In den Stürmen der Geschichte - Katharina Rudolph - E-Book

In den Stürmen der Geschichte E-Book

Katharina Rudolph

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Beschreibung

Leonhard Frank (1882–1961) gehört zu den bedeutenden Schriftstellern der Weimarer Republik. In ärmsten Verhältnissen in Würzburg geboren, kämpfte er sich als ehemaliger Schlossergeselle ohne höhere Schulbildung ganz nach oben. Kaum ein anderer der großen Autoren seiner Generation weist eine solch außergewöhnliche Laufbahn auf. Er war bekannt oder befreundet u. a. mit Erich Mühsam, Hugo Ball, Alfred Döblin, Erich Kästner, Alfred Polgar, Billy Wilder, Thomas und Heinrich Mann. Immer wieder erhob der Verfasser des aufsehenerregenden Novellenbandes »Der Mensch ist gut« (1917) seine Stimme für Frieden, Gerechtigkeit und Menschlichkeit, selbst dann, wenn es hieß, dafür alles aufs Spiel zu setzen: Er war einer der wenigen deutschen Schriftsteller, die gleich zweimal ins Exil gehen mussten, im Ersten Weltkrieg und während der NS-Zeit. »Sein Leben«, resümierte Frank in seiner Autobiographie mit dem bezeichnenden Titel »Links wo das Herz ist« (1952), »war das eines kämpfenden deutschen Romanschriftstellers in der geschichtlich stürmischen ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. [...] Er hat sich von Jugend an um Dinge gekümmert, die ihn nichts angingen, und ist der Meinung, daß Menschen, die das nicht tun, die Achtung vor sich selbst verlieren müssen [...].« Trotz der Bedeutung, die er einst in Deutschland hatte, ist Frank heute aus der Forschung und dem kulturellen Gedächtnis weitgehend verschwunden. Anhand von umfangreichen, teils unbekannten Quellen aus rund fünfzig Archiven schildert die vorliegende Arbeit das Leben dieses unangepassten Schriftstellers – in dem sich auf ganz besondere Art ein Stück deutsche Zeitgeschichte spiegelt. »Ein wirkliches, lauteres Talent.« Thomas Mann

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Über das Buch

Leonhard Frank (1882–1961) gehört zu den bedeutenden Schriftstellern der Weimarer Republik. In ärmsten Verhältnissen in Würzburg geboren, kämpfte er sich als ehemaliger Schlossergeselle ohne höhere Schulbildung ganz nach oben. Kaum ein anderer der großen Autoren seiner Generation weist eine solch außergewöhnliche Laufbahn auf. Er war bekannt oder befreundet u. a. mit Erich Mühsam, Hugo Ball, Alfred Döblin, Erich Kästner, Alfred Polgar, Billy Wilder, Thomas und Heinrich Mann. Immer wieder erhob der Verfasser des aufsehenerregenden Novellenbandes »Der Mensch ist gut« (1917) seine Stimme für Frieden, Gerechtigkeit und Menschlichkeit, selbst dann, wenn es hieß, dafür alles aufs Spiel zu setzen: Er war einer der wenigen deutschen Schriftsteller, die gleich zweimal ins Exil gehen mussten, im Ersten Weltkrieg und während der NS-Zeit.

»Sein Leben«, resümierte Frank in seiner Autobiographie mit dem bezeichnenden Titel »Links wo das Herz ist« (1952), »war das eines kämpfenden deutschen Romanschriftstellers in der geschichtlich stürmischen ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. […] Er hat sich von Jugend an um Dinge gekümmert, die ihn nichts angingen, und ist der Meinung, daß Menschen, die das nicht tun, die Achtung vor sich selbst verlieren müssen […].«

Trotz der Bedeutung, die er einst in Deutschland hatte, ist Frank heute aus der Forschung und dem kulturellen Gedächtnis weitgehend verschwunden. Anhand von umfangreichen, teils unbekannten Quellen aus rund fünfzig Archiven schildert die vorliegende Arbeit das Leben dieses unangepassten Schriftstellers – in dem sich auf ganz besondere Art ein Stück deutsche Zeitgeschichte spiegelt.

»Ein wirkliches, lauteres Talent.« Thomas Mann

Über Katharina Rudolph

Katharina Rudolph, 1984 in Hamburg geboren, Studium der Germanistik, Geschichte und Kunstgeschichte in Frankfurt. Stipendiatin der Leonhard-Frank-Gesellschaft, des Deutschen Literaturarchivs in Marbach sowie der FAZIT-Stiftung der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Katharina Rudolph ist freie Journalistin und schreibt u. a. für das Feuilleton der FAZ und das Magazin »Frankfurter Allgemeine Quarterly«, Veröffentlichungen zu Literatur, Sachbuch, Architektur und Kunst. Wissenschaftliche Veröffentlichung zu Leonhard Franks Buch »Der Mensch ist gut« im von Prof. Dr. Wolfgang Riedel herausgegebenen Sammelband »Felder der Ehre. Krieg und Nachkrieg in der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts«. Promotion über das Leben Leonhard Franks.

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Katharina Rudolph

In den Stürmen der Geschichte

Leben und Werk des Schriftstellers Leonhard Frank zwischen Kaiserreich und geteiltem Deutschland 1882 – 1961

Inauguraldissertation zur Erlangung des Grades eines Doktors der Philosophie im Fachbereich Philosophie und Geschichtswissenschaften der Johann Wolfgang Goethe-Universität zu Frankfurt am Main

vorgelegt von Katharina Rudolph aus Hamburg

2019 erschienen 2020

1. Gutachter: Prof. Dr. Jürgen Müller 2. Gutachter: Prof. Dr. Andreas Fahrmeir 3. Gutachter: Prof. Dr. Kristina Schulz

Mündliche Prüfung am 23.10.2019

Inhaltsübersicht

Informationen zum Buch

Newsletter

1. Einleitung

1.1. Thesen und Ziele

1.2. Zur Forschung

1.3. Zu den Quellen

2. Herkunft und Armutsjugend 1882–1904

2.1. Wie die Franks nach Würzburg kamen

2.2. Was ich bin, kommt von ihr

2.3. Das sorgenvermehrende vierte Kind

2.4. Traumatische Schul- und Lehrjahre

2.5. Wanderschaft und unbestimmte Sehnsucht

2.6. Der Traum vom Künstlerdasein

2.7. »Deutsche Novelle« in Rothenburg

3. Bohèmejahre in München 1904–1909

3.1. In der modernsten Malschule der Stadt

3.2. Verraten und betrogen

3.3. Auf dem Berg der Wahrheit

3.4. Im Café Größenwahn

3.5. Gegen den Vater-Staat

3.6. Ende einer Gefolgschaft

3.7. Unter Expressionisten

4. Hungerjahre in Berlin 1909–1916

4.1. Im Zentrum der Avantgarde

4.2. Zwei Ehen, eine Frau

4.3. Literarische Anfänge

4.4. Der Durchbruch

4.5. Kriegsgegner der ersten Minute?

4.6. Eine Ohrfeige gegen den Krieg

4.7. Kur statt Kaserne

5. Exil in der Schweiz 1916–1918

5.1. Die Emigranten-Kolonie

5.2. Große Ziele, erste Orientierung

5.3. Hugo Ball als Paartherapeut

5.4. Manifest gegen den Kriegsgeist

5.5. Religiöser Sozialismus

5.6. Fanatischer Moralist

5.7. Warnung an Lenin und Trotzki

5.8. Politischer Illusionist

5.9. Pazifisten gegen Pazifisten

5.10. Der Ruf der Revolution

6. Nirgends hingehörig 1918–1924

6.1. Träume werden Wirklichkeit

6.2. Revolution und Realität

6.3. Suche nach Orientierung

6.4. Die private Katastrophe

6.5. Politisches Fazit

7. Erfolgsautor in Berlin 1924–1933

7.1. Rechte Justiz und linke Literaten

7.2. Weg vom Klassenkampf

7.3. Romeo und Julia in Berlin

7.4. Der Mensch isst gut

7.5. Das schönste Liebesbuch

7.6. Pestwolke der Weltwirtschaftskrise

7.7. Krieg im Kino

7.8. Koffer packen

8. Exil in der Schweiz und in Frankreich 1933–1940

8.1. Auf der Durchreise

8.2. Die Bücher brennen

8.3. Die Mittel sind erschöpft

8.4. In Acht und Bann

8.5. Einheitsfront gegen den Faschismus

8.6. Schreiben heilt

8.7. Unerwünschter Ausländer

8.8. In der Dunkelheit der Stadt des Lichts

8.9. Alptraum Internierung

8.10. Rettung in letzter Minute

8.11. Der lange Weg zum Mittelmeer

8.12. Mit dem Rücken zum Meer

8.13. Der Engel von Marseille

9. Exil in Amerika 1940–1950

9.1. Weimar unter Palmen

9.2. Hilferufe aus Marseille

9.3. Eine Liebschaft mit Folgen

9.4. Im Gespräch mit Thomas Mann

9.5. Neustart in New York

9.6. Ein neuer Roman und Ärger in Würzburg

9.7. Die letzte große Liebe

9.8. Ich muss fort. Ich muss!

10. Zurück in Deutschland 1950–1961

10.1. Große Hoffnung, große Enttäuschung

10.2. Umworben von der DDR

10.3. Glücksgefühle im Osten

10.4. Zwischen den Stühlen von Ost und West

10.5. Nichts auf der Welt unversucht lassen

10.6. Letzte Jahre

11. Resümee

Anhang

Anmerkungen

Quellen

Literatur

Abkürzungen

Dank

Impressum

1. Einleitung

Es war ein Dienstag, der 22. August des Jahres 1961, ein milder Hochsommermorgen. Neun Tage nachdem in Berlin mit dem Bau der Mauer begonnen worden war und die Teilung zwischen den Deutschen diesseits und jenseits des Eisernen Vorhangs weiter zementiert werden sollte, kam in der Aussegnungshalle des Krematoriums auf dem Münchner Ostfriedhof eine kleine Schar von Menschen aus West- und Ostdeutschland zusammen, um den Tod eines Mannes zu betrauern, in dessen Leben sich auf besondere Art ein Stück deutsche Zeitgeschichte spiegelt – Leonhard Frank. Er war vier Tage zuvor gestorben, rund zwei Wochen vor seinem 79. Geburtstag am 4. September.

