In einer kleinen Stadt (Needful Things) - Stephen King - E-Book

In einer kleinen Stadt (Needful Things) E-Book

Stephen King

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Beschreibung

Eine Kleinstadt gerät außer Kontrolle

Der Zugereiste Leland Gaunt eröffnet den Laden „Needful Things“. Die Kunden finden dort Raritäten, mit denen sie ihre geheimen Sehnsüchte und Wünsche erfüllen. Aber alles hat seinen Preis: Neben einer symbolischen Bezahlung verlangt Leland von ihnen, anderen Einwohnern harmlose Streiche zu spielen. Bald schon eskaliert der Spaß, und in Castle Rock herrscht das blanke Chaos ...

• Vierter Roman des „Castle-Rock“-Zyklus
• Verfilmt mit Max von Sydow und Ed Harris

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Seitenzahl: 1289

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DAS BUCH

In der Kleinstadt Castle Rock, Maine, trieb schon Stark, das zu mörderischem Leben erwachte Pseudonym des Schriftstellers Thad Beaumont, sein Unwesen. Nun eröffnet hier eines Tages Leland Gaunt, ein Fremder von irgendwoher, seinen Laden. „Needful Things" steht auf seinem Schild, und jeder bekommt dort das, wovon er schon Ewigkeiten träumt. Doch alles hat seinen Preis – der Teufel persönlich ist in die Stadt gekommen und geht auf Seelenfang. Gaunt kennt die verborgenen Sehnsüchte und Schwächen jedes einzelnen und spannt ein kunstvolles Intrigennetz. Nach wenigen Tagen gibt es bereits den ersten Toten ...

Ein Roman aus dem „Castle Rock"-Zyklus.

„Der Roman zählt zu Stephen Kings besten Werken."

Publishers Weekly

DER AUTOR

Stephen King, 1947 in Portland, Maine, geboren, ist einer der erfolgreichsten amerikanischen Schriftsteller. Schon als Student veröffentlichte er Kurzgeschichten, sein erster Romanerfolg, Carrie, erlaubte ihm, sich nur noch dem Schreiben zu widmen. Seitdem hat er weltweit 400 Millionen Bücher in mehr als 40 Sprachen verkauft. Im November 2003 erhielt er den Sonderpreis der National Book Foundation für sein Lebenswerk.

Im Anhang an den Roman findet sich ein ausführliches Werkverzeichnis des Autors.

Inhaltsverzeichnis

Über den AutorWidmungSIE WAREN SCHON EINMAL HIERERSTER TEIL - GALA-ERÖFFNUNG
Erstes Kapitel
1234 5 6 7 8
Zweites Kapitel
1 2 3 4 5 6 7
Drittes Kapitel
1 2 3 4 5 6 7 8 9
Viertes Kapitel
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11
Fünftes Kapitel
1 2 3 4 5
Sechstes Kapitel
1 2 3 4
Siebentes Kapitel
1 2 3 4 5 6 7 8 9
Achtes Kapitel
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14
Neuntes Kapitel
1 2 3 4 5 6 7 8 9
Zehntes Kapitel
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19
Elftes Kapitel
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10
ZWEITER TEIL - SONDERANGEBOTE
Zwölftes Kapitel
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12
Dreizehntes Kapitel
1 2 3 4 5
Vierzehntes Kapitel
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10
Fünfzehntes Kapitel
1 2 3 4 5 6 7 8 9
Sechzehntes Kapitel
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16
Siebzehntes Kapitel
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33
Achtzehntes Kapitel
1 2 3 4 5 6 7 8 9
DRITTER TEIL - TOTAL-AUSVERKAUF
Neunzehntes Kapitel
1 2 3 4 5 6
Zwanzigstes Kapitel
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13
Einundzwanzigstes Kapitel
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14
Zweiundzwanzigstes Kapitel
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10
Dreiundzwanzigstes Kapitel
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18
SIE WAREN SCHON EINMAL HIER
Bonusmaterial
Der Autor Die Bücher
1. Romane 2. Kurzromane und Erzählungen 3. Der Dunkle Turm (Serie) Zusatzmaterial zu dieser Serie 4. Autobiografie 5. Unter dem Pseudonym Richard Bachman sind erschienen 6. Gemeinsam mit Peter Straub
Copyright

Für Chris Lavin – er weiß auch nicht alle Antworten, aber die, auf die es ankommt

Ladies and gentlemen, attention, please!Come in close where everyone can see!I got a tale to tell, it isn’t gonna cost a dime!And if you believe that,we’re gonna get along just fine.

– Steve Earle »Snake Oil.«

I have heard of many going astray even in thevillage streets, when the darkness was so thick youcould cut it with a knife, as the saying is ...

– Henry David Thoreau Walden

SIE WAREN SCHON EINMAL HIER

Aber klar doch. Sicher. Ein Gesicht wie Ihres vergesse ich nie.

Kommen Sie herüber, lassen Sie mich Ihre Hand schütteln! Wissen Sie, ich habe Sie schon am Gang erkannt, noch bevor ich Ihr Gesicht gesehen habe. Sie hätten sich für Ihre Rückkehr nach Castle Rock keinen besseren Tag aussuchen können. Ist das nicht ein Prachtwetter? Bald fängt die Jagdzeit an, wo die Idioten in den Wäldern auf alles schießen, was sich bewegt und nicht leuchtendes Orange trägt, und dann kommen der Schnee und die Graupelschauer – aber all das hat noch ein Weilchen Zeit. Jetzt haben wir Oktober, und in The Rock lassen wir den Oktober dauern, so lange er mag.

Für mich ist das die beste Zeit des Jahres. Der Frühling ist schön hier, aber ich ziehe jederzeit den Oktober dem Mai vor. Der Westen von Maine ist ein Landstrich, der fast in Vergessenheit gerät, wenn der Sommer den Laden dichtmacht und all die Leute von ihren Cottages am See und oben auf dem View nach New York und Massachusetts zurückgekehrt sind. Die Leute hier sehen sie Jahr für Jahr kommen und gehen – hallo, hallo, hallo; auf Wiedersehen, auf Wiedersehen, auf Wiedersehen. Es ist gut, wenn sie kommen, weil sie ihre Stadtdollars mitbringen, aber es ist auch gut, wenn sie gehen – ihre Stadtprobleme bringen sie nämlich auch mit.

Und Probleme sind es, über die ich vor allem reden möchte – können wir uns ein Weilchen hinsetzen? Am besten auf den Stufen zum Musikpavillon da drüben. Die Sonne scheint warm, und von hier, mitten im Stadtpark, kann man fast das ganze Geschäftsviertel überblicken. Sie müssen nur wegen der Splitter aufpassen. Die Stufen müssen abgeschliffen und frisch gestrichen werden. Das ist Hugh Priests Job, aber Hugh ist noch nicht dazu gekommen. Er trinkt, müssen Sie wissen. Das ist kein großes Geheimnis. In Castle Rock können die Leute Geheimnisse wahren, und sie tun es auch, aber das ist schwere Arbeit, und es ist schon lange her, seit zwischen Hugh Priest und schwerer Arbeit etwas bestand, das man als gutes Einvernehmen bezeichnen könnte.

Was das ist?

Ach, das. Also wissen Sie, mein Junge – ist das nicht ein schönes Stückchen Arbeit? Diese Zettel überall in der Stadt! Ich glaube, Wanda Hemphill (ihrem Mann Don gehört Hemphills’Market) hat die meisten davon selbst angebracht. Reißen Sie’s ab und geben Sie es mir. Seien Sie nicht so ängstlich – es hat ohnehin niemand das Recht, den Musikpavillon im Stadtpark mit Zetteln zu bepflastern.

