In der Mitte der Nacht - Minette Walters - E-Book

In der Mitte der Nacht E-Book

Minette Walters

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Beschreibung

September 1348: Seit Monaten wütet die Pest in Südengland. Lady Anne of Develish ist es gelungen, ihre Schutzbefohlenen in Sicherheit zu bringen. Doch die Versorgung wird mit der Zeit immer schwieriger. Ihr geliebter Verwalter Thaddeus ist losgezogen, um Vorräte zu beschaffen und weitere Überlebende zu retten. Da er als Bastard eines Leibeigenen über keinerlei Einfluss verfügt, nennt er sich mit Lady Annes Billigung kurzerhand »Milord of Athelstan«. Eine hochgefährliche Strategie: Auf eine derartige Titelanmaßung steht nichts anderes als der Tod. Der Plan geht gut, bis Hugh de Courtesmain auftaucht, der neidzerfressene ehemalige Verwalter von Develish. Thaddeus wird gefangengenommen und verhört. Wird Lady Anne ihn retten können, bevor er – und mit ihm die Gesellschaft von Develish – verloren ist?

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Seitenzahl: 703

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DAS BUCH

Anno 1348: Am Hafen von Melcombe ist die Pest an Land gekrochen, nun wütet sie schon seit Monaten in Südengland. Lady Anne hat zwar durch ihr beherztes Handeln ihre Leute in Sicherheit bringen können. Doch nun gehen die Vorräte im Anwesen von Develish zur Neige. Annes ganze Hoffnung ruht auf Thaddeus Thurkell, dem Bastardsohn eines Leibeigenen, den sie zu ihrem Verwalter erhoben hat. Thaddeus zieht mit wenigen Begleitern durch das von der Pest schwer gezeichnete Land: Ein Großteil der Bevölkerung ist gestorben, niemand bringt die Ernte ein, es regieren Chaos und Anarchie. Ohne Titel kann Thaddeus allerdings kaum etwas bewirken. Um andere Überlebende und die Gemeinschaft von Develish retten zu können, schmiedet er daher einen hochriskanten Plan: Er gibt sich mit Lady Annes Billigung als »Milord of Athelstan« aus. Allerdings steht auf eine derartige Titelanmaßung eine eindeutige Strafe: der Tod. Und der frühere Verwalter Hugh de Courtesmain sinnt schon seit Langem auf Rache …

DIE AUTORIN

Seit ihrem Debüt »Im Eishaus« zählt Minette Walters zu den Lieblingsautoren von Millionen Leserinnen und Lesern in aller Welt. Alle ihre Romane wurden mit wichtigen Preisen ausgezeichnet und in zahlreiche Sprachen übersetzt. »Die letzte Stunde« und »In der Mitte der Nacht« sind ihre ersten historischen Romane. Sie spielen in Dorset, wo die Autorin auch seit Langem mit ihrem Ehemann lebt.

HISTORISCHER ROMAN

Aus dem Englischen von

Sabine Lohmann und Peter Pfaffinger

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel

THE TURN OF MIDNIGHT

bei Allen & Unwin/Atlantic Books, UK

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © 2018 by Minette Walters

Copyright © 2019 der deutschen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Übersetzung: Sabine Lohmann bis einschl. Kap. 14;

Peter Pfaffinger Kap. 15 bis Ende

Karten im Innenteil: Janet Hunt

Redaktion: Angelika Lieke

Umschlaggestaltung: Eisele Grafik · Design, München,

unter Verwendung von Abbildungen aus dem Archiv

der Universitätsbibliothek Heidelberg, deckorator/Shutterstock,

sabelskaya/Bigstock und Gessner, Conrad:

Schlangenbuoch/Zentralbibliothek Zürich, NNN 45 | F,

http://doi.org/10.3931/e-rara-4134/Public Domain Mark

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN: 978-3-641-22674-9V003

www.heyne.de

Für meine großartigen Durham-Freunde in Dorset: Amber, David, Geoffrey, Huw, Isobel, Jill, Josh, Les, Mike C, Mike W, Richard

und für Patrick und Lynden in Australien

Eine solch vernichtende Heimsuchung hatte es von Anbeginn der Welt bis zum heutigen Tage nicht gegeben … Die Seuche befiel die Menschen allenthalben … und verbreitete solches Grauen, dass Kinder sich nicht zu den sterbenden Eltern hinwagten, noch Eltern zu ihren Kindern, sondern aus Angst vor Ansteckung flüchteten.

John of Fordun, Scotichronicon

Städte, die einst voller Menschen waren, entleerten sich ihrer Einwohner, und die Pest breitete sich mit einer solchen Macht aus, dass die Lebenden kaum fähig waren, die Toten zu begraben. In einigen Klöstern überlebten nicht mehr als zwei von zwanzig. Von manchen wurde berechnet, dass kaum ein Zehntel der Menschheit am Leben blieb … Zinszahlungen schwanden, und Ackerland blieb unbestellt, aus Mangel an Pächtern (die nirgends mehr zu finden waren). Und so unermessliches Elend folgte auf diese Übel, dass die Welt danach nie mehr die gleiche sein konnte wie zuvor.

Thomas Walsingham, St. Albans Abbey, Chronicle

Viele Dörfer und Weiler wurden menschenleer … Schafe und Rinder streiften über die Felder und das Ackerland, und es war niemand mehr da, sie zu hüten … In dem Herbst [der auf die Pest folgte] war kein Schnitter für weniger als 8 Pence zu bekommen oder ein Mäher für weniger als 12 Pence. So gingen vielerorts die Feldfrüchte zugrunde, weil es niemanden mehr gab, der sie hätte ernten können.

Henry Knighton, Chronicle

Orte, Menschen und Ereignisse aus »Die letzte Stunde«

ORTE

Melcombe, der Hafen in Dorseteshire, wo der Schwarze Tod am 24. Juni 1348 zum ersten Mal auf englischen Boden traf. Innerhalb kürzester Zeit waren viele der Einwohner verstorben; in kaum mehr als ein paar Wochen hatte die Seuche sich über den Rest des Landes ausgebreitet. Ein Chronist beschrieb sie als »eine Pestilenz, die sich mit der Geschwindigkeit eines galoppierenden Pferdes voranbewegte«. Alle, die sich ansteckten, starben.

Bradmayne, ein Landsitz mit etwa vierhundertfünfzig Bewohnern, einen halben Tagesritt von Melcombe ent-fernt und frühzeitig von der Pest erfasst. Mehr als hundert Menschen erlagen ihr in der zweiten Juliwoche 1348, unter ihnen Lord Peter, der Verlobte von Lady Eleanor of Develish.

Develish, ein Landsitz mit etwa zweihundert Bewohnern in Mittel-Dorseteshire, Lehnsgut von Sir Richard, einem Tyrannen, der es bis zu seinem Pesttod im Juli 1348 beherrschte. Um Develish mächtiger erscheinen zu lassen, als es war, ließ Sir Richard im Jahr 1338 von seinen Leibeigenen einen Burggraben rings um sein Anwesen ausheben. Dieser ermöglichte es, das Haus und ein paar Morgen Umland von dem restlichen Gebiet abzuriegeln, als die Pest kam.

DIE ADLIGEN

Sir Richard of Develish (48), ein ungebildeter Normanne, von Schulden erdrückt und von seiner Familie verstoßen. Um sich zu sanieren, heiratete er 1334 eine vierzehnjährige Angelsächsin mit großzügiger Mitgift. Zwanzig Jahre älter als sie und seiner Braut wenig zugetan, behandelt er sie – die selbst von adliger Herkunft ist – so schlecht wie seine Leibeigenen. Um einer Entschädigungszahlung für Notzucht zu entgehen, zwang er seine junge Braut nach den ersten Ehemonaten, ein neugeborenes Mädchen, das er mit der dreizehnjährigen Halbschwester seines Schwagers gezeugt hatte, als ihr eigenes Kind anzunehmen. Lady Eleanor genannt, ist dies sein einziges Kind. Auf Besuch in Bradmayne, um Eleanors Verlobung mit Lord Peter vertraglich abzusichern, steckt Sir Richard sich mit der Pest an.

Lady Anne of Develish (28), gebildet und heilkundig, wurde aus der Klosterschule heraus verheiratet und befolgt die Weisungen des Heilands, nicht der Kirche. Seit sie als junge Braut nach Develish kam, wirkt sie in aller Stille darauf hin, Gesundheit, Lebensbedingungen und Wissensstand ihrer Leibeigenen durch Unterweisung und Pflege zu verbessern. Um sie vor der Pest zu bewahren – und in Zuwiderhandlung zu den Lehren der Kirche –, versammelt sie ihre Leute innerhalb des Burggrabens und verbrennt die Zugbrücke, damit niemand mehr herüberkommt. Auch ihr pestbefallener Gemahl muss draußen bleiben und im Bauerndorf außerhalb der Einfriedung sterben. Dadurch macht Lady Anne sich Sir Richards Verwalter, seine Tochter und den Priester zu Feinden, sichert sich aber die Loyalität und Dankbarkeit ihrer Leute. Nach Sir Richards Ableben übernimmt sie die Herrschaft über Develish.

Lady Eleanor of Develish (14), einziges Kind von Sir Richard und Adoptivtochter von Lady Anne. In Unkenntnis ihrer wahren Herkunft vergöttert sie ihren Vater, der sie verwöhnt, und hasst ihre Mutter, die versucht, sie zu erziehen. Böswillig und grausam, neigt sie nach dem Tod ihres Vaters mehr und mehr zu Tobsuchtsanfällen und bezichtigt Lady Anne der Ketzerei, nachdem sie erfahren hat, dass diese nicht ihre leibliche Mutter ist.