Gewürdigt wurde ein Mann, der einst zu den bedeutendsten Schriftstellern Deutschlands gehört hatte, dessen Romane und Erzählungen in die wichtigsten Sprachen der Welt übersetzt und zum Teil verfilmt wurden, der mit unkonventionellen Theaterstücken Furore machte, der für seine politischen Überzeugungen konsequent einstand und deshalb gleich zweimal ins Exil ging, der sich, zurück in Deutschland, in der Zeit des Kalten Krieges auf keine der beiden verfeindeten Seiten schlug, auf die östliche nicht, die ihn umwarb und die er mit Sympathie betrachtete, und auf die westliche nicht, zu der er zwar politisch in Opposition stand, die zu verlassen er aber nicht bereit war. »Sein Leben«, so resümierte er in seiner 1952 erschienenen Autobiographie mit dem bezeichnenden Titel »Links wo das Herz ist«, »war das eines kämpfenden deutschen Romanschriftstellers in der geschichtlich stürmischen ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. Seine Bücher sind Bildnisse seines Innern. Er hat sich von Jugend an um Dinge gekümmert, die ihn nichts angingen, und ist der Meinung, daß Menschen, die das nicht tun, die Achtung vor sich selbst verlieren müssen […].«1

Im Jahr 1882 in Würzburg geboren in eine protestantische Familie von Tagelöhnern und Dienstmägden aus der mittelfränkischen Provinz, durchbrach er schon früh die engen Schranken seiner Herkunft. Mit Anfang zwanzig fasste er, ohne jegliche Erfahrung in einem akademisch gebildeten Umfeld und mit kaum mehr als dem Monatslohn eines Arbeiters in der Tasche, den waghalsigen Entschluss, seine Heimatstadt zu verlassen, um Bildender Künstler zu werden. Als es mit dem Malen nicht recht gelang, begann er zu schreiben. Gleich der erste Roman, die 1914 veröffentlichte »Räuberbande«, ein Werk, in dem er eine Gruppe von jungen Schülern porträtiert, die von Freiheit und Unabhängigkeit träumen, brachte Frank den Fontane-Preis ein, den ein Jahr zuvor, 1913, Annette Kolb erhalten hatte und den zwei Jahre später, 1916, Alfred Döblin erhielt. Als im Ersten Weltkrieg in den Schützengräben Europas Millionen Menschen starben, ging er ins Exil in die Schweiz und schrieb mit flammenden Appellen gegen Militarismus, Nationalismus und Chauvinismus an. Seine Novellensammlung mit dem programmatischen Titel »Der Mensch ist gut« wurde, ähnlich wie »Le Feu« von Henri Barbusse, zu einem der bekanntesten Antikriegswerke der Zeit – und das schon 1917, zwölf Jahre, bevor Erich Maria Remarque mit »Im Westen nichts Neues« Weltruhm erlangen sollte. Nach Verstrickungen in die revolutionären Nachkriegswirren in Deutschland kehrte seit Mitte der zwanziger Jahre allmählich Ruhe ein in Franks Leben. 1928 wurde der mittlerweile 45-Jährige endgültig zum Arrivierten, zum Hochgeehrten: man nahm ihn in die Preußische Akademie der Künste auf. Seine Bücher erreichten Auflagen von bis zu 100 000 Exemplaren, die zu Dramen umgearbeiteten Erzählungen, so die Geschichte des sich über gesellschaftliche Konventionen hinwegsetzenden Liebespaares »Karl und Anna« oder »Die Ursache«, eine eindringliche Anklage gegen die Todesstrafe, wurden auf den Bühnen der europäischen Metropolen gezeigt.

Zu Beginn des Jahres 1933 ging Frank als erklärter Gegner des Nationalsozialismus zum zweiten Mal ins Exil in die Schweiz. Noch im selben Jahr wurden seine Bücher in Deutschland verbrannt, und 1934 wurde er, zusammen mit Klaus Mann, Erwin Piscator, Wieland Herzfelde, Alfred Kantorowicz und vielen anderen, auf die dritte Ausbürgerungsliste gesetzt. Sie alle waren jetzt staatenlos, ihr Vermögen wurde beschlagnahmt. Frank floh weiter nach Frankreich, wurde dort interniert. 1940 gelang ihm beim Einmarsch der deutschen Truppen eine gefährliche Flucht aus der Bretagne nach Marseille und von dort über Spanien und Portugal ins rettende Amerika. Zehn Jahre, von 1940 bis 1950, lebte und arbeitete er dort, erst in Los Angeles und dann in New York, ohne Erfolg, ohne jemals wirklich anzukommen. Alles blieb ihm fremd. 1950 kehrte er im Alter von 68 Jahren zurück nach Deutschland. Hier erhielt er, beinahe zeitgleich, zwei große Auszeichnungen, die eine in der Bundesrepublik, die andere in der DDR: 1955 wurde er mit dem Nationalpreis 1. Klasse der DDR ausgezeichnet, zwei Jahre später, 1957, mit dem Großen Verdienstkreuz der Bundesrepublik. Für seine Bücher allerdings interessierten sich zumindest im Westen nur wenige, man wollte nach der vermeintlichen Stunde Null nichts mehr wissen von denen, die zum alten Deutschland gehörten.

Am 18. August 1961 um neun Uhr vormittags starb Leonhard Frank im Krankenhaus in der Schönfeldstraße 16 in München an Herzversagen. Vier Tage später wurden seine sterblichen Überreste nach der Trauerfeier auf dem Ostfriedhof verbrannt. »Wieder ist einer verschwunden aus der Generation, welche die heutige so weit überragt«2, schrieb Katia Mann, die Witwe Thomas Manns, zu dessen engsten Gesprächspartnern Frank eine Zeitlang gehört hatte.

1.1. Thesen und Ziele

Welche Folgen Franks zweites Exil hatte, erfuhr er unmittelbar nach seiner Rückkehr nach Deutschland im Jahr 1950. In seiner Autobiographie, in der er von sich als »Michael Vierkant« in der dritten Person schreibt, berichtet er von einem erwartungsvollen Besuch des ersten Buchladens, den er in Deutschland betrat: Er fragte »lächelnd nach seinen Büchern. Er nannte ein paar Titel. Der junge Buchhändler kannte die Titel der Bücher nicht, er kannte nicht Michaels Namen. Ein deutscher Buchhändler wußte nichts von Michael, der kurz vor der Abreise von New York seine Bücher hinter dem Schaufenster einer Buchhandlung in der Fifth Avenue gesehen und auf der ›Flying Enterprise‹ einen Passagier beobachtet hatte, der in die Lektüre der französischen Ausgabe von ›Karl und Anna‹ vertieft gewesen war. Im Land seiner Sprache waren Michaels Bücher verboten und verbrannt. Die deutschen Leser bis zu vierzig Jahren kannten nichts von ihm. Über Michael hatte Hitler gesiegt.«3 Ein Auslöschungsprozess hatte stattgefunden4, der Frank und viele andere der ins Exil gegangenen Schriftsteller betraf und der bis heute nachwirkt.

Die vorliegende Studie geht von dem Grundgedanken aus, dass Leonhard Frank eine zu Unrecht vergessene Persönlichkeit des literarisch-geistigen Lebens in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts ist, mit Erfahrungen und Werken, die diese Zeit mit ihren Höhen und Tiefen auf besondere Weise spiegeln. Leonhard Frank hat die wechselvolle Geschichte vom Kaiserreich bis zum geteilten Deutschland intensiv miterlebt und miterlitten. Seine Werke und sein unruhiges Leben, das »fünf Deutschland«5 umfasst – die Zeit des Kaiserreichs, der Weimarer Republik, des Dritten Reiches (da allerdings im Exil), der Bundesrepublik und der DDR –, offenbaren in Wechselwirkung mit den jeweiligen gesellschaftlichen und politischen Umständen exemplarische Einblicke in die historische Wirklichkeit vom Ende des neunzehnten bis zur Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts. Frank war darüber hinaus auch eine Ausnahmeerscheinung: Es gab keinen vergleichbaren Schriftsteller, der sich, in ärmsten Verhältnissen aufgewachsen, ohne Abitur und akademische Bildung das Schreiben selbst beibrachte, zu einem der bekanntesten Autoren der Weimarer Republik wurde und zeitweise weltweit Erfolge feierte.

Ziel der Arbeit ist es, die vielen biographischen Lücken zu schließen und das Leben dieses bedeutenden deutschen Autors im Spiegel der jeweiligen historischen Umstände zu rekonstruieren. Die Studie verfolgt dabei einen interdisziplinären Ansatz zwischen Geschichts- und Literaturwissenschaft, da sowohl die üblichen historischen Quellen untersucht als auch literarische Werke in die Analyse miteinbezogen werden. Am Beispiel des politischen, gesellschaftlichen und schriftstellerischen Engagements von Leonhard Frank soll so ein spezifisches Schlaglicht auf die, wie er es nannte, »geschichtlich stürmische erste Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts«6 geworfen werden.

1.2. Zur Forschung

Grundlegende, lexikalische Informationen zu Leonhard Frank standen zur Verfügung, dennoch war über viele Etappen seines Lebens im Detail nur wenig bekannt. Was genau etwa erlebte er in den Jahren der Münchner Bohème, die für seine weitere Entwicklung so relevant waren? Welche politischen Prägungen erhielt er während seines Exils im Ersten Weltkrieg? Wie und wo verbrachte er die unsteten Jahre nach der gescheiterten Revolution von 1918/19? Was sind die Etappen seines Exils während der NS-Zeit und wie erging es ihm in diesen Jahren? Was tat er, was schrieb er warum? Wie lebte er in den USA, wo er beispielsweise in Hollywood zeitweise Tür an Tür mit Heinrich Mann in den Filmstudios arbeitete?