Heiliger Strohsack! Sehen Sie sich das an! WÜRFEL UND DER TEUFEL, das steht ganz oben auf dem Zettel. In dicken, roten Buchstaben, aus denen Rauch aufsteigt, als wären die Dinger in der Hölle aufgegeben und durch Eilboten ausgeliefert. Ha! Jemand, der nicht weiß, was für ein verschlafenes kleines Nest diese Stadt ist, könnte wirklich glauben, es ginge allmählich abwärts mit uns. Aber Sie wissen ja, wie sich in einer Stadt dieser Größe die Dinge manchmal über jedes vernünftige Maß hinaus aufblähen. Und diesmal hat Reverend Willi zweifellos eine Hornisse unter der Bettdecke. Gar keine Frage. Kirchen in kleinen Städten ... nun, ich glaube, darüber brauche ich Ihnen nicht viel zu erzählen. Sie kommen miteinander aus – so einigermaßen –, aber so richtig selig miteinander sind sie nie. Eine Zeitlang geht alles friedlich vonstatten, und eines Tages ist dann der Krach wieder voll im Gange.

Aber diesmal ist es ein ziemlich heftiger Krach, und er wird mit großer Erbitterung ausgetragen. Die Katholiken, müssen Sie wissen, wollen in der Halle der Kolumbus-Ritter am anderen Ende der Stadt etwas veranstalten, das sie Kasino-Nacht nennen. Am letzten Freitag des Monats, soviel ich weiß; der Reingewinn soll für Reparaturen am Dach der Kirche verwendet werden. Das ist Our Lady of Serene Waters – Sie müssen auf der Fahrt in die Stadt daran vorbeigekommen sein, wenn Sie durch Castle View gekommen sind. Hübsche kleine Kirche, nicht wahr?

Die Kasino-Nacht war Father Brighams Idee, aber es waren die Töchter der Isabella, die den Ball aufgefangen haben und damit losgerannt sind. Vor allem Betsy Vigue. Ich nehme an, ihr gefällt die Idee, sich in ihr raffiniertestes Schwarzes zu zwängen und Karten auszuteilen oder ein Rouletterad in Bewegung zu versetzen und zu sagen: »Ihre Einsätze bitte, meine Damen und Herren. Ihre Einsätze bitte.« Aber ich glaube, sie sind alle mehr oder weniger begeistert. Es wird zwar nur um Pfennige und Groschen gespielt, völlig harmlos, aber das Gefühl, ein bißchen verrucht zu sein, ist ja auch was.

Aber für Reverend Willie ist es keineswegs harmlos, und anscheinend halten er und seine Gemeinde es für mehr als nur ein bißchen verrucht. Eigentlich heißt er Reverend William Rose; Father Brigham hat er noch nie so recht gemocht, und der Father hält von ihm auch nicht sonderlich viel. (Übrigens war es Father Brigham, der damit angefangen hat, Reverend Rose »Steamboat Willie« zu nennen, und das weiß Reverend Willie.)

Zwischen diesen beiden Medizinmännern sind schon früher die Funken geflogen. Aber diese Sache mit der Kasino-Nacht ist mehr als nur ein Funken; man könnte schon von einem Buschfeuer reden. Als Willie hörte, daß die Katholiken vorhaben, in der Halle der Kolumbus-Ritter eine Nacht lang dem Glücksspiel zu frönen, ist er in die Luft gegangen. Er hat diese WÜRFEL UND DER TEUFEL-Anschläge aus eigener Tasche bezahlt, und Wanda Hemphill und ihre Freundinnen aus dem Nähkränzchen haben sie überall angeklebt. Seitdem ist der einzige Ort, an dem die Katholiken und die Baptisten noch miteinander reden, die Leserbriefspalte in unserer kleinen Wochenzeitung, wo sie gegeneinander toben und wüten und einer dem anderen versichert, sein Weg führte stracks zur Hölle.

Schauen Sie dort hinunter, dann verstehen Sie, was ich meine. Die Frau, die gerade aus der Bank kommt, ist Nan Roberts. Ihr gehört Nan’s Luncheonette, und seit sich Pop Merrill zur ewigen Ruhe begeben hat, dürfte sie die reichste Frau der Stadt sein. Außerdem ist sie Baptistin, seit Hektor in den Windeln lag. Und aus der anderen Richtung kommt Al Gendron. Er ist so katholisch, daß neben ihm der Papst wie ein Waisenkind aussieht, und der Ire Johnny Brigham ist sein bester Freund. So, und nun schauen Sie genau hin! Sehen Sie, wie ihre Nasen hochgehen! Ha! Ist das nicht ein Schauspiel? Ich wette Dollars gegen Datteln, daß die Temperatur um zehn Grad gesunken ist, als die beiden aneinander vorbeigingen. Wie meine Mutter immer zu sagen pflegte – Leute haben mehr Spaß als sonst jemand, ausgenommen Pferde, und die merken es nicht.

Und nun schauen Sie dort hinüber. Sehen Sie den Streifenwagen, der vor dem Videoshop am Bordstein parkt? Das ist John LaPointe, der da drin sitzt. Er soll eigentlich nach Rasern Ausschau halten – im Geschäftsviertel darf man kaum mehr als Schritt fahren, müssen Sie wissen, vor allem, wenn die Schule aus ist –, aber wenn Sie genau hinschauen, dann sehen Sie, daß er in Wirklichkeit auf ein Foto starrt, das er aus seiner Brieftasche herausgeholt hat. Ich kann es zwar von hier aus nicht sehen, aber um was es sich handelt, weiß ich so genau, wie ich den Mädchennamen meiner Mutter kenne. Das ist der Schnappschuß, den Andy Clutterbuck von John und Sally Ratcliffe auf dem Rummel in Fryeburg aufgenommen hat, vor ungefähr einem Jahr. Auf diesem Foto hat John seinen Arm um sie gelegt, und sie hält den Teddy, den er für sie in der Schießbude gewonnen hat, und beide sehen so glücklich aus, als wollten sie nie mehr auseinandergehen. Aber das war damals, und heute ist heute, wie man so sagt; inzwischen ist Sally mit Lester Pratt verlobt, dem Sportlehrer von der High School. Er ist ein waschechter Baptist, genau wie sie. John hat den Schock, sie zu verlieren, noch nicht überwunden. Haben Sie mitgekriegt, wie er geseufzt hat? Er hat sich in eine ganz hübsch schwermütige Stimmung hineingesteigert. Nur ein Mann, der noch immer verliebt ist (oder sich einbildet, es zu sein), kann so abgrundtief seufzen.

Arger und Zwistigkeiten entstehen zumeist aus ganz gewöhnlichen Umständen, ist Ihnen das schon aufgefallen? Aus undramatischen Umständen. Ich zeige Ihnen ein Beispiel dafür. Sehen Sie den Mann, der da gerade die Treppe zum Gericht hinaufgeht? Nein, nicht den Mann im Anzug; das ist Dan Keeton, der Vorsitzende unseres Stadtrates. Ich meine den anderen – den Schwarzen im Overall. Das ist Eddie Warburton, der Nacht-Hausmeister der Stadtverwaltung. Beobachten Sie ihn ein paar Sekunden lang, und sehen Sie, was er tut. Da! Sehen Sie, wie er auf der obersten Stufe stehenbleibt und die Straße hinaufschaut? Ich wette weitere Dollars gegen weitere Datteln, daß es die Sunoco-Tankstelle ist, zu der er hinschaut. Die Sunoco gehört Sonny Jackett, und zwischen den beiden gibt es böses Blut, seit Eddie vor zwei Jahren seinen Wagen zu ihm gebracht hat, damit er sich das Getriebe ansieht.

Ich habe den Wagen noch genau vor Augen. Es war ein Honda Civic, nichts Besonderes. Aber für Eddie war er etwas Besonderes, weil es der erste und einzige brandneue Wagen war, den er in seinem Leben besessen hat. Und Sonny hat nicht nur Pfuscharbeit geleistet, sondern ihn obendrein noch übers Ohr gehauen. Das ist Eddies Version der Geschichte. Warburton benutzt nur seine Hautfarbe, um sich um die Bezahlung der Reparaturrechnung zu drücken – das ist Sonnys Version der Geschichte. Sie wissen, wie das so geht, nicht wahr?

