast und gab dem Chauffeur den Befehl ihn zum Hotel Majestic zu fahren.

Madame Beaucourt schien die Szenerie genau beobachtet zu haben.

Als Fabien an dem Fenster ihrer Loge vorbeikam, öffnete sie dieses, grüßte freundlich mit ironischem Unterton: „Da habe ich mich wohl doch nicht in ihnen getäuscht, Herr Sautter. Während der Ausgangssperre mit einem deutschen Dienstwagen nach Hause gebracht zu werden, bedeutet schließlich viel. Sind die neuen Herren ihre Freunde?“

Fabien antwortete nicht, sondern ging, zwei Stufen auf einmal nehmend, wortlos nach oben in seine Wohnung.

Statt sofort ins Bett zu gehen, öffnete er eine Flasche Côtes du Rhône, zündete sich eine Zigarette an und setzte sich in seinen Ohrensessel, nachdem er eine Platte mit dem Karneval der Tiere von Camille Saint-Saëns aufgelegt hatte. Er mochte dieses Stück besonders.

Er ließ den Abend in Gedanken noch einmal Revue passieren, wobei er sich nicht sicher war, bei dem deutschen Offizier richtig gehandelt zu haben.

Es war gegen vier Uhr in der Nacht, als er aufstand, den Inhalt des Aschenbecher in den Abfalleimer schüttete, die leere Flasche zu den übrigen in den Schrank stellte und sich angezogen aufs Bett legte

*

3

Am 22. Juni 1940 hatte Marschall Henri Philippe Pétain, der am 16.Juni 1940 letzter Regierungschef der Dritten Republik wurde, in einem Salonwagen im Wald von Compiègne den Waffenstillstandsvertrag mit Hitlerdeutschland unterzeichnet. In ihm wurde das französische Staatsgebiet in eine besetzte und eine unbesetzte Zone unterteilt.

Damit unterstand die Hauptstadt Paris einem deutschen Besatzungsregime. Im unbesetzten Süden wurde der Kurort Vichy im Departement Allier, Sitz einer neuen französischen Regierung.

Diesem Vichy-Regime unterstanden nun ungefähr 40 Prozent des französischen Staatsgebiets.

Pétain setzte in dieser provisorischen Hauptstadt eine neue Regierung ein. Er war nun zugleich Staats- und Regierungschef und arbeitete mit dem nationalsozialistischen Deutschland zusammen.

Die Kollaboration war bei einem Treffen zwischen Petain und Hitler in Montoire beschlossen worden. Diese Zusammenkunft hatte zur Folge, dass die Vichy-Regierung den Besatzern Beistand leisten würde, indem sie die deutschen Kriegsbemühungen unterstütze und die Nazi-Gegner nicht nur verfolgte, sondern sie zur Deportation ausliefere.

Hitler ließ es sich am Tag nach der Unterzeichnung nicht nehmen, seine Beute in Augenschein zu nehmen.

Innerhalb weniger Stunden besichtigte er die Metropole an der Seine im Schnelldurchgang: Oper, Champs-Élysées, Triumphbogen, Trocadéro-Platz oder das Grab Napoleons des dritten.

Viele Menschen hatten das Gefühl, mit dem ‚Helden von Verdun‘ wieder zu einem System der Ordnung zurückzukehren.

Allerding wurde schnell eine neue Ordnung geschaffen! Eine faschistische, von Willkür geprägte Ordnung, welche die Bürger auch unmittelbar zu spüren bekamen.

Gestützt auf konservative Politiker und die katholische Kirche, proklamierte die Vichy-Regierung in den unbesetzten Gebieten eine ‚Révolution nationale‘ zur moralischen Erneuerung Frankreichs. Unter der Parole: ‚Familie und Vaterland‘ setzte sie sich von den Prinzipien der französischen Revolution von 1789 ‚Liberté, Égalité, Fraternité‘ und der aus ihr gewachsenen republikanischen Tradition ab. Die konservativ-autoritäre Politik der nationalen Revolution drückte sich unter anderem in scharfer Pressezensur, Unterdrückung der Opposition und einem Führerkult um Staatschef Pétain aus.

Nachdem am 10. Juli 1940 die Luftangriffe auf England begannen, welche starke Zerstörungen in der Hauptstadt London und weiteren Städten auf der Insel verursachten, wurde am 18. Juli durch das deutsche Militärkommando in Paris eine Propagandaabteilung geschaffen, welche die schriftliche Presse, den Rundfunk, die Literatur, das Kino und alle kulturellen Ereignisse kontrollierte und zensierte.

Der neue Sender erhielt den Namen ‚Radio-Paris‘, um die Aura des früheren ersten nationalen Radiosenders aus der Vorkriegszeit auszunutzen. Er sollte die Franzosen zur Zusammenarbeit mit den Deutschen überreden.

Die beträchtlichen finanziellen Ressourcen ermöglichten es ihm, Programme für ein großes Publikum anzubieten, welche sowohl aufwändig, wie auch unterhaltsam waren und in den Musikprogrammen einen vorherrschenden Platz einnahmen.

Tino Rossi und Maurice Chevalier sangen in sein Mikrofon und das berühmte große Orchester von Radio-Paris unter der Regie von Jo Bouillon trug zum Erfolg des Senders bei.

Dieser deutsche Propagandasender rekrutierte sehr schnell zahlreiche französische, kollaborierende Journalisten.