In der Forschung wurde und wird Frank kaum und wenn, dann nur in thematisch relativ begrenzten, meist literaturwissenschaftlichen Arbeiten berücksichtigt. Eine Biographie existierte bisher nicht. Zwar rückte die in der Bundesrepublik seit Mitte der sechziger Jahre einsetzende Exilforschung viele bis dahin vergessene Autoren wieder stärker in den Fokus von Wissenschaft und Öffentlichkeit – nachdem die Emigranten zuvor auch aus politischen Gründen kaum Beachtung gefunden hatten –, um Frank jedoch hat sich die Exilforschung überraschenderweise bis heute kaum bemüht.7

Bis 1990 erschienen in der Bundesrepublik nur wenige Arbeiten über Frank, darunter zwei Dissertationen, die sich vor allem unter literaturwissenschaftlicher Perspektive seinem Frühwerk und der Hauptschaffenszeit in den Jahren der Weimarer Republik widmen.8 Auch in der DDR, wo Franks Werke in hohen Auflagen erschienen, gab es zwar immer wieder Würdigungen in Zeitungen und Zeitschriften, aber keine umfassende wissenschaftliche Auseinandersetzung. Wahrscheinlich eignete sich Frank zu wenig als DDR-Vorzeigeliterat, weil er sich trotz seiner sozialistischen Überzeugung nie einer Parteidisziplin unterwarf und einen sehr idealistischen, wenig politisch-konkreten Sozialismus vertrat, der nicht immer konform war mit den Linien von KPD und SED. So erschienen in der DDR einige wenige Dissertationen und immerhin eine größere Zahl von weiteren Untersuchungen9, wobei diese Arbeiten freilich oft ideologisch vorbelastet sind.

Auch nach der Wiedervereinigung erfolgte bis heute keine umfassende Auseinandersetzung in der Forschung.10 Allein eine 2004 erschienene Dissertation mit dem Titel »Gefühlssozialist im 20. Jahrhundert. Leonhard Frank 1882–1961«11 des Germanisten Ralph Grobmann versteht sich als übergreifende Gesamtdarstellung. Der Blick des Autors erfolgt unter literatursoziologischen Gesichtspunkten und ist insofern thematisch begrenzt, als Grobmann sich auf Franks Selbstverständnis als »Gefühlssozialist« bezieht und Leben und Werk unter diesem Aspekt beleuchtet. Dabei wird beispielsweise eine wesentliche Etappe von Franks Leben, die Kindheit und Jugend in der kleinbürgerlichen Sphäre der Stadt Würzburg, weitgehend ausgespart, andere Zeitspannen, die für seine Rolle als »Gefühlssozialist« weniger relevant sind, werden eher knapp abgehandelt. Die Jahre seit Franks Rückkehr nach Deutschland analysiert Grobmann sehr ausführlich und liefert folglich wichtige Hinweise auch für diese Arbeit. Franks Nachlass in der Akademie der Künste in Berlin wurde sehr umfassend ausgewertet, der zweite Nachlass im Deutschen Literaturarchiv in Marbach allerdings weniger. Viele in Archiven oder Privatbesitz verstreute Quellen wurden erst im Rahmen der Recherchen für die vorliegende Dissertation entdeckt und ausgewertet.

Intensiv mit Franks in Würzburg verbrachten Jahren und dem Verhältnis zu seiner Vaterstadt hat sich Hans Steidle, Historiker, Heimatpfleger und Vorsitzender der Leonhard-Frank-Gesellschaft, in einer Monographie in der Schriftenreihe des Stadtarchivs Würzburg beschäftigt. Steidles Werk hat für diese Arbeit viele wichtige Erkenntnisse und Anregungen geliefert.12 Hilfreich waren außerdem einige Aufsätze aus der rund zwanzig kleine Bändchen umfassenden Schriftenreihe der in Würzburg ansässigen Leonhard-Frank-Gesellschaft, die sich um das Erbe Leonhard Franks insbesondere in seiner Heimatstadt sehr verdient gemacht hat.13 Auch dabei handelt es sich allerdings nicht um übergreifende Darstellungen, sondern um knappe, schlaglichtartige Einblicke zu fest umrissenen Themen. Besonders aufschlussreich waren darunter die Texte von Werner Dettelbacher, Hans Steidle und Michael Henke. Henke, ehemaliger Vorsitzender der Leonhard-Frank-Gesellschaft, resümierte im Jahr 2009: »Man muss es auf den Punkt bringen: Eine wissenschaftliche Beschäftigung mit Leonhard Frank findet nicht statt.«14 Das gilt, abgesehen von wenigen Ausnahmen, im Grunde genommen bis heute und hängt sicher nicht nur, aber doch auch mit der komplexen und schwierigen Quellenlage zusammen.

1.3. Zu den Quellen

Die wissenschaftliche Methode dieser Arbeit besteht im Wesentlichen in der Auswertung von schriftlichen Quellen, oft in nicht edierter Form, darunter etwa Briefe, Tagebuchaufzeichnungen, Notizen, Manuskripte, polizeiliche Dokumente. Die umfangreichsten zusammengehörenden Quellenbestände zu Leonhard Franks Leben und Werk liegen heute im Archiv der Akademie der Künste in Berlin und im Deutschen Literaturarchiv in Marbach am Neckar. Noch zu Lebzeiten, im Jahr 1960, hatte Frank seinen Nachlass der damaligen Akademie der Künste in Ostberlin vermacht. Er umfasst vier laufende Meter Schriftgut, insgesamt etwa 20 000 Blatt Papier, darunter Manuskripte, umfangreiche Geschäfts- sowie Privatkorrespondenzen, Druckbelege aus Zeitungen und Zeitschriften sowie Sekundärliteratur zu Leben und Werk. Ein großer Teil der im Nachlass erhaltenen Quellen stammt aus den Jahren nach Franks Rückkehr nach Deutschland, umfasst also etwa den Zeitraum von 1950 bis 1961.15 Viele dieser Dokumente sind Frank-Kennern bereits vertraut16, wurden jedoch bisher noch nicht im Zusammenhang mit dem zweiten großen Quellenbestand im Literaturarchiv in Marbach und im Rahmen einer alle Lebensabschnitte umfassenden biographischen Darstellung ausgewertet.

Der Nachlass im Deutschen Literaturarchiv in Marbach stammt aus dem Erbe von Franks dritter Ehefrau Charlott Frank. Nach dem Tod ihres Mannes im Jahr 1961 hatte sie mit dem Ziel, ein Leonhard-Frank-Archiv aufzubauen, mit großem Engagement akribisch Material über Leben und Werk ihres Mannes zusammengetragen. Auch diese Dokumente beziehen sich vielfach auf die Jahre nach 1950, allerdings konnte Charlott Frank einige wichtige Quellen auch aus früherer Zeit beschaffen, darunter etwa ein Konvolut mit rund vierzig Briefen von Frank an Baronin Ester Pidoll, die in den dreißiger Jahren seine Geliebte war. Ebenfalls im Marbacher Bestand befindet sich Franks umfangreiche Geschäftskorrespondenz mit dem Insel Verlag, vorwiegend aus den zwanziger Jahren. Die in fast fünfzig Archivkartons verwahrten Dokumente wurden jedoch seit ihrer Übergabe an das Deutsche Literaturarchiv nach Charlott Franks Tod im Jahr 1987 bis auf wenige Ausnahmen nicht mit Signaturen versehen und katalogisiert, weshalb der Nachlass in der Forschung bisher kaum ausführlich berücksichtigt wurde. Für die vorliegende Arbeit erfolgte eine systematische, sukzessive Durchsicht aller Kartons, so dass ein großer Teil der Archivalien nun erstmals wissenschaftlich ausgewertet worden ist. Da die einzelnen Archivalien keine Signaturen haben, wird in dieser Arbeit meist nur die Nummer der Kiste benannt, in der sich ein Dokument befand.

Aufgrund der Quellenbestände im Berliner und im Marbacher Nachlass sind die Spuren von Franks Leben und Werk aus der Zeit seit seiner Rückkehr nach Deutschland weitaus besser zu verfolgen, als es für die Zeit von 1882 bis 1950 möglich ist. Dies hängt zum einen mit den Überlieferungsbedingungen zusammen, da vieles in den Wirren zweier Weltkriege, von Verfolgung, Vertreibung und Flucht verlorengegangen ist. Zum anderen hängt es mit einer biographischen Besonderheit zusammen: Frank wuchs in einem bildungsfernen Milieu auf, er stammte, im Gegensatz zu fast allen anderen großen Erfolgsautoren zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts, aus einer kleinbürgerlichen Handwerkerfamilie, und seine Schulbildung ging, nach heutigen Maßstäben, nicht über einen Hauptschulabschluss hinaus. Thomas und Heinrich Mann etwa lasen bereits in jungen Jahren klassische Literatur, korrespondierten oder verfassten eigene Texte. Für den jungen Frank dagegen spielten die bürgerlich-intellektuellen Gepflogenheiten der Lektüre und des eigenen Schreibens aufgrund seines sozialen Umfeldes bis etwa Anfang zwanzig keine Rolle, weshalb der Nachwelt aus dieser Zeit auch so gut wie nichts an persönlichen Dokumenten überliefert ist. Tagebuch hat Frank sein Leben lang nicht geführt und auch Briefe hat er, im Vergleich zu vielen anderen Literaten, nur sehr wenige geschrieben, er charakterisierte sich selbst einmal durchaus zutreffend als den »unbestritten schlechtesten Briefschreiber aller Menschen«17. Auch das mag ein Grund sein, der viele Forscher bisher zurückgehalten hat, sich umfassend mit Franks Leben und Werk zu beschäftigen.

