In den Wald - Maddalena Vaglio Tanet - E-Book

In den Wald E-Book

Maddalena Vaglio Tanet

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Beschreibung

»Gleich mit dem ersten Satz hat uns Maddalena Vaglio Tanet gefangen – und dann entführt sie uns mit ihrer olivgrünen Sprache und erzählt mitreißend von der Tiefe der Ängste und der Weite des Herzens. Als seien Elena Ferrantes Heldinnen in das karge Norditalien gekommen, um sich zwischen zarten Sehnsüchten und herben Enttäuschungen am Ende doch selbst zu finden.« Florian Illies

Eines Morgens verschwindet die Lehrerin im Wald. Während das Klassenzimmer leer bleibt und ihre Verwandten Straßen und Bäche absuchen, scheint sie immer mehr mit der sie umgebenden Natur zu verschmelzen. Um sie herum streifen Keiler durch das Unterholz, über den Wipfeln der Birken erklingt der Gesang wilder Vögel. Immer tiefer versinkt sie in einer Decke von Moos und Erinnerungen – sie muss um alles in der Welt den tragischen Tod ihrer Lieblingsschülerin vergessen, der sie in den Wald trieb.
Hinter den geschlossenen Fensterläden und in den Straßen des piemontesischen Ortes Biella ist man unterdessen ratlos: Was ist mit Silvia geschehen? Und wer ist sie wirklich? Die gutmütige Lehrerin, für die sie alle halten, oder doch eine Außenseiterin, die etwas zu verbergen hat? Als ein Junge aus der Schule bei einem Streifzug durch den Wald auf die Lehrerin stößt, scheint die Suche ein Ende zu nehmen. Aber was macht man mit einer vermissten Frau, die nicht gefunden werden will?

In den Wald ist ein schillernder Roman über unausgesprochene Wahrheiten. Mit perfekt kalibrierter Spannung erzählt Maddalena Vaglio Tanet von dem Kampf einer Frau gegen ihre Geister – und von einem Wald, der Phantasmen heraufbeschwört und Wunden heilt.

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Seitenzahl: 307

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Cover

Titel

Maddalena Vaglio Tanet

In den Wald

Roman

Aus dem Italienischen von Annette Kopetzki

Suhrkamp

Impressum

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Die Originalausgabe erschien 2022 unter dem Titel Tornare dal bosco bei Marsilio Editori S. p. A., Venezia.Die Übersetzung dieses Buches ist dank einer Förderung des italienischen Ministeriums für Auswärtige Angelegenheiten und Internationale Kooperation entstanden. Questo libro è stato tradotto grazie a un contributo assegnato dal Ministerodegli Affari Esteri e della Cooperazione Internazionale Italiano.

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2024

Der vorliegende Text folgt der deutschen Erstausgabe, 2024.

Deutsche Erstausgabe© der deutschsprachigen Ausgabe Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2024© 2023 First published in Italy by Marsilio EditoriThis edition published in arrangement with Grandi & Associati

Der Inhalt dieses eBooks ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Umschlaggestaltung: Rothfos & Gabler, Hamburg

Umschlagfoto: Bernd Webler/plainpicture

eISBN 978-3-518-78050-3

www.suhrkamp.de

Widmung

Dem Andenken an Ada Maurizio, meiner Großmutter Maria Vadori, meiner Urgroßmutter und Lidia Julio, Lehrerin.

Für Paola Savio, meine Mutter

Motto

Steine, im Wald ausgelegt; sie haben kleine

Freunde, Ameisen und andere Tiere

die ich nicht erkennen kann. Nicht der Wind

fegt den Stein hinweg, diese Gräben, diese

Reste der Finsternis, dieses Leben

aus schweren Träumen.

Reste der Finsternis: Ich habe ein Herz, das aufflammt

und dann zerfällt, um sich arglos zu erinnern

dass es nicht stirbt.

Ich habe ein Herz wie dieser Wald: ganz

sarkastisch, manchmal, seine schmutzigen Zweige

sinken nieder auf den Kopf, um dir eine Last zu sein.

AMELIA ROSSELLI, Documento

Wie Augen diese erloschenen Fensterlöcher

rechts hat der Efeu alles abgeschürft und scheint

schön würde man sagen ein Sieg diese grüne Opulenz

während in der Höhe ein Vogel krächzt man sieht ihn fliegen

im Kreis wie einer der mit Geistern spricht

welch seltsame Mechanismen der Kopf, die Toten belästigen wir

mit Gedanken, krächzt, krächzt, es ist nur eine Krähe.

AZZURRA D’AGOSTINO, Canti di un luogo abbandonato

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Inhalt

Informationen zum Buch

Cover

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Impressum

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Motto

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Anmerkung der Autorin

Dank

Anmerkung der Übersetzerin

Informationen zum Buch

In den Wald

1

Statt in die Schule ging die Lehrerin in den Wald.

In einer Hand hielt sie die Zeitung, die sie gerade gekauft hatte, in der anderen die lederne Aktentasche mit den Heften, den korrigierten Aufgaben, den Kugelschreibern und sorgfältig angespitzten Bleistiften. Ohne zu zögern, verließ sie die Straße, als wäre der Wald von Anfang an ihr Ziel gewesen. Ihre flachen Schuhe traten auf einen Teppich aus braunen, glänzenden Blättern, die ihr wie ein Feld aus rohen Innereien erschienen.

Die Zeitung und die Tasche verlor sie bald. Irgendwann hatte sich ihr Griff gelockert, es war ihr nicht bewusst geworden. Eine Weile folgte sie dem Pfad, vielleicht aus einer physischen Gewohnheit, dann ließ sie ihn hinter sich und begann, Hänge hinauf und hinabzugehen. Ihr war, als käme sie sehr schnell voran und als verflüssigte sich die Landschaft um sie herum. Kastanien, Nussbäume und Birken waren Flecken und Rinnsale aus Farbe, der Himmel strömte über die Umrisse der Hügel, der Boden schwankte unter ihren Füßen wie eine schwimmende Anlegebrücke.