Daraufhin zerrte Sonny Jackett Eddie Warburton vor Gericht. Ein Bagatellfall, sicher, aber es gab einiges Gebrüll, zuerst im Gerichtssaal und dann in der Vorhalle. Eddie behauptete, Sonny hätte ihn einen dämlichen Nigger genannt, und Sonny behauptete, nun, Nigger habe ich ihn nicht genannt, aber der Rest stimmt aufs Wort. Schließlich war keiner von beiden zufrieden. Der Richter verlangte von Eddie, daß er fünfzig Dollar ausspuckt, wozu Eddie sagte, das wären fünfzig Dollar zuviel, und Sonny sagte, das wäre bei weitem nicht genug. Und das nächste, was dann passierte, war ein Kabelbrand in Eddies neuem Auto, und es endete damit, daß Eddies Civic auf dem Schrottplatz draußen an der Town Road Nr. 5 landete. Und jetzt fährt Eddie einen ’82er Oldsmobile, der Öl verliert. Eddie hat sich nie von dem Gedanken freimachen können, daß Sonny Jackett wesentlich mehr über diesen Kabelbrand weiß, als er je zugeben würde.

Nun ja, Leute haben mehr Spaß als sonst jemand, ausgenommen Pferde, und die merken es nicht. Ist das alles nicht mehr, als Sie an einem so warmen Tag verkraften können?

Aber so ist das Leben nun einmal in einer kleinen Stadt – ob sie nun Peyton Place heißt oder Twin Peaks oder Castle Rock, es sind Leute, die Kuchen essen und Kaffee trinken und hinter vorgehaltener Hand übereinander reden. Da ist Slopey Dodd, immer ganz allein, weil sich die anderen Bälger über sein Stottern lustig machen. Da ist Myrthle Keeton, und wenn sie ein bißchen verloren und verstört aussieht, als wüßte sie nicht recht, wo sie sich befindet oder was um sie herum vorgeht, so liegt das daran, daß ihr Mann (der Typ, der eben hinter Eddie Warburton die Treppe hinaufging) in den letzten sechs Monaten oder so ein völlig anderer geworden zu sein scheint. Sehen Sie, wie verschwollen ihre Augen sind? Ich nehme an, sie hat geweint oder schlecht geschlafen oder beides. Finden Sie nicht auch?

Und dort geht Lenore Potter. Sieht aus, als käme sie direkt aus einer Hutschachtel. Wahrscheinlich auf dem Weg zu Western Auto, um nachzufragen, ob ihr spezieller organischer Dünger eingetroffen ist. Um das Haus dieser Frau herum wachsen mehr Blumen, als Carter Leberpillen hat. Und sie ist ungeheuer stolz darauf. Bei den Damen der Stadt ist sie nicht sonderlich beliebt – sie halten sie für hochnäsig, wegen ihrer Blumen und ihrer Meditiererei, und wegen der Siebzig-Dollar-Dauerwelle, die sie sich in Boston machen läßt. Die Leute halten sie für hochnäsig, und da wir gerade zusammen auf diesen splittrigen Pavillonstufen sitzen, will ich Ihnen ein Geheimnis verraten: ich glaube, sie haben recht damit.

Alles ziemlich alltäglicher Kram, werden Sie vermutlich sagen, aber nicht all unsere Probleme in Castle Rock sind alltäglich; darüber müssen Sie sich klar sein. Niemand hat Frank Dodd vergessen, den Polizisten, der hier vor zwölf Jahren überschnappte und ein paar Frauen umbrachte, und den Hund haben sie auch nicht vergessen, der sich die Tollwut holte und Joe Camber umbrachte und den alten Säufer, der ein Stück die Straße hinunter lebte. Auch den guten alten Sheriff George Bannerman hat dieser Hund umgebracht. Heute tut Alan Pangborn seine Arbeit; er ist auch ein guter Mann, aber in den Augen der Stadt kann er Big George niemals das Wasser reichen.

Auch das, was mit Reginald »Pop« Merrill passiert ist, war nichts Alltägliches. Pop war der alte Geizkragen, dem der Trödelladen gehörte. Emporium Galorium, so hieß der Laden. Stand genau da, wo jetzt die Lücke ist, auf der anderen Straßenseite. Das Haus ist vor einiger Zeit abgebrannt, aber in der Stadt gibt es Leute, die gesehen haben (oder zumindest behaupten, gesehen zu haben) und es Ihnen nach ein paar Bier im Mellow Tiger auch erzählen werden, daß es wesentlich mehr war als nur ein simples Feuer, was das Emporium Galorium zerstörte und Pop Merrill das Leben kostete.

Sein Neffe Ace behauptet, vor diesem Brand wäre seinem Onkel irgend etwas Unheimliches zugestoßen – so etwas wie aus The Twilight Zone. Natürlich war Ace nicht einmal hier, als sein Onkel ins Gras biß; er saß gerade im Gefängnis von Shawshang den Rest der vier Jahre ab, zu denen er wegen Einbruchs verurteilt worden war. (Die Leute haben schon immer gewußt, daß es mit Ace Merrill einmal ein böses Ende nehmen würde; als er zur Schule ging, war er einer der übelsten Typen, die je in dieser Stadt lebten, und es muß mindestens hundert Kinder gegeben haben, die schnell auf die andere Straßenseite überwechselten, wenn sie Ace auf sich zukommen sahen, mit den Schnallen und Reißverschlüssen, die an seiner Motorradjacke klimperten, und den Nägeln unter seinen Bergarbeiterschuhen, die aufs Pflaster dröhnten.) Dennoch glauben ihm die Leute, müssen Sie wissen; vielleicht war wirklich etwas seltsam an dem, was Pop an diesem Tag widerfahren ist, aber vielleicht ist auch das nur Gerede drüben in Nan’s Laden, bei Kaffee und Apfelkuchen.

Höchstwahrscheinlich geht es hier nicht anders zu als da, wo Sie zu Hause sind. Leute, die sich über Religion in die Haare geraten, Leute, die Fackeln schwenken, Leute, die Geheimnisse hüten, Leute, die einen Groll hegen – sogar hin und wieder eine unheimliche Geschichte wie das, was an dem Tag, an dem Pop in seinem Trödelladen umkam, passiert oder nicht passiert ist – eine Geschichte, die einem langweiligen Tag ein bißchen Würze verleiht. Castle Rock ist immer noch ein recht hübsches Städtchen, in dem man leben und es sich gutgehen lassen kann, wie es auf dem Schild am Ortseingang heißt. Die Sonne scheint hell auf den See und auf die Blätter der Bäume, und an einem klaren Tag können Sie von Castle View bis nach Vermont hinüberschauen. Die Sommergäste geraten sich wegen der Sonntagszeitungen in die Haare, und auf dem Parkplatz vom Mellow Tiger kommt es am Freitagabend oder am Samstagabend (manchmal an beiden Abenden) hin und wieder zu einer Prügelei; aber die Sommergäste reisen immer wieder ab, und auch die Prügeleien dauern nicht ewig. The Rock ist immer einer der guten Orte gewesen, und wissen Sie, was wir sagen, wenn jemand verrückt spielt? Wir sagen Er kommt darüber hinweg oder Sie kommt darüber hinweg.

Henry Beaufort zum Beispiel hat es satt, daß Hugh Priest immer, wenn er betrunken ist, gegen das Rock-Ola tritt – aber Henry wird darüber hinwegkommen. Wilma Jerzyck und Nettie Cobb sind wütend aufeinander – aber auch Nettie wird vermutlich darüber hinwegkommen, und bei Wilma Jerzyck gehört das Wütendsein einfach zum Leben. Sheriff Pangborn trauert noch immer um seine Frau und seinen jüngeren Sohn, die bei einem Unfall ums Leben kamen; das war wirklich eine Tragödie, aber mit der Zeit wird auch er darüber hinwegkommen. Polly Chalmers’ Arthritis wird und wird nicht besser – sie wird sogar schlimmer, jeden Tag ein bißchen mehr –, und sie wird vielleicht nicht darüber hinwegkommen, aber sie wird lernen, damit zu leben. Wie Millionen andere auch.