Im Verlauf der Recherchen für diese Arbeit konnten mit Unterstützung engagierter Archivmitarbeiter viele Quellen, verstreut in rund fünfzig Archiven und Bibliotheken in Deutschland, der Schweiz, Österreich, Frankreich, Italien und den USA, auch aus der Zeit vor 1950 ausfindig gemacht werden, die es ermöglichen, ein weitgehend geschlossenes Bild über den größten Teil von Franks Leben zu entwerfen. Besonders aufschlussreich sind darunter zum Beispiel bisher unbekannte Dokumente im Archiv der Universität Tübingen. Dort wird der Nachlass des Sanatoriums Bellevue in Kreuzlingen am Bodensee aufbewahrt. Frank war – zusammen mit vielen anderen Künstlern und Intellektuellen – vor allem während des Ersten Weltkriegs, aber auch zu späterer Zeit, immer wieder Patient oder Gast im Bellevue. Abgesehen von Korrespondenzen zwischen Frank und seinem behandelnden Arzt Ludwig Binswanger, dem Leiter des Sanatoriums, der im Verlauf der Jahre zu einem Freund und Vertrauten wurde, befindet sich unter den Archivalien auch eine Krankenakte über Frank. Sie enthält einen Lebenslauf von der frühen Kindheit bis ins Jahr 1915, wie Frank ihn Ludwig Binswanger bei seiner Ankunft im Sanatorium im Jahr 1915 erzählte und den dieser, handschriftlich in einer Art Telegrammstil, die exakten Formulierungen seines Patienten zitierend, als Protokoll der gemeinsamen Sitzungen notierte. Dieser Lebenslauf ist eines der wenigen authentischen Selbstzeugnisse Franks aus früher Zeit – aus den Jahren vor 1915 gibt es so gut wie gar keine – und liefert daher viele neue Erkenntnisse zu Kindheit und Jugend in Würzburg, der Bohème-Zeit in München und den literarischen Anfängen vor dem Ersten Weltkrieg in Berlin.

Ein zentraler neuer Quellenfund ist außerdem ein Bestand von etwa hundert Briefen, Telegrammen und mehreren Fotos aus dem Nachlass von Maria Meinen, einer Tänzerin und Schauspielerin, die Ende der dreißiger/Anfang der vierziger Jahre Franks Lebensgefährtin war und mit der er gemeinsam im Exil in Paris lebte. Die Briefe wurden von der Autorin dieser Arbeit im Besitz einer Schweizer Nachfahrin von Maria Meinen entdeckt und systematisch durchgearbeitet. Mittlerweile wurden sie dem Archiv der Akademie der Künste in Berlin und teilweise dem Staatsarchiv des Kantons Bern übergeben. Sie erweitern das Bild von Franks Exil ganz wesentlich, das bisher ausschließlich aus Dokumenten im Frankfurter Exilarchiv, vereinzelten Zeugnissen anderer Exilanten, Franks Autobiographie und dem stark autobiographisch geprägten Roman »Mathilde«, der Hinweise auf seine Flucht in Frankreich liefert, rekonstruiert werden konnte. Zur weiteren Erhellung der Exilzeit trägt auch die bisher unbekannte Schulakte von Leonhard Franks Sohn Andreas aus einem Schweizer Internat bei, da sie Korrespondenzen zwischen Eltern und Schulleitung enthält.

Hinzu kommen für alle Lebensabschnitte des Autors viele einzelne Quellen aus ganz unterschiedlichen Archiven, darunter Stadtarchive, Kirchenarchive, Staatsarchive, Verlagsarchive, Literaturarchive sowie eine große Anzahl von Zeitungsbeiträgen und Rezensionen im Zusammenhang mit der Rezeptionsgeschichte von Franks Werken oder historischen Kontexten und Ereignissen. Zudem wurden viele Tagebuchaufzeichnungen und Korrespondenzen von Zeitgenossen miteinbezogen, etwa von Thomas Mann, Klaus Mann, Romain Rolland, Stefan Zweig, Erich Mühsam, Hugo Ball oder dem mit Frank befreundeten Wilhelm Herzog, aus dessen Tagebuch der Verfasserin von Herzogs Sohn freundlicherweise Auszüge zur Verfügung gestellt wurden, sowie viele Memoiren, Autobiographien und Erinnerungen. So konnten beispielsweise Franks Internierung in Frankreich und seine Flucht aus einem Lager in der Bretagne bis nach Marseille und Lissabon mit Hilfe der Autobiographien, Erinnerungen oder Tagebücher von Schriftstellerkollegen wie Leo Lania, Soma Morgenstern, Kurt Stern, Hertha Pauli, Walter Mehring, Hans Natonek, Hermann Kesten, Alfred Polgar, Balder Olden oder von Karl Frucht, einem Freund Hertha Paulis, im Detail und teils auf den Tag genau rekonstruiert werden.

Auch Franks 1952 erschienene Autobiographie »Links wo das Herz ist« war eine wichtige Quellengrundlage, hinzu kam ein bisher unbekanntes Manuskript des Buches im Leo-Baeck-Institut in New York, das Passagen enthält, die in der gedruckten Version so nicht auftauchen. Weil Frank in »Links wo das Herz ist« nicht aus der Ich-Perspektive, sondern in der dritten Person von sich selbst als Michael Vierkant erzählt – Michael vermutlich, weil sein Großvater väterlicherseits so hieß, Vierkant wegen des Vierkantstahls aus der Schlosserwerkstatt, in der Frank seine Lehre absolvierte –, wird das Buch häufig in einer feinen Abgrenzung mehr als autobiographischer Roman denn als Autobiographie bezeichnet. Dennoch stellt der Autor hier persönliche Haltungen, Einstellungen und den Verlauf des eigenen Lebens, wenn auch enorm verkürzt und teilweise idealisiert, in vielerlei Hinsicht weitgehend authentisch dar.

Auch eine Auswahl der rein literarischen Werke Franks wurde in dieser Arbeit wesentlich berücksichtigt. Die Texte wurden nicht nur als Illustrationen zu anderweitig gewonnenen Erkenntnissen verwendet, sondern teils als eigenständige historische Quellen behandelt, als Ego-Dokumente.18 Das scheint unter geschichtswissenschaftlichen Gesichtspunkten zunächst nicht ganz unproblematisch zu sein, schließlich handelt es sich bei Literatur um Texte, die ihrem Wesen nach fiktional sind und die dem Anliegen, historische Realitäten rekonstruieren zu wollen, vermeintlich kaum dienlich sind. Gerade bei der Biographie eines Schriftstellers jedoch, dessen Leben stets untrennbar mit seinem Werk verwoben ist, und noch viel mehr im besonderen Fall von Leonhard Frank, der in ungewöhnlich hohem Maße fast immer autobiographisch geschrieben hat, liegt es nahe, ja ist es sogar erforderlich, literarische Werke auch als Quellen zu interpretieren, freilich unter behutsamer Quellenkritik und nur im Abgleich mit anderen Dokumenten.19

Franks autobiographisches Schreiben ist – auch das hängt sicher mit seiner fehlenden frühen literarischen Bildung zusammen – von einer eher geringen Vorliebe und zuweilen vielleicht auch geringen Fähigkeit zur Abstraktion, zu literarischer Überformung von Realität in Fiktionales geprägt. So benutzt er reale Personen aus seinem persönlichen Umfeld beispielsweise weniger als Inspiration oder als Vorbilder für literarische Figuren. Sie halten vielmehr, meist sogar unter kaum verhüllten neuen Namen – aus Leisentritt wird Leisegang, aus Franz Driesler wird Franziskus Grünwiesler, aus Meister Tretter wird Meister Tritt, aus Lehrer Mager wird Lehrer Dürr, aus Hans Spiegel wird Hans Widerschein –, direkten Einzug in seine Werke. Auch spezifische, von Frank erlebte Ereignisse werden immer wieder beinahe eins zu eins in die literarische Welt übernommen. In einigen seiner Werke steht Frank unter seinem literarischen Ich Michael Vierkant selbst im Zentrum der Handlung. Insbesondere sein erster Roman, die 1914 veröffentlichte »Räuberbande«, erlaubt umfassende Rückschlüsse auf seine Umwelt, sein Leben, Empfinden und Denken in den frühen Jahren. Das Buch stellt, nach dem Lebenslauf aus der Krankenakte des Sanatoriums Bellevue und aufgrund fehlender weiterer historischer Dokumente aus dieser Zeit, sogar die zweitwichtigste Quelle für Franks Kindheit und Jugend in Würzburg und seine Bohème-Jahre in München dar. Auch im Vergleich mit Franks Autobiographie ist der »Räuberbande« der Vorzug zu geben, weil das Buch, zeitlich gesehen, näher an den Ereignissen liegt und von vielen authentischen Details berichtet, die in »Links wo das Herz ist« zugunsten eines überblicksartigen, stringenten Handlungsverlaufs und einer kohärenten inneren Entwicklung der Hauptfigur wegfallen.

Ein Quellenbestand, der nur zu geringen Teilen in die vorliegende Arbeit integriert werden konnte, ist Franks hundert Seiten starke FBI-Akte, die bisher nur in kurzen Auszügen publiziert worden ist.20 Die Originalakte wurde zwar von der Verfasserin im Jahr 2018 in den National Archives in Washington ausfindig gemacht, da deren Bereitstellung jedoch bis zu zwei Jahre in Anspruch nimmt und sich die Wartezeit durch den Shutdown in den Vereinigten Staaten Anfang 2019 noch einmal verzögert hat, konnte sie nicht mehr in die Ergebnisse einfließen.

2. Herkunft und Armutsjugend 1882–1904

Kilian Thomas war »in einer katholischen Stadt geboren«.1 Kilian Thomas, das ist der Protagonist einer der frühesten literarischen Arbeiten Leonhard Franks, einer kleinen Erzählung mit dem schlichten Titel »Gotik«, die im Dezember 1913 in der Münchner Avantgarde-Zeitschrift »Die Neue Kunst« erschien. Wie in vielen seiner noch folgenden Werke hat Frank auch hier Selbsterlebtes, eigene Anschauungen und eigene Geschichte weitgehend unmaskiert literarisch verarbeitet, denn die »katholische Stadt«, in der Kilian geboren wird, ist unverkennbar Würzburg, die Stadt, in der Leonhard Frank im Jahr 1882 zur Welt kam. Die Grundlage für ihre feste Verwurzelung im Katholizismus, die bis heute besteht, wurde gelegt, als der angelsächsische Missionar Bonifatius im Auftrag des Papstes und in Übereinstimmung mit den fränkischen Herrschern kirchliche Strukturen in den nur wenig christianisierten Gebieten des Frankenreichs, insbesondere im heutigen Thüringen, Hessen und Bayern, etablierte und die Stadt im Jahr 742 zum Bischofssitz machte. »Die Stadt war katholisch. Von jenem schweren Katholizismus, der die Menschen durchdringt, dumpf und unentrinnbar fesselt, der durch die schwere, düstere Frühgotik gefestigt, gestützt ist, bis in Jahrtausende«2, heißt es bei Frank, der selbst protestantisch war, über seine Heimat.