Auf der Hochebene wurde der Aufprall ihrer Schritte zu einer Trommel, die sie hetzte. Sie spürte die Stöße, doch als wären sie unterirdisch; unter dem Erdreich klopfte jemand, um sie zum Weitergehen zu zwingen, um sie zu verscheuchen.

Nach vielen Stunden war sie so erschöpft, dass sie langsamer gehen musste. Sie stolperte, Spucke verklebte ihr die Lippen, sie schluckte fortwährend, um etwas herunterzuwürgen, einen Bissen, der ihr in der Kehle stecken geblieben war, es war ihr vom Laufen entkräftetes Herz. Ihr Rock und ihre Strümpfe, in die dornige Brombeersträucher Löcher gerissen hatten, waren voller Schlammspuren.

Das Tageslicht schwand, färbte sich jetzt dunkelblau. Über den Wipfeln tauchte ein Halbmond auf. Die Lehrerin spürte die kalte Abendluft auf ihrer Haut, und der Hauch Klarheit, den sie durch diese vertraute Empfindung zurückgewann, ermöglichte ihr, wirklich zu leiden.

Sie hatte einen Hügel bestiegen, der Rovella hieß, und von dort oben konnte sie das Dorf Bioglio sehen, wo sie geboren worden war: das Dach der Kirche und den Glockenturm, die Lichter, die in der Dämmerung eines nach dem anderen aufleuchteten. Sie sah die Schimmer, konnte sie aber nicht deuten, sie erschienen ihr wie die Überreste einer vergessenen Zivilisation. Sie war unabsichtlich hier hergekommen, vorwärts gestoßen wie eine Gefangene mit verbundenen Augen. Krämpfe drehten ihr den Magen um, der Rand ihrer Schuhe hatte die Haut an ihren Fersen aufgeschürft, und auch ihr Gesicht schmerzte, denn sie hatte Kiefer und Zähne die ganze Zeit fest zusammengepresst. In die Ortschaft hinuntergehen konnte sie nicht, auch nicht umkehren, die undeutliche Erinnerung an das Haus und die Menschen, die sie kannte, erschreckte sie.

Den Wald aber fürchtete sie nicht, sie war in einer Welt aufgewachsen, in der man ihn nutzte, wie man Weiden und Felder nutzte. Schon als kleines Mädchen war sie zusammen mit ihrem Cousin in den Wald gegangen, um Pilze zu suchen, auch nachts. Die beiden verließen allein das Haus, wenn es noch stockfinster war, und gingen das kürzeste, steilste Sträßchen hinter einer am Hügel klebenden Häusergruppe hinauf. Sie hatten eine Lampe und zwei Stöcke dabei, um die Sträucher beiseitezubiegen und in den Blätterhaufen zu stochern, außerdem einen Weidenkorb mit Henkel für die Beute. Der Schimmelgeruch war stark, sie wussten, dass sie den Schlangenlinien der Fäulnis zwischen den Grasbüscheln folgen mussten, um den Pilz zu finden. Riesige Steinpilze ließen sie vor Freude laut fluchen. Ansonsten verständigten sie sich durch Handzeichen und Püffe mit dem Ellenbogen und fassten sich nur in Ausnahmesituationen an den Händen (ein Dachs, der ihnen zu nahe kam, eine schlimme Rutschpartie auf dem Hintern, ein verstauchter Knöchel). Sie kannten jede Windung des Pfades, die aus der Erde ragenden Wurzeln, die Bodensenkungen, die Wege der Rehe und die Lichtungen, wo sie sich zum Schlafen niederließen, die verlassenen Fuchsbauten und die von Siebenschläfern angenagten Baumstämme. Der Sonnenaufgang kam mit einem schüchternen, aschgrauen Lichtschimmer, der die Baumwipfel noch schwärzer erscheinen ließ. Auch Kastanien gingen sie im Wald sammeln, die stachelige Hülle zertraten sie unter der Sohle ihrer Wanderschuhe.

Jetzt war Oktober, Pilze und Kastanien versteckten sich auf dem Boden, aber es war das Jahr 1970, und sie war zweiundvierzig.

Die Lehrerin drehte dem Dorf den Rücken zu. Sie zitterte von Kopf bis Fuß, das Flügelschwirren zwischen den Zweigen spürte sie in der Brust wie Herzflattern. Plötzlich fiel ihr die verlassene Hütte ein, ein alter Unterschlupf für die Tiere, ein Abstellraum für Werkzeuge, mit marodem Dach. Um sie zu erreichen, musste sie sich bis auf den Gipfel des Hügels schleppen, wo der Wald die Pfade verschluckt hatte und Dornbüsche und Akazien die anderen Bäume erstickten. Beim Hinaufklettern stützte sie die Knie auf die Steine und zog sich an Heidekrautbüscheln hoch.

Vor einigen Jahren war die Abdeckung der Hütte mit Eternitplatten geflickt worden, doch dann hatte niemand die Zeit und die Kraft gehabt, die Vegetation im Zaum zu halten. Es fehlte eine Leiter, um zum hölzernen Hängeboden hinaufzusteigen, und die Äste einer Akazie hatten das kleine Fenster durchbohrt. Auf dem Boden lag noch Heu, das nicht ganz verfault war, und in einer Ecke lehnten alte Hippen, Rechen und Sicheln.

Die Lehrerin ging schwankend, sie war benommen, und in den Augen geschahen ihr Dinge, die nichts mit diesem Ort zu tun hatten. Kaum war sie über die Schwelle getreten, ließ sie sich auf den Boden fallen und rührte sich nicht mehr.

2

Am Morgen war ihr das Aufstehen schwergefallen, wie gewöhnlich. Den Wecker platzierte sie auf einen Teller, in den sie Münzen legte, damit sein unerträgliches Läuten und Vibrieren sie aufspringen ließen. Mit einem blindlings ausgeführten Schlag stellte sie ihn ab, dabei fiel er oft auf den gefliesten Fußboden und war so zu einem buckligen Metallklumpen geworden.