Lord Bourne (Mitte 60), ein königlicher Schatzmeister aus Wiltshire, der die Goldreserven von Dorseteshire mithilfe von elf Gardesoldaten plündert. Bei seinem ersten Besuch in Develish brennt er das Bauerndorf nieder; bei seinem zweiten wird sein Überfall auf das Anwesen vereitelt, und er schwört, Rache zu nehmen.

FREIE

Pater Anselm (Mitte 60), ein trunksüchtiger Priester. Er und Lady Anne misstrauen sich gegenseitig. Sie hält ihn für seines Amtes unwürdig; er hält sie für eine Ketzerin. Lady Anne kann ihm nicht verzeihen, dass er Sir Richard 1338 nach dessen brutaler Vergewaltigung einer Zehnjährigen die Absolution erteilte. Das kleine Mädchen war verblutet.

Hugh de Courtesmain (29), ein doppelzüngiger Normanne, von Sir Richard als Verwalter angeheuert, um den Leibeigenen noch mehr Steuern abzupressen. Nach Develish kam er auf Empfehlung von Sir Richards Schwester, Lady Beatrix of Foxcote, die seinen Eifer beim Auspeitschen Straffälliger lobt. Arrogant und selbstgefällig, ist es ihm bis zu Sir Richards Tod nicht gelungen, seine Autorität durchzusetzen, und nach Lady Annes Herrschaftsübernahme findet er sich ohne Freunde wieder. Seines Postens enthoben und voller Groll auf Thaddeus Thurkell, der an seine Stelle getreten ist, versucht er, Lady Eleanors Hass auf Lady Anne und Thaddeus für seine Zwecke zu nutzen, um wieder an die Macht zu gelangen.

LEIBEIGENE

Thaddeus Thurkell (21), unehelich geborener Sklave, der von seinem Ziehvater gehasst wird. Dunkelhäutig, schwarzhaarig und einen Kopf größer als die anderen Männer, wortkarg und allein Lady Anne Respekt zollend, die ihn mehr als zehn Jahre lang heimlich unterwies und ihn nach Sir Richards Tod zu ihrem Verwalter ernennt. Ebenso gewitzt und kundig wie sie, ist er ihr in unwandelbarer Loyalität und Hochachtung verbunden, und gemeinsam sind sie bestrebt, Develish vor der Pest zu bewahren, die draußen wütet. Ihre Bemühungen drohen zu scheitern, als Thaddeus die Leiche seines jüngeren Halbbruders Jacob entdeckt, der von einem Stich in die Brust getötet wurde. Da er Lady Eleanor für die Schuldige hält und überzeugt ist, dass diese die Söhne von Lady Annes Hauptbauern der Tat bezichtigen will, gibt er Jacobs Tod als Unfall aus und schafft die Jungen heimlich aus dem Anwesen fort. Er hinterlässt einen Brief, in dem er ihr Fehlen damit erklärt, dass sie die schwindenden Vorräte des Anwesens auffüllen müssen, bevor der Winter einsetzt.

Eva Thurkell (37), Thaddeus’ Mutter, die es ihrem Sohn übel nimmt, dass ihr Mann voller Zorn darüber ist, von einem geschwängerten Flittchen als Gatte geködert worden zu sein. Als Lady Anne Thaddeus zu ihrem Verwalter ernennt und Eva erfährt, wie viel ihr Sohn ihr verschwiegen hat – vor allem seine Bewunderung für Lady Anne –, entflammt sie in bitterer Eifersucht.

Will Thurkell (44), ein aggressiver Schläger, dessen größter Verdruss der Erkenntnis entstammt, dass der Bankert eines unbekannten Mannes klüger ist als er. Ebenso wie seine Frau voller Groll wegen der heimlichen Unterweisung, die Thaddeus durch Lady Anne erfahren hat, unterstützt er Eva in ihren Versuchen, ihn aus seinem Posten zu drängen.

Gyles Startout (48), ein englischer Leibeigener, der 1338 zum besoldeten Gardesoldaten in Sir Richards Gefolge befördert wurde, auf Lady Annes Forderung hin, dass ihr Gatte ihn für die Vergewaltigung seiner Tochter Abigail zu entschädigen habe. Diese Vorrangstellung erlaubt es Gyles, seinen verhassten Herrn überallhin zu begleiten, was er bereitwillig tut, um Lady Anne Bericht erstatten zu können. Als einziger Überlebender von Sir Richards unglückseligem Besuch in Bradmayne wartet er vierzehn Tage, um zu beweisen, dass er frei von der Pest ist, bevor Lady Anne ihm erlaubt, den Burggraben zu überqueren. Sie ernennt ihn zu ihrem Gardehauptmann, und er bildet die Männer von Develish in der Waffenkunst aus, damit sie das Anwesen vor Angriffen verteidigen können.

John Trueblood, James Buckler, Adam Catchpole und Alleyn Startout (Bruder von Gyles), Hauptbauern unter den Leibeigenen und Mitglieder von Lady Annes Ältestenrat.

Martha Startout (Frau von Gyles) und Clara Trueblood (Frau von John), Vorsteherinnen der Hausmägde.

Isabella Startout (13), Tochter von Gyles und Martha Startout und jüngere Schwester von Abigail, Zofe von Lady Anne und Lady Eleanor. Da sie ihre Intelligenz erkennt, lehrt Lady Anne das Mädchen lesen und schreiben, und Isabella bringt diese Fertigkeiten dann der restlichen Dienerschaft bei. Lady Annes Zuneigung für sie macht Eleanor eifersüchtig. Am Ende von »Die letzte Stunde« nimmt Eleanor Isabella gefangen und quält die Magd, bevor Lady Anne sie schließlich retten kann.

Robert Startout (11), Sohn von Alleyn und Susan Startout, Vetter von Isabella und Neffe von Gyles. Weil sie ihm gefällt, setzt er sich für Eleanor ein, als die Leute sie wegen der Quälerei von Isabella zur Verantwortung ziehen. Seine Fürsprache wird von Isabella gutgeheißen, da sie versteht, warum ihre junge Herrin so verstört ist.

DIE FÜNF JUNGEN MÄNNER, DIE MIT THADDEUS DAS ANWESEN VERLASSEN

Naiv und gelangweilt, lassen sie sich alle von Eleanor zu einem heimlichen Stelldichein in der Kirche verführen. Ohne deren Motive zu hinterfragen, lassen sie sich auf ihre sexuellen Spielchen ein und finden sich kurz darauf in die Suche nach dem Schuldigen an Jacobs Tod hineingezogen. Zunächst nur widerwillig bereit, Thaddeus zu begleiten, machen sie es sich schließlich zur Aufgabe, Vorräte für Develish aufzutreiben.

Ian und Olyver Startout (15), Zwillingssöhne von Gyles und Martha Startout und ältere Brüder von Isabella. Ian ist der geborene Anführer, Olyver der Mitläufer.

Edmund Trueblood (15), Sohn von John und Clara True-blood. Am Ende von »Die letzte Stunde« verrät er Thaddeus das Geheimnis um Eleanors Geburt, das er von seiner Mutter erfahren hat, die damals als Eleanors Amme fungierte.

Peter Catchpole (16), Sohn von Adam und Rosa Catchpole. Von Natur aus träge, kann er Thaddeus’ Autorität besser akzeptieren als die seines Vaters, obwohl er sich nie ganz als so zuverlässig erweist wie seine Freunde.

Joshua Buckler (15), Sohn von James und Jenny Buckler, hat von den Jugendlichen am wenigsten Selbstvertrauen. Er gewinnt an Sicherheit, als Thaddeus ihm sieben Jagdhunde anvertraut, die ihnen zuvor beim Streunen über menschenleeres Land begegneten.

HERBST UND WINTER 1348

(AUSZUG AUS DEM TAGEBUCH VON LADY ANNE OF DEVELISH)

Die Nacht des elften Tages im September 1348

Wenn das Stundenglas umschlägt, wird Mitternacht vorüber und ein neuer Tag angebrochen sein. Und noch immer kann ich mich nicht überwinden, es anzugehen. Wenn es erst getan ist, gibt es kein Zurück mehr, und ich werde die Schuld tragen müssen. Ich hätte Eleanor eine bessere Mutter sein sollen, wusste ich doch mehr als jeder andere um die Bösartigkeit ihres Vaters. Aber hätte sie denn auf mich gehört, wenn ich sie gewarnt hätte, dass seine Liebe zu ihr widernatürlich sei? Wird sie jetzt auf mich hören?

Ich muss meine Unentschlossenheit abschütteln. Trotz der grausamen Verletzungen, die Eleanor ihr zufügte, suchte Isabella Startout ihr zu helfen, und die milde Großmut der Magd sollte mir ein Vorbild sein. Tief im Innersten weiß ich, dass ich handeln muss. Nichts zu tun käme einem Verrat an dem Mädchen gleich, das ich all diese Jahre Tochter geheißen habe.

Gott vergebe mir. Gewiss kann ich Eleanors Hass besser ertragen als sie den schändlichen Inzestvorwurf, wenn dieses in Sünde gezeugte Kind geboren wird.

Mea culpa.