Hin und wieder geraten wir aneinander, aber meistens geht alles seinen normalen Gang. So ist es jedenfalls immer gewesen, bis jetzt. Doch nun muß ich Ihnen ein wirkliches Geheimnis verraten, mein Freund; vor allem deshalb habe ich Sie gebeten, sich zu mir zu setzen, als ich sah, daß Sie wieder in der Stadt sind. Ich glaube, uns stehen Probleme ins Haus – wirklich schwerwiegende Probleme. Ich kann es riechen, direkt hinter dem Horizont, wie ein nicht in die Jahreszeit passendes Gewitter mit vielen Blitzen. Der Streit zwischen den Baptisten und den Katholiken über die Kasino-Nacht, die Bälger, die sich über den armen Slopey und sein Stottern lustig machen, John LaPointes Fackel, Sheriff Pangborns Trauer – ich glaube, diese Dinge werden sich neben dem, was uns bevorsteht, wie ziemlich kleine Fische ausnehmen.

Sehen Sie das Haus da drüben auf der anderen Seite der Main Street? Drei Türen von der Lücke entfernt, wo früher das Emporium Galorium stand? Mit der grünen Markise davor? Ja, genau das meine ich. Die Fenster sind alle zugekalkt, weil der Laden noch nicht geöffnet ist. NEEDFUL THINGS steht auf dem Schild – aber was zum Teufel soll das heißen? Ich weiß es auch nicht, aber das ist der Ort, von dem das ungute Gefühl auszugehen scheint.

Genau von diesem Laden.

Schauen Sie noch einmal die Straße hinauf. Sehen Sie den Jungen dort? Der sein Fahrrad schiebt und aussieht, als hätte er den schönsten Tagtraum, den ein Junge jemals hatte? Verlieren Sie ihn nicht aus den Augen, mein Freund. Ich glaube, er ist es, der alles ins Rollen bringt.

Nein, ich sagte schon, ich weiß nicht, was – nicht genau. Aber beobachten Sie den Jungen. Und bleiben Sie eine Weile hier, ja? Ich habe ein sehr schlimmes Gefühl, und wenn etwas passiert, könnte es gut sein, wenn es einen Zeugen gibt.

Ich kenne den Jungen – den, der sein Fahrrad schiebt. Sie vielleicht auch. Er heißt Brian Soundso. Ich glaube, sein Dad verkauft drüben in Oxford oder South Paris Türen und Fensterläden.

Behalten Sie ihn im Auge, ich bitte Sie. Behalten Sie alles im Auge. Sie waren schon einmal hier, aber es wird sich vieles ändern.

Ich weiß es.

Ich spüre es.

Ein Unwetter braut sich zusammen.

ERSTER TEIL

GALA-ERÖFFNUNG

Erstes Kapitel

1

In einer kleinen Stadt ist die Eröffnung eines neuen Ladens so etwas wie eine Sensation.

Für Brian Rusk war es keine so große Sache wie für manche anderen Leute; seine Mutter zum Beispiel. Er hatte gehört, wie sie fast den ganzen letzten Monat mit ihrer besten Freundin Myra Evans am Telefon darüber diskutiert hatte (sie hatte ihm erklärt, daß er das nicht Klatschen nennen dürfte – Klatschen wäre eine häßliche Angewohnheit, und so etwas tat sie nicht). Die ersten Handwerker waren bei dem alten Haus, in dem zuletzt die Western Maine Realty and Insurance residiert hatte, ungefähr um die Zeit herum erschienen, als die Schule wieder anfing, und seither hatten sie dort fleißig gearbeitet. Nicht, daß jemand sich vorstellen konnte, was sie da drinnen taten; ihre erste Amtshandlung war gewesen, ein großes Schaufenster einzusetzen, und ihre zweite, es zuzukalken und damit undurchsichtig zu machen.

Vor zwei Wochen war an der Tür ein Schild aufgetaucht, das unter einem durchsichtigen Plastik-Saugnapf an einer Schnur hing.

ERÖFFNUNG DEMNÄCHST!

stand auf dem Schild.

NEEDFUL THINGS EINE NEUE ART VON LADEN »Sie werden Ihren Augen nicht trauen!«

»Wahrscheinlich nur ein weiterer Trödelladen«, hatte Brians Mutter zu Myra gesagt; dabei hatte sie auf der Couch gelegen, mit einer Hand den Hörer gehalten und mit der anderen Kirschen mit Schokoladenüberzug gegessen und sich im Fernsehen Santa Barbara angesehen. »Nur ein Trödelladen mit einem Haufen imitierter frühamerikanischer Möbel und schimmliger alter Kurbeltelefone. Da gehe ich jede Wette ein.«

Das war gewesen, kurz nachdem das neue Schaufenster eingesetzt und zugekalkt worden war, und angesichts der Gewißheit, mit der seine Mutter davon sprach, hätte Brian eigentlich nicht daran zweifeln können, daß das Thema damit erledigt war. Aber bei seiner Mutter schien kein Thema jemals erledigt zu sein. Ihre Vermutungen und Annahmen schienen so endlos zu sein wie die Probleme der Serienhelden in Santa Barbara und General Hospital.

Vergangene Woche war die erste Zeile des Schildes, das an der Tür hing, geändert worden. Jetzt lautete sie

GALA-ERÖFFNUNG 9. OKTOBER BRINGEN SIE IHRE FREUNDE MIT!

Brian war an dem neuen Laden nicht so interessiert wie seine Mutter (und einige der Lehrer; er hatte gehört, wie sie im Lehrerzimmer der Castle Rock Middle School darüber redeten, als er gerade mit dem Postdienst an der Reihe war), aber er war elf Jahre alt, und ein gesunder Elfjähriger interessiert sich für alles, was neu ist. Außerdem faszinierte ihn der Name des Ladens. Needful Things; was hatte das zu bedeuten?

Er hatte die abgeänderte erste Zeile letzten Dienstag auf dem Heimweg gelesen. An den Dienstagnachmittagen kam er spät aus der Schule. Brian war mit einer Hasenscharte geboren, und obwohl sie wegoperiert worden war, als er sieben Jahre alt war, mußte er noch immer zur Sprechtherapie gehen. Gegenüber jedermann, der ihn danach fragte, behauptete er eisern, daß er diese Stunden haßte, aber das tat er nicht. Er war heftig und hoffnungslos in Miss Ratcliffe verliebt und wartete die ganze Woche darauf, daß diese Stunde auf dem Plan stand. Der Unterricht an den Dienstagen schien tausend Jahre zu dauern, und die letzten beiden Stunden verbrachte er immer mit einem angenehmen Kribbeln im Magen.

Außer ihm waren nur vier Kinder in der Klasse, und keines von ihnen kam aus Brians Wohngegend. Darüber war er froh. Nach einer Stunde mit Miss Ratcliffe im selben Zimmer war er zu hingerissen, um an Gesellschaft Spaß zu haben. Er liebte es, den Heimweg am späten Nachmittag langsam hinter sich zu bringen, wobei er gewöhnlich sein Fahrrad schob, anstatt sich draufzusetzen, und er träumte von ihr, während in den schräg einfallenden Strahlen der Oktobersonne um ihn herum gelbe und goldfarbene Blätter herabsegelten.