Die Lehrerin stand auf und stellte die Herdplatte unter der schon vorbereiteten Espressokanne an. Erst nach dem Kaffee fange ich an zu denken, sagte sie. Sie ließ die leere Tasse auf dem Tisch stehen, zwischen den runden Spuren anderer Tassen, anderer in den vergangenen Morgen getrunkener Kaffees.

Im Bad zog sie ihr Nachthemd aus und wusch Arme und Oberkörper. Sie versuchte, kein Stück Haut auszulassen, denn sie wusste, dass sie achtlos war. Schon mehrmals hatte die Frau ihres Cousins sie ermahnt: »Silvia, morgen solltest du einen anderen Pullover für die Schule anziehen, man schwitzt leicht, wenn die Heizungen angestellt sind.« Offenbar hatte sie nach Schweiß gerochen. Sie selbst merkte es nicht, aber sie wollte keinen Anstoß erregen, vor allem nicht bei den Kindern. Vor den Kindern musste man immer ordentlich und sauber auftreten, denn sie wurden gezwungen, wie aus dem Ei gepellt zu erscheinen, und wenn man sie mit schmutzigem Hals und schwarzen Fingernägeln erwischte, wurden sie ausgeschimpft. Darum hatte sie die Gewohnheit angenommen, sich mit zu viel Seife zu waschen, jede Woche verbrauchte sie ein ganzes Stück, und ihre Achseln, die Unterhose und das Innere ihrer Schuhe bestäubte sie mit Talkumpuder. Trotzdem blieb sie eine vom Land, eine, die nach Heurechen und Vieh roch, und sie wusste, dass sie eines Tages zurückkehren würde, ins Dorf, nach der Pensionierung, und eine Handvoll Salz auf die roten Schnecken werfen würde, damit sie sich auflösten, bevor sie sich über den Salat hermachen konnten. Sie würde den Hühnerkot wegfegen, die Kaninchenkäfige reparieren und sich bemühen, nicht zu vergessen, dass man sich vor dem Essen die Hände wäscht.

Draußen war der Himmel wolkenlos, im Licht zeichneten sich die Flanke des Hügels, die Bäume und Häuser scharf ab. Mindestens zwei Menschen sahen sie die Straße entlanggehen, die sich um den Hang schlängelte: Signora Berti von einem Fenster ihres zwischen zwei Mispelbäumen liegenden Hauses aus und Giulio Motta, der auf seinem kleinen Balkon Kaffee trank, im Schoß die Katze.

Alle im Viertel kannten die Lehrerin. Als junges Mädchen war sie zum Studieren nach Biella gegangen, und von dort hatte sie sich nicht mehr wegbewegt, abgesehen von ein paar Ausflügen mit dem Bus ins Aosta-Tal, in die Schweiz und nach Ligurien, um die Füße ins Wasser zu tauchen. Ihren einzigen Flug hatte sie genommen, um Verwandte in Melbourne in Australien zu besuchen, doch von dieser Reise erzählte sie fast nichts, sagte nur: »Es war schön« oder »Die Kängurus überfahren sie manchmal mit dem Auto, und dann machen sie daraus ihr Barbecue«, und wenn man sie bedrängte – »Was sagst du da, Silvia, was soll das heißen, sie überfahren sie?« und »Die Ärmsten!«, »Geht das Auto dabei nicht kaputt?« –, zuckte sie nur mit den Schultern. Sie zuckte oft mit den Schultern, sie verlor sich oft in ihren Gedanken, und sie ging mit gesenktem Kopf, die Unterlippe vorgeschoben, das Kinn in Falten gelegt. Sie sah auf ihre Füße oder auf die Straße vor ihr, und die eng beieinanderstehenden blauen Augen blieben unter den Lidern verborgen.

Sie wohnte am Stadtrand, wo sich mehrstöckige Mietshäuser mit Fahrstuhl und kleine, von Gärten umgebene Gebäude, Brachflächen, Gemüsegärten und Hühnerställe abwechselten. Die Hecken mit Vogelbeerbäumen ließen ihre orangefarbenen Trauben bis über den Bürgersteig hängen, und zu dieser frühen Morgenstunde brannten in den Höfen schon aufgestapeltes Reisig, abgemähtes Gras und beschnittene Zweige. Der Rauch dieser Feuer erfasste sie von der Seite, in Böen, während aus den Abwassergräben ein Gestank nach durchweichten Blättern aufstieg. Sie atmete tief ein und dachte, dass manche stechenden Gerüche eigentlich angenehm waren. Zum Beispiel mochte sie das Aroma von Kellern und von Salamihaut. Den Geruch überkochender Milch dagegen hasste sie, doch das lag an den Jahren im Internat, wo man ihr angesäuerte Milch zum Frühstück, Mittagessen und Abendessen verabreicht hatte.

Im Kiosk am Fuße des Abhangs kaufte sie eilig die Zeitung, denn sie wollte früh genug im Klassenzimmer ankommen, um die Aufgabe abzuschreiben, die sie ihren Schülern geben würde. Für jedes Kind fertigte sie ein Exemplar in ihrer klaren, regelmäßigen Handschrift.

Signor Minero vom Zeitungsstand wagte nicht, etwas zu sagen, und hielt sie nicht auf. Er wusste ohnehin nicht, ob das Mädchen eine ihrer Schülerinnen war. Vielleicht kannte Silvia sie kaum. Vor allem war er in Verlegenheit, er wollte nicht der Erste sein, der mit ihr darüber sprach. Denn er wäre sicher der Erste – fast niemand wusste, was geschehen war, es war noch früh am Morgen, und auch sie schien völlig ahnungslos zu sein. Wenn sie nun in Tränen ausbrechen würde? Wenn sie der Länge nach umfallen würde?

Während er noch im Geist einen Satz ausprobierte (Silvia, haben Sie gesehen? Silvia, wissen Sie schon? Warten Sie doch, Silvia), sich räusperte und den Mund öffnete, war sie schon hinausgegangen. Sie hatte das passende Kleingeld auf das Plastiktablett gelegt und war im Nu wieder aus der Tür.