Auch der Name der Hauptfigur in »Gotik« verweist auf Würzburg: Kilian, das ist der große Heilige der Stadt, ein irischer Wanderbischof, der wie Bonifatius, allerdings schon über fünfzig Jahre früher, in die Siedlung an der Furt am Main gekommen war, um dort das Christentum zu verbreiten. Doch es kam zum Konflikt mit dem herrschenden Franken-Herzog, der die Frau seines gestorbenen Bruders geheiratet hatte, was Kilian nach damaligem Kirchenrecht – eine Ehe mit Schwägerin oder Schwager galt als Blutschande – nicht gutheißen konnte. Die Witwe und neue Gattin machte kurzen Prozess: Kilian wurde, so die Legende, zusammen mit zwei weiteren Missionaren ermordet, sein Körper unter einem Pferdestall vergraben.3 So kam die Stadt zu ihrem Märtyrer-Heiligen und Leonhard Frank zu einem Namen für seine Hauptfigur, der unverkennbar auf die eigene Herkunft verweist. Doch die Nähe zwischen Autor und Protagonisten geht weit über reine Äußerlichkeiten hinaus. »Unentrinnbar. Die Stadt hatte ihn geboren und genährt, er war ihr Werk, ihr Kind, sie hielt ihn fest, ohne ihn halten zu müssen«4, heißt es in »Gotik« über den sensiblen Kilian und ebenso gilt es für Kilians Schöpfer Frank. Als 31-Jähriger brachte er hier auf den Punkt, was für die nächsten 48 Jahre, bis zum Ende seines Lebens, gelten sollte: die unauflösbare Bindung zwischen ihm und Würzburg. Die Stadt und alles, was mit ihr zusammenhing, hatte ihn zu dem gemacht, der er war und immer blieb. Auch als Vorlage für seine Werke griff Frank immer wieder auf seine Heimat zurück, deren Lebenspuls ihn tief durchdrungen hatte.

Dabei begegnete er seiner Vaterstadt stets mit einer Mischung aus Abscheu und Zuneigung. Er konnte einerseits sagen: »Würzburg am Main, die Stadt des Weines und der Fische, der Kirchen gotisch und barock, wo jedes zweite Haus ein unersetzliches Kunstdenkmal war […], die schönste Stadt des Landes«5. Oder beinahe romantisch von ihrer »betörenden edlen Lieblichkeit«6 schwärmen. Da heißt es dann etwa: »Tief unten lagen die alte Brücke, die Häuser und krummen Gassen von Würzburg, und die dreißig Kirchtürme bebten im Mondlicht. Der Main, der die Stadt in zwei Teile trennt, glänzte. Jeder Stern stand klar und scharf am grünlichen Himmel, und die ganze alte Stadt war aus schwerem, purem Silber.«7 Andererseits war sie ihm aber auch »verhaßte Stadt«8 mit »unsichtbare[n] Fangarme[n]«9, die Böses hervorbringt10, geprägt von jener »Gotik […], die einen eisernen Reif um das Hirn der Menschen legt, die dem Menschen das dumpfe Chaos in’s Hirn flößt, aus dem ihm die Angsträume mit schreckhaften Blitzen wachsen«.11 Was erlebte der junge Frank in dieser Stadt, dass er ihr so ambivalent begegnete? Was prägte ihn so tief, dass er es nie mehr abschütteln konnte? Wer waren seine Eltern, wo kamen sie her, und wer waren ihre Vorfahren?

2.1. Wie die Franks nach Würzburg kamen

Leonhard Frank kam am 4. September 1882 in der Zellerstraße 34 in Würzburg in einer kleinen Wohnung zur Welt, er war viertes Kind und zweiter Sohn eines Schreinergesellen und eines ehemaligen Dienstmädchens. Geboren wurde er in eine Welt, in der das Leben jedes Einzelnen seit Generationen in groben Zügen vorgezeichnet war. Seine Vorfahren gehörten zur ländlichen Unterschicht, sie waren meist Tagelöhner und Dienstmägde, in vielen Fällen unverheiratete Kinder von unverheirateten Eltern, weil die Erteilung einer Heiratserlaubnis lange Zeit an den Nachweis eines gesicherten Einkommens und den Besitz von Grund und Boden gebunden war.12 Größere Ausbrüche aus oder Abweichungen von der Tradition gab es nicht, konnte es nicht geben. Der Weg nach oben im Gesellschaftsgefüge blieb den meisten von Franks Vorfahren versperrt. Immerhin, zuweilen gelang es dem einen oder anderen, kurzzeitig ins Milieu der kleinbürgerlichen Handwerkerschaft aufzusteigen.

Beide Familien, die der väterlichen und die der mütterlichen Seite, stammten aus dem heutigen Landkreis Ansbach in Mittelfranken, aus der näheren Umgebung der Stadt Rothenburg ob der Tauber, und beide waren seit jeher protestantisch. Die Vorfahren mütterlicherseits, die den Namen Bach tragen, lassen sich bis ins 18. Jahrhundert zurückverfolgen, bis hin zu Leonhard Franks Ur-Ur-Urgroßvater, einem gewissen Johann Wilhelm Bach, Bäcker im Dorf Segringen, heute ein Ortsteil der Stadt Dinkelsbühl.13 Dessen Sohn, ein Müller, hatte zwei Kinder, einen Sohn und eine Tochter. Mit der Linie der Tochter begann ein gesellschaftlicher Abstieg, aus diesem Zweig der Familie entsprangen über zwei Generationen nur noch uneheliche Kinder, bis hin zu Leonhard Franks späterer Mutter. Der Stammbaum ist ein sauber gesponnenes Verwirrnetz, weil immer gleiche Namen immer wieder auftauchen: Johann Wilhelm, Johann Christian, Johann Christoph, Margaretha Barbara, Maria Barbara, Anna Maria, Maria. Franks Vorfahren väterlicherseits lassen sich weniger weit zurückverfolgen. Sie stammten aus der Umgebung des Dorfs Adelshofen und waren wohl seit Generationen besitzlose Tagelöhner.

Die eigentliche Geschichte von Leonhard Franks Vorfahren in Würzburg begann, als ein gewisser Georg Michael Frank, Tagelöhner und Holzspalter, 1866 mit Mitte vierzig aus der mittelfränkischen Provinz in die damals viertgrößte Stadt Bayerns zog.14 Er sollte Leonhard Franks Großvater werden. Seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zogen nicht nur in Bayern, sondern in allen deutschen Regionen Tausende von verarmten Menschen aus den Dörfern in die Städte15, weil sie hofften, dort Anstellungen zu finden. Auch Georg Michael dürfte aus diesem Grund nach Würzburg gegangen sein. Begleitet wurde er von seiner Ehefrau Anna Dorothea, die er erst kurz zuvor geheiratet hatte, sowie von einer sechs Jahre alten Tochter.16 Sein sechzehnjähriger Sohn Johann, geboren am 9. Februar 1850, Leonhard Franks späterer Vater, war nicht dabei.17 Als Georg Michael mit Frau und Tochter in Würzburg ankam, hatte die Stadt bereits über 40 000 Einwohner. Die Bevölkerungszahl hatte durch die Landflucht innerhalb von zwanzig Jahren fast um die Hälfte zugenommen, das Leben in den schmalen, verwinkelten Gassen der Altstadt, wo auch Georg Michael links des Mains eine Bleibe fand18, war in den letzten Jahren immer beengter geworden. Würzburg war eingehegte Festungsstadt, neuer Wohnraum durfte nur innerhalb der Festungsmauern geschaffen werden, was zur Folge hatte, dass jedes noch so kleine Fleckchen genutzt wurde, um neue Bewohner unterzubringen.19

Georg Michael fand eine Anstellung als Tagelöhner, als Holzspalter.20 Wahrscheinlich verarbeitete er die Stämme, die am Ufer des Mains, nahe der Alten Mainbrücke, auf von Pferden gezogenen Lastschiffen angeliefert wurden. Die Brücke, eines der Wahrzeichen Würzburgs und schon im Mittelalter errichtet, war Mitte des 19. Jahrhunderts die einzige Verbindung zwischen den beiden Stadtvierteln links und rechts des Flusses. Leonhard Frank, Georg Michaels zukünftiger Enkel, würde sie fünfzig Jahre später zu einem der zentralen Schauplätze seines ersten Romans machen und in einem späteren Buch von ihrer nahezu suggestiven Kraft erzählen: »Hierher, zuerst hierher auf die Brücke, zog die Stadt jeden, der sie verlassen hatte und wiederkehrte, und jeden Fremden, der sie zum ersten Male besuchte.«21 Die Arbeit als tageweise angestellter Holzspalter – der Name sagt es bereits: große Holzstücke wurden zum Beispiel zu Ofenholz verkleinert oder zu Stützstangen für die Rebstöcke in den königlichen Weinbergen verarbeitet – gehörte zu den sozial ganz unten angesiedelten Tätigkeiten. Der Lohn eines Tagelöhners belief sich um diese Zeit auf etwa dreißig Kreuzer pro Tag.22 Zum Vergleich: Ein Kilogramm Roggenbrot kostete in Würzburg im Jahr 1869 im Durchschnitt etwas mehr als sieben Kreuzer, ein Pfund Butter 31 Kreuzer und eine Maß Bier zwischen sechs und sieben Kreuzer.23

Am 26. März des Jahres 1869, nur wenige Jahre nachdem er geheiratet und in Würzburg ansässig geworden war, verlor Georg Michael seine Frau. Anna Dorothea starb mit 39 Jahren in der gemeinsamen Wohnung – woran, ist nicht bekannt, eine Todesursache ist in der amtlichen Todesanzeige nicht verzeichnet.24 Ziemlich genau ein Jahr nachdem Anna Dorothea gestorben war, hatte Georg Michael bereits eine neue Frau gefunden. Am 13. März des Jahres 1870 heiratete der mittlerweile bald Fünfzigjährige die einige Jahre jüngere Elisabetha Mitesser, uneheliche Tochter ohne eingetragenen leiblichen Vater25, eine »böse Frau«26, wie sie ihr Enkel Leonhard später nannte. Elisabetha stammte wie Georg Michael aus einem kleinen Dorf in der nahen Umgebung von Rothenburg ob der Tauber.27 Kennengelernt hatten sich die beiden allerdings schon viele Jahre vor ihrer Hochzeit, denn Georg Michael heiratete 1870 nicht irgendeine Frau, sondern – und darin liegt eine gewisse Kuriosität – die Mutter seines vor 21 Jahren gezeugten und als uneheliches Kind geborenen Sohnes Johann.28 Bis zur Hochzeit der Eltern trug Johann den Nachnamen der Mutter, Mitesser29, danach übernahm er den des leiblichen Vaters. Und so gab er den Namen Frank zwölf Jahre später, 1882, auch an seinen Sohn Leonhard weiter.

2.2. Was ich bin, kommt von ihr

Zunächst jedoch heiratete Johann Frank, über dessen Kindheit und Jugend so gut wie nichts zu ermitteln ist, nur sechs Jahre nach der Hochzeit seiner Eltern am 6. Juni 1876 mit 26 Jahren in Rothenburg in der protestantischen Kirche St. Jakob die zwei Jahre jüngere Maria Bach, Leonhard Franks spätere Mutter.30 Maria Frank sollte das Wesen und den Charakter ihres Sohnes entscheidend prägen. Ausgerechnet bei ihr, bei einer Frau, zeichnete sich erstmals in der Frank’schen Familiengeschichte – zumindest lässt es sich für andere Familienmitglieder durch Quellen nicht belegen – eine Sehnsucht nach Emanzipation vom durch Abstimmung und Umwelt vorgefügten Schicksal ab. Auch wenn Maria ihre Träume nicht verwirklichen konnte, übertrug sie diese doch auf den Sohn, und sie wurden für ihn zum Antrieb, mit Anfang zwanzig seine Heimat für immer zu verlassen. Im Gegensatz zum Vater, den Leonhard Frank für »entschieden unintelligent« hielt und der es in den Augen des Sohnes »nie zu etwas gebracht«31 hatte, war die Mutter eine verständnisvolle und außergewöhnlich kluge Frau, die ihren Mann zwar liebte, ihm aber in den Augen des Sohnes »so himmelhoch überlegen« war, »daß er es in seinem ganzen Leben niemals bemerkte«.32

Mit über sechzig Jahren vollbrachte Maria Frank »ein kleines Wunder«: Das ehemalige Dienstmädchen, eine »durch eine 40jährige Armutsehe gebeugte Proletarierfrau«33, die »nie ein lesenswertes Buch gelesen«34 hatte, veröffentlichte ihre Autobiographie. Sie hatte geschrieben, »wenn der Vater früh um 6 fort auf die Arbeit gegangen war, während des Kochens, am Herd, am Waschkessel, in aller Heimlichkeit, in blaue Schulhefte.«35 Das Buch erschien im Jahr 1914 unter dem Pseudonym Marie Wegrainer, damit ihr Mann nichts davon erfuhr.36 Johann Frank, der immer auf die Meinungen anderer bedacht war, hätte kein Verständnis gehabt, hätte sich vor Freunden und Nachbarn geschämt, denn das Werk offenbart nicht nur die äußere Lebensgeschichte der Maria Frank, es gibt auch intime Wünsche, Hoffnungen, Sehnsüchte und Ansichten preis, die nicht immer in Übereinstimmung standen mit dem, was sich nach kleinbürgerlichen Konventionen gehörte. Es offenbart das Wesen der Mutter und zeigt in der Rückschau zugleich, wie ähnlich der Sohn Leonhard ihr war.

Das knapp zweihundert Seiten starke Buch ist von erstaunlicher Qualität, die auch den Sohn verblüffte, der monatelang nicht gewagt hatte, das Manuskript, das ihm die Mutter nach Berlin geschickt hatte, wo er mittlerweile lebte, anzusehen, weil er »fürchtete, ihr schreiben zu müssen, es sei nichts«.37 Wenngleich an einigen Stellen anzunehmen ist, dass Frank mit einzelnen Formulierungen in den Text eingegriffen hat – auch wenn er behauptete, er habe nur »ein paar tausend Kommas« gesetzt und ansonsten nichts am Manuskript verändert38 –, so ist die Autobiographie seiner Mutter doch insgesamt ein autonomes Werk, das zwar in einfachen Worten und manchmal etwas klischeehaft, aber dennoch differenziert, klug und einfühlsam geschrieben ist. Wie bei jeder Autobiographie wurde auch hier das eigene Bild retuschiert und geschönt, dennoch bewegt sich die Erzählung, abgesehen von einigen Passagen, die offensichtlich allein der Fantasie der Autorin entsprungen sind, nah an der historischen Wirklichkeit.39 Selbst dort, wo konkrete und umfassende Belege für die Authentizität des Erzählten fehlen, weisen korrekte Details wie Namen, Geburtsdaten oder Adressen immer wieder darauf hin, dass Maria Frank das meiste, von dem sie schreibt, auch wirklich erlebt hat. Ihr Buch ist daher nicht nur von Relevanz, weil es Kindheit und Jugend der Mutter des Schriftstellers Leonhard Frank schildert, sondern auch weil ein Einblick in das Leben von Menschen im Deutschen Kaiserreich gegeben wird, die in zeitgenössischen Texten sonst nur am Rande vorkommen: von Tagelöhnern, kleinen Handwerkern und besonders Dienstmädchen. Als »eine der wenigen Selbstdarstellungen von Frauen der unteren Klasse in Deutschland vor dem Ersten Weltkrieg«40, bezeichneten die Herausgeber einer Neuausgabe in der Schriftenreihe des ehemaligen Instituts für sozialhistorische Forschung der Universität Frankfurt in den siebziger Jahren das Werk. Maria Franks Autobiographie unterscheidet sich dabei ganz wesentlich von ähnlichen Werken anderer Arbeiterinnen – und ist auch in dieser Hinsicht in besonderem Maße authentisch –, weil sie nicht aus einem gesellschaftspolitischen Klassenbewusstsein heraus geschrieben ist, wie es auf viele autobiographische Darstellungen etwa von Fabrikarbeiterinnen zutrifft41, sondern allein aus persönlichen Motiven.42 Sie habe den Sohn, der mittlerweile in Berlin lebte, vor Wintersnot schützen wollen, so Frank in einem Brief an seinen Schriftstellerkollegen Ernst Hardt.43 Darüber hinaus wollte sie sich selbst, ihrem Sohn und der Welt wohl auch beweisen, dass sie anders war als die meisten ihrer Klasse, dass sie etwas Besonderes war.

Maria Frank hat ihre Lebensgeschichte als still erduldete Leidensgeschichte geschildert. Ungeliebt von der Mutter, sei sie am 13. November des Jahres 1852, als ein rauer Nordwind über die Stoppelfelder tobte, in einem kargen Armenhaus mit morschen Fensterläden in einer kleinen Gemeinde in der Nähe von Rothenburg ob der Tauber zur Welt gekommen.44 Die Gemeindebücher der Pfarrei Lipprichshausen, das nur unweit von Rothenburg entfernt liegt, verzeichnen für diesen Tag tatsächlich die Geburt einer Maria Bach, Tochter der unverheirateten Anna Maria Bach.45 Ein Vater ist nicht eingetragen. Die Mutter war zum Zeitpunkt der Geburt 27 Jahre alt und arbeitete in der Küche eines Hotels in Rothenburg.46 Die kleine Maria kam, wie ihr fast drei Jahre später geborener Bruder Johann Christoph, der wohl einen anderen Vater hatte47, in die Obhut von Pflegeeltern. Viele ledige Mütter, die als Dienstmädchen arbeiteten, mussten ihre meist unehelichen Kinder – eine Heiratserlaubnis erhielten die Väter, sofern sie eine solche denn überhaupt wollten, aufgrund ihres geringen Einkommens in der Regel nicht – abgeben, um selbst arbeiten zu können.48 Die Pflegeeltern mussten vom ohnehin schon geringen Lohn der leiblichen Mütter bezahlt werden.

»Vernachlässigt, mit schiefgerutschten Beinen und grauer, schmutziger Körperhaut«49 habe Maria ihre ersten Lebensjahre zunächst bei einer alten Verwandten der Mutter verbracht, bis sie auf Anraten einer angesehenen Gräfin aus den Händen der unachtsamen Pflegemutter befreit worden sei. Auch wenn nicht zu belegen ist, ob diese Schilderung der Wirklichkeit entspricht, offenbart sie doch eine Variation eines sich mehrfach wiederholenden Motivs der Autobiographie, das Aufschlüsse über den Charakter und das Selbstbild der Autorin zulässt. Maria Frank war, genauso wie später ihr Sohn, durchdrungen von dem Wunsch nach sozialem Aufstieg, auch weil sie besondere Talente in sich spürte – die Qualität ihres Buches bestätigt, dass diese Empfindung durchaus berechtigt war.50 Als Zeugen ihres besonderen Wesens führt sie in ihrem Lebensbericht mehrfach gesellschaftlich höhergestellte Personen an, die eine schützende Hand über die Protagonistin halten oder Interesse an ihr bekunden. Die Gräfin etwa oder, an späterer Stelle, ein wohlhabender alter Offizier, auch er von Adel, der sich der jungen und begabten Maria – sie betont mehrfach ihre guten Schulleistungen – annehmen und ihr eine höhere Bildung ermöglichen möchte, wodurch »ihr späteres Leben sicher eine andere Richtung bekommen hätte«. Doch der Retter stirbt unerwartet, und die Erzählerin stellt resigniert fest: »Das Glück hatte sie nur gestreift und war vorbeigegangen.«51 Der Text enthält mehrfach solche Wendepunkte, an denen für einen kurzen Moment eine Alternative, ein Weg hin zu einem besseren Leben aufscheint. Doch die Protagonistin scheitert an den gesellschaftlichen Umständen, still erträgt sie ihr Unglück, ein Leben lang.

Im Fortgang der Handlung kommt Maria durch die Vermittlung der Gräfin als kleines Kind in eine neue, liebevolle Pflegefamilie in Rothenburg. Die Ziehmutter ersetzt ihr die leibliche Mutter so gut es geht, sie wird »geherzt und geküßt«.52 Indes: »Der Stachel, der das so reiche, überquellende Kinderherz« durch die fehlende Liebe der leiblichen Mutter »täglich neu verwundete«, lässt »für immer seine Spur« zurück. Schon als Kind fasst Maria den »festen, heiligen Entschluß, wenn ihr einmal Kinder beschert sein sollten, sie mit alles tragender Liebe zu betreuen und um die Liebe ihrer Kinder unablässig zu werben«.53 Die vielen so fürsorglichen und aufopferungsvoll gezeichneten Mutterfiguren im Werk Leonhard Franks und auch die erhaltenen direkten Charakterisierungen seiner eigenen Mutter belegen, dass Maria als Erwachsene an ihrem Entschluss festgehalten hat.

Als sie dreizehn oder vierzehn Jahre alt ist, sie hat gerade die Volksschule beendet, sorgt die leibliche Mutter im Buch dafür, dass die Tochter wie sie den Dienstmädchenberuf ergreift.54 Die Pflegemutter bringt das Mädchen, es ist das Jahr 1866, in München bei einer ihrer Töchter und deren Mann, der als Schmiedemeister arbeitet, in wohlbehüteten Verhältnissen unter. In der bayerischen Hauptstadt waren viele Frauen, die ehemals vom Land gekommen waren, als Dienstmägde in wohlhabenden Bürgerhaushalten tätig. Der Aufstieg des Bürgertums und das Bedürfnis nach einem komfortablen häuslichen Leben führten Ende des 18., Anfang des 19. Jahrhunderts dazu, dass der Bedarf an Dienstmädchen stark anstieg, die Arbeit als »Mädchen für alles« zu einem der wichtigsten Tätigkeitsfelder für Frauen aus den armen, ländlichen Schichten wurde.55 In den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts waren in Deutschland etwa ein Drittel aller berufstätigen Frauen als Dienstmädchen angestellt, die meisten unter schweren Bedingungen, mit bis zu sechzehn Stunden Arbeitszeit täglich.56 Spricht man vom »bürgerlichen 19. Jahrhundert«, müsse man, so die Historikerin Gunilla-Friederike Budde, zugleich auch vom »Jahrhundert des Dienstmädchens« sprechen.57 Maria Bachs Aufenthalt in München hat keine auffindbaren Spuren hinterlassen.58 Allerdings stimmen viele der Angaben, die in ihrer Autobiographie im Zusammenhang mit der Familie in München und dem Aufenthalt der Protagonistin dort gemacht werden, mit den historischen Fakten überein. So steht etwa Simpert Gruber, der neue Dienstherr, unter ebendiesem Namen im Münchner Adressbuch von 1867 exakt unter der Straße und der Berufsbezeichnung, die auch Maria Frank in ihrem Text erwähnt, und er stirbt auch tatsächlich 1876 in Rothenburg, wie Maria Frank berichtet.59 Schon nach kurzer Zeit reißt die leibliche Mutter sie nach den Angaben in der Autobiographie erneut aus ihrer lieb gewonnenen Umgebung: Maria muss fort aus München, zurück nach Rothenburg, denn die mittlerweile über vierzigjährige Mutter hat dort eine gute Partie gemacht und einen zwanzig Jahre älteren Schuhmachermeister geheiratet. Die Tochter soll nun im eigenen Haushalt mithelfen. Die Ehe mit dem Schuhmacher, die über einen Familienbogen und einen Eintrag im Kirchenbuch belegt ist60, bedeutete für Mutter und Tochter einen sozialen Aufstieg in die Sphäre des handwerklichen Kleinbürgertums, sie konnten nun im eigenen Haus des Ehemanns und Stiefvaters leben. Ebenfalls zur Mutter kommt jetzt auch Marias zwei Jahre jüngerer Halbbruder Johann Christoph, den ihr Sohn Leonhard später über mehrere Kapitel ins Zentrum seiner »Deutschen Novelle« stellen wird.61 Johann Christoph übernahm nach einigen Jahren die Schuhmacherwerkstatt des Stiefvaters und setzte den sozialen Aufstieg der Mutter fort, seine Nachfahren leben noch heute in Rothenburg.

Für Maria dagegen war der soziale Aufstieg anscheinend nur von kurzer Dauer, denn als Mutter und Bruder kurzzeitig das Haus verlassen, sei sie vom Stiefvater vergewaltigt worden.62 Sie verlässt die Heimat, kehrt als Dienstmädchen zurück nach München und lernt dort einen Schreinerlehrling kennen, »einen schlanken, jungen Mann von mittlerer Figur«, unter dessen Hut »ein feingeschnittenes, sehr schönes Gesicht hervorsah«: Johann Frank, den späteren Vater von Leonhard Frank.63 Auch über Johann Franks Aufenthalt in München sind keine Quellen erhalten, dass er dort jedoch tatsächlich als Schreiner arbeitete, belegt der Würzburger Meldebogen seines Vaters, in dem es über den Sohn heißt: »Schreiner in München«.64 Johann und Maria werden ein Paar, und als Johann um ihre Hand anhält, willigt sie ein, aus Liebe und weil er verspricht, einmal eine Frau ernähren zu können. Und »so war ihr Schicksal besiegelt«65 heißt es lakonisch aus der Perspektive der sechzigjährigen Ehefrau, denn Johann Frank würde sein Versprechen nicht halten können.

Mit ihrer Dienstherrin reist Maria in ihrer Autobiographie nach der Verlobung für einige Wochen nach Starnberg, wo sich eine äußerst kuriose Geschichte ereignet: Sie habe ein amouröses Abenteuer mit dem bayerischen König Ludwig II. erlebt, dem sie wegen ihres guten Aussehens aufgefallen sei, als er vom Starnberger Bahnhof zum feierlichen Empfang der im Deutsch-Französischen Krieg siegreichen bayerischen Truppen nach München aufbrach. Auch Maria fährt an diesem Tag, es ist der 16. Juli 1871, mit dem Zug nach München. Wenige Tage später habe der König sie nach seiner Rückkehr auf Schloss Berg, seiner Sommerresidenz, für eine Nacht zu seiner Geliebten gemacht. Wie alles andere im Buch, so ist auch diese Episode mit einfacher Klarheit, Selbstverständlichkeit und großem Detailreichtum erzählt – wäre die Handlung nicht so abwegig, wäre man fast geneigt, sie zu glauben. Doch Ludwig II. war, wie mittlerweile gut erforscht ist, homosexuell, von Frauengeschichten dieser Art ist nichts überliefert.66 Maria Frank hat diese Episode ihres Lebens also erfunden. Ludwig II. war, zumindest in seiner Jugend, ein ausgesprochen gutaussehender Mann, wahrscheinlich schwärmte auch die junge Maria für den attraktiven König. Sich selbst zu seiner Geliebten zu machen hob sie ab von der Masse der einfachen Leute, machte sie, die immer spürte, außergewöhnlich zu sein, und die sich, wie so manche Formulierung zeigt, für auffallend hübsch hielt, wahrhaftig zu einer außergewöhnlichen Frau – Maria Frank träumte sich schreibend in eine bessere Welt, und so erfand sie das Märchen mit dem Märchenkönig.

Ein knappes Jahr später erfährt sie im Buch erneut tiefes Leid: Sie ist schwanger, das uneheliche Kind, als dessen Vater sie Johann Frank nennt67, stirbt kurz nach der Geburt im Mai 1872. Zwar wurde im Mai 1872 tatsächlich das erste Kind von Maria Bach und Johann Frank geboren, doch dieses Kind starb nicht nach wenigen Wochen, sondern nach fast 87 Jahren im April 1959. Es ist Hans, Leonhard Franks ältester Bruder, geboren noch vor der Hochzeit der Eltern.68 Was auch immer Maria Frank veranlasst hat, sich ein früh verstorbenes Kind anzudichten69: Für ihr Selbstbild ist die Episode deshalb von Bedeutung, weil sie die Vorlage bietet, um einen weiteren spezifischen Charakterzug der Autorin hervorzuheben. Der Pfarrer nämlich habe bei der Beerdigung des Kindes gesagt, »wie gut es sei, daß Gott sich solcher Kinder erbarme und sie sterben lasse, welche durch den Leichtsinn der Eltern vernachlässigt, in ihrem Gedeihen gehindert und allen Unbillen ausgesetzt, doch nur ein kümmerliches Dasein führen müßten«. Weiter habe Maria nicht zugehört, denn wäre sie noch länger stehen geblieben, »sie hätte den Geistlichen fragen müssen, was ihn zu dieser Rede berechtigte«.70 Maria Frank präsentiert sich in ihrem Roman zwar als duldsame, alles Leid ertragende, aber auch als couragierte Frau, die den herrschenden kleinbürgerlichen Moralvorstellungen zuweilen – meist dann, wenn sie Leid erzeugen – heftig widerspricht. So kritisiert sie nicht nur das Verhalten des Pfarrers bei der Beerdigung des Kindes, sie ergreift auch Partei für eine ledige Schwester ihrer Münchner Dienstherrin, die mit fünf unehelichen Kindern in Armut lebt und deshalb von der Familie verstoßen wird. »Jedes kommt halt im Leben nicht gleich gut an, zumal wenn man von armen Eltern ist«71, schreibt die Erzählerin auch mit Blick auf das eigene Leben.

Das Bild, das Maria Frank von sich selbst in ihrer Autobiographie entwirft, trägt in vielerlei Hinsicht die Züge des Sohnes Leonhard: der einfühlsame Blick für das Leid von Menschen, die vom Schicksal benachteiligt sind, das Auflehnen gegen Ungerechtigkeiten, das unbestimmte Gefühl und das Selbstbewusstsein, zu etwas Größerem fähig zu sein, das Leiden unter den Umständen der Geburt, das Sich-Hinwegsetzen über gesellschaftliche Konventionen bei gleichzeitiger Bewahrung der eigenen Integrität. »Was ich bin, kommt von ihr«, meinte Leonhard Frank 1914 zu seiner Frau Lisa, nachdem er das Manuskript der Lebensgeschichte seiner Mutter gelesen hatte.72

2.3. Das sorgenvermehrende vierte Kind

Nach ihrer Hochzeit in Rothenburg zogen Johann Frank und seine Frau Maria zusammen mit ihrem kleinen Sohn Hans nach Würzburg, wo sie ab 1877 bei Johanns Eltern wohnten, bei Georg Michael und Elisabetha.73 Dem Tagelöhner Georg Michael war es gelungen, ein eigenes kleines Häuschen in der linksmainischen Altstadt unterhalb der Festung zu kaufen74, der Umzug aus der mittelfränkischen Provinz in die Großstadt zehn Jahre zuvor hatte sich also ausgezahlt, Leonhard Franks Großeltern war ein bescheidener wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Aufstieg gelungen. Als Georg Michael 1878 nach langer Krankheit starb, erbte die Witwe das Haus.75 Maria Frank schildert das Verhältnis zwischen ihr und der Schwiegermutter als von Beginn an gestört und unterkühlt, ohne jegliche gegenseitige Zuneigung. Sie habe sogar die Hochzeit zwischen ihr und Johann verhindern wollen, weil Maria eine zu schlechte Partie gewesen sei.76 Elisabetha Frank war in den Augen der Schwiegertochter eine egoistische, herzlose und streitsüchtige Frau, die der jungen Familie nur allzu gern Steine in den Weg legte. Es war daher eine doppelte Erleichterung, als Elisabetha Würzburg 1881 verließ, um mit Mitte fünfzig ein zweites Mal zu heiraten, und zwar einen ehemaligen Jugendfreund, der in den USA als Farmer lebte.77 Endlich war Maria von der ungeliebten Schwiegermutter befreit, zudem besaß ihr Mann Johann jetzt das Haus, denn die Mutter, die aus mehreren Tausend Kilometern Entfernung keinen Einfluss mehr nehmen konnte, hatte ihm, so zumindest berichtet es Maria, alle Vollmachten gegeben.78

Zur Frank’schen Familie gehörten mittlerweile, neben Mutter, Vater und Sohn Hans, die Tochter Maria (auch Marie), geboren im Mai 1877, mit ihren blonden Locken das Ebenbild von Johann Frank, die Tochter Elise, geboren im September 1879, die später wohl viel Ähnlichkeit mit der Mutter haben wird79, sowie seit September 1882 auch der kleine Leonhard, besonderer Liebling der Mutter, der, als er sechs Monate alt war, beinahe an den Pocken starb.80 Doch der Kleine überlebte, denn er war zwar schwach, aber auch »immer zäh dabei«. Er war empfindsam, weinte »30 Mal am Tag«, war gleich darauf »überschwänglich, lustig, wild und frech«81, hatte die Züge und auch die blauen Augen des Vaters, aber »die gedankenvolle Stirne« der Mutter.82 »Michael war das Sorgen vermehrende unerwünschte vierte Kind«83, schrieb Leonhard Frank siebzig Jahre später in seiner Autobiographie »Links wo das Herz ist« über sich selbst.

Ob unerwünscht oder nicht, ein weiteres Kind bedeutete für die ohnehin arme Familie eine zusätzliche Belastung. Kurze Zeit nach der Geburt des jüngsten Sohnes, um 1883, war Johann Frank, der als Schreiner bei verschiedenen Arbeitgebern tätig war, gezwungen, das Haus zu verkaufen, das er von seiner Mutter übernommen hatte und das der Familie einen kleinen sozialen Aufstieg gesichert hätte.84 Verantwortlich für die Misere war nach Angaben von Maria Frank ihr Mann selbst. Dem nämlich habe es am nötigen Biss gefehlt, er sei unbekümmert gewesen und zeitweise immer wieder ohne Arbeit, weil er hochmütig war und sich schämte, Tätigkeiten anzunehmen, die vermeintlich unter seiner Würde waren.85 Versuche einer handwerklichen Selbständigkeit waren gescheitert. So musste die Familie immer hart ums wirtschaftliche Überleben kämpfen, und Maria, die wohl schwer magenkrank war86, musste selbst dazu beitragen, den Lebensunterhalt zu sichern. Immer mal wieder führte sie für einige Jahre einen kleinen Produktenhandel und einen Kaffeeausschank.87 Später mussten die Kinder mithelfen, die jüngste Tochter Elise ging, obwohl sie Schneiderin werden wollte, putzen, und selbst der Kleinste, Leonhard, musste, wie er viele Jahre später während eines Sanatoriumsaufenthalts in der Schweiz seinem Arzt Ludwig Binswanger berichtete, »als Bub schon betteln«.88 Im Zusammenhang mit dem anstehenden Hausverkauf schrieb Maria Frank, dass sie nicht länger darüber mit ihrem Mann gestritten habe. »Es überkam sie von da an eine stoische Ruhe und sie ließ den Dingen ihren Lauf, betrübt darüber, daß sie gezwungen war, alles auf ihre Schultern nehmen zu müssen. Sie bemühte sich ehrlich, das aufzubringen, was ihr Mann seiner Familie entzog […], unbekümmert um ihre sorgenvollen Züge […] – nicht fragend, ob sie auch zurecht käme, nicht achtend, wie seine Kinder darunter litten und wie eingreifend es auf ihr ferneres Leben wirkte. Denn bei einem tüchtigen Zusammengreifen und Ausnützen mancher guter Umstände, welche das Haus brachte, hätte man viel an die Kinder wenden und sie zu einem höheren Beruf ausbilden lassen können«, damit Johanns »Söhne und Töchter der Möglichkeit nicht ausgesetzt worden wären, ihr ganzes Leben lang Lohnsklaven zu sein«.89

Nach dem Verkauf des Hauses erfolgten kurz hintereinander mehrere Umzüge in der Würzburger Altstadt.90 Die Familienmitglieder – der älteste Sohn Hans zog wohl um die Mitte der 1880er Jahre aus und ging nach Dresden91 – teilten sich meist ein bis zwei Zimmer92, beim Betreten der Frank’schen Wohnung drang der wohlig-starke Geruch von frisch gebrühtem Kaffee in die Nase93 und es roch nach Schweiß und süßem Stroh, wie Frank in seinem Roman »Die Ursache« von 1915 über das Zuhause des autobiographisch gezeichneten Protagonisten schreibt. »Hier riecht’s […] nach Vater«94, heißt es da. Auch »der warme Geruch in der Schreinerwerkstatt […] war der Geruch seiner Kindheit. Im Marktkorb der Mutter hatte er dem Vater […] viele Jahre das Mittagessen in die Werkstatt gebracht.«95 Der Vater habe, so Frank, achtzehn Mark in der Woche verdient.96 Die Angabe ist plausibel, der Durchschnittslohn eines Holzarbeiters in Würzburg belief sich im Jahr 1893 bei einer Sechzig-Stunden-Woche auf 17,96 Mark. Allein die Kosten für die notwendigen Lebensmittel für eine vierköpfige Familie überstiegen das Einkommen von Johann Frank, hinzu kamen jährliche Mietkosten von etwa 158 Mark, also etwa dreizehn Mark im Monat.97 Selbst wenn noch etwaige Einnahmen aus gelegentlichen Tätigkeiten von Maria Frank und ihren Töchtern mit eingerechnet werden: Die Zahlen verdeutlichen, dass Frank nicht übertrieben hat, wenn er in der »Deutschen Novelle« davon schreibt, in Würzburg eine »düstere Armutsjugend« verbracht zu haben und seine Eltern 1915 in einem Brief an den Schriftstellerkollegen Ernst Hardt als »ganz arme Proletarier« bezeichnete.98

Trotz der schwierigen finanziellen Verhältnisse gelang es der Mutter mit besonderem Geschick und beständiger Ausdauer, stets das Nötigste und manchmal sogar ein wenig mehr als das für die Familie zusammenzutragen.99 Mehrfach tauchen in Franks Werk die »von der Lebensarbeit stumpf gewordenen Hände«100 von Müttern auf, und in der »Deutschen Novelle« heißt es über die Mutter des Protagonisten Michael Vierkant: »In einem Abteil vierter Klasse dieses Zuges saß eine kleine dicke Frau mit grauem Scheitel, unzähligen Sorgenfältchen und großen, dunklen, jungen Feueraugen. Sie hatte als Frau eines Arbeiters, der achtzehn Mark in der Woche verdiente, und als Mutter von vier Kindern, die essen wollten, fünfundzwanzig Jahre jeden Tag aufs neue die Schwierigkeiten ihres kleinen, bitterschweren Lebens überwunden, mit Mitteln, die nur eine schlaue Mutter kennt. Sie saß da und dachte. Sie hatte immer über etwas nachzudenken – wie sie das Geld für diese Eisenbahnfahrt erübrigen und nach ihrer Rückkehr dennoch Essen auf den Tisch stellen und die Wohnungsmiete bezahlen solle.«101 Franks frühe Kindheit war zumindest zeitweise erfüllt und glücklich. Die warmherzige Mutter gab dem Sohn ein wohliges Gefühl von Geborgenheit, dem auch die bittere Armut nichts anhaben konnte. Maria Frank pflanzte in ihren Sohn den festen Glauben an zwischenmenschliche Liebe, an dem er unbeirrbar und manchmal in naiver Form festhalten würde. In seinem pazifistischen Werk »Der Mensch ist gut«, das 1917 erschien, ist die Liebe der entscheidende Antrieb, der die Menschen in eine utopische Friedensgesellschaft leitet. Mit expressionistischer Verve formuliert der Autor dort: »das Nichtvorhandensein der Liebe ist der Feind und die Ursache aller Kriege. Ganz Europa weint, weil ganz Europa nicht mehr lieben kann.« Und an anderer Stelle heißt es: »Man braucht ja nur zu lieben, dann fällt kein Schuß mehr. Dann ist der Friede da.«102

Das Verhältnis zum Vater dagegen war weniger intensiv. Über den Charakter von Johann Frank lässt sich zwar manches rekonstruieren, doch man kann ihn nur durch die Augen der Ehefrau und des Sohnes sehen, Beschreibungen anderer sind nicht überliefert. Maria Frank schildert ihren Mann zwar als freundlichen und durchaus liebenswerten, aber auch als egoistischen, unzuverlässigen, leichtlebigen und gedankenlosen Menschen mit einfachem Gemüt. Seine Interessen gingen offenbar kaum über das tägliche Lesen der Zeitung und den Besuch des Gesangvereins103