Sein Weg führte ihn über den zwei Blocks langen Abschnitt der Main Street gegenüber dem Stadtpark, und an dem Tag, an dem er sah, daß auf dem Schild die Gala-Eröffnung angekündigt war, hatte er die Nase am Glas der Tür plattgedrückt, weil er zu sehen hoffte, was an die Stelle der langweiligen Schreibtische und der fadgelb gestrichenen Wände der ausgezogenen Western Maine Realty and Insurance getreten war. Aber seine Neugier blieb unbefriedigt. Eine Jalousie war angebracht und vollständig heruntergezogen worden. Brian sah nichts als das Spiegelbild seines eigenen Gesichts und seiner abschirmenden Hände.

Am Freitag, dem 4. Oktober, war in Castle Rocks Wochenzeitung, dem Call, eine Anzeige für den neuen Laden erschienen. Die Anzeige war von einer Wellenlinie umrandet, und unter dem gedruckten Text befand sich eine Zeichnung von Engeln, die Rücken an Rücken dastanden und lange Trompeten bliesen. Vom Zeitpunkt der Eröffnung, 10 Uhr, einmal abgesehen, erfuhr man aus der Anzeige nichts, was man nicht auch auf dem Schild lesen konnte, das an dem Saugnapf aufgehängt war: der Name des Ladens war Needful Things, er würde am 9. Oktober um 10 Uhr eröffnet werden, und natürlich »Sie werden Ihren Augen nicht trauen.« Es gab nicht den geringsten Hinweis darauf, welche Art von Waren der oder die Besitzer von Needful Things zu verkaufen gedachten.

Dies schien Cora Rusk erheblich zu irritieren – zumindest so stark, daß sie eines ihrer seltenen Samstagmorgen-Gespräche mit Myra führte.

»Ich werde meinen Augen bestimmt trauen«, erklärte sie. »Wenn ich diese gedrechselten Betten sehe, die angeblich zweihundert Jahre alt sind, aber bei denen Rochester, New York, auf den Rahmen gestempelt ist, was jeder sehen kann, der sich die Mühe macht, sich zu bücken und unter den Volant der Tagesdecke zu schauen, dann traue ich meinen Augen voll und ganz.«

Myra erwiderte etwas, Cora hörte zu, fischte Planters Peanuts aus der Dose, jeweils eine oder zwei auf einmal, und stopfte sie sich in den Mund. Brian und sein kleiner Bruder Sean saßen im Wohnzimmer auf dem Fußboden und sahen sich im Fernsehen Zeichentrickfilme an. Sean war völlig versunken in die Welt der Schlümpfe, aber Brian hatte sich dieser Gesellschaft kleiner blauer Leute nicht völlig hingegeben, sondern lauschte mit einem Ohr der Unterhaltung.

»So ist es!« hatte Cora Rusk noch selbstsicherer und mit noch mehr Nachdruck als üblich erklärt, nachdem Myra eine besonders bissige Bemerkung gemacht hatte. »Hohe Preise und schimmlige alte Telefone!«

Gestern, am Montag, war Brian nach der Schule mit zwei oder drei Freunden durch das Geschäftsviertel gefahren. Sie fuhren auf die dem neuen Laden gegenüberliegende Straßenseite, und er sah, daß im Laufe des Tages irgendwer eine dunkelgrüne Markise angebracht hatte. Die Vorderfront trug in weißen Buchstaben die Aufschrift NEEDFUL THINGS. Polly Chalmers, die Dame, der die Schneiderei gehörte, stand auf dem Gehsteig, die Hände auf die bewundernswert schmalen Hüften gestemmt, und betrachtete die Markise mit einem Ausdruck, in dem sich Verblüffung und Bewunderung abzuwechseln schienen.

Brian, der einiges über Markisen wußte, bewunderte sie selbst. Es war die einzige richtige Markise in der ganzen Main Street, und sie verlieh dem neuen Laden ein ganz besonders Aussehen. Das Wort »exquisit« gehörte zwar nicht zu seinem Alltagsvokabular, aber er wußte sofort, daß es in Castle Rock keinen zweiten Laden gab, der so aussah wie dieser. Durch die Markise sah er aus wie ein Laden, wie man ihn vielleicht in einer Fernsehshow sah. Im Vergleich dazu wirkte Western Auto auf der anderen Straßenseite schäbig und hinterwäldlerisch.

Als er nach Hause kam, lag seine Mutter auf dem Sofa, sah Santa Barbara, aß einen Little Debbie Creme Pie und trank Diätcola. Seine Mutter trank immer Diätcola, wenn sie sich die Nachmittagsserien anschaute. Weshalb sie das tat, wußte Brian nicht so recht, angesichts dessen, was sie damit hinunterspülte, aber er hielt es für zu gefährlich, sie danach zu fragen. Das konnte sie veranlassen, ungehalten zu werden, und wenn seine Mutter ungehalten wurde, tat man gut daran, in Deckung zu gehen.

»Hey, Ma!« sagte er, warf seine Bücher auf den Tresen und holte die Milch aus dem Kühlschrank. »Weißt du schon? Der neue Laden hat jetzt eine Markise.«

»Was ist los?« Ihre Stimme driftete aus dem Wohnzimmer herüber.

Er schenkte sich Milch ein und kam an die Schwelle. »Eine Markise«, sagte er. »An dem neuen Laden.«

Sie setzte sich auf, fand die Fernbedienung und drückte auf den Knopf, der den Ton ausschaltete. Auf dem Bildschirm redeten Al und Corinne weiter über ihre Santa Barbara-Probleme in ihrem Santa Barbara-Lieblingsrestaurant, aber nur ein Lippenleser hätte sagen können, was für Probleme das waren. »Was?« sagte sie. »An diesem Needful Things-Laden?«

»Ja«, sagte er und trank einen Schluck Milch.

»Du sollst nicht schlürfen«, sagte sie und stopfte sich den Rest ihres Schokoladenriegels in den Mund. »Das hört sich scheußlich an. Wie oft habe ich dir das schon gesagt?«

Ungefähr ebenso oft, wie du mir gesagt hast, ich sollte nicht mit vollem Mund reden, dachte Brian, aber er sagte nichts. Er hatte schon in frühen Jahren gelernt, sich mit Worten zurückzuhalten.

»Tut mir leid, Mom.«

»Was für eine Markise?«

»Eine grüne.«

»Gepreßt oder Aluminium?«

Brian, dessen Vater für die Dick Perry Siding and Door Company in South Paris Fassadenverkleidungen verkaufte, wußte genau, wovon sie sprach, aber wenn es so eine Markise gewesen wäre, dann wäre sie ihm kaum aufgefallen. Markisen aus Aluminium oder Preßmetall sah man an jeder Straßenecke. Bei fast der Hälfte der Häuser in Castle Rock beschatteten sie die Fenster.

»Weder noch«, sagte er. »Sie ist aus Stoff. Segeltuch, glaube ich. Sie ragt so weit vor, daß man darunter im Schatten stehen kann. Und sie ist gerundet, so.« Er beugte die Hände (vorsichtig, um seine Milch nicht zu verschütten) zu einem Halbkreis. »An der Vorderfront steht der Name. Sieht wirklich gut aus.«

»Das ist doch nicht zu fassen!«

Das waren die Worte, mit denen Cora gewöhnlich Erregung oder Erbitterung zum Ausdruck zu bringen pflegte. Brian trat für den Fall, daß es sich um das letztere handelte, vorsichtshalber einen Schritt rückwärts.

»Was meinst du, was es ist, Ma? Vielleicht ein Restaurant?«

»Ich habe keine Ahnung«, sagte sie und griff nach dem Princess-Telefon auf dem Beistelltisch. Um es zu erreichen, mußte sie die Katze Squeebles, die Fernsehzeitung und eine Dose Diätcola beiseiteschieben. »Aber es hört sich irgendwie faul an.«

»Mom, was bedeutet Needful Things eigentlich? Ist das so etwas wie ...«

»Stör mich jetzt nicht, Brian. Mummy hat zu tun. Im Brotkasten sind Devil Dogs, wenn du einen möchtest. Aber nur einen, sonst verdirbst du dir den Appetit aufs Abendessen.« Sie wählte bereits Myras Nummer, und gleich darauf diskutierten sie überaus angeregt über die grüne Markise.

Brian, der keinen Devil Dog wollte (er liebte seine Ma sehr, doch manchmal verdarb ihm schon das Zusehen, wie sie aß, den Appetit), setzte sich an den Küchentisch, schlug sein Mathematikbuch auf und machte sich an die Hausaufgaben. Er war ein intelligenter, gewissenhafter Junge, und die Mathematik war der einzige Teil der Hausaufgaben, den er nicht schon in der Schule erledigt hatte. Während er methodisch Kommas verschob und dividierte, lauschte er dem Teil, den seine Mutter zu dem Gespräch beitrug. Sie teilte Myra abermals mit, daß sie bald noch einen Laden haben würden, in dem stinkende alte Parfumflaschen und Bilder von den toten Verwandten irgendwelcher Leute verkauft würden, und daß es wirklich eine Schande war, wie solche Läden kämen und gingen. Da draußen gab es einfach zu viele Leute, erklärte Cora, deren Motto im Leben hieß, Geld zu kassieren und sich dann aus dem Staub zu machen. Als sie von der Markise sprach, klang es, als hätte sie jemand nur deshalb anbringen lassen, um sie zu kränken, und als wäre ihm das voll und ganz gelungen.

Ich glaube, sie denkt, jemand hätte es ihr sagen müssen, hatte Brian gedacht, während sein Bleistift über das Papier glitt, Zahlen übertrug und abrundete. Ja, genau das war es. Sie war neugierig, das war Nummer eins. Und sie war stocksauer, das war Nummer zwei. Und die Summe von beiden machte sie fast verrückt. Nun, sie würde es bald genug herausfinden. Und wenn sie es tat, würde sie ihn vielleicht in das große Geheimnis einweihen. Und wenn sie dazu zu beschäftigt war, würde er es vielleicht erfahren, indem er einem ihrer Nachmittagsgespräche mit Myra zuhörte.

Aber wie es sich ergab, fand Brian noch vor seiner Mutter oder Myra oder sonst irgend jemand in Castle Rock eine ganze Menge über Needful Things heraus.

2

Auf dem Heimweg von der Schule am Nachmittag vor der planmäßigen Eröffnung von Needful Things fuhr Brian fast überhaupt nicht auf seinem Fahrrad; er war in einen intensiven Tagtraum versunken (der nicht über seine Lippen gekommen wäre, selbst wenn man ihn mit glühenden Kohlen oder giftigen Taranteln gefoltert hätte), in dem er Miss Ratcliffe gefragt hatte, ob sie mit ihm zur Castle County Fair gehen würde, und sie zugesagt hatte.

»Danke, Brian,«, sagt Miss Ratcliffe, und Brian sieht kleine Tränen der Dankbarkeit in den Winkeln ihrer blauen Augen – Augen von so dunkler Farbe, daß sie fast gewittrig aussahen. »Ich bin – in letzter Zeit sehr traurig. Ich habe nämlich meinen Liebsten verloren.«

»Ich werde Ihnen helfen, ihn zu vergessen«, sagt Brian, und seine Stimme ist gleichzeitig rauh und zärtlich, »wenn Sie mich – Bri nennen.«

»Danke«, flüstert sie, und dann, wobei sie sich so weit vorbeugt, daß er ihr Parfum riechen kann – einen traumhaften Wildblumenduft – sagt sie: »Danke – Bri. Und da wir, zumindest heute abend, Mädchen und Junge sein werden anstatt Lehrerin und Schüler, darfst du mich – Sally nennen.«

Er ergreift ihre Hände. Schaut ihr in die Augen. »Ich bin nicht einfach irgendein Junge«, sagt er. »Ich kann Ihnen helfen, ihn zu vergessen – Sally.«

Sie scheint fast hypnotisiert zu sein von seinem unerwarteten Verständnis, seiner unerwarteten Männlichkeit; er mag zwar erst elf sein, denkt sie, aber in ihm steckt mehr von einem Mann, als in Lester je gesteckt hat! Ihre Hände umfassen die seinen fester. Ihre Gesichter kommen sich näher – näher ...

»Nein«, murmelt sie, und jetzt sind ihre Augen so groß und so nahe, daß er beinahe das Gefühl hat, in ihnen zu ertrinken, »nein, das darfst du nicht, Bri – es ist nicht recht ...«

»Es ist recht, Baby«, sagt er, und er drückt seine Lippen auf die ihren.

Nach ein paar Augenblicken löst sie sich von ihm und flüstert zärtlich ...

»He, Junge, paß gefälligst auf, wo du hintrampelst!«

Aus seinem Tagtraum herausgerissen, stellte Brian fest, daß er gerade vor Hugh Priests Pickup-Laster gewandert war.

»Entschuldigung, Mr. Priest«, sagte er, wobei er heftig errötete. Mit Hugh Priest war nicht gut Kirschen essen. Er war beim Amt für Öffentliche Arbeiten angestellt und hatte, wie es hieß, das hitzigste Temperament in ganz Castle Rock. Brian beobachtete ihn genau. Wenn er Anstalten machen sollte, aus seinem Laster auszusteigen, gedachte Brian auf sein Fahrrad zu springen und ungefähr mit Lichtgeschwindigkeit die Main Street hinunterzufahren. Er hatte nicht die Absicht, die nächsten Wochen im Krankenhaus zu verbringen, nur weil er davon geträumt hatte, mit Miss Ratcliffe zur Country Fair zu gehen.

Aber Hugh Priest hatte eine Flasche Bier zwischen den Schenkeln, im Radio sang Hank Williams jr. »High and Pressurized«, und das alles war ein bißchen zu erfreulich für eine so drastische Maßnahme wie die, an einem Dienstagnachmittag einen kleinen Jungen zusammenzuschlagen.

»Du solltest die Augen offenhalten«, sagte er, setzte die Flasche an, trank einen Schluck und starrte Brian tückisch an, »denn das nächstemal mache ich mir nicht die Mühe, anzuhalten. Dann fahre ich dich einfach über den Haufen. Da kannst du lange winseln, Bürschchen.«

Er legte den Gang ein und fuhr davon. Brian verspürte den verrückten (und gnädigerweise flüchtigen) Drang, ihm Das ist doch nicht zu fassen! nachzuschreien. Er wartete, bis der orangerote Laster in die Linden Street abgebogen war, dann setzte er seinen Weg fort. Der Tagtraum von Miss Ratcliffe war leider für heute verdorben. Hugh Priest hatte Brian in die Wirklichkeit zurückgeholt. Miss Ratcliffe hatte sich nicht mit ihrem Verlobten Lester Pratt gestritten; sie trug nach wie vor ihren Verlobungsring mit dem kleinen Brillanten und fuhr nach wie vor seinen blauen Mustang, während sie darauf wartete, daß ihr eigener Wagen aus der Werkstatt zurückkam.

Brian hatte Miss Ratcliffe und Mr. Pratt erst am Vorabend gesehen, als sie zusammen mit einem Haufen anderer Leute auf der Lower Main Street die WÜRFEL-UND-DER-TEUFEL-Anschläge an die Telegraphenmasten klebten. Sie hatten Hymnen gesungen. Die Sache war nur, daß die Katholiken auftauchten, sobald sie fertig waren, und die Zettel wieder abrissen. In gewisser Hinsicht war das ziemlich lustig – aber wenn er größer gewesen wäre, hätte Brian alles getan, was in seinen Kräften stand, um Zettel welcher Art auch immer zu beschützen, die Miss Ratcliffe mit ihren geheiligten Händen angeklebt hatte.

Brian dachte an ihre tiefblauen Augen, ihre langen Tänzerinnenbeine, und verspürte das dumpfe Erstaunen, das ihn immer überkam, wenn ihm bewußt wurde, daß im Januar aus Sally Ratcliffe, was herrlich klang, Sally Pratt werden würde, was sich für Brian anhörte, als stürzte eine dicke Frau eine kurze, harte Treppe hinunter.

Nun, dachte er, während er auf die andere Straßenseite überwechselte und dann langsam die Main Street hinunterging, vielleicht überlegt sie es sich noch anders. Unmöglich ist das nicht. Vielleicht hat Lester Pratt auch einen Autounfall, oder er bekommt einen Gehirntumor oder etwas dergleichen. Vielleicht stellt sich sogar heraus, daß er rauschgiftsüchtig ist. Miss Ratcliffe würde niemals einen Süchtigen heiraten.

Gedanken dieser Art spendeten Brian eine bizarre Art von Trost, aber sie änderten nichts an der Tatsache, daß Hugh Priest den Tagtraum kurz vor seinem Höhepunkt zerstört hatte (wo er Miss Ratcliffe küßte und sogar ihre rechte Brust berührte, während sie sich auf dem Rummelplatz im Liebestunnel befanden). Es war ohnehin ein ziemlich absurder Gedanke gewesen, daß ein elfjähriger Junge mit seiner Lehrerin einen Jahrmarkt besuchte. Miss Ratcliffe war hübsch, aber sie war auch alt. Sie hatte in der Sprechtherapie einmal erwähnt, daß sie im November vierundzwanzig würde.

Also legte Brian seinen Tagtraum vorsichtig an den Faltstellen zusammen, ungefähr so, wie ein Mann ein oft gelesenes, hochgeschätztes Dokument vorsichtig zusammenlegt, und verstaute ihn wieder auf dem Bord im Hintergrund seines Bewußtseins, auf das er gehörte. Er schickte sich an, auf sein Fahrrad zu steigen und den Rest des Heimwegs fahrend zurückzulegen.

Doch genau in diesem Moment passierte er den neuen Laden, und sein Blick fiel auf das Schild an der Tür. Etwas daran hatte sich geändert. Er hielt sein Fahrrad an und betrachtete es.

Das Schild mit den Zeilen

GALA-ERÖFFNUNG 9. OKTOBER BRINGEN SIE IHRE FREUNDE MIT!

war verschwunden. An seine Stelle war ein kleines, quadratisches Schild getreten, rote Buchstaben auf weißem Untergrund.

GEÖFFNET

stand darauf, und

GEÖFFNET

war alles, was darauf stand. Brian stand da, das Fahrrad zwischen den Beinen, betrachtete es, und sein Herz begann, ein wenig schneller zu schlagen.

Du willst doch nicht etwa hineingehen? fragte er sich. Ich meine, selbst wenn der Laden wirklich einen Tag früher aufgemacht hat, willst du doch nicht wirklich hineingehen, stimmt’s

Warum nicht? gab er sich selbst die Antwort.

Nun – weil das Schaufenster nach wie vor zugekalkt ist. Die Jalousie an der Tür ist immer noch heruntergezogen. Wenn du da hineingehst, kann alles mögliche passieren. Alles mögliche.

Klar. Zum Beispiel, daß der Typ, dem der Laden gehört, Norman Bates ist oder sonst jemand, der die Kleider seiner Mutter anzieht und seine Kunden ersticht.

Vergiß es, sagte der ängstliche Teil seines Verstandes, doch dieser Teil hörte sich an, als wüßte er bereits, daß er verloren hatte. Irgend etwas daran ist unheimlich.

Aber dann dachte Brian daran, wie er seiner Mutter davon erzählen würde. Er würde ganz lässig sagen: »Übrigens, Mom, du weißt doch, dieser neue Laden, Needful Things. Ja, er hat einen Tag früher aufgemacht. Ich war drin und habe mich umgesehen.«

Daraufhin würde sie blitzschnell mit der Fernbedienung den Ton ausschalten, das war so sicher wie das Amen in der Kirche! Sie würde alles darüber hören wollen!

Diesem Gedanken konnte Brian nicht widerstehen. Er stellte sein Fahrrad auf den Ständer, trat in den Schatten der Markise – unter ihrem Baldachin schien es mindestens fünf Grad kühler zu sein – und näherte sich der Tür von Needful Things.

Als er die Hand auf den großen, altertümlichen Messing-Türknauf legte, kam ihm der Gedanke, daß das Schild ein Irrtum sein mußte. Wahrscheinlich hatte es direkt hinter der Tür gelegen, für morgen, und jemand hatte es aus Versehen aufgehängt. Er hörte kein einziges Geräusch hinter der heruntergezogenen Jalousie; der Laden machte einen verlassenen Eindruck.

Aber nachdem er nun schon einmal so weit gekommen war, probierte er den Knauf – und er drehte sich ganz leicht unter seiner Hand. Der Riegel klickte zurück, und die Tür von Needful Things schwang auf.

3

Drinnen war es düster, aber nicht dunkel. Brian sah, daß Lichtschienen (eine Spezialität der Dick Perry Siding and Door Company) installiert worden waren, und ein paar der an den Schienen angebrachten Strahler brannten. Sie waren auf eine Reihe von Vitrinen gerichtet, die an den Wänden des großen Raumes standen. Die Vitrinen waren noch ziemlich leer. Die Strahlen ergossen ihr Licht über die wenigen Gegenstände, die in ihnen lagen.

Der Fußboden, der aus nackten Dielen bestanden hatte, als dies noch Western Maine Realty and Insurance gewesen war, war jetzt mit dickem Teppichboden bedeckt, der die Farbe von Burgunder hatte. Die Wände waren eierschalenweiß gestrichen worden. Ein dünnes Licht, so weiß wie die Wände, sickerte durch das zugekalkte Schaufenster herein.

Es ist trotzdem ein Irrtum, dachte Brian. Er hat noch nicht einmal seine Ware bekommen. Wer immer das GEÖFFNET-Schild irrtümlich an die Tür gehängt hat, hat auch irrtümlich die Tür unverschlossen gelassen. Unter diesen Umständen gebot es die Höflichkeit, die Tür wieder zuzumachen, aufs Fahrrad zu steigen und davonzufahren.

Dennoch widerstrebte es ihm, sofort wieder zu verschwinden. Schließlich sah er jetzt das Innere des neuen Ladens. Seine Mutter würde den ganzen Rest des Nachmittags mit ihm reden, wenn sie das erfuhr. Das Verrückte daran war: er wußte nicht so recht, was er sah. Da war ein halbes Dutzend

(Ausstellungsstücke)

Gegenstände in den Vitrinen, und die Strahler waren auf sie gerichtet – eine Art Generalprobe vermutlich –, aber er vermochte nicht zu sagen, was für Gegenstände es waren. Was sie nicht waren, wußte er dagegen genau – es waren keine gedrechselten Betten und keine schimmligen Kurbeltelefone.

»Hallo?« rief er unsicher, nach wie vor an der Tür stehend. »Ist jemand da?«

Er war im Begriff, den Türknauf zu ergreifen, und die Tür wieder zuzuziehen, als eine Stimme erwiderte: »Ich bin da.«

Eine hochgewachsene Gestalt – eine Gestalt, die auf den ersten Blick unvorstellbar hochgewachsen zu sein schien – kam durch eine Türöffnung hinter einer der Vitrinen. Vor der Türöffnung hing ein dunkler Samtvorhang. Brian durchzuckte ein kurzer und ziemlich heftiger Angstkrampf. Doch dann fiel das Licht von einem der Strahler auf das Gesicht des Mannes, und Brians Angst legte sich. Der Mann war ziemlich alt, und sein Gesicht war sehr gütig. Er musterte Brian interessiert und erfreut.

»Die Tür war nicht abgeschlossen«, setzte Brian an, »und da dachte ich ...«

»Natürlich ist sie nicht abgeschlossen«, sagte der hochgewachsene Mann. »Ich fand, ich könnte den Laden schon heute nachmittag für eine kurze Weile öffnen – für eine Art Vorbesichtigung. Und du bist mein allererster Kunde. Komm herein, mein Freund. Tritt ein und laß etwas von dem Glück zurück, das zu mitbringst!«

Er lächelte und streckte die Hand aus. Das Lächeln war ansteckend. Brian fühlte sich sofort zu dem Besitzer von Needful Things hingezogen. Er mußte über die Schwelle treten und in den Laden hinein, um die Hand des hochgewachsenen Mannes zu ergreifen, und er tat es ohne eine Spur von Bedenken. Die Tür schwang hinter ihm zu und verriegelte sich von selbst. Brian bemerkte es nicht. Er war viel zu sehr damit beschäftigt, zu registrieren, daß die Augen des Mannes tiefblau waren – sie hatten genau dieselbe Farbe wie die Augen von Miss Sally Ratcliffe. Sie hätten Vater und Tochter sein können.

Der Griff des hochgewachsenen Mannes war sicher und kraftvoll, aber nicht schmerzhaft. Dennoch war er irgendwie unangenehm. Irgendwie – glatt. Auf irgendeine Art zu hart.

»Ich freue mich, Sie kennenzulernen«, sagte Brian.

Diese tiefblauen Augen richteten sich auf sein Gesicht wie abgeschirmte Eisenbahnlaternen.

»Auch ich freue mich, deine Bekanntschaft zu machen«, sagte der hochgewachsene Mann, und so kam es, daß Brian Rusk den Besitzer von Needful Things früher kennenlernte als alle anderen Einwohner von Castle Rock.

4

»Mein Name ist Leland Gaunt«, sagte der hochgewachsene Mann. »Und du bist ...«

»Brian. Brian Rusk.«

»Sehr schön, Mr. Rusk. Und da du meiner erster Kunde bist, werde ich dir auf jeden Gegenstand, der dich interessiert, einen ganz speziellen Preis einräumen.«

»Danke«, sagte Brian, »aber ich glaube nicht, daß ich in einem Laden wie diesem irgend etwas kaufen kann. Ich bekomme mein Taschengeld erst am Freitag, und ...« Er warf wieder einen zweifelnden Blick auf die Vitrinen. »Und es sieht nicht so aus, als hätten Sie schon Ihre ganze Ware hereinbekommen.«

Gaunt lächelte. Seine Zähne waren schief und sahen ziemlich gelb aus in dem trüben Licht, aber Brian empfand das Lächeln trotzdem als bezaubernd, und wieder fühlte er sich fast gezwungen, es zu erwidern. »So ist es«, sagte Leland Gaunt. »Der Großteil meiner Ware, wie du es nennst, trifft erst heute abend ein. Aber ich habe schon jetzt ein paar interessante Dinge anzubieten. Schau dich um, junger Mann. Ich würde gern zumindest deine Meinung hören – und ich nehme an, du hast eine Mutter? Natürlich hast du eine. Ein netter junger Mann wie du ist bestimmt keine Waise. Habe ich recht?«

Brian nickte, noch immer lächelnd. »Ja. Mom ist jetzt zu Hause.« Ein Gedanke kam ihm. »Möchten Sie, daß ich sie herbringe?« Doch schon in dem Moment, in dem die Frage seinen Mund verlassen hatte, bedauerte er sie. Er wollte seine Mutter nicht herbringen. Morgen würde Mr. Leland Gaunt der ganzen Stadt gehören. Morgen würden seine Ma und Myra Evans damit anfangen, ihn zu betatzen, zusammen mit all den anderen Damen von Castle Rock. Brian vermutete, daß Mr. Gaunt Ende des Monats, vielleicht schon sogar Ende der Woche aufgehört haben würde, einen so seltsamen und andersartigen Eindruck zu machen, aber jetzt tat er es, jetzt gehörte er Brian Rusk und Brian Rusk allein, und Brian wollte, daß es so blieb.

Deshalb war er froh, als Mr. Gaunt eine Hand hob (die Finger waren extrem schlank und extrem lang, und Brian fiel auf, daß Zeige- und Mittelfinger genau gleich lang waren) und den Kopf schüttelte. »Keineswegs«, sagte er. »Das ist genau das, was ich nicht möchte. Sie würde bestimmt eine Freundin mitbringen wollen, nicht wahr?«

»Ja«, sagte Brian und dachte an Myra.

»Vielleicht sogar zwei Freundinnen oder drei. Nein, so ist es besser, Brian – ich darf dich doch Brian nennen?«

»Natürlich«, sagte Brian überzeugt.

»Danke. Und mich nennst du Mr. Gaunt, weil ich dir an Jahren, wenn auch vielleicht nicht an Weisheit, überlegen bin – einverstanden?«

»Geht in Ordnung.« Brian wußte nicht recht, was diese Bemerkung von Mr. Gaunt zu bedeuten hatte, aber es machte Spaß, diesen Mann reden zu hören. Und seine Augen waren wirklich toll – Brian konnte kaum den Blick von ihnen abwenden.

»Ja, so ist es viel besser.« Mr. Gaunt rieb seine langen Hände aneinander, und dabei entstand ein zischendes Geräusch. Das war etwas, worauf Brian gern verzichtet hätte. Wenn Mr. Gaunt auf diese Weise seine Hände aneinander rieb, dann hörte sich das an wie eine Schlange, die aufgeregt ist und sich überlegt, ob sie zubeißen soll. »Du wirst es deiner Mutter erzählen, ihr vielleicht sogar zeigen, was du gekauft hast, wenn du etwas kaufen solltest ...«

Brian überlegte, ob er Mr. Gaunt erzählen sollte, daß sich seine gesamte Barschaft auf grandiose einundneunzig Cents belief, und entschied sich dann dagegen.

»... und sie wird es ihren Freundinnen erzählen, und die erzählen es dann ihren Freundinnen – verstehst du, Brian? Du wirst eine bessere Reklame für mich sein, als es eine Anzeige in der Lokalzeitung jemals sein könnte. Selbst wenn ich dich dazu anheuern würde, mit Sandwichplakaten durch die Straßen zu laufen, könnte ich nicht mehr erreichen!«

»Wenn Sie meinen«, pflichtete Brian ihm bei. Er hatte keine Ahnung, was ein Sandwichplakat war, aber er war ganz sicher, daß er nie zulassen würde, daß man ihn mit so etwas herumlaufen sah. »Es würde mir wirklich Spaß machen, mich umzusehen.« Und er war zu höflich, um hinzuzufügen: Auch wenn es kaum etwas zu sehen gibt.

»Dann sieh dich um!« sagte Mr. Gaunt und deutete auf die Vitrinen. Brian stellte fest, daß er eine lange, rote Samtjacke trug. Er dachte, daß es sich dabei vielleicht um einen Hausrock handeln könnte wie in den Sherlock-Holmes-Geschichten, die er gelesen hatte. Sie sah gut aus. »Fühl dich wie zu Hause, Brian!«

Brian wanderte langsam zu der der Tür am nächsten stehenden Vitrine. Er warf einen Blick über die Schulter; er war ganz sicher, daß Mr. Gaunt ihm auf Schritt und Tritt folgen würde, aber Mr. Gaunt stand neben der Tür und beobachtete ihn leicht belustigt. Es war fast, als hätte er Brians Gedanken gelesen und herausgefunden, wie sehr es Brian zuwider war, wenn der Besitzer eines Ladens ihm auf Schritt und Tritt folgte, während er sich irgend etwas ansah. Vermutlich hatten die meisten Ladenbesitzer Angst, daß man etwas zerbrechen oder stehlen würde – oder beides.

»Laß dir Zeit«, sagte Mr. Gaunt. »Einkaufen ist ein Vergnügen, wenn man sich Zeit lassen kann, und eine Qual in den unteren Körperregionen, wenn man es nicht kann.«

»Sagen Sie