»Hat sie nicht einmal die Überschrift gelesen?«, fragte man ihn später.

»Nein, sie hat die Zeitung zusammengefaltet, in ihre Tasche gesteckt und ist wieder gegangen.«

Vielleicht wäre es ja tatsächlich entscheidend für sie gewesen, wenn sie in Gegenwart eines anderen Menschen erfahren hätte, was dem Mädchen zugestoßen war. Vielleicht wäre sie zusammengebrochen und nicht einfach hinausgegangen, als wenn nichts wäre. Minero hätte sie nach Hause gebracht oder ihre Verwandten angerufen: »Es ist etwas passiert, bitte kommt die Silvia abholen.« Vielleicht hätte sie aber auch nur gezittert, hätte eine Weile gewartet, sich dann wieder gefasst, sich an ihrer Tasche festgehalten und gesagt: »Es geht mir gut, ich gehe trotzdem in die Schule.« Und wäre stattdessen in den Wald gegangen.

»Ich hätte sie aufhalten sollen«, sagte Minero in den folgenden Tagen immer wieder.

»Minero, dieser Trottel, warum hat er sie bloß nicht aufgehalten!«, donnerte Silvias Cousin, der nächste Verwandte, den sie hatte. Er war über einen Meter neunzig groß, seine Stimme ließ die Gläser erzittern.

»Schrei nicht, Anselmo.« Seine Frau versuchte ihn zu beruhigen, sie ertrug den Lärm ihres Mannes nicht, die theatralische Art, sich abzureagieren.

»Das ist ein Idiot! Ich hab’s ja immer gesagt!«, machte er weiter, aus vollem Halse brüllend, und hieb mit den Händen, breit wie Schaufeln, auf den Tisch.

»Schluss jetzt, dich trifft noch der Schlag.«

»Idiot!«

»Meine Güte! Was kümmert dich Minero? Wir müssen an Silvia denken. Wohin sie gegangen sein mag. Wo sie ausgerutscht, gefallen sein könnte.«

»Halt den Mund, du verstehst gar nichts«, schrie Anselmo und ballte die Fäuste, um die Angst aus sich herauszupressen.

3

Die Schule war ein zweistöckiges Gebäude in der Farbe von Milchkaffee, umgeben von einem engmaschigen Zaun, Hortensienbüschen und Lorbeerkirschen. Im Schulhof wechselten sich Kies und Zement mit grasbewachsenen Flächen ab, auf denen niedrige Bäumchen wuchsen. Sie wurden von den kleineren Kindern malträtiert, die darauf herumkletterten und die Blätter abrissen, um im Spiel damit Suppen zuzubereiten. Die Schule lag eine Viertelstunde Fußweg vom Kiosk entfernt.

»Irgendwann muss sie die Zeitung aufgeschlagen haben«, überlegten sie dann.

Tatsächlich holte die Lehrerin, ohne stehen zu bleiben, die Zeitung aus ihrer Tasche. Bevor sie die Schule betrat, überflog sie gern wenigstens die Schlagzeilen, um sich fester in der Welt verankert zu fühlen. »Du bist in Gedanken immer woanders, du bist verträumt, Silvia.« Seit jeher wurde ihr das gesagt. Mit heftigen Bewegungen blätterte sie die Zeitungsseiten auf, dann, am Straßenrand, las sie die Nachricht. Schlagartig blieb sie stehen. Äußerlich wirkte sie ungerührt, doch von Nahem gesehen wäre ihre Erstarrung unnatürlich erschienen. Innerlich war sie eine Lawine. Sehr bald konnte sie die Buchstaben nicht mehr unterscheiden, und doch pulsierten, mitten zwischen dem schwarzen Splitt der Lettern, einige wenige isolierte Wörter vor ihren Augen: »Sturz«, »Körper«, »Tragödie«. Nach etwa einer Minute schlug sie die nächste Seite auf, wo der Artikel fortgesetzt wurde und ein Foto den großen Häuserblock mit dem Cervo zeigte, dem Wildbach, der am Fuß des Gebäudes vorbeiströmte.

Sie merkte, dass sie weitergegangen war, wunderbarerweise trugen sie die Beine wie von selbst. Sie ging schnell voran, wie jemand, der zu spät zu einer Verabredung kommt, und nur gelegentlich schwankte sie oder ihr Fußgelenk gab nach, aber sie hätte nicht sagen können, ob sie hinkte oder die Schulter schmerzte, mit der sie eine Hausmauer gestreift hatte (der Staub vom Verputz hatte eine helle Spur auf ihrem Mantel hinterlassen, vielleicht war es aber auch Tafelkreide vom Vortag). Sie ging am Krankenhaus vorbei und ließ sich die abschüssige Straße hinunterführen. Der Bürgersteig an der Zementmauer war eng, über die Pflastersteine holpernd, überholten sie ratternd die Autos.

An der letzten Spitzkehre tauchten der Wildbach Cervo und die Brücke auf, und sie spürte, dass ihre Beine sie mit aller Gewalt ins Wasser werfen wollten. Sie hatte nichts dagegen, es war ihr gleichgültig, im Gegenteil, es erschien ihr sinnvoll, sogar logisch. Über die Brüstung zu steigen, wäre einfach, niemand achtete auf sie, niemand hätte sie rechtzeitig daran hindern können. Zu ihrer Überraschung aber ging sie so schnell über die Brücke bis ans andere Ufer, als würde sie Fahrrad fahren, dabei spürte sie einen Krampf im Bauch, weil sie sich nicht weit von dem in der Zeitung abgebildeten Haus befand, und einen Augenblick lang ging ihr das Märchen vom Rattenfänger durch den Kopf, der die Ratten und dann auch die Kinder im Fluss ertränkt, um sich zu rächen. Sie war die Ratte, aber die Reihenfolge war falsch: Die Ratte kommt vor dem Kind, nicht danach.

Nun hatte sie die Gelegenheit verpasst und musste weitergehen; sie überlegte, dass sie wahrscheinlich gehen würde, bis sie zusammenbrach, und auch das war ihr recht, es hätte nur sehr viel länger gedauert.