EINS

Develish, Dorseteshire

Die Nacht wirkte noch dunkler, als Lady Anne Abschied von Eleanor nahm und aus der Hütte trat. Vielleicht hatte sie sich länger dort aufgehalten, als sie vorhatte, um ihrer Tochter die schwere Entscheidung begreiflich zu machen, die ihr bevorstand. Die Uhrzeit ließ sich nicht einschätzen, da der Mond hinter dichten Wolken verborgen war. Sie zog ihr Cape fest um sich, zum Schutz gegen den auffrischenden Wind, und tastete sich blind auf dem Pfad zum Herrenhaus voran. Hinter ihr war die Kirche im Dunkel versunken. Das Licht der sechs Kerzen, die sie jeden Abend im Südfenster ihrer Kemenate anzündete, war durch die Scheiben, die auf den Vorplatz des Hauses hinausblickten, gerade noch auszumachen. Ihr schwacher Schimmer war das Einzige, das noch sichtbar war in der allumfassenden Finsternis.

Allein John Trueblood wusste von ihrem Besuch, weil er das Vorhängeschloss an der Tür zu Eleanors Kerker hatte aufsperren müssen. Sie zweifelte nicht daran, dass er es Clara sagen würde, hoffte aber, beide würden glauben, dass es die Trauer über die Abtrünnigkeit ihrer Adoptivtochter war, die sie zu diesem Besuch bewogen hatte. Sicher hatte John bemerkt, wie bedrückt sie war, als sie fortging; er hatte ihr unbeholfen den Arm getätschelt und sie inständig gebeten, sich Eleanors gehässige Worte an jenem Nachmittag nicht so zu Herzen zu nehmen. Wenn der seltsame Wahnzustand des Mädchens abflaute, würde sie wieder erkennen, dass Milady ihre wahre Mutter war. Lady Anne dankte ihm für seine Freundlichkeit, doch die Tränen standen ihr in den Augen, als sie sich auf den Rückweg zum Haus machte. Sie bezweifelte, dass Eleanor das Abtreibungsmittel aus Engelwurz, Wermut und Flohkraut als mütterliche Liebesgabe annehmen würde.

Sie hatte ihr den Absud dagelassen, aber ob sie ihn auch trank, musste das Mädchen selbst entscheiden. Falls Eleanor beschloss, das Baby zu behalten, würde sie mit den Folgen leben müssen, denn Lady Anne konnte sie nicht vor Klatsch und Tratsch schützen, wenn ihr Bauch anschwoll. Sie hatte Eleanor gewarnt, die frechen Lügen, sie sei von Bauernjungen vergewaltigt worden, nicht zu wiederholen, weil alle die Wahrheit erraten würden, wenn das Kind erst geboren war. Es gab keine Frau in Develish, die nicht imstande wäre, den wahren Erzeuger zu nennen, wenn sie das Gesicht des Kindes erblickten und vom Tag der Geburt darauf schließen konnten, dass Sir Richard, der eigene Vater des Mädchens, sich zum Zeitpunkt der Zeugung noch in Develish aufgehalten hatte. Mochte er auch tot sein, er hatte doch immer noch die Macht, seiner Tochter jede Chance auf einen unbefleckten Leumund zu ruinieren.

Vorsichtig näherte Lady Anne sich dem Vorplatz, denn keiner sollte sie aus der Richtung von Eleanors Kerker kommen sehen, doch ihre Schritte brachten lose Steine ins Rollen, und ihr Herz setzte einen Schlag aus, als der Lichtstrahl einer Laterne ihr Gesicht streifte. Es war nicht auszumachen, wer sie hochhielt; erst als er sie ansprach, erkannte sie Robert Startouts Stimme. Der Junge klang verängstigt. »Mi… Milady, Milady«, stammelte er. »Mein O-onkel Gyles bedarf Eurer. Er … er hat meine Mutter zu Euren Gemächern gesandt, aber Ihr wart nicht da – und sie konnte Euch auch nirgendwo sonst finden.«

Um ihn zu beruhigen, legte sie ihm freundlich die Hand an die Wange. »Jetzt bin ich da, Robert. Wo ist dein Onkel denn?«

Der Junge ergriff ihre Hand und zog sie in Richtung Wassergraben. »Er bewacht die nördliche Mauerbrüstung, Milady. Räuber sind von Süden her über die Hügel gekommen. Mein Vater und Master Catchpole sagen, dass sie das Tal umzingeln, um von allen Seiten über uns herzufallen.«

Es dauerte einen Moment, bis Lady Anne die Bedeutung dieser Kunde erfasste. Ihre Gedanken drehten sich immer noch unentwegt um Eleanors Kummer, sodass in ihrem Kopf kaum Platz für anderes blieb. Sie verlangsamte ihre Schritte. »Räuber?«

»Ja, Milady. Mein Vater bewacht die östliche Mauerbrüstung, von wo man zur Straße schauen kann, und er hat dort vor vielleicht einer halben Stunde Männer gesehen. Und Master Catchpole hat von seinem Posten im Süden dasselbe beobachtet …« Robert seufzte erleichtert, als ein Schatten auf sie zuhuschte. »Mein Onkel kann Euch das besser erklären als ich.«

Gyles begrüßte Lady Anne mit einem Nicken, während er Robert begütigend eine Hand auf die Schulter legte. »Gräme dich erst, wenn wir keine Hoffnung mehr haben, Junge. Sag, möchtest du noch einmal mein Botschafter sein? Dann warte am Stützpfeiler, bis du mein Signal hörst. Wenn ich pfeife, weckst du die Männer und schickst sie hierher zu mir. Sie müssen alles mitbringen, was an Waffen zur Hand ist, und ihren Weg ohne Laternen und Kerzen finden. Verstanden?«

Lady Anne wartete, bis der Junge außer Hörweite war. Plötzlich schien die Angst ihr Herz zu umklammern, so sehr, dass sie kaum noch Luft bekam. »Ist das alles wahr, Gyles?«

»Ja, Milady. Alleyn und Adam sind sich ganz sicher. Etwas weiter im Süden ist auf der Straße eine Fackel aufgeflackert. Sie wurde gleich wieder gelöscht, aber man konnte erkennen, dass dort eine Horde von Männern unterwegs ist. Es bestätigt genau das, was wir schon immer befürchtet haben – eine Armee von Leibeigenen auf Nahrungssuche.« Er sah, dass Lady Anne einen kurzen Moment ins Wanken geriet, und stützte sie eilig am Ellbogen. »Jetzt müssen wir auf den Regen als Verbündeten zählen. Es wird ihnen nicht gelingen, uns auszuräuchern, wenn Gott uns einen kräftigen Schauer schickt.«

»Und wenn nicht?«

»Dann müssen wir kämpfen, auch wenn ich mir nicht sicher bin, ob unsere Leute es übers Herz bringen werden, Landsleute zu töten. Ich fürchte, dass sie zögern werden, wenn jemand aus unserem Landesteil um Gnade fleht.« Er spürte, wie Lady Anne erbebte. »Ihr müsst tapfer sein, Milady. Unsere Männer werden den Mut verlieren, wenn sie sehen, dass Ihr Angst habt.«

Er verlangte zu viel von ihr. »Aber ich habe Angst«, wisperte sie. »Ich dachte, ich könne die Rolle des Lehnsherren spielen, aber das war ein Irrtum. Ich bin zu schwach, um all die Bürden zu schultern, die diese Stellung mir auferlegt.«

Gyles hatte keinen Zweifel, dass Eleanor die Ursache von Lady Annes Verzagtheit war, und insgeheim verfluchte er das Mädchen. Anscheinend hatte sie der Schmerz, den sie Isabella zugefügt hatte, noch nicht genug zufriedengestellt. Legte sie es jetzt etwa darauf an, Lady Anne zu zerstören – und mit ihr die Bevölkerung von Develish? Unwillkürlich legte er Lady Anne einen Arm um die Taille und drückte sie mit der gleichen beschützenden Zärtlichkeit an sich, wie er sie auch seiner Tochter gegenüber zeigte.

»Ich erinnere mich, wie Ihr als junge Braut zum ersten Mal nach Develish kamt«, murmelte er. »Ihr wart kaum älter als meine Isabella heute. Ich stand auf diesem Vorhof und musste auf Befehl des Lords bei einer Auspeitschung zuschauen. Den Ausdruck in Euren Augen, als Ihr vom Wagen herabgestiegen seid und den armen Kerl saht, der da gequält wurde, habe ich nicht vergessen. In dem Moment wusste ich, dass wir eine Freundin gefunden hatten. Und nach zwei Monaten war es tatsächlich vorbei mit den brutalen Züchtigungen. Dafür habt Ihr Euch Sir Richards Zorn zugezogen. Wollt Ihr Euch nun heute Nacht gegenüber einer zerlumpten Diebesbande wirklich weniger entschlossen zeigen?«

Lady Anne hob den Saum ihres Umhangs und rieb sich damit über die Augen. Der letzte Mann, der sie auf diese Weise gehalten hatte, war ihr Vater gewesen. Mit zitternden Nasenflügeln atmete sie tief durch, dann reckte sie das Kinn. »Ich werde mein Bestes geben, Gyles. Sag mir, was du von mir brauchst, und ich werde es tun.«

Gyles zweifelte nicht einen Moment an ihrem Wort. Sein Vertrauen zu ihr war unerschütterlich. »Helft Robert, die Leute zu wecken, und verbarrikadiert Euch dann drinnen mit den Frauen und Kindern. Unsere Männer werden umso besser kämpfen, wenn sie die Gewissheit haben, dass ihre Familien geschützt sind.« Er spähte zum Wassergraben hinüber, doch die dicken, schwarzen Regenwolken türmten sich jetzt mit solcher Geschwindigkeit auf, dass man die Straße, die zum Dorf führte, nicht mehr sehen konnte, und erst recht nicht das Land links und rechts davon. »Ihr werdet erst in der Morgendämmerung erfahren, ob wir gesiegt haben. Achtet also streng darauf, dass die Tür verbarrikadiert bleibt. In dieser Dunkelheit werdet Ihr Freund und Feind nicht voneinander unterscheiden können.«

Lady Anne widersprach nicht. Gyles wusste so gut wie sie, dass auch seine Männer nicht sehen würden, gegen wen sie kämpften. Sich blind in eine Schlacht zu stürzen war schierer Wahnsinn, aber was blieb ihnen anderes übrig? Wenn seine Mauern erst einmal durchbrochen waren, gab es für Develish keine Zukunft mehr. Sie schickte ein stummes Stoßgebet gen Himmel, dass Alleyn und Adam sich getäuscht haben mochten, doch ihre Hoffnung erlosch sogleich, als in der Dunkelheit vor ihnen ein stecknadelkopfgroßer Punkt aufglomm. Der Richtung nach musste er sich am Rand des Dorfes befinden, doch dann bewegte er sich, wurde größer und heller und kam direkt auf sie zu.

»Was ist das?«, flüsterte Lady Anne.

»Eine brennende Fackel, Milady.«

»Wer trägt sie?«

Gyles starrte die verzerrten Gestalten an, die in diesem gespenstisch flackernden Licht wie Dämonen zu wirbeln schienen. Seufzend ließ er Lady Anne los und nahm mit einem Griff über die Schulter den Bogen in die Hand. Er hatte zu lange gewartet. »Die Leute, die wir befürchtet haben, Milady. Sie haben das Dorf schneller umstellt, als ich dachte. Allein diese Gruppe scheint fünf oder sechs zu zählen.«

»Warum lenken sie unsere Aufmerksamkeit auf sich?«

»Als ein Signal an die anderen im Tal, dass sie im Begriff sind anzugreifen.« Gyles hielt in Richtung Westen Ausschau nach Anzeichen von Bewegungen auf den Äckern. Doch die Dunkelheit war undurchdringbar. »Ihr müsst jetzt gehen«, drängte er. »Ermutigt unsere Männer und benutzt Eure Klugheit, um diese Diebe von unseren Frauen und Kindern fernzuhalten. Selbst unter Belagerung können im Inneren des Hauses hundert Personen mit den Vorräten, die wir haben, noch eine gute Weile überleben.«

Da sie sich die Kapuze tief in die Stirn gezogen hatte, konnte Gyles ihre Gefühle nicht in ihrem Gesicht ablesen, doch den leichten Druck ihrer Fingerkuppen an seiner Wange spürte er sehr wohl. »Du bist mein liebster Freund«, flüsterte sie. »Pass heute Nacht gut auf dich auf.«

Gyles zwang sich zu einem zuversichtlichen Ton. »Seid dessen gewiss, Milady.«

Seid dessen gewiss … Lady Anne kannte Gyles zu gut, um sich von einer solchen Floskel in Sicherheit wiegen zu lassen. Er nahm von ihr Abschied; und Panik befiel sie bei dem Gedanken, ganz allein für den Schutz der Leute von Develish sorgen zu müssen. War Gott denn noch nicht zufrieden mit all den Pesttoten, dass Er auch noch die Überlebenden aufeinanderhetzte, bis kein Menschenleben mehr übrig war? Wo war Seine Liebe in dieser schrecklichen Welt geblieben?

Eine kleine Hand schlüpfte in die ihre. »Nehmt etwas von meiner Kraft, Milady«, wisperte Robert. »Sonst werdet Ihr fallen. Glaubt Ihr, Thaddeus hat gemerkt, dass Banditen im Tal sind?«

Die Frage wunderte sie, wusste Robert doch sehr wohl, dass Thaddeus, den er zutiefst verehrte, das Anwesen schon vor zwei Wochen verlassen hatte. Die beiden Zwillingsvettern des Jungen und drei ihrer Freunde waren mit ihm fortgegangen, aber noch war keiner von ihnen zurückgekehrt. »Vermisst du Thaddeus, Robert?«

»Ja, Milady, aber ich finde es dumm von ihm, dass er sein Pferd am Zügel führt, anstatt es zu reiten. Zu Fuß kann er doch viel leichter angegriffen werden. Mein Onkel sollte ihm eine Warnung zurufen.«

Sie drückte ihm beruhigend die Hand. »Dein Onkel wird schon das Richtige tun. Wie immer.«

»Glaub ich nicht, Milady, sonst hätte er es schon getan. Er tut so, als könnte er im Dunkeln sehen, aber das kann er nicht. Mein Vater ist genauso. Ich würde Thaddeus sagen, er soll sich vorsehen. So, wie er da herumläuft, könnte ja sogar ich ihm einen Pfeil ins Herz schießen.«

Sicher waren es nur Fantastereien eines ängstlichen Kindes, sagte sich Lady Anne. Dennoch blieb sie stehen und drehte den Jungen in Richtung Burggraben. »Jetzt schau noch einmal genau hin«, ermunterte sie ihn. »Beschreib mir, was du siehst. Einen Mann oder viele?«

»Es ist nur einer, Milady. Er geht mit weit ausgebreiteten Armen, wie Jesus am Kreuz. In der rechten Hand hält er die Zügel und eine Fackel in der linken. Ich glaube, er will vermeiden, dass die Flamme das Pferd erschreckt. Er trägt einen hohen Hut und einen langen Mantel.«

»Kannst du das alles wirklich erkennen? Bist du sicher, dass es Thaddeus ist?«

»Wenn nicht, ist es jemand Großes, der sich genauso bewegt wie er, Milady. Jetzt ist er stehen geblieben, um das Pferd am Straßenrand grasen zu lassen … und er starrt so vor sich hin, wie Thaddeus es immer tut, wenn er grübelt.«

Lady Anne sehnte sich danach, ihm glauben zu können. »Dann hat er eine sonderbare Stunde für seine Rückkehr gewählt. Er weiß besser als jeder andere, dass ganz Develish um diese Zeit schläft.«

»Bis auf die Wachtposten, Milady«, antwortete Robert nüchtern. »Falls meine Vettern tot sind, wird Thaddeus es als Erstes meinem Onkel sagen wollen.«

Derselbe Gedanke war ihr auch schon gekommen. Aber wem sollte sie vertrauen, wo sich ihre Augen doch so viel besser für das Lesen von Schriftstücken als für das Spähen in dunkle Ferne eigneten? »Gib mir deine Laterne«, sagte sie plötzlich entschlossen. »Und dann nimm deinen Posten am Stützpfeiler ein. Ich verlasse mich auf dich, Robert. Wenn du dich irrst und dein Onkel recht hat, bleiben nur noch wenige Minuten, um unsere Männer zu den Waffen zu rufen.«

»Ich irre mich nicht, Milady«, entgegnete der Junge selbstsicher und ließ ihre Hand los, »aber gebt nicht mir die Schuld, wenn es da draußen außer ihm auch noch Banditen gibt.«

Gyles ließ den Bogen sinken, als er im flackernden Licht der Fackel erkannte, dass sein Neffe recht gehabt hatte. Auf fünfzig Schritt waren Thaddeus’ mächtige Statur und sein wiegender Gang unverkennbar, auch wenn er in einem schwingenden pelzgefütterten Mantel daherkam wie ein Lord, einen Hut aus Biberfell über die Kapuze gestülpt. »Meine alten Augen haben mir einen Streich gespielt, Milady. Ich hab das Pferd für einen Trupp Männer gehalten.«

Lady Anne unterdrückte ein Lächeln. »Ich auch, mein Freund. Es gibt also weniger zu fürchten, als wir dachten.«

»Außer schlechte Nachrichten«, murmelte Gyles. »Er würde sich nicht zu nachtschlafender Stunde hier einschleichen, wenn er uns etwas Gutes mitzuteilen hätte.«

Lady Anne reichte ihm die abgeblendete Laterne. »Sollen wir sie aufleuchten lassen, um ihm zu zeigen, dass wir hier sind?«

»Lieber nicht, Milady. Lasst uns erst hören, was er zu sagen hat.« Er hob die Stimme, als Thaddeus sich dem Burggraben auf zwanzig Schritt genähert hatte. »Geht es dir gut, Thaddeus?«

Die vertraute Stimme schallte von der anderen Seite zurück. »Bist du das, Gyles? Ich bin geblendet von der Fackel, aber ich fürchtete, einen Pfeil abzubekommen, wenn ich gänzlich unangemeldet daherkäme.« Er bückte sich, um die Flamme im Straßenstaub auszuklopfen. »Bist du allein, mein Freund?«

Die vorsichtige Frage veranlasste Lady Anne, hinter Gyles zu treten. Sie war so schmal, dass sein Körper sie mühelos verdeckte. »Sag ihm, du bist allein«, wisperte sie. »Sonst erzählt er dir nichts.«

»Die Wachen stehen auf ihren Posten«, antwortete Gyles vernehmlich. »Wenn du nicht willst, dass man dich hört, musst du ans Ufer kommen und deine Stimme dämpfen. Was hast du auf dem Herzen?«

Lady Anne hörte das Hufestampfen, als Thaddeus das Pferd am Ufer zum Stehen brachte, und das Klirren des Halfters, als es den Kopf zum Trinken senkte. »Gib mir erst Nachricht von Develish«, sagte er. »Ist es noch so, wie es war, als ich fortging? Ich sah Kerzen in Lady Annes Fenster. Hofft sie auf unsere Rückkehr?«

»Natürlich«, antwortete Gyles verwundert. »Das tun wir alle. Wie könnte es anders sein?«

Thaddeus schien zu zögern. »Schon recht – ich hatte nur deinen Söhnen versprochen, dass ich danach fragen würde. Sie fürchten, du könntest es ihnen übel nehmen, dass sie sich ohne deinen Segen davongemacht haben.«

»Den hätte ich ihnen auch verweigert.«

»Das haben sie sich gedacht.«

Gyles schnaubte belustigt. »Du hast mir eine Heidenangst eingejagt mit deiner nächtlichen Rückkehr. Ich dachte schon, du wärst hier, um mir zu sagen, dass sie tot sind.«

»Weit davon entfernt. Alle Jungen sind wohlauf. Develish kann stolz auf sie sein. Ich hätte mir keine mutigeren Begleiter wünschen können. Ihre Tapferkeit angesichts der Pest war ebenso groß wie deine, und wir haben jede Menge Vorräte gefunden, um unsere Bestände hier aufzufüllen. Wo die Menschen sterben, gedeiht das Vieh, und das Korn wird nicht verbraucht.«

»Ist es sehr schlimm dort draußen, mein Freund?«

Lady Anne vernahm ein müdes Seufzen. »Es ist eine Ödnis, Gyles. Der Tod fegt alles dahin. Ich kann mich weder von seinem Geruch befreien noch die Erinnerung auslöschen an das Grauen, das er hinterlässt. Überleben heißt, die Verdammnis erfahren. Heute Nacht bin ich durch die Hölle gegangen.«

Die Worte waren so düster, dass Gyles die Laterne aufblendete und sie hochhielt. Thaddeus hatte den Hut abgenommen und die Kapuze zurückgeschoben, und der Lichtstrahl traf sein hohlwangiges, erschöpftes Gesicht. Gyles sah ihn vor der Helligkeit zurückzucken und senkte den Strahl zum Wasser hinab. »Vor ein paar Stunden hat es im Süden einen hellen Widerschein am Himmel gegeben«, sagte er. »Ich nahm an, dass es Athelhelm war, das da abbrannte. War das euer Tun?«

»Ja.«

»Und wozu?«

»Um für die Jungen und zweihundert Schafe einen sicheren Durchgangsweg von Afpedle nach Develish zu schaffen. Ich hätte das Abbrennen lieber noch etwas aufgeschoben, aber es steht Regen bevor, und der hätte es verhindert.«

Gyles brauchte seine Fantasie nicht anzustrengen, um zwischen den Zeilen zu lesen. »Ist die Pest in Athelhelm? Sind alle befallen?«

Thaddeus nickte. »Alle, die dageblieben sind.«

»Und die Toten lagen unbestattet?«

»Einige waren in einem Gemeinschaftsgrab verscharrt, die meisten aber in ihren Hütten zurückgelassen. Die Leiche eines Mönchs, der sich ihrer angenommen hatte, lag über einer Türschwelle, von Aasfressern ausgeweidet. Ich sah keinen anderen Ausweg, als das Dorf durch Feuer zu reinigen. Ich habe eine laute Warnung gerufen, aber niemand antwortete oder zeigte sich.«

»Und was bedrückt dich dann?«

Eine lange Pause trat ein. »Ein Mann flehte um Gnade, als ich gerade ausholte, um die Fackel auf sein Strohdach zu werfen. Ich sah ihn durch die offene Tür. Er lag auf einer Binsenmatte und drehte den Kopf zu mir hin. Ich hätte noch innehalten können, aber ich tat es nicht.«

»Hat er versucht, sich aufzurichten?«

»Nein.«

»Dann war wohl der Tod die Gnade, die er erflehte.«

»Er dachte, ich sei der Teufel, der gekommen sei, ihn zu verbrennen. Ich hab’s in seinen Augen gelesen.« Thaddeus fluchte leise vor sich hin. »Bitte achte nicht auf mich. Ich hatte mir geschworen, nicht davon anzufangen. Du hast noch Schlimmeres mitgemacht, als Sir Richard und deine Kameraden gestorben sind.«

Gyles erinnerte sich, wie Thaddeus nachts den Burggraben durchschwommen hatte, um ihm Gesellschaft zu leisten, während er den Kranken beistand und sie dann beerdigte. Der Jüngere hatte stets Abstand gehalten, aber seine Anwesenheit war tröstlich gewesen. »Und ich war dir dankbar, dass du mir zugehört hast. Geteiltes Leid ist halbes Leid.« Gyles sah auf. »Waren meine Söhne dabei?«

»Nein. Ihr Gewissen war schon genug mit dem belastet, was ich ihnen in Afpedle zu tun aufgab.« Thaddeus schilderte kurz, was sich während der vergangenen vierzehn Tage zugetragen hatte, erwähnte die Landgüter, die sie besucht, die Vorräte, die sie gefunden hatten. Er erzählte von dem Wagen voller Korn in Holcombe und von den zweihundert Schafen in Afpedle, aber seine Beschreibung des überall die Luft vergiftenden Verwesungsgeruchs ließ seine Zuhörer vor Ekel erschauern, ebenso wie seine Warnungen vor der Rattenplage, die in den verödeten Dörfern herrschte. »Die Kornspeicher ziehen sie an, und mit reichlich Nahrung vermehren sie sich schneller. Ich weiß nicht, ob sie die Seuche übertragen – und wie –, aber wir fanden eine Handvoll Überlebende in Woodoak, die glauben, dass sie die Seuche verbreiten. Ihr tut gut daran, im Burggraben immer nach ihnen Ausschau zu halten.«

»In Bradmayne gab es Ratten.«

»Ich erinnere mich, dass du es mir damals erzählt hast.« Thaddeus schwieg einen Moment, um seine Gedanken zu ordnen. »Ian sagte, du bist niemals von Flöhen gebissen worden. Stimmt das?«

»Ja.«

»Die Überlebenden in Woodoak sprachen davon, dass die Befallenen sich kratzten, bevor sie krank wurden, und wie es die Lebenden juckte und graulte, nachdem sie die Toten berührt hatten. Nur ein völliges Eintauchen in irgendein Gewässer konnte Erleichterung bringen, wie deine Bäder im Devil’s Brook, und ich frage mich, ob das Wasser nicht die Flöhe abgespült hat. Erinnerst du dich, ob Sir Richard oder deine Kameraden sich über Juckreiz beklagten?«

»Das taten sie alle. Bradmayne war ein Drecksnest. Es wimmelte von Flöhen und Läusen, genauso wie von Ratten. Sir Richard wusste nicht, ob er mich um meine dicke Haut beneiden sollte oder verfluchen, weil ich um meinen Anteil an Bissen herumkam. Die Idee mit den Flöhen als Überträger ist einleuchtend, Thaddeus, aber hast du einen Beweis?«

Noch ein müder Seufzer. »Nein, aber es ist die einzige Erklärung, die mir dafür einfällt, dass die Pest sich so rasant von einem Landgut zum anderen bewegt. Ratten bleiben in der Nähe ihrer Nahrung, aber Flöhe reisen mit ihren Wirten. Besprich es mit Lady Anne. Sie wird besser wissen als ich, ob so etwas möglich ist. Wir haben oft überlegt, wie ein Händler oder Hausierer die Seuche mit sich herumtragen könnte, ohne ihr zum Opfer zu fallen.«

Gyles erwartete fast, dass Lady Anne sich nun zu erkennen geben würde, denn wozu hätte sie noch länger verborgen bleiben sollen? Doch sie tat es nicht. »Lass sie mich kurz rufen, dann kannst du es selbst mit ihr besprechen.«

Aber Thaddeus winkte ab. »Keine Zeit. Ich muss innerhalb einer Stunde zurück. Ich bin nur das Pferdegeschirr und ein paar Stricke holen gekommen, um den Wagen aus Holcombe herzukarren. Ich glaube, wir hatten alles Gerät in Sir Richards Schlafgemach gelagert. Wie ich sehe, habt ihr das Floß im Wasser liegen lassen, also könnt ihr wohl Zaumzeug für zwei Pferde rüberschicken? Und überleg dir mal, welchen Weg wir von Holcombe aus nehmen sollten. Erinnerst du dich aus der Zeit, als du mit Sir Richard durch die Lande zogst, noch gut genug an die Landstraßen, um sagen zu können, ob es einen direkten Weg nach Afpedle gibt? Es wäre hilfreich, wenn wir die Schafe zugleich mit dem Wagen mitführen könnten.«

Gyles rief sich das Netz der Straßen ins Gedächtnis. »Ich erinnere mich an einen Treiberpfad, der nach etwa fünf Meilen auf der Landstraße südlich von Holcombe gen Westen führt, und an noch einen etwa eine Meile nordwärts, der oberhalb von Athelhelm herauskommt … aber die würde ich beide nicht empfehlen. Da versinkt ihr im Schlamm, wenn der Regen kommt. Am besten, ihr schafft den Wagen nach Athelhelm und versammelt die Schafe dort. Wie weit ist das von eurem Lager entfernt?«

»Dreitausend Schritt … vielleicht viertausend, aber der Saumpfad ist kaum breit genug für ein Pferd. Ein Wagen kommt da nie und nimmer durch.«

»Aber vielleicht durch den Fluss. Er ist nicht tief und hat ein Kiesbett, wenn ich mich recht entsinne. Ich weiß noch, wie Sir Richard einmal dort entlanggeritten ist und staunte, wie viele Forellen vor ihm herschwammen.« Gyles zuckte die Schultern. »Es wird ein mühsamer Weg, aber dafür sicherer als die Durchfahrt durch verlassene Landgüter, wo man nie wissen kann, was einen erwartet. Möchtest du, dass ich dir dabei zur Seite stehe? Gewiss wird Milady mir gestatten, dich zu begleiten.«

Lady Anne hörte ein leises Lachen. »Nichts würde deinen Söhnen weniger gefallen, mein Alter. Sie möchten den ganzen Ruhm selbst einheimsen.« Wieder ein kurzes Zögern. »Geht es Milady denn gut?«

»O ja, und sie gelobte, euch groß zu feiern, wenn ihr zurückkehrt. Sie nennt euch Helden und zündet jeden Abend sechs Kerzen zu eurem Gedenken an. Du hast sie in ihrem Fenster gesehen, als du die Straße entlanggekommen bist.«

»Das habe ich sehr wohl«, sagte Thaddeus. »Es ist eine herzerwärmende Geste, aber vielleicht ein wenig unklug, weist es doch auf die Anwesenheit von Menschen hier im Hause hin. Und Lady Eleanor? Wie geht es ihr?«

Gyles wusste nicht recht, was er sagen sollte, bis Lady Anne ihm zuraunte, ehrlich zu sein. »Nicht gut. Sie scheint den Verstand verloren zu haben. Innerhalb weniger Stunden hat sie heute meine Isabella attackiert und verwundet, sich von Lady Anne losgesagt und behauptet, ihre wahre Mutter sei ein Schützling Milord of Foxcotes gewesen; außerdem hat sie gedroht, uns alle auf den Scheiterhaufen zu bringen, weil wir sie nicht als die wahre Herrin von Develish anerkennen. Am meisten in Rage gebracht hat sie Lady Annes Vorhaben, uns unsere Freiheit zu gewähren. Lieber würde sie uns an der Pest krepieren als unsere Ketten abwerfen sehen.«

Thaddeus erkundigte sich, wie schlimm Isabellas Verletzungen seien. »Ich mag sie mir nicht Schmerzen leidend vorstellen, Gyles.«

»So geht es uns allen. Sie ist sehr blass und schwach, aber sie kann sich auf den Beinen halten. Fünfzehn Stiche mit der Schnürnadel hat sie abbekommen, aber keiner war allzu tief. Milady und Martha kümmern sich um sie und sagen, sie wird sich in einer Woche wieder erholt haben.«

»Das freut mich zu hören, wie es auch ihre Brüder freuen wird. Hat Lady Eleanor denn irgendeinen Grund für ihr Verhalten genannt?«

»Nichts als wüste Beschuldigungen. Sie behauptete, Lady Anne reiße die Macht an sich, die in Wahrheit ihr, Eleanor, zukommen müsse. Sie scheint nicht zu begreifen, dass sie ihre Legitimität einzig Lady Anne verdankt, die das Geheimnis um ihre Geburt während all der Jahre für sich behielt. Dein Stiefvater war es, der ihr das gesteckt hat. Du hättest ihn nicht wiedererkannt, Thaddeus. Er hat dich sogar gepriesen, stell dir vor, er sagte, lieber beuge er das Knie vor dir als vor dem undankbaren Bastard, den Lady Anne da aufgezogen hat.«

Wieder erklang ein leises Lachen. »Ich kann nur staunen über das, was du mir erzählst, Gyles. Wie lange weiß Eleanor nun schon, dass Milady nicht ihre Mutter ist?«

»Heute Nachmittag hat unsere Herrin es ihr schonend beigebracht, in der Hoffnung, ihren Wahn zu bezähmen. Seit dem Tod ihres Vaters führt sie sich unmöglich auf, aber so verrückt wie heute war sie noch nie. Sie schwört, sie werde Milady als Ketzerin anprangern, sobald sie die Gelegenheit dazu bekommt.«

»Ist sie eingesperrt worden?«

»Ja, in der Hütte neben der von John Trueblood. Ihr Wehgeheul hallte im ganzen Gelände wider.«

»Worüber beklagt sie sich?«

Gyles schnaubte. »Na, über alles, was ihr nur einfällt. Am schlimmsten zieht sie über die Männer auf dem Anwesen her – dich eingeschlossen. Mal sind wir gemeine Diebe und Feiglinge, mal Drecksgesindel mit hündischen Gelüsten.«

»Hat irgendjemand Mitleid mit ihr?«

»Nur meine Tochter und der kleine Robert. Sie sehen das Menschliche in ihr, das sonst keiner sieht, auch wenn Isabella zu Recht eine strengere Strafe forderte als Roberts Vorschlag, ihr für jeden Nadelstich einen Tag Kerker aufzubrummen. Niemand will sie wieder frei sehen, bevor der Wahn von ihr gewichen ist. Sie ist bösartig genug, um nächstes Mal wirklich zu morden, und sie kann keine Gnade von mir erwarten, wenn sie Isabella noch einmal irgendetwas antut.«

»Dann haltet sie in Gewahrsam, bis deine Zwillinge zurückkehren. Sie haben an Mut und Entschlossenheit gewonnen, seit sie so viel Tod und Elend sehen mussten, und sie werden nicht zulassen, dass eine wie Lady Eleanor ihrer Schwester auch nur ein Haar krümmt. Sieh zu, dass sie wenigstens das begreift.«

»Du verlangst Unmögliches. Sie weigert sich, Leibeigene anzuhören.«

»Würde sie Master de Courtesmain anhören?«

»Der fürchtet sich doch vor seinem eigenen Schatten! Er zittert wie Espenlaub bei dem Gedanken an die Vergeltung, die der High Sheriff an uns üben wird, weil wir es gewagt haben, Sir Richards Tochter zur Rechenschaft zu ziehen dafür, dass sie eine Leibeigene misshandelt hat. Du hast Milady einen schlechten Dienst erwiesen, Thaddeus, als du ihm deine Stellung überlassen hast. John Trueblood hätte einen besseren Verwalter abgegeben als dieser doppelzüngige Franzose.«

»Ich fand es klüger, ihn an Lady Annes Seite zu halten. Er hat ein missgünstiges Wesen und wäre jedem, der diese Stellung bekleidet, in den Rücken gefallen.«

Gyles nickte zögernd. »Da hast du wohl recht. Aber sag mir, wie lange wird es dauern, bis wir euch wiedersehen?«

»In drei Tagen schicke ich dir deine Söhne und die Söhne deiner Freunde mit den Schafen aus Afpedle. Sie werden Gehege auf dieser Seite des Burggrabens benötigen und einen Unterstand, um sie vor dem Regen zu schützen. Können die Männer von Develish so viel in so kurzer Zeit zusammenzimmern? Und wird Milady ihnen erlauben, den Burggraben zu überqueren?«

»Ich wüsste keinen Grund, weshalb nicht. Sie hat es dir damals doch auch erlaubt, als ich mit Sir Richard zurückkam. Wirst du die Jungen begleiten?«

»Nein, ich komme später mit dem Wagen nach, wenn ich herausgefunden habe, wie ich ihn herschaffen kann. Lasst die Jungen zwei Wochen auf dieser Seite des Burggrabens warten. Ich bin überzeugt, dass sie sich die Pest nicht eingefangen haben, aber sicher ist sicher. Sie können die Zeit nutzen, um die Schafe zu schlachten und die Kadaver mit dem Floß zu euch rüberzuschicken.«

»Schafe lassen sich nicht leicht durch den Regen treiben. Das ist ein Unternehmen für einen gestandenen Mann. Lass mich mitgehen und die Sache in die Hand nehmen.«

Ein kurzes Schweigen trat ein. »Ich sage nicht, dass es keine gute Idee ist, aber deine Söhne haben schwere Arbeit geleistet, um sich zu beweisen. Betrachte sie nicht mehr als Knaben, Gyles. Begrüße sie als Männer, und du wirst nicht enttäuscht sein.« Er drängte Gyles, ihm so schnell wie möglich Stricke und Zaumzeug zu bringen und auch Hafer für das Pferd, falls noch welcher übrig war. »Die Leute werden Antworten erwarten, wenn sie mich hier finden, und ich hab es nicht so mit dem Reden. Jeder meiner Gefährten kann unsere Geschichte besser wiedergeben als ich.«

Gyles unternahm einen letzten Versuch, Lady Anne zum Vortreten zu bewegen. Sie hatte es doch gar nicht erwarten können, mit Thaddeus zu reden, als er dort am Burggraben aufgetaucht war. »Lass mich wenigstens Lady Anne wecken und sie hierherbringen. All die Zeit hat sie deinen Rat so vermisst, Thaddeus.«

»Und ich den ihren … aber ich möchte keine süße Erinnerung daran, was mir fehlt, wo sogar deine brummige Altmännerstimme mich verleitet, länger als nötig hier zu verweilen. Versichere sie meiner unwandelbaren Treue, wenn du ihr von meinem Besuch berichtest, aber reiße sie meinetwegen nicht aus dem Schlaf.«

»Gibt es sonst noch etwas, das ich ihr sagen soll?«

»Nichts, was du ohne zu erröten übermitteln könntest, alter Freund. Ich habe gemerkt, dass ich mehr an Develish hänge, als ich dachte. Es ist nicht leicht, die Bande zu sprengen, die uns an die Menschen und Orte fesseln, die uns vertraut sind.«

In Gyles’ Schatten eilte Lady Anne zurück zum Haus, schlüpfte durch die Tür hinein und wies ihn an, Stricke und Zaumzeug zu holen, während sie sich auf die Suche nach Hafer machte. In der Küche packte sie Brot zusammen, mit einem Rest Suppe angefeuchtet – alles, was vom Vorabend übrig war –, und fügte ein kostbares hartes Ei hinzu, in Salzlake eingelegt. Bevor sie die Zipfel des Bündels zusammenknotete, lief sie ins Kontor des Verwalters, zündete eine Kerze an und verfasste eine kurze Nachricht. Den gefalteten Zettel legte sie über das Ei, wo Thaddeus ihn finden würde.

Schwer zu sagen, was Gyles von diesem nächtlichen Besuch halten mochte, aber Lady Anne hatte das Gefühl, Thaddeus zu verstehen. Fast jede seiner Fragen zielte letztlich darauf ab herauszufinden, ob Eleanor seine Gefährten der Notzucht oder des Mordes bezichtigt hatte, und Lady Anne wusste, er würde die Jungen nicht zurückkehren lassen, wenn dies der Fall war. Sie wünschte, sie könnte alles mit ihm teilen, denn er verdiente eine Erklärung für Eleanors Verhalten, aber sie durfte das Geheimnis des Mädchens nicht verraten. Stattdessen betete sie, dass die Nachricht, die sie ihm geschrieben hatte, ihn überzeugen würde, sie habe die Wahrheit über Jacobs Tod aufgedeckt und Eleanor werde ihm und seinen Gefährten nichts mehr anhaben können.

Würde er ihr Bedürfnis nach seiner Unterstützung zu schätzen wissen? Sie hoffte inständig, es möge so sein. Ihr Herz war schwer, denn sie hatte seine Unentschlossenheit gespürt, ob er selbst den Burggraben überqueren solle, wenn die Schafe und das Korn erst abgeliefert wären. Er war so standfest gewesen in seiner Weigerung, sie zu sehen, dass sie fürchtete, trotz seiner Beteuerung, an Develish zu hängen, hege er in Wahrheit die Absicht, die Bande endgültig zu lösen.

Mein teurer Freund,

in Eile schreibe ich diesen Brief, während Gyles das Nötige für euren Rückweg zusammensucht. Ich hoffe, Du wirst ihn finden und Zuversicht aus meinen Worten schöpfen, wenn die Sonne aufgeht. Ich glaube, Du hast Dich und die Jungen heimlich aus Develish entfernt, um den Frieden dort zu erhalten, und ich danke Dir dafür. Die Art, wie Jacob von uns gehen musste, tut mir unendlich leid – mir ist bekannt, wie es geschah –, aber sei versichert, er ruht in Frieden, und die Probleme, die Du vorhersahst, haben sich nicht ergeben. Niemand bezweifelt, dass sein Tod ein Unfall war oder dass Euer Unterfangen, Vorräte für Develish zu finden, ein höchst edelmütiges ist.

Ich beneide Dich um Deine Freiheit, teurer Freund, und möchte sie Dir um keinen Preis nehmen, aber gedenke der Herzen, die in Develish für Dich schlagen. Ich glaube, Du willst uns wieder verlassen, wenn Du Dein Versprechen wahr gemacht hast, uns mit Nahrung zu versorgen, aber ich bitte Dich, es nicht zu übereilen. Es wird mich schrecklich betrüben, wenn Du ein weiteres Mal nächtens zurückkehrst, um gleich wieder davonzugehen, und nur ein Wagen mit Korn bezeugt, dass Du wieder da warst. Kannst Du Dir überhaupt vorstellen, wie sehr Du vermisst wirst?

Du und ich haben so viel zusammen erreicht, und ich glaube, mein Rat erscheint Dir weise. Bitte verschwinde nicht wieder, ohne mir zu erlauben, Dir meine Gedanken mitzuteilen. Du und ich hegen seit Langem gemeinsame Träume von der Freiheit für unser Volk. Aber sie werden keine Bedeutung mehr haben, wenn Du nicht unter uns bist, sobald die Zeit gekommen ist, die Ketten zu sprengen, die uns hier festhalten. Wir sind abhängiger von Deiner Kraft, als Dir bewusst ist.

Vielleicht hältst Du Dein Leben für weniger unentbehrlich für das Anwesen als das von Ehemännern und Vätern wie Gyles Startout und John Trueblood? Wenn ja, dann befindest Du Dich im Irrtum. Ich brauche Dich sehr.

Die Deine in aller Wahrhaftigkeit,

Anne

Es dauerte eine Stunde, bis Gyles im Kontor des Verwalters nach Lady Anne schauen kam, um ihr zu sagen, dass Thaddeus wieder davongezogen war. Sie saß bei Kerzenschein und zeichnete Pläne für die Schafgehege jenseits des Burggrabens und lächelte, als er von seiner Erleichterung darüber sprach, dass seine Söhne wohlauf waren. »Ich freue mich für dich, Gyles.«

»Aber jetzt habe ich noch mehr Grund, mir Sorgen um sie zu machen, Milady. Ich habe Thaddeus von Milord of Bournes Attacke erzählt, und er hat mich mit der Nachricht schockiert, dass Milord und seine Soldaten vor zwei Tagen in Holcombe gewesen sind, kaum achtundvierzig Stunden, nachdem sie sich hier davongemacht hatten. Er hat mir versichert, dass er und unsere Söhne dort nicht gesehen wurden, aber Develish wird schwer zu leiden haben, wenn er sich irrt. Bourne braucht die sechs nur in Ketten hier vorzuführen, dann seid Ihr gezwungen, ihr Leben gegen das der zweihundert auf dem Anwesen einzutauschen.«

Lady Anne überlegte. Im Tumult der Ereignisse hatte sie den garstigen Alten schon fast vergessen; doch sie zweifelte nicht daran, dass er sich an Develish rächen würde, wenn er die Möglichkeit dazu bekam. Seine Normannen von englischen Bauern davongejagt zu sehen hatte seinen Stolz arg angekratzt, und seine Gier nach dem Gold, das er in Develish wähnte, hatte sich gewiss nicht vermindert. »Wir haben ihn gen Norden abziehen sehen. Wie konnte er da so schnell nach Holcombe gelangen? Dazu haben wir vier von seinen Pferden getötet und noch mehr verwundet.«

»Aber nicht seine Zugpferde, Milady. Ich nehme an, er hat genau das getan, wovon ich Thaddeus abgeraten hatte, und einen Treiberpfad eingeschlagen. Das sind die kürzesten Verbindungen zwischen den Landstraßen, und mit genügend Männern, die sich ins Zeug legen, könnte sein Wagen das gut schaffen. Als Dieb bevorzugt er natürlich die Schleichwege. Da wird er weniger leicht entdeckt und womöglich angegriffen als auf den öffentlichen Straßen.«

»Aber wieso Holcombe?«

»Thaddeus sagt, es ist so gut wie verlassen, Milady. Er hat es vor einigen Tagen beobachtet und meint, dass nur ein paar Leibeigene auf dem Gut verblieben sind. Er hat Pferde in den Feldern gesehen, also wird Milord sie sich wohl geschnappt haben, um die verlorenen zu ersetzen. Und Waffen auch, da kein Bauer den Mut hätte, es ihm zu verwehren, wenn er sich aus der Waffenkammer ihres Herrn bedient. Ich fürchte, unser Triumph über ihn war recht kurzlebig und es wird nicht lange dauern, bis wir ihn wiedersehen – mit oder ohne Thaddeus und unseren Söhnen.«

»Hast du Thaddeus das erklärt?«

»Habe ich, und mein Angebot wiederholt, ihn zu begleiten, hab sogar vorgeschlagen, James Buckler und Adam Catchpole mitzunehmen. Mit mehr Wächtern haben wir eine bessere Chance, die Vorräte sicher nach Hause zu bringen.«

»Und was hat er geantwortet?«

»Er sagte, Ihr würdet es nicht erlauben, Milady. Die Verteidigung von Develish ist wichtiger als Schafetreiben. Er hat natürlich recht, aber Sorgen mache ich mir trotzdem.«

»Ich mir auch, Gyles. Ich hatte gehofft, dieser Tag würde glücklich enden, jetzt, wo wir wissen, dass alle sechs am Leben sind. Doch offenbar müssen wir noch eine Weile um ihr Wohlergehen fürchten.«

»Thaddeus verlässt sich aufs Wetter als Schutz, Milady. Er wollte mit mir wetten, dass die Leibeigenen aus Develish und die Schafe aus Afpedle besser mit peitschendem Regen zurechtkommen als Milord of Bourne und seine Mannen.«

Lady Anne lächelte. »Dann werde ich um Sturm beten.«

Gyles musterte sie nachdenklich. »Ihr seid schnell hinter mich getreten, Milady, als Thaddeus näher kam. Was bewog Euch zu der Annahme, er würde nicht frei sprechen, wenn er wüsste, dass Ihr da seid?«

»Er hat gefragt, ob du allein bist. Ich habe verstanden, warum, als er dir erzählte, wie er Athelhelm in Brand gesteckt hat. Er wird nicht wollen, dass es sonst noch jemandem zu Ohren kommt.«

»War das Euer Eindruck, Milady? Ich dachte, er sorgt sich vielleicht mehr darum, wie unsere Söhne hier wieder aufgenommen werden.«

Lady Anne stützte den Ellbogen auf das Schreibpult und die Wange in die Hand. Wenn sie sich je irgendwem anvertraute, dann wäre es Gyles. Seit zehn Jahren war er ihr ein väterlicher Freund und Berater, und ihre Zuneigung zu ihm und seiner Familie ging tief. Aber wie konnte sie ehrlich sein, ohne zu offenbaren, warum Thaddeus seine Söhne aus dem Anwesen entfernt hatte? Gyles wäre sehr geknickt, würde er erfahren, wie bereitwillig Ian und Olyver sich von Eleanor hatten peitschen lassen, nur um ihre Brüste berühren zu dürfen.

Sie erinnerte sich an einen Brief von Thaddeus, den Isabella ihr unbedingt hatte zeigen wollen, als sie kam, um ihr von Eleanors Schwangerschaft zu erzählen – Bitte glaube mir, dass ich all dies tue, um Deine Brüder und ihre Freunde aus dem Netz der Intrige zu befreien, und nicht, um sie noch mehr darin zu verstricken –, und dieses Motiv galt heute noch ebenso wie vor zwei Wochen.

»Du musst mir die Schuld an Thaddeus’ Heimlichtuerei geben«, sagte sie. »Ich wollte ihn nicht während Jacobs Begräbnis gehen lassen, weil ich es pietätlos gegenüber seinem Bruder fand. Wahrscheinlich kam er zurück, um sich zu vergewissern, ob ich meine Drohung wahr gemacht habe, ihn und deine Söhne als Abtrünnige anzuprangern.«

Gyles’ Blick verriet Ungläubigkeit. »Ihr seid in vielem bewandert, Milady, aber nicht darin, die Unwahrheit zu sprechen. Vielleicht wäre es besser, den Leuten zu sagen, dass er kam, um Zaumzeug zu holen und anzukündigen, dass wir mehr Schafgehege brauchen.«

»Das ist sicher weise.«

Bereits im Begriff, sich abzuwenden, überlegte er es sich doch anders. »Habe ich irgendetwas falsch gemacht, Milady, Euch in irgendeiner Weise enttäuscht, dass Ihr meint, Ihr könntet mir nicht die Wahrheit zumuten? Wenn ich Euch mit meinem Gerede von Banditen geängstigt habe, bitte ich demütigst um Vergebung. Der kleine Robert hat recht, meine Augen sind nicht mehr, was sie waren.«

Lady Anne schüttelte den Kopf. »Du bist mein engster Freund, ich würde dir mein Leben anvertrauen.« Sie blickte ihm forschend ins Gesicht. »Lass mich dir ein anderes Rätsel stellen. Würdest du die Herzensgeheimnisse deiner Frau von mir erfahren wollen, falls ich davon Kenntnis hätte?«

Gyles lächelte schief. »Dann würde ich nichts Gutes über mich zu hören bekommen.«

»Aber das wäre nicht die Wahrheit – nur flüchtige Worte aus einem Moment der Gereiztheit –, und mein Verrat wäre umso schlimmer, weil ich Ärger aufrühren würde, wo vorher keiner war.«

Gyles war viel zu scharfsinnig, um sich mit einer so banalen Erklärung abspeisen zu lassen. »Aber was, wenn der Ärger doch schon da gewesen wäre, Milady? Wäre es nicht ein größerer Verrat, nichts zu sagen, wenn man wüsste, dass man anderen durch sein Schweigen schadet?«

Lady Anne breitete entschuldigend die Arme aus und betete im Stillen, er möge nicht denken, sie habe von Eleanors Plan gewusst, Isabella Gewalt anzutun. »Ich bin noch weniger im Gedankenlesen bewandert als im Lügen, Gyles. Wenn ich wüsste, wo das Unheil lauert, würde ich es dir ganz bestimmt nicht verschweigen.«

Er quittierte ihre Worte mit einem Nicken und wandte sich zur Tür, wo er mit der Hand auf der Klinke noch einmal innehielt. »Thaddeus bat mich noch, Euch für das Bündel mit Essen zu danken. An der Art, wie es geschnürt war, erkannte er, dass es von Euch stammen musste. Er dankt Euch auch für die Kerzen, die Ihr jeden Abend ins Fenster stellt.«

Sie lächelte wieder. »Ich habe gehört, wie er sagte, es sei eine törichte Geste.«

»Er hat nur gescherzt. Ich glaube, er wusste genau, wozu sie aufgestellt sind, sobald er sie sah – wie auch ich es von Anfang an hätte begreifen sollen.«

»Was genau meinst du, Gyles?«

Er öffnete die Tür. »Als Zeichen, dass unseren Söhnen hier eine sichere Rückkehr winkt, Milady … obwohl ich mich frage, weshalb sie oder Thaddeus überhaupt einer solchen Versicherung bedürfen.«

Zwei Meilen weiter auf der Landstraße wünschte Thaddeus, er wäre so schlau gewesen, ein Packpferd mitzubringen, um das Kummet zu tragen, das ihm auf den Schultern lastete, und die fest aufgerollten Stricke, Zaumzeug und Riemen, die er quer über dem Sattel und den Schenkeln balancierte. So bedächtig Killer sich seinen Weg durch die Furchen auch suchen mochte, das Kummet scheuerte an seinem Hals, und die Rolle mit dem Zaumzeug stieß ihn bei jedem Hufschlag in die Leiste.

Der Regen, der als feines Nieseln begonnen hatte, als Thaddeus das Tal von Develish verließ, nahm an Heftigkeit zu, je weiter er und Killer gen Süden vorankamen. Beide waren so nass, als hätten sie den Burggraben durchschwommen, als sie schließlich die Lichtung erreichten, wo er und die Jungen vor vierzehn Tagen von der Landstraße abgebogen waren. Kurz erwog er, unter den Bäumen am Devil’s Brook Schutz zu suchen, aber er fürchtete, danach würden weder er noch das Ross sich wieder aufraffen können. Stattdessen biss er die Zähne zusammen und versuchte, das Unbehagen zu verdrängen, indem er an den Brief dachte, den er in Miladys Bündel gefunden hatte.

Während Gyles ihm erzählt hatte, wie die Leibeigenen von Develish Milord of Bournes Attacke abwehrten, hatte er das Brot und das Ei verschlungen. Beide schmeckten umso köstlicher, als sie schon seit Wochen nicht mehr auf seinem Speiseplan gestanden hatten; und nun waren die einzigen schmerzfreien Stellen an ihm sein halb voller Bauch und das trockene Fleckchen Haut unter seinem Kittel, das von dem Stück Pergament an seiner Brust bedeckt wurde. Ohne Licht hatte er nicht lesen können, was Milady ihm geschrieben hatte, doch er war sicher, dass ihre Worte voller Zuneigung waren, da sie ihm eigentlich gar keine Botschaft hätte senden müssen.

Gyles hatte sich bemüht, die Laterne an seiner Seite zu halten, als er zum Haus zurückging, aber Thaddeus’ Augen waren zu sehr an die Dunkelheit gewöhnt, als dass ihm das leise Schwingen eines Capes hinter Gyles’ Beinen entgangen wäre, ebenso wie die Ehrerbietung, mit der er einen kleinen, schmalen Schatten hineingeleitete.

Erst hatte er sich ein wenig verletzt gefühlt, dass Lady Anne sich vor ihm verborgen hielt, bis er sich erinnerte, dass er Gyles gefragt hatte, ob er allein sei. Auch machte er sich einen Moment Sorgen, er könne sie vielleicht verletzt haben, indem er Gyles’ Angebot, sie zu holen, ablehnte – aber dann hatte das Floß das Zaumzeug und die Stricke mit dem Bündel obendrauf herübergebracht.

»Ich hab dich beiseitetreten sehen, um sie vorzulassen«, gestand er Gyles, während er das Ei aß. »Hätte ich gewusst, dass sie hinter dir stand, hätte ich meine Ausdrucksweise gemäßigt. Ich hatte nicht vor, ihr Angst einzujagen.«

»Das hat sie erraten, und darum hat sie sich versteckt«, gab Gyles zurück. »Aber du irrst dich, wenn du denkst, dass man ihr so leicht Angst einjagen kann, Thaddeus. Milord of Bournes Hauptmann hatte klargestellt, dass die Frauen von Develish, da frei von der Pest, seinen Männern so viel wie Gold gelten würden, also hat Milady unsere Frauen und Töchter in der Kirche versammelt und sich mit einem Dolch bewaffnet, um den ersten Soldaten abzustechen, der dort hereinkommen würde. Sie wusste, sie würde dafür leiden müssen, aber sie wollte so tapfer kämpfen wie die Männer.«

Und gelitten hätte sie, sagte Thaddeus sich jetzt. Er konnte sich keinen schnelleren Weg vorstellen, ihren Mut zu brechen – und den Mut ihrer Leute –, als ihr die Kleider herunterzureißen und sie zu zwingen, sich einer Reihe von Soldaten zu unterwerfen, vor den Augen ihrer Leibeigenen. Das Gleiche würde passieren, falls er und die Jungen gefangen genommen und nach Develish gebracht würden, um am Galgen zu landen. Gyles hatte ganz recht, als er sagte, dass Milady – all ihrer Seelenstärke zum Trotz – das Anwesen lieber aufgeben würde, als zuzulassen, dass sechs ihrer Leute auf der anderen Seite des Burggrabens aufgehängt würden.

Dennoch hielt Thaddeus Gyles’ Befürchtungen eher für Schwarzseherei, denn die Wahrscheinlichkeit, dass Bourne ihr Lager am Fluss Pedle aufspürte, war nur gering. Develish war weit mehr bedroht, denn es bot Geborgenheit und Zuflucht vor dem Sturm. Wenn Thaddeus sich schon ausmalte, wie angenehm es sein musste, warm, trocken und satt in der Halle am Kamin zu sitzen, wie viel mehr würden erst Milord und seine Mannen danach gieren?

Mit plötzlicher Ungeduld verscheuchte er Bourne aus seinen Gedanken. Zu schnell gab man sich eingebildeten Ängsten hin, wenn man müde war. Drängender war das Problem, wie das Korn von ihrem Lager aus nach Develish zu befördern war. Gyles’ Vorschlag, den Wagen durch den Fluss zu ziehen, leuchtete ihm ein, obwohl die Gefahr bestand, dass das Wasser zu hoch stieg, wenn es weiter so schüttete. Er und die Pferde würden sich darin auf den Beinen halten können, aber die Jungen nicht. Sie waren noch zu schmächtig und klein von Wuchs.