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In Klaus Merz' früher Prosa zeigen sich bereits der zurückhaltende, eigene Ton, der hintergründige Humor sowie die schnörkellose und poetische Sprache, die sein gesamtes Werk prägen. Der zweite Band der Werkausgabe versammelt Prosatexte aus dem Frühwerk, darunter bislang unveröffentlichte Texte, die noch vor dem ersten Prosa-Band "Obligatorische Übung" entstanden sind, sowie das für die Arbeit des Autors wegweisende Prosastück "Latentes Material" und die erste lange Erzählung "Der Entwurf". Darüber hinaus enthält der Band den "Zschokke-Kalender", das 1976 uraufgeführte Theater-Debüt.
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Seitenzahl: 329
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HAYMONverlag
Klaus Merz
Frühe Prosa 1971–1982
WerkausgabeBand 2
Herausgegeben von Markus Bundi
© 2011
HAYMONverlag
Innsbruck-Wien
www.haymonverlag.at
Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie, Mikrofilm oder in einem anderen Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
ISBN 978-3-7099-3720-4
Buchgestaltung und Satz:
hoeretzeder grafische gestaltung, Scheffau/Tirol
Umschlaggestaltung:
hoeretzeder grafische gestaltung, Scheffau/Tirol, nach einem Entwurf und unter Verwendung einer Zeichnung von Heinz Egger
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses Buch erhalten Sie auch in gedruckter Form mit hochwertiger Ausstattung in Ihrer Buchhandlung oder direkt unter www.haymonverlag.at.
Vielleicht hilft das Weitererzählen(Frühe Texte 1971–1979)
Die Schifffahrt
Vieles spricht für einen Hut
Klavierkonzert
Vielleicht hilft das Weitererzählen
Vergilbte Veloständer
Nachschrift
Liebe Susanne
Obligatorische Übung(1975)
Obligatorische Übung
Dubach & Sohn
XY oder Die Begegnung im Buffet
Besuch
Jahrgang 26
Lutz
Ein Nachruf
Zschokke-Kalender(1976)
Latentes Material(1978)
Der Anruf
Alb-Schwinget
Latentes Material
Entstehung einer Tagebuchnotiz
Anita
Hohes Gericht
Hochzeit
Salat waschen
Bruder Montgolfier
Gottfried, eine ländliche Verheißung
Der Entwurf(1982)
Editorische Notiz
Klaus Merz
Eine Bitterkeit war da. Im Mund und im Blut. Eine Bitterkeit, die nicht mehr wegzubringen war, und die auffiel an Sonntagen.
An Sonntagen auch ist die Angst größer. Und das Schlagen der Uhren wird hörbar. An Sonntagen wird man alt.
Sonntage laufen schneller ab, und auf den Seen fahren viele Schiffe. Aber sie fahren langsam. Die Züge erwarten ihre Ankunft kaum, und die Flugzeuge flitzen über den Teich, der den Schiffen gehört. Die Dampfer lassen ihre Sirenen tönen. Die sind heiser vom Alter.
Als wir uns entschlossen hatten, mitsamt unserer Bitterkeit das Festland zu verlassen, war es Sonntag. Und wir wussten nicht, dass Dampfer langsam sind und man auf dem Wasser den Sonntag vergisst, dass es da nur Fische gibt und ein Schiff, das von den Zügen nicht erwartet wird, und es war doch schon Abend. Ein riesiger Farbfleck lag die Sonne im See. – Unsere Einsamkeiten begannen im späten Licht gegeneinander zu schlagen. Die Bitterkeit entfiel den Händen, die begannen miteinander zu spielen.
Die Dampfmaschinen standen still. Das Schiff legte an. Eine Schiebebrücke führte an Land. Wir stiegen aus. Es war ein fernes Land, obwohl es kein fernes war, und wir wurden leicht und gut füreinander.
Über dem Hügel lag rot eine halbe Sonne. Den Strand entlang schritten wir ihr entgegen und sagten, hier müssten wir bleiben, in diesem Land ohne Bitterkeit und Sonntage und Angst und sagten es oft und sehr laut – bis die Sonne untergegangen war, der Tag zu sterben begann und über dem See eine tränenlose Trauer lag. Sie kroch langsam ans Ufer. – Es war Sonntagabend. Das letzte Schiff über den See legte an. Wir stiegen ein.
Ich trage nie einen Hut, weil ich den Wind liebe im Haar und die Sonne. Ich hatte noch nie einen Sonnenstich und vom Regen werde man schön, rufen mir oft Leute mit Schirmen und Hüten zu, schauen dabei fast etwas neidisch unter ihren seichten Krempen hervor, während ich mit Wasser in den Ohren eben darangehe, die Anschaffung eines Hutes zu erwägen.
Vorteile sähe ich viele: Menschen mit Hüten haben nie einen nassen Kopf. Und vor allem sehen sie erwachsener aus und gereifter. Sie machen den Eindruck, mit beiden Füßen auf dem Boden, im Regen zu stehen, da ihnen der Filz über den flatternden Ohren das nötige Gewicht verleiht. Es gelingt ihnen auch, maßvoller zu grüßen. Die rund ausholende Bewegung des Hutlüftens wird zur enthüllenden Geste eines still geschaffenen Kunstwerkes: ihr mild grinsendes Gesicht. Man muss das Lächeln der Totenmaske zu Lebzeiten einüben! Doch spätestens bei diesen Überlegungen hört meist der Regen auf, und der erste trocknende Windstoß genügt, meine Erwägungen wegzublasen, mein Haar wieder fliegen zu lassen.
Seit einiger Zeit jedoch droht ein neuer, ungeahnter Faktor meinen Ernst und mein fahrlässiges Verhalten Hüten gegenüber grundlegend zu verändern. Mein zunehmender Haarausfall beginnt leise für eine Kopfbedeckung zu sprechen. Ich werde mir einen Hut kaufen müssen. Man wird nie von ihm singen hören, da ich mir mit Sicherheit keinen dreieckigen, sondern einen mehr oder weniger runden erstehen werde, dunkel, mit herabhängendem Rand, gegen Regen, gegen Schnee und Kälte, gegen die aufkommende Kahlheit, die nicht jedermann auf Anhieb schon zu sehen braucht. Aus ähnlichen Gründen auch habe ich mir vor Jahren ein größeres Badekostüm angeschafft, eines mit Trägern, nachdem sie mir den Blinddarm entfernt hatten und die rötliche Narbe bis über die Gürtellinie der alten Hose hinausreichte.
Es wird mir sehr ungewohnt vorkommen, in ein Hutgeschäft zu treten. Und ich werde den Verkäufer ärgern beim Probieren meiner Kopfbedeckung. Er wird es nicht begreifen können, dass ich seine modisch feingeformten Filze schon beim ersten Aufsetzen vor dem Spiegel nach unten rande, um zu schauen, ob der Hut demjenigen meines verstorbenen Großvaters, den ich so gut mochte, gleichkommt. Die Geschichte meines Hut tragenden Ahnen werde ich dem Verkäufer nicht erzählen; auch er wird seine modischen Tipps zurückhalten angesichts dieses herabhängenden Randes. Ich werde rasch handeln, da es mir peinlich sein wird, hinter mir den etwas schmollenden Verkäufer zu wissen und vor mir mein ohnehin ungewohntes Gesicht unter düsteren Krempen. Ich werde das erstmögliche Modell kaufen, es dem Angestellten reichen, da es mir unanständig scheinen wird, den Hut einfach auf meinem Kopf sitzen zu lassen. Mit geschickten Händen wird er den Filz vor meinen Augen in seine Urform zurückspringen lassen, mit spitzem Mund noch ein paar Stäubchen aus den Dellen blasen und ihn mit letzter Sorgfalt in die große Tüte schieben. Ich werde bezahlen und mit dem Sack etwas unsicher auf die Straße treten, hoffen, dass mir jetzt niemand begegne. Ich werde an einer Ecke stehen bleiben. Es wird mich reizen, den Hut auszupacken, auf den Kopf zu setzen und zu tun wie immer, was ich nicht wagen werde auf offener Straße, und ohne die Stellen zu kennen, auf denen das Schweißband aufliegen soll. Mich vor ein Schaufenster zu stellen oder einen Taschenspiegel zu kaufen, scheint mir zu läppisch. Doch werde ich daran denken, in ein öffentliches WC zu treten, den Hebel auf besetzt zu drehen, den Hut aufzusetzen, den Papiersack ins Closett zu werfen, zu spülen, aber die Schüssel könnte überlaufen, der Knäuel nicht weggehen. Ich habe den Leuten, die öffentliche Anlagen in Ordnung halten müssen, die Arbeit nie erschweren mögen. Ich werde den Hut nicht aufsetzen, das Papier nicht wegwerfen, es nicht in die Hosentasche stopfen. Ich werde ohne Umwege nach Hause gehen, alleine vor den Spiegel treten, etwas aufgeregt und verlegen alle Hutmöglichkeiten auf meinem Kopf durchprobieren. Ich werde versuchen, den Hut zu lüften, an Großvater zu denken, und mir wieder ein Bild von mir zu machen.
Als wir eintraten, war noch Licht im Saal. Da und dort wurde leise gesprochen, man studierte den blauen Programmbogen oder musterte die Neueintretenden, geleitete sie mit unauffälligen Blicken an ihren Platz. Du ließest mich vorausgehen.
Bei einigen Konzertbesuchern fiel die schräge Haltung ihres Kopfes auf. Sie warteten schweigend, saßen ruhig, die Beine übereinandergeschlagen.
Der Zuschauerraum dunkelte ein. Es wurde still. Wir saßen etwas verlegen auf zwei Plätzen am Rand. Von der Seite her betrat der Pianist die Bühne. Klein und beleuchtet neigte er sich in den verhaltenen Applaus hinein. Mit einem eleganten Ruck zog er sich an den Frackenden wieder in die Senkrechte zurück, trat vor den Stuhl, setzte sich zurecht. Sein blonder, lang gewachsener Haarkranz verströmte Eigenlicht. Die schwarzen Lackschuhe tasteten nach den Pedalen. Er schob die gestärkten Manchetten hinter die blassen Knöchel zurück und hob die Hände. Sein Instrument lag weit aufgeklappt da: ein geöffneter Blauwal. Ich hörte dich neben mir atmen.
Mit leichten Fingern begann der Pianist den vor ihm liegenden Fischleib nach seinen schwächsten Stellen abzutasten. Eine Hand schwang sich über die andere hinweg, sprang zurück, tänzelte an Ort und griff dann tief in den Kadaver hinein. Er warf sich dem Tier mit gesenktem Kopf und wehenden Haaren entgegen. Die Lider geschlossen, schlug er seine lockeren Fäustchen behände in das grinsende Tastengebiss.
Er ließ seine weißen Hände, die sich zusehends zu vermehren schienen, erbarmungslos auf den schweren Leib niedersausen, arbeitete sich immer tiefer in diesen Körper hinein, wirbelte Adern und Eingeweide wahllos in den verdunkelten Saal.
Venöses vermischte sich mit Arteriellem. Gedärm hing in die luzide Stirn blasser Zuhörerinnen. Blut stockte in den sanften Wimpern verschlossener Augen. Trangeruch durchwogte den Saal.
Unbeirrt lauschte das Riesenohr im Parkett.
Aus der Standvase stieg der dunkle Ast, beugte sich gediegen über den tönenden Fischleib. Kirschblüten hingen ins finstere Maul, in die aufgespaltene Schädeldecke, den klaffenden Rumpf. Blut netzte die feinen Kronblätter, ließ sie tiefrot erscheinen im grellen Scheinwerferlicht, das den schweißtriefenden Pianisten durchsichtig machte.
Mit reagenzgläsernen Fingern trippelte er lässig über die glitschigen Rippenpartien, legte sein Haupt für Augenblicke auf das mächtige Rückgrat, trank das Mark aus den Knochen. Er bäumte sich auf und sank noch einmal tief hinein, warf mit sicherer Geste die letzten Reste in den hinhorchenden Saal:
Hautfetzen, Milz und Hoden.
Erschöpft entriss er seine Ärmel den ausgeweideten Augenhöhlen des toten Tieres. Er drehte sich seitwärts ab, dem Publikum zu und blieb so lange stehen, bis ihn der tosende Beifall von der Bühne spülte.
Lieber Karl!
Danke für Deinen lieben und langen Brief. Ich habe ihn sicher schon zum dritten Mal gelesen heute Morgen und bin natürlich froh, dass Dich mein Brief auch ein wenig gefreut hat, wie Du sagst, will probieren, ob ich diesmal auch wieder etwas weiß für Dich. An der Ansichtskarte mit den Niagarafällen, die Du uns zwischenhinein geschickt hast, haben wir besonders Freude gehabt. Wir können es uns ja gar nicht vorstellen, was das für ein Gefühl sein muss, wenn man wirklich dort steht, wo du mit dem Kugelschreiber das Kreuzlein gemacht hast. Es kommen einem sicher fast die Tränen darob. Vater hat sogar im Lexikon nachgeschaut, was über die Fälle steht, und dann sind wir Dir auf der Karte hinter unserer Küchentür mit dem Zeigfinger nachgefahren. Es ist ja auf der Landkarte schon weit, wie muss es dann in Wirklichkeit erst sein. Du bist sicher auch müde geworden auf dieser Reise. Hoffentlich bist Du nicht noch in diesen Wirbelsturm hineingeraten, der so viel Schaden angerichtet und sogar drei Menschen das Leben gekostet hat. Am Sonntag haben sie Bilder davon gezeigt. Es muss ja schrecklich gewesen sein. Vater hat zwar gesagt, Amerika sei eben groß und Du habest wahrscheinlich nicht einmal etwas gemerkt davon. Dann sind wir ja froh!
Am Nachmittag ist Gotte Minna noch bei uns vorbeigekommen. Sie hat wieder ihre offenen Beine, aber sonst ist sie immer noch die gleiche. Wie die wieder gelacht hat, Du kennst sie ja. Aber es ist ein Glück, dass sie ein solches Gemüt hat, sonst könnte sie diese Schmerzen ja gar nicht ertragen. Unsere Mutter hat es damals ja auch gehabt. Ich weiß noch, wie ich als kleines Mädchen immer zugeschaut habe, wenn ihr die Dorfschwester die Blutegel angesetzt hat. Mutter hat die Zähne zusammengebissen, und ich bin auch immer ganz bleich geworden. Die Schwester hat das Konfiglas auf das Bett des Vaters gestellt, das ich immer vorher noch schnell gemacht habe, und hat gewartet, bis die Tiere sich vollgesogen haben und dann träg auf Mutters Unterschenkel liegen geblieben sind, der um den Knöchel herum schon ganz schwarz gewesen ist. Habe zeitlebens Angst gehabt, ich würde es auch bekommen von ihr. – Aber, was erzähle ich Dir da wieder für Zeug, das Briefschreiben geht mir wohl bald zu leicht von der Hand, doch, wenn es Dich ja wunder nimmt, was so geht bei uns, dann denke ich, weshalb noch lange überlegen, am Schluss schreibst du dann überhaupt nichts vor lauter Grübeln, und Karl versteht es ja schon, wenn du einfach von der Leber weg schreibst. Manchmal habe ich sogar das Gefühl, es tue mir richtig gut, und ich sinne dann noch lange darüber nach, was ich Dir noch schreiben könnte, wenn ich den Bleistift schon vor mich hingelegt habe und wieder haushalten sollte. – Wie oft bin ich in letzter Zeit schon in den Keller gestiegen, um etwas aus unserem Abteil zu nehmen, das wir mit einem Vorhängeschloss abschließen müssen. Und wenn ich unten angekommen bin, habe ich nicht mehr gewusst, was ich habe holen wollen oder den Schlüssel nicht bei mir gehabt; nur weil ich gedacht habe, dass ich Dir unbedingt noch schreiben müsse, dass Silvia jetzt bald heiraten wird und dass wir sogar zur Hochzeit eingeladen wären. Aber was wollen wir dort, wir sind doch zu alt für solche Feste. Und dann isst man sowieso zu viel und hat es nachher auf dem Magen von dem fettigen Zeug. Sie brauchen ja für alles das gleiche Öl, deshalb liegt es dann eben schwer auf. Vater hat gesagt, er möge nicht einen Abend lang in einen Saal hineinsitzen und Maulaffen feilhalten. Und wenn man früh heimgehe, so sei es ja auch nicht recht, deshalb solle ich nur absagen, was mir ja eigentlich auch recht ist, obwohl ich Silvia im Grunde genommen gerne gesehen hätte. Sie wird eine schöne Braut abgeben mit den schwarzen Haaren und so zierlich, wie sie ist. Ihr Zukünftiger soll so gut Klavier spielen können und überhaupt so ein künstlerischer Mensch sein. Aber es wird ja trotzdem recht herauskommen mit den beiden. Wenn man sich ein bisschen Mühe gibt und den Kopf nicht immer gleich aufschlägt, ist es ja eigentlich schön, zusammen verheiratet zu sein. Ich nähme auf jeden Fall den Vater auch wieder, wenn er mich noch einmal danach fragen würde. Es ist zwar damals nicht so hoch hergegangen, als er mir den Heiratsantrag gemacht hat. Ich hab es Dir sicher auch schon erzählt, wie er ins Pfarrhaus gekommen ist, wo ich gedient habe, wie er geklopft und gesagt hat, ob ich am Abend ein bisschen an den Bach hinunter käme, er müsse mich etwas fragen. Und als ich dann fertig abgewaschen hatte und schon ein wenig aufgeregt an der Brücke ankam, hat er nur gesagt, ich könne mir ja schon denken, was er mich fragen wolle, weil er nämlich jetzt das Geschäft übernehmen könne, aber dazu sei einer allein eben zu wenig, ich könne es mir ja noch überlegen bis zum nächsten Morgen. Mit diesen Worten ließ er mich dann vor der Gartentür stehen und ging seines Wegs. Du kannst Dir ja vorstellen, dass ich nicht viel geschlafen habe in selber Nacht. Er ist halt immer ein Trockener gewesen, aber dafür herzensgut. Am nächsten Tag hat er dann schon Freude gehabt, als ich ihm gesagt habe, ich hätte es den Pfarrsleuten gesagt und müsse jetzt nur noch wissen, wann wir zusammen anfangen wollten. Es hat kein großes Fest gegeben. Die Pfarrersleute haben uns getraut und sind uns auch Zeugen gewesen. Als Ihr dann schon größer gewesen seid, haben wir ja die Reise ins Engadin noch nachgeholt. Es sind drei schöne Tage gewesen am Silvaplanersee. Aber wir sind auch wieder gerne nach Hause gekommen. Erinnerst Du Dich noch an die dreieckigen Wimpel, die wir Euch mitgebracht haben, und die Nusstorte für Minna, die wir dann gleich alle zusammen aufgegessen haben. Früher ist es halt noch oft lustig zugegangen bei uns. Überhaupt ist immer Betrieb gewesen. Aber man hat auch manches gehabt, Du weißt es ja schon noch. Dafür ist Vater wieder gesund, auf jeden Fall klagt er nie. Und das ist ja die Hauptsache. Sie haben ihn jetzt doch noch in die Krankenkasse aufgenommen, nur das Knie nehmen sie nicht, mit dem er schon seit Jahren zu tun hat. Man muss ihnen aber trotzdem dankbar sein!
Es ist ja schon halb elf! Liebe Grüße
Deine Mutter
PS Im nächsten Monat wird Vaters erster Fünftausender fällig. Er hat gemeint, wenn wir Dir etwas schicken würden davon, könntest Du vielleicht im Sommer einmal her-überkommen, was meinst Du?
Ich habe es der Reihe nach versucht. Es geht nicht. Meine Erinnerung hält sich an ihre eigenen Gesetze. Sie drängt mir zuerst den hinkenden kleinen Mann aus den oberen Stockwerken des alten Schulhauses auf. Er ist ab und zu durch meine Knabenträume gegangen, das abgegriffene Resultatbuch in der Hand. Er war nicht der Erste, der mir immer ein paar vergilbte Seiten voraus war: Ich beneidete sie darum!
Erst heute, da ich mich selber vor vergilbten Blättern zu hüten anfangen muss, weiß ich, dass Vergilbtsein eigentlich wenig mit Vorsprung zu tun hat.
Vielleicht stimmt das aber nicht, was ich eben gesagt habe. Vor allem wenn ich an unser Schulhaus mit seinem bräunlichgelben, vorspringenden Geröllhaldenverputz denke, der seit Menschengedenken jedem Kinderkopf mühelos zu widerstehen vermocht hat. Vielleicht ist Vergilbtsein halt doch eine Lebensfarbe. Und man kann die Kinder ja nicht früh genug daran gewöhnen, es nicht allzu rosig zu sehen. – Ich habe Vorsprung und Farbe des Verputzes in diesen Tagen geprüft: Er tut es noch lang! Hingegen fehlen der schwanenhalsigen Lyra im Treppengeländer hinter dem vorderen Brunnen nach wie vor die stählernen Saiten: arme Muse!
Auf der Treppe und beim Brunnen ist es mir wohl gewesen. Erst in den Gängen, hinter der schweren Tür, begann das Düstere. Das Blindgängerplakat neben dem Fundsachenkasten konnte es nie wesentlich aufhellen. Nur die hellgrün gestrichenen Aborte bildeten manchmal einen Lichtblick, den die Milchglasscheiben nicht zu trüben vermochten. Hier konnte man sich einschließen und unsichtbar machen, dass einen in späteren Jahren nicht einmal Hermanns lockende Akkordeonklänge unter dem Spülkasten hervorzuholen vermochten. Man hatte seinen Durchfall, und dabei blieb es.
Herr F. aß um neun Uhr seinen Buttergipfel. Seine zarten Hände mit den gepflegten Nagelkronen brachen die Brotfrucht gemessen auf und fuhren langsam zum Mund, ohne eine Brosame fallen zu lassen. Jeden Dienstag und Donnerstag verpasste ich nach der Französischstunde einen Teil der Pause, nur um bei seiner Morgenmahlzeremonie zugegen zu sein. Ich war ein Bewunderer dieser unerreichbaren Eleganz.
Heute will mir sogar scheinen, Herr F. habe mit seinen Gipfelszenen etwas aufrechterhalten, das während der Erziehungswirren der Sechzigerjahre eigentlich hätte aufhören müssen, gäbe es nicht immer wieder solche Fritzen. Und ich finde es gut, dass es sie gibt. Soll doch jeder seine Gipfel, Schnecken und Schrullen haben dürfen. Oft ist es ja das Einzige, was einem von ihnen in Erinnerung bleibt.
Unsere Turnlehrer kamen damals aus den oberen Stockwerken des Gemeindehauses oder aus dem Neubau zu uns herüber. Ich mochte diese Hilfslehrer, wie sie unser Rektor nannte, gut, weil sie immer ein wenig nach Handfertigkeit rochen. Und sie hatten andere Finger als die meisten Lehrer aus unserem Schulhaus, sprödere. Ich hätte ihnen, trotz aller Bewunderung für das Gepflegte, lieber die Hand gedrückt, wenn das noch Mode gewesen wäre – obwohl ich ihnen anderseits nicht gerne in die Hände geraten wäre zu Unzeiten.
Wenn ich an Hände denke, muss ich doch noch erzählen, was ich eigentlich für mich behalten wollte, weil es unbescheiden klingen könnte: Ich muss nämlich einer der ersten gewesen sein, der sich in unserem Dorf, in einem Südzimmer des altehrwürdigen Schulhauses, für die Emanzipation der Frau eingesetzt hat. Und ich habe es schwer büßen müssen, als ich unseren Lehrer darauf aufmerksam zu machen versuchte, dass er den Mädchen weniger scharfe Tatzen erteile als den Knaben. Man höre es deutlich am tieferen Ton des heruntersausenden Weidenstockes. „Komm her, Bürschchen“, sagte er, „ich will dir schon zeigen, wie ich es den Mädchen gebe!“
Nach mir kam Büttikofer an die Reihe, der seine Zigaretten wieder im Kirchhag versteckt hatte.
Am schönsten war das Rauchen aber im Veloständer, wenn der Regen gleichmäßig auf das halbrunde Wellblechdach fiel und die Lehrer in ihren Zimmern blieben. – Wer es allerdings bis zum Veloständer gebracht hatte, der hatte auch schon einen rechten Teil seiner unbeschwerten Jugendzeit, wie die Erwachsenen zu sagen pflegen, hinter sich. Der Veloständer gehörte dem reiferen Teil der Schülerschaft. Wenn Gefahr drohte, zog man sich hinter das Luginbühlhaus zurück und landete am Schluss in Siegenthalers Schuppen, wo gewöhnlich schon ein Grüppchen am Inhalieren war. Irgendwo musste man die Aufregung ja verrauchen lassen.
Aber der Veloständer war mehr als ein bloßes „Fumatorium“. Er bot einem auch Schutz. Man war froh, einen Ort zu haben, wo man mit seinen Oberstufenproblemen unterstehen konnte. Und um den Veloständer herum war es immer ein wenig wie nach dem Präparandenunterricht im Winterhalbjahr: Man musste seinem Schatz die Hand geben, um sicher zu den Fahrrädern zurückzufinden.
Auf meinem ersten Schulfoto trage ich den grauen Pullover mit Zöpfchenmuster und eine Zahnlücke. Es muss im Winter 52/53 gewesen sein, als wir in einer aufgeregten Zweierkolonne aus dem Schulhaus ins Gemeindehaus hinüber wechselten, um im Singsaal auf Postkartengröße abgelichtet zu werden. Wir warteten gespannt vor der verschlossenen Tür auf die Schüler von Fräulein H., die vor uns an der Reihe waren. Aufatmend stellten wir fest, dass es keine Verletzten gegeben und nicht wehgetan hatte, als sie an uns vorbei zurücktrippelten. (Nachträglich erstaunt es mich übrigens doch ein wenig, dass dieser Saal tatsächlich rot gestrichen sein durfte, obwohl ja nicht nur der Arbeitersängerverein darin probte.)
Fräulein H. oder Fräulein F., das war am Anfang unserer Schulzeit die große Frage gewesen. Fräulein H. konnte lustiger und lauter lachen als Fräulein F., der man eigentlich nur in den Mundwinkeln und um die Augen herum ansah, wenn sie guter Dinge war. Sie mützerte bloß – wie mein Großvater.
Fräulein H. trug die großen Hüte. Irgendwie würde es mir nicht ganz wohl sein unter diesen breiten Krempen, stellte ich mir vor. Und schon weil mein dicker Onkel auch so versessen war auf Hüte, entschied ich mich in meinem kleinen Innern für Fräulein F. – nachdem mich auch das Los bereits auf ihre Seite geschlagen hatte.
„Summ, summ, summ, Bienchen summ herum“, buchstabierten wir, als Marie A., unsere Laustante, zum ersten Mal in die Klasse trat. Mit schnellen Fingern wanderte sie durch unser kurz geschnittenes Haar. Ich erinnere mich noch genau an das beängstigende Jucken meiner Kopfhaut, bevor ich an die Reihe kam. Aber Marie A. fand nie etwas. Das Lausen war zu einer brotlosen Kunst geworden.
Und so kam es also, dass unsere Jahrgänge mit dem (vermeintlichen) Niedergang der Kopfläuse groß geworden sind. Es wird den kommenden Generationen anheim gestellt bleiben zu beurteilen, wie sehr uns diese Endzeiterscheinung in unserer Jugend geprägt hat, dass einer, der um ein paar Reminiszenzen aus seiner Schulzeit angefragt wird, ausgerechnet mit den Läusen aufhört.
4. Januar. Das Jahr hat mit Regen begonnen.
Man arbeitet schon seit zwei Tagen wieder. Es ist eine kurze Weihnachtspause gewesen. Und nun bereits wieder der alte Tramp. Nur die kleine Wut ist neu, die man vor sich herschiebt, da nichts Besonderes passiert ist in diesen freien Tagen.
Man weiß zwar nicht recht, was hätte passieren sollen. Irgendetwas eben. Ein Unglück, ein Glück. Ein unerwarteter Brief hätte eintreffen können. Oder eine fremde Frau hätte einen, ohne ein Wort zu sagen, auf offener Straße umarmen müssen.
Vielleicht wären zwei Meter Schnee auch genug gewesen. Eingeschneit werden bis zum ersten Stock hinauf und eine Weile lang von den Vorräten leben. Die Telefondrähte abgerissen. Abgeschnitten, eingekesselt, allein auf einer fünf mal fünf Meter großen Welt: Bis über die Ohren in schneeweiße Watte verpackt: eine fragile Ladung.
Aber stattdessen geht man bereits wieder mit eingezogenem Kopf durch die nassen Straßen. Es ist gar nie recht Tag geworden. – Und man sieht den jungen Mann erst, als sein Gesicht schon auf der Höhe des eigenen Gesichtes steht, schon vorbei ist.
Es ist ein schmales, blasses Gesicht mit wächserner Haut und hellblauen Augen, von braunem, schulterlangem Haar eingerahmt.
Man tritt vom Trottoir auf den Fußgängerstreifen hinaus. Dieses Gesicht erinnert einen doch an Hintermann, den verstockten, hinterhältigen, wieselschnellen Knaben.
Hintermann hat jahraus jahrein ein bleiches Gesicht gehabt, das immer aussah, als ob er gerade erschreckt worden wäre. – Aber Hintermann erschrak nie, wurde auch nie rot im Gesicht wie die andern. Nach einem Fünfkilometerlauf nicht und nach eindeutig nachgewiesenen Lügen nicht – wenn die ganze Klasse in seinem Rücken saß und ihn stumm beobachtete. Nur seinen Mund ließ er jeweils spaltbreit offen stehen, wenn er außer Atem, aufgeregt oder unsicher war. Hintermann schwitzte nie.
Wenn er einmal lachte, und das kam selten vor, lachte er aus. Den Lehrer zum Beispiel, dessen Hand ihn verfehlt hatte. Beim zweiten Versuch hielt er dann regelmäßig still, zuckte nicht einmal mit den Wimpern. Sein kleiner Kopf wurde beim Aufschlagen der Hand zur Seite geschleudert und schnellte blitzschnell wieder in die Ausgangslage zurück. Man sah ihm nie etwas an.
Vermutlich hat ihm das auch später bei den Einvernahmen immer wieder Schwierigkeiten gemacht. Man hat diese blassen Kerle mit den matten Augen nicht gern. Sie öffnen die Lippen kaum, wenn sie reden. Und sie reden nur, wenn sie gefragt werden. „Nein“, sagen sie meistens.
Man fühlt sich ihnen gegenüber rasch unterlegen, will sie deshalb erst recht unterkriegen, klein machen, denn sie sind gefährlich für uns, für die andern, die Gemeinschaft, die Allgemeinheit, die Gesellschaft.
Hintermanns erster richtiger Automatendiebstahl kam damals gerade gelegen. Die Bundesbahnen klagten gegen ihn, und die Lehrerschaft seiner Schule stellte sich hinter die Bahnen. Man konnte endlich abfahren mit ihm, atmete auf.
Als er dann später wieder auftauchte, war er größer geworden und noch blasser. Er trug langes Haar, und man fürchtete ständig, er könnte einem in den Rücken schießen, Fallen stellen. Hintermann war doch alles zuzutrauen, das wusste man. Jetzt erst recht.
Man spürte auch, dass er nicht dankbar war für die Bewährung, die man ihm gewährt hatte, gab ihm keine Arbeit, weil er arbeitsscheu war. – Und man fürchtete sich immer mehr vor dem Hass, den er in seinen kalten Augen mit sich trug, aber nie aussprach. Man empfand ihn als ständige Bedrohung, als Zumutung all den Anständigen gegenüber, wäre froh gewesen, ihn wieder los zu sein, versorgt zu wissen.
Vielleicht war man deshalb so verlegen, als er sich eines Nachts, noch nicht zweiundzwanzigjährig, aber erneut in Untersuchungshaft, wie man es sich eigentlich gewünscht hatte, mit seinem Taschtuch an einem Fensterpfosten aufhängte.
So hatte man es nicht gemeint, meint man, und sieht sich jenseits der Straße im Schaufenster des Schallplattengeschäftes auf sich selber zukommen. Mit gesunder Farbe im Gesicht und der braunen Aktenmappe unter dem linken Arm. Und man muss denken, dass man im Grunde doch zu den Glücklicheren gehört, zu den Stärkeren jedenfalls. Zu jenen, die Neujahr überlebt haben.
Antwort auf die (gehörte) Biografie einer Krankenschwester
Wären Sie doch Pianistin geworden, wie Sie es sich als kleines Mädchen noch gewünscht hatten, dann fiele es mir wahrscheinlich leichter, Sie zu erfinden, mir ein Bild von Ihnen zu machen.
Ich könnte zum Beispiel von Ihren hellen, geschmeidigen Händen auf den schwarzen und weißen Tasten erzählen, von Ihrem abwesenden Blick, wenn Sie den letzten Tönen einer zu Ende gespielten Sonate nachhingen. Ich läge kaum falsch mit solchen Beschreibungen. Nachher würden wir zusammen über Kunst reden. Ernsthaft natürlich. Und wenn dabei Pausen entstünden, könnten wir sie Kunstpausen nennen. So gediegen wäre das.
Aber Sie arbeiten an keinem Klavier. Sie arbeiten in einer Intensivpflegestation. Sie sind also keine professionelle Notenleserin geworden. Sie lesen Herz- und Temperaturkurven, registrieren die Verfärbung von Augenweiß und kennen sich aus in den verschiedenen Tonarten der Atemnot. Kunstpausen dürfen Sie sich kaum leisten, da es in Ihrem Beruf nicht um eine Fiktion, sondern um Leben geht.
Es wartet auch kein beifallsüchtiges Publikum auf Ihren Auftritt. Fallsüchtige höchstens, Sie haben es mit lauter einzelnen, geplagten Menschen zu tun, die Sie brauchen ‚wie Kinder ihre Mutter‘, habe ich Sie auf dem Tonband sagen hören. Es ist Ihnen aber bei dieser Abhängigkeit nicht ganz wohl. Sie möchten den Eingelieferten möglichst nicht das Gefühl von Ausgelieferten geben, und es macht Ihnen, stelle ich mir vor, immer noch Mühe, wenn Sie jemanden vom ‚Patientengut‘ sprechen hören. Sie beschließen, ihm beim nächsten Mal in dieses Wort zu fallen, es sich nicht mehr gefallen zu lassen.
In kleinen Notsituationen handeln, nehmen Sie sich vor, statt den Arzt zu fragen, nur der Rangordnung zuliebe. Bei makabren Scherzen nach der Arztvisite im Korridor nicht mehr mitlachen, obwohl Sie gerade in dieser Beziehung im Lauf der Zeit eigentlich bereits etwas nachsichtiger geworden sind, da Sie wissen, dass es in Ihrem Beruf ohne Selbstschutz nicht geht.
„Der Wunsch, weiterzuhelfen, und die Überzeugung, es zu können, müssen stärker sein als schwere Erlebnisse, die nicht zu umgehen sind.“
Schwester Susanne, Ihre junge, etwas belegte Stimme, die sich manchmal ganz leicht überschlägt, hängt seit Tagen in meinem Ohr, und ich gäbe allmählich viel dafür, Sie einmal lachen zu hören, bis alles Schwesternweiß verschwunden wäre und es keine Krankheiten mehr gäbe.
Wenn ich Sie zwar so reden höre, habe ich eigentlich Mühe, Sie mir in Ihrer weißen oder himmelblauen Berufstracht vorzustellen. So hilfsbereit und immun, so neutral und abgeklärt, so sauber und selbstlos, so entmündigend freundlich, wie auf mich die Farbe Ihres Berufszweiges in vielen Fällen wirkt, sind Sie noch nicht geworden in dieser kurzen Zeit im Spital, die ja eigentlich doch schon eine lange Zeit ist in Ihrem Leben, da Sie gegen den Tod ankämpfen, den anderer Leute, den der Menschen eben, denke ich, in seinen verschiedenen Verkleidungen. – Aber davon steht in Ihrem Berufsbild nichts. Davon habe ich unter anderem bei Albert Camus gelesen, vom Kampf gegen die Pest, von der Auflehnung gegen die unzulänglichen menschlichen Bedingungen, vom Aufstand gegen unsere Bedingtheit eben. – Aber jetzt muss ich aufpassen, dass ich nicht auf die Literatur ausweiche, sondern bei Ihnen bleibe, in Ihrer Intensivstation.
Da ist zum Beispiel von Grundpflege die Rede, zu Recht, ich weiß es, von Untersuchungen, Spritzen, Rapporten, vom ‚neu Einstellen‘ des Patienten – nicht von der Revolte gegen den Tod, sonst müsste ja gleichzeitig auch vom latenten Totsein zu Lebzeiten geredet werden, vom langsamen Absterben von Gefühlen, die man nicht eingipsen kann wie gebrochene Extremitäten (die darum wohl auch nicht krankenkassepflichtig sind), vom Abortus der eigenen Bedürfnisse.
„In der Grundpflege wird dafür gesorgt“, steht in einem Bulletin Ihres Berufsverbandes, „dass der Patient sich wohl und geborgen fühlt, dass er richtig und bequem liegt, dass er, seinem Zustand angepasst, sein Essen bekommt und dass man ihm, je nach Art seiner Krankheit und seiner Bedürfnisse, zu etwas Abwechslung im Tageslauf oder zu Ruhe verhilft.“
Mit dem Tod, dem Zugrundegehen Ihrer Leute, für die Sie schichtweise die Verantwortung tragen, die Ihnen nah geworden sind im Laufe ihrer Krankheit, bleiben Sie im Grunde allein. Und das ertragen Sie zuweilen schlecht, davon redet wohl Ihr langes Schweigen auf dem Tonband. Und dieses Schweigen ist es vor allem, das es mir schwer macht, Ihnen, Ihrer Situation mit Wörtern beikommen zu wollen. Sie haben ja schon so verzweifelt viel gesagt, als Sie geschwiegen haben. Meine Wörter kommen mir dagegen dürftig vor, meine Vorstellungskraft, fürchte ich, ist zu bescheiden, mein Einfühlungsvermögen zu begrenzt. – Oder vielleicht bin ich auch gar nicht wirklich bereit, so intensiv bei Ihnen einzusteigen, wie es Ihre Station erfordern würde: Selbstschutz auch da.
Eigentlich müssten es ganz langsame, zögernde Worte sein, mit denen ich Ihre Hilflosigkeit dem Sterben, der Krankheit, unserer Ohnmacht gegenüber – und meine eigene Angst vor diesen Dingen – auszudrücken versuche, Ihre Liebe zum Beruf, zu den Menschen.
Leise Wörter, die Ihrem jungen, beschwerten Gesicht nachspüren, das sich undeutlich in den blank geputzten, gläsernen Abdeckungen der Apparaturen spiegelt, in den fiebrigen Augen Ihrer Patienten, im Fenster, das auf den Hof hinausgeht, wo Regen den Schnee nass macht.
Schwester Susanne, ich sehe Ihnen zu, wie Sie sich manchmal wegdenken, südwärts, stelle ich mir vor, nur für sich selber verantwortlich, die nackten Füße in offenen Schuhen, Wind im Haar wie in Filmen, weitab von Linoleum und Neonlicht, Diabetesverdacht.
Susanne in einer offenen Landschaft, ohne Personal, ohne Rapporte und Schichtwechsel, ohne Desinfektion und Schmerzmittel, allein, zu zweien vielleicht.
Susanne in einem absolut eigennützigen Einsatz, bei dem die Zuständigkeit der Ärzte nicht mehr gefragt ist. Wo für einmal nur vom eigenen Leben die Rede ist, und die Niere nicht künstlich. Wo über das eigene Aufwachen zu wachen ist, die eigenen Herzkurven wahrgenommen werden.
Susanne ohne fremde Verantwortung auf den eigentlich schmalen Schultern. Ohne „Leiden zu lindern“. Ohne „auf ein persönliches Verhalten zu achten, das dem Ansehen des Berufsstandes dient“, wie es in der Berufsethik heißt. Dennoch nicht ohne Moral! Ich grüße Sie.
„Gut Schuss“ zum Saustich, zur Standweihe, zum Vor- und zum Nach- und zum Endschießen, „gut Schuss“ stand auf dem Programm der Schützengesellschaft, das in jedem Briefkasten steckte. Die obligatorischen Übungen schwarz unterstrichen. Schießpflichtige Jahrgänge 30 und Jüngere. Ein Befehl. Frisch geweißelt stand die Kirche mitten im Dorf. In der Nähe führte ein Bauer Jauche. Ernst merkte sich das unterste Datum auf dem Zettel. 20. August, letzte obligatorische Übung. Ein Sonntag. Er stieg unters Dach, Hitze quoll ihm entgegen. Aus einer Estrichecke holte er sein Gewehr hervor, zerriss die Spinnweben, fand auch die Gehörschutzpfropfen, steckte sie in die Tasche und fuhr zum Schützenhaus. Eine Schweizer Fahne hing schlaff an der Stange. Die Sonne stand hoch am Sommerhimmel. Er schwitzte, trat in den Stand. Einige waren schon vor ihm gekommen, standen in Einerkolonne vor dem Schalter der Standblatt- und Munitionsausgabe. Er stellte sein Gewehr in den Gewehrrechen neben andere Gewehre, wehrte mit der rechten Hand eine Fliege ab und trat in die Reihe. Ab und zu floss ein wenig Wind durch die offene Tür hinter ihm. Es ging nur langsam vorwärts. Der Mann am Schalterfenster tippte im Zweifingersystem Name, Vorname, Grad in die Maschine. Er trug ein Militärhemd mit der schwarzen Krawatte dazu. Unter den Achselhöhlen schwitzte er auch. Ernst rückte langsam nach. Sein Vordermann rauchte und sah nach vorn. Ernst hatte seine Zigaretten zu Hause liegen lassen, ärgerte sich darüber. Die Männer sprachen nicht miteinander, rückten nur langsam in Einerkolonne vor. Er las die Goldinschriften auf den Schleifen verstaubter Lorbeerkränze und die handgemalten Sprüche eines Schützendichters, die in der Vereinsecke hingen:
Willst du gut ins Schwarze treffen,
darfst dein Gewehr du nicht vergessen.
Auch unser Vorfahr Wilhelm Tell
trank nach dem Schießen ein Bier hell.
Das Leben genießen,
heißt lieben und schießen.
Ernst kam an die Reihe, gab Schieß- und Dienstbüchlein ab, erhielt dafür Munition, Standblatt und fünf Franken Herausgeld auf seine Zehnernote. Vereinsbeitrag obligatorisch.
Hinten am Waldrand über dem aufgeworfenen Graswall standen die Scheiben noch auf Halbmast. Ein blendendes Schneeband. Seine Augen brannten, er nahm sie zurück in den Schatten des Standes, ergriff ein falsches Gewehr, dann das richtige und trat zur Ecke mit dem Fett-Tisch, um den Lauf auszustoßen. Er legte die Waffe auf die Holzlade, die Mündung gegen sich gerichtet, und stieß den Putzstock bis zum Griff hinein. Es klemmte ihm die Haut zwischen Daumen und Zeigefinger ein, schmerzte aber erst, als er den Stock schon wieder herausgerissen hatte. Neben ihm schwärzte einer mit einem Streichholz Korn und Visier, er sah seltsam aus in seiner großen, ledernen Jacke, der fettigen Schirmmütze im Nacken.
Unterdessen waren die Scheiben hochgegangen. Feuer frei. Die ersten Schüsse fielen. Pulverdampf. Verbranntes Fett. Hülsen in der Luft. Das Trommelfell schmerzte. Ernst putzte die Hände an einem schmutzigen Lappen ab, suchte in seinen Taschen nach dem Gehörschutz. Weitere Schüsse zuckten durch seinen Kopf. Er befeuchtete die Gummipfropfen mit seiner Zunge, damit sie besser in den Gehöreingang rutschten. Es schmeckte bitter. Ohrschmalz des Vorjahres. Dumpf schlugen die Detonationen an sein Gehör.
Er trat zu den Warnerpulten. Vor ihm auf den Matten lagen die Schützen, die Waffen im Anschlag. Ruhig atmeten sie, zogen ab, schüttelten den Kopf oder sahen dem Schuss nach, luden. Die Warner auf den Bänken neben ihm riefen Punktzahlen in die Luft und trugen sie ins Standblatt ein. Wartende stützten sich auf die Gewehrrechen, beobachteten die Schützen und sahen nach den Scheiben, wo gezeigt wurde. Die Schlange vor dem Schalter war nicht kleiner geworden.
Ernst drückte die Patronen einzeln ins Magazin, warf die leeren Lader in den Eimer, wartete. Er bat einen, der neben ihm stand, um eine Zigarette, bekam aber keine Antwort. Der Lärm schluckte seine Stimme. Auch ein zweiter Versuch scheiterte. Er wurde rot, schwitzte noch stärker, weil er sich beobachtet fühlte bei seiner erfolglosen Bittstellerei, sah nach den Scheiben. Die Reihe war an ihm. Er nahm seine Waffe, das volle Magazin, kniete nieder auf die grobe Kokosmatte, klappte die Zweibeinstütze, Korn und Visier heraus und legte sich hinters Gewehr. Mit der rechten Hand setzte er das Magazin ein und lud, mit der Linken entsicherte er. Er zielte schwarz sechs, beugte den Zeigefinger nach hinten. Seine Brille beschlug sich. Er ließ den Abzug zurückgleiten, steckte die Gläser in die Tasche und zielte von neuem auf die schwimmende Scheibe. Er schoss. Die Scheibe wurde gewechselt, gezeigt: Zwei rechts hoch. Und nochmals und nochmals. „Schieb doch endlich, du Dubel“, hörte er in seinem Rücken rufen. Auch als er über seine Schulter zurückschaute, sagten sie du zu ihm. Schwerhörige duzt man. Sein Hemd klebte. Schweiß rann ihm in die Augen. Er fuhr mit dem Handrücken über die Stirn und wischte ihn am Hosenboden ab, schaute ins Gras, ließ seine Augen weiden über Wiesen, die schon gemäht waren, und über Äcker, wo gelb die Frucht stand. Er wollte nichts einbringen an diesem Tag, nur diese Bauchlage verlassen, das Hemd wechseln und eine Weile lang zu nichts verpflichtet sein. Eine heiße Hülse fiel auf seinen nackten Arm, er scheuchte sie weg. Er fühlte die Mauer der Beobachter hinter sich, die zusammenzählten: fehlende Punkte.
Am Hang, jenseits der Felder, sah er sein Haus, die Sonne in den Scheiben. Er krallte sich mit seinen Augen am Stubenfenster fest, schwang sich hinweg und blieb aufrecht auf dem Gesims stehen. Die Waffe im Anschlag schoss er zurück, bis das Magazin leer war.
Ernst machte Entladen, klappte Zweibeinstütze, Korn und Visier im Aufstehen zurück, nahm sein Standblatt, trat durch die Mauer hindurch zum Fett-Tisch, fettete den Lauf ein und ging zum Schalter. Der Mann im grünen Hemd hatte die Krawatte losgemacht. Ernst schwitzte nicht mehr.
Bäckerei – Konditorei Dubach & Sohn hieß die Anschrift, in schwungvollen Lettern auf die Moccafassade geklebt, wahrscheinlich vom Meister selber entworfen, denn es hätte ebenso gut Frohe Ostern oder Zum Neuen Jahr heißen können, wie man es auf Nougateiern und Buttercremetorten liest.
„Himbeergelee wird aus der Spitze einer kleinen, handgedrehten Pergamentpapiertüte sorgfältig herausgepresst, wobei darauf zu achten ist, dass der zarte Schriftzug niemals abbricht, was aber bloß ein Kinderspiel ist gegen das Schreiben aus einer gleichen Tüte, die mit flüssig heißer Schokolade gefüllt ist, welche an der Spitze ständig einzudicken droht, wenn man nicht unheimlich schnell und sicher die Buchstaben setzt.“ – Es erübrigt sich zu sagen, was für eine Katastrophe unter solchen Umständen ein Orthographiefehler für das Unternehmen bedeutet. – „Deshalb gibt es auch für einen Bäcker-Konditor-Lehrling nichts anderes als zu lernen und nochmals zu lernen, wenn er es einmal auf einen grünen Zweig bringen will, wobei zu ergänzen ist, dass gerade die Zweige für die Weihnachtskuchendekoration wieder ein anderes Gebiet berühren. Von den Rosen für Muttertag ganz zu schweigen, dazu braucht es ganz einfach Talent.“
Das hatte Dubach Sohn, unser Bäcker, an dessen Vater nur noch die Anschrift über dem Schaufenster erinnert, einmal zu mir gesagt, nachdem er erfahren hatte, dass ich mich in meinem Beruf auch mit grafischen Problemen auseinanderzusetzen habe.