Alles verschwamm vor ihren Augen, sie erkannte die Formen nicht mehr. Ihr war, als käme der Wald auf sie zu und umhüllte sie mit einer Mischung aus Baumstämmen, Dornen und Laub.

4

Sie kam nie zu spät, und ihre Abwesenheit versetzte alle in Aufregung. Inzwischen war die Nachricht auch in die Schule gelangt. Der Kommissar hatte um ein Gespräch mit dem Direktor und den Lehrern gleich nach dem Unterricht gebeten. Ein paar Reporter hatten das Schulgebäude gerade in dem Moment fotografiert, als die Kinder durch das Tor hineinströmten. Ein Schüler aus der Zweiten hatte gerufen: »Hallo, Onkel!«

Es war eine kleine Stadt.

Jetzt blieb in der Klasse eine Bank leer, und Silvia war nicht zu sehen. Man vermutete, dass sie es erfahren hatte – jemand musste sie angerufen haben, vielleicht ein Reporter oder ein Verwandter, der früh aufstand – und sich nicht imstande gefühlt hatte, aus dem Haus zu gehen. Eine andere Lehrerin, eine ihrer besten Freundinnen, Schwester Annangela, rief erst in ihrer Wohnung an, dann, weil niemand abnahm, bei ihrem Cousin Anselmo, der nur zwei Häuser weiter wohnte. Seine Schwiegermutter war am Telefon.

»Guten Tag, Gemma, hier ist Schwester Annangela.«

»Wie geht es Ihnen? Alles in Ordnung?«

»Nun ja, Gemma, wie man’s nimmt. Ich suche Silvia, ist sie bei euch? Ich verstehe, dass sie heute nicht kommen wollte …«

»Sie ist nicht bei uns.«

»Oh«, sagte Schwester Annangela. Dann wiederholte sie: »Sie ist nicht bei euch.« Vor ihr stand der Direktor, der wie aufgezogen fortwährend den Kopf schüttelte, und die Lehrerin Fogli schniefte.

»Was ist denn passiert, Schwester Annangela?«

»Vielleicht ist sie ja zuhause, geht aber nicht ans Telefon. Würden Sie bitte mal nachsehen?«

»Natürlich. Ich habe einen Schlüssel. Aber Sie machen mir Angst.«

»Es ist wegen einer Schülerin, Gemma, ein Mädchen aus der Fünften. Silvias Klasse.« Obwohl sie versuchte, sich zusammenzunehmen, brach Schwester Annangela die Stimme. »Sie lebt nicht mehr, sie ist gestern Abend von uns gegangen.«

»Heilige Madonna. Oh Gott.« Gemma nahm den Hörer vom Ohr und betrachtete ihn, als wäre er schuldig. Dann hob sie ihn wieder ans Ohr. »Wie kann sie das erfahren haben?«

»Vielleicht hat jemand sie heute Morgen sehr früh angerufen, oder sie hat die Zeitung gekauft, die Nachricht gelesen und ist nach Hause zurück.«

»Ein Unfall?«, fragte Gemma.

»Im Cervo, im Wildbach. Wir wissen es nicht genau.«

»Armes Wesen, Gott hab sie selig«, sagte Gemma. Sie war sehr fromm, und wenn sie sich an Gott wandte, fiel sie wieder in ihr Friaulisch zurück.

»Ich weiß, es ist schrecklich. Ein kleines Mädchen. Elf Jahre. Wir sind alle tief betroffen. Sicher ist auch die Silvia erschüttert, wenn sie es erfahren hat. Das Mädchen war ihre Schülerin. Sie hat sich sehr um sie gekümmert. Gehen Sie nachschauen, Gemma.«

»Ich rufe Sie wieder an, Schwester Annangela.«

Gemma legte den Hörer auf und verließ das Haus. Sie trug noch ihre Schürze und war mit den Fersen nicht in die Schuhe geschlüpft.

»Sie werden zurückrufen«, sagte Annangela zum Direktor. »Ich sehe mal nach der Klasse.«

Ihr Herz war schwer, wegen des Mädchens und jetzt auch wegen Silvia. Sie kannte Silvia, sie wusste, dass sie den Schmerz nicht ertragen würde. Sie konnte hart und undurchsichtig erscheinen wie eine Eisscholle, über die man spazieren kann, ohne zu befürchten, sie könnte brechen, doch in Wirklichkeit war das Eis dünn, eine Membran, die sich noch kaum verfestigt hatte.

Sie betrat den Klassenraum der Fünften, die von einem finster dreinblickenden Hausmeister bewacht wurde. Die Schüler wussten noch nichts.

Schwester Annangela war sehr klein und beleibt, ihre Füße waren so winzig, dass sie kreisrund wirkten, und ihre in die dicken braunen Strümpfe der Schwestertracht gezwängten Waden sahen aus wie Würste.

»Habt Geduld, Kinder, eure Lehrerin Signora Canepa ist vielleicht krank, wir versuchen das gerade herauszufinden.« Sie zeigte auf ein Mädchen in der ersten Reihe. »Entschuldige bitte, ich weiß deinen Nachnamen nicht.«

»Cairoli.«

»Nun, Cairoli, bitte gib mir dein Schulbuch.«

Sie setzte ihre Brille auf, überflog mit ihrem dicken Finger das Inhaltsverzeichnis und gab ihnen ein Stück zum Lesen auf: Der kleine Elefant vom Fluss Limpopo.

»Lest euch den Text still durch und unterstreicht die Nomen rot, die Verben blau und die Adjektive gelb.«

Sie wechselte einen aufmunternden Blick mit dem Hausmeister und ging hinüber in ihre Klasse, eine Zweite, wo die Kinder sich an den Minuten unverhoffter Freiheit erfreuten. Auch dort wachte ein Hausmeister über das laute Geschnatter. Ein Schüler stand vor der blankgewischten Tafel, er machte ein Gesicht, als hätte man ihm eine stachelige Kastanienschale in die Unterhose gesteckt.

»Was machst du da, Martinelli?«

»Ich habe ihn an die Tafel geschickt, Schwester Annangela. Er hat über Ihre Abwesenheit etwas Schmutziges gesagt.«

Schwester Annangela spürte, dass sie lächeln musste, und kniff die Lippen zusammen, um das Lächeln ein wenig zurückzudrängen.

»Verflixt, etwas Schmutziges. Was muss ich da hören.«

Sie wollte den Hausmeister nicht demütigen, indem sie seine Strafe zurücknahm, aber sie wollte den Jungen auch nicht dort stehen lassen. Nicht an diesem Tag.

»Es war nicht gar so schmutzig, Schwester Annangela«, versuchte Martinelli einzuwenden.

»Er hat gesagt …« Der Hausmeister suchte nach einer passenden Umschreibung. »Er hat gesagt, Sie seien auf der Toilette, Schwester Annangela.«

»Interessant.«

»Um Ihre Notdurft zu verrichten.«

»Ich verstehe, danke.«

»Bitte entschuldigen Sie!«, platzte der Junge heraus, den Tränen nahe.

Sie nehmen alles so entsetzlich ernst, dachte Schwester Annangela, von jäher Bitterkeit gepackt. Marina Poggio kratzte sich mit dem Radiergummiende ihres Bleistifts im Ohr. Ludovico Bindi hielt den Apfel, den er in der Pause essen würde, auf den Knien. Schwester Annangela spürte das Salz der Tränen auch in ihrer Kehle.

»Du bist entschuldigt, Martinelli, geh an deinen Platz zurück. Und zu deiner Information: Ich war nicht auf der Toilette.«

Sie setzte sich, und einen Augenblick lang hatte sie Angst, dass sie diesen Morgen und die kommenden Tage nicht durchstehen würde. Die Beerdigung. Sie senkte den Kopf. Die Kinder beobachteten sie. »Verflixt«, sagte sie wieder, und die Kinder machten Augen wie eine Schar kleiner Eulen. Sie musste die Schüler in die andere Zweite bringen und in die Klasse des Mädchens zurückkehren, wo sie noch Der kleine Elefant vom Fluss Limpopo lasen und nichts wussten, ahnungslos waren.

5

Gemma klingelte und klopfte viele Male vergeblich. Sie legte das Ohr an den Türflügel, da sie aber kein Geräusch hörte, öffnete sie entschlossen die Tür zu Silvias Wohnung.

Sie war mit Notfällen vertraut, sie kannte die Anspannung, die den Körper peitscht wie mit einem Stahlkabel. Gemma kam aus dem Friaul, dort war sie 1903 geboren worden. Wenn jemand vom Zweiten Weltkrieg sprach, sagte sie: »Stell dir vor, ich habe zwei Kriege erlebt.« Es verschaffte ihr Befriedigung, so etwas zu sagen. Es verschaffte ihr Befriedigung, dass sie trotz Caporetto, der Spanischen Grippe, dem Witwenstand, den Bomben, den Razzien der Deutschen am Leben geblieben war, während viele Menschen, die sie kannte, sich eher schuldig fühlten. Angefangen bei ihrer Tochter Luisa. Doch für Gemma war die Vergangenheit vor allem vergangen, sie lag hinter ihr, war vorbei. Ich werde nicht mehr nachts fliehen müssen, ich werde nicht in letzter Minute über die Brücke laufen, bevor sie gesprengt wird, meine Tochter wird nicht nach Deutschland geschickt werden, um Sklavenarbeit zu verrichten. Das war für sie Grund genug, dem Leben mit einem gewissen Optimismus zu begegnen.

Trotzdem überfiel Gemma an diesem Morgen, als sie die Wohnung leer vorfand, eine Ahnung von Gefahr, die sie sich nicht erklären konnte. Es war zu früh, um in Panik zu geraten, Silvia musste vor etwa einer Stunde aus dem Haus gegangen sein: der Kaffeesatz in der Tasse war noch nicht getrocknet, das Bett war zerwühlt, die Seife war auf die grünlichen Fliesen im Badezimmer gefallen. Die Lehrerin war keine klassische Hausfrau, also gab es daran nichts Besonderes. Doch sie war nicht da. Gemma rief sofort in der Schule an.

6

Im Traum zerfetzt ihr etwas den Bauch. Sie selbst tut das. Mit einem Messer, wie man eine Mispel schält, das Fruchtfleisch abschabt, bis nur ein spiegelnd blanker Kern übrig bleibt, unnatürlich, er passt nicht zur Frucht. Sie sieht ihn glänzen wie eine kleine schwarze Sonne, ein zurückgewiesenes schwarzes Ei. Ein hohles Osterei.

Die Lehrerin öffnet die Augen. Wenn sie sie wieder schließt, erscheinen sofort die Bilder. Kalbsrippen, ein Maulwurf, ersäuft, weil er mit seinen Stollen den Garten beschädigt, an einer Kellerwand aufgehängte Hippen, eine pulsierende Froschkehle, die man mit einer Nadel stechen oder mit einem Messer durchtrennen kann: Mit dem Messer zieht man eine Linie, als würde man ein Wort unterstreichen oder markieren, um es zu korrigieren. Sie sieht Berge aus beschrifteten Heften, sämtliche Wörter durchgestrichen, eine staubige Aula, doch vielleicht sind die kleinen Partikel in der Luft auch Asche, und sie befindet sich in einem riesigen, erloschenen Kamin, wie jener in der Burg von Verrès, die sie mit ihren Klassen oft besichtigt hat. Doch nein, das kann nicht sein, denn ihre Großmutter schlurft dort durchs Zimmer, Silvia hört das Scharren der Pantoffeln und das Rascheln der Unterröcke. Ein Mann trägt einen Fasan mit baumelndem Kopf und trüben Augen auf der Schulter. Eine übergewichtige Frau geht zum Klosett am Ende des Flurs, blickt sich um, zieht ihren Rock hoch, kommt wegen ihres Leibesumfangs nicht ganz in den Verschlag hinein und muss mit dem halben Körper draußen bleiben, sie zittert, es kostet sie Mühe, nicht umzufallen, sie klammert sich an den Rahmen der weit offen stehenden Tür. Sie weiß nicht, dass die Jungen auf die Laube geklettert sind, um ihre Weintrauben zu stehlen, und sie jetzt von dort oben grinsend beobachten, sie weiß es nicht, aber Silvia hört das unterdrückte Kichern.

Je grausamer die Visionen sind, desto mehr beruhigen sie die Lehrerin, statt sie zu erschrecken. In der Nähe rumoren die Wildschweine. Eine Mönchsgrasmücke pfeift, es muss fast Morgen sein. Sie fasst diesen Gedanken nicht in Worte, die Ohren registrieren das Geräusch, und etwas in ihr antwortet: Mönchsgrasmücke. Es ist eher ein Reflex als eine Information und wird sofort vergessen. Die Sinne gehorchen, das Gehirn versucht zu funktionieren, aber es ist ein schwarzer Teer aus Teilnahmslosigkeit.

Durch die Tür der Hütte sieht Silvia eine Birke mit ihren Blütenständen. Der Anblick trifft sie wie ein Schlag, fast möchte sie sich mit den Armen schützen. Die Kätzchen der Birke sehen aus wie hängende braune Würstchen, bei der leisesten Berührung geben sie ihren Pollenstaub ab. Alles, was hängt, baumelt oder an seinem Halter aufgeknüpft ist, entspricht ihr. Sie selbst fühlt sich so, ein Bündel, das mit einem verdorrten Stiel, vielleicht auch einem Strang, am Leben aufgehängt ist. Über ihrem Kopf zerteilt das windschiefe Dach den Himmel in Abschnitte, die immer heller werden.

Dort draußen steht eine Buche, deren Rinde vom Zunderschwamm besiedelt wurde: Dutzende aschgrauer Hüte ragen wie Sockel aus dem Stamm. Die Rinde bröckelt schon ab, große Placken fehlen. Silvia weiß, dass es für den Baum keine Rettung gibt, früher oder später wird er umstürzen. Sie weiß es, aber nichts fügt sich zu einem folgerichtigen Ganzen zusammen, zu einem Vorher und einem Nachher, außerdem sieht sie ohnehin keinen großen Unterschied zwischen sich und den Pflanzen mit ihren Parasiten, dem Schimmel auf den Dachsparren, den lebenden Tieren und den Kadavern, dem leichten Wind, der durch die Tür und die Risse im Mauerwerk hereinweht. Sie muss Wasser lassen, aber sie sieht nicht ein, warum sie aufstehen und hinausgehen sollte wie die fette, verspottete Frau unter den begeisterten Blicken der Jungen. Sie leert ihre Blase dort, wo sie ist, ohne sich um einen Zentimeter zu bewegen.

7

Giovanna, so hieß das Mädchen. Am Ende des vergangenen Jahres hatte sie angefangen, den Unterricht zu schwänzen. Sie war schon immer schlecht in der Schule, sie lernte langsam.

»Was soll das? Du kannst dir nicht erlauben, zuhause zu bleiben«, hatte Silvia gesagt. Sie behielt sie in der Klasse, machte die Hausaufgaben mit ihr. Setzte sich neben sie, ein bisschen unbeholfen, aber entschlossen, und erst einmal packte sie die Brötchen aus, die sie für sie beide zubereitet hatte. Brötchen waren das Einzige, was Silvia außer Kaffee in der Küche zubereitete, denn abends aß sie immer bei Anselmo und Luisa. Auf diese Brötchen legte sie meistens Käsescheiben, denn sie hatte bemerkt, dass Giovanna gern Käse aß, oder Butter und Marmelade.

»Durchs Üben werden alle besser. Nimm mich. Ich bin nicht besonders intelligent, aber ich habe mich angestrengt.« Das sagte sie ohne falsche Bescheidenheit. Es war die Wahrheit, und man musste sich ihr stellen, Komplimente wurden verbannt. Immerhin fand Silvia sich intelligent genug, um zu erkennen, dass sie keine Geistesgröße war. Ein ganz normaler Kopf, dazu Beharrlichkeit und Fleiß. Im Internat, wo sie während des Krieges zur Schule gegangen war, bekamen andere die guten Noten, die Mädchen, die mühelos lernten, eine intuitive Auffassungs- und Erfindungsgabe hatten. Sie nicht, sie tat, was sie konnte. Sie besaß Pflichtgefühl, Durchhaltevermögen, und ihr war bewusst, dass sie zu gehemmt und unsicher war, um zu ertragen, als Dummerchen zu gelten. Sie war eine Waise, bei den Großeltern aufgewachsen, und schließlich ins Internat gekommen. Da konnte sie sich nicht auch noch Vorwürfe und Demütigungen wegen schlechter Schulleistungen aufbürden.

»Komm, Giovanna, wir machen die Aufgaben zusammen. Dann bist du morgen gut vorbereitet.«

»Danke, Maestra«, sagte das Mädchen. Und dann blieb sie stumm, weil sie den Mund voll hatte.

Giovannas Eltern waren Almhirten und vor ein paar Jahren nach Biella gezogen. Die Mutter pendelte zwischen der Alm im Elvo-Tal und der Kleinstadt. Dort wohnten noch ihre Schwester und der Schwager, deren Kinder in Bagneri zur Schule gingen, wo es nur eine einzige Klasse gab und die Pulte und Bänke zu einem Block aus dunklem Holz verbunden waren, wie in der Kirche. Auch Giovanna hatte dort ihre Grundschulzeit begonnen, aber im Dezember hatte sie sich eine Lungenentzündung geholt, war im Krankenhaus gewesen und hatte fast drei Monate Schulzeit verloren. Als sie wieder in die Klasse gekommen war, noch erschöpft und abgemagert, hatte sie das bisschen Italienisch, das der Lehrer ihr einbläuen konnte, völlig vergessen.

Im selben Jahr hatte ihr Vater Arbeit in der Fabrik gefunden, in der Textilindustrie, die in der Nachkriegszeit Aufschwung genommen hatte und weiterhin wuchs. Die Arbeit gefiel ihm nicht, aber der Lohn war anständig, die Kinder konnten in der Stadt zur Schule gehen, und in der Wohnung gab es ein Badezimmer, sogar mit Badewanne und Waschmaschine. Eine Candy Superautomatic 5 aus zweiter Hand, nur ein bisschen verbeult vom Hagel, der gefallen war, als sie die Maschine transportiert hatten.

Überall verließen die Menschen ihre Dörfer und Täler, auch Giovannas Vater war weggegangen, nur war er darüber unglücklich, verbittert geworden. Er trank, wie alle, und vertrug das sehr gut, eine große Flasche am Tag machte ihm gar nichts aus. Manchmal aber übertrieb er, trank auch Grappa dazu und Weinbrand. Er vermisste den Heuschober, das nächtliche Rasseln des Hundes an der Kette, die Kühe mit ihren langen Wimpern, sogar den Mist, der auf der gefrorenen, zertrampelten Weide dampfte. Einen Teil seiner Unzufriedenheit zwang er den anderen auf. Im Bett behandelte er seine Frau grob und hörte auch dann nicht auf, wenn sie weinte und die Kinder im Nebenzimmer im Schlaf wimmerten. Giovanna war nicht versetzt worden und hatte die Grundschule wieder in der ersten Klasse begonnen, doch sie bekam weiter schlechte Noten. Der Vater schlug sie, um sie zu erziehen, nie planvoll und nie lange, doch die harten Schwielen seiner Hände hinterließen blaue Flecken, die erst nach Wochen verblassten.

Giovanna war die Schläge leid, sie wollte bei der neuen Lehrerin in der Stadt einen guten Eindruck machen. Beide kostete es große Anstrengung, Giovanna auf ein Befriedigend zu bringen, doch kaum überließ man sie sich selbst, sackte sie wieder ab. In der Dritten drohte sie sitzenzubleiben, dann hatte Silvia es nicht über sich gebracht, Giovanna einer anderen Lehrerin anzuvertrauen, und sie mit Hilfe nach oben korrigierter Noten im Zeichnen, Turnen und in Handarbeit bei sich behalten.

Am Ende der Vierten hatte sich etwas verändert. Das Mädchen war frech geworden, aber auch verletzbarer. Ihre Augen glühten vor Unruhe, ihr waren Haare am Körper und Brüste gewachsen. Den Flaum unter der Nase versuchte sie mit den Fingern zu verbergen, im Licht des Badezimmerspiegels erinnerte er sie an den Schimmelbelag, der die Ecken der Zimmerdecke grau färbte.

Silvia hatte ihr eine Reihe schlechter Noten nicht ersparen können, obwohl sie die Reaktion des Vaters fürchtete. »Zwei Ohrfeigen mehr, Maestra«, hatte Giovanna lakonisch bemerkt.

Die Familie wohnte in einem großen Wohnblock direkt über dem Wildbach Cervo, zwischen den Fabriken, die seit anderthalb Jahrhunderten Wasserkraft für die Wollverarbeitung nutzten. Betonpfeiler und steile Zementwände erhoben sich neben Bögen aus rotem Ziegelstein und den Fabrikschornsteinen der Werkstätten aus dem neunzehnten Jahrhundert.

Das Gebäude wimmelte von kinderreichen Familien, einige Jungen hatten begonnen, Giovanna anzustarren, dann fühlte sie sich zugleich schmutzig und geschätzt. Sie wusste nicht, ob sie sich vor ihnen aufplustern oder fliehen sollte. Zwei Jungen, Michele und Domenico, begnügten sich nicht damit, sie pfeifend zu mustern, sie sprachen auch mit ihr. Sie sprachen im Dialekt, waren flegelhaft und spielten sich als erwachsene Männer auf. Wie Giovanna hatten sie den disparaten Körper der Pubertät: sie zwei spitze kleine Hügel auf der Brust, die das Unterhemd zu durchbohren schienen, und Stoppeln in den Achselhöhlen, aber ihr Po war noch flach und die Hüften unter dem kugeligen Kleinmädchenbauch kaum gerundet; die beiden Jungen riesige Hände an den rastlosen Armen, Adamsäpfel wie zwei Nüsse, die ihnen im Hals stecken geblieben waren, spärliche Bartstoppeln am Kinn, aber Hals und Wangen noch völlig unbehaart.

Anfangs hatte Giovanna nicht reagiert. Die Verlegenheit machte sie stumpfsinnig, ihr Gesichtsfeld schrumpfte auf ein schwankendes Quadrat zu ihren Füßen, während sie versuchte, sich davonzumachen, um die nächstgelegene Ecke zu biegen, auf der Treppe zwei Stufen auf einmal hinabzuspringen, um zu verschwinden. Kaum war sie außer Reichweite, wurde ihr bewusst, dass das Herzklopfen und die Aufregung sie betäubten, ihre Nachmittage aber auch spannender machten, und am nächsten Tag bot sie sich an, die Nachbarin um das Waschmittel zu bitten, oder sie verweilte ohne Grund auf dem Treppenabsatz oder wagte sich bis in den Hof und lief dort mit gesenktem Kopf auf und ab, als hätte sie etwas verloren, weil sie herausfinden wollte, ob die beiden mit ihr sprechen würden.

Silvia ahnte die Tragweite der Veränderung, aber sie konnte dem Mädchen nicht folgen. Als alternde Jungfer wurde sie von allen behandelt wie eine Nonne. Sich selbst sah sie eher als einen pflanzlichen Organismus, einen Körper, den man nicht unbedingt keusch, eher nichtssagend hätte nennen können. Sie hatte versucht, das Mädchen zu tadeln: »Du bist unkonzentriert, ich kann nicht immer alles für dich tun.« »Komm, dann sind wir bald fertig.« »Pass auf, sonst muss ich dir ein Ungenügend geben.« »Giovanna, du hörst mir nicht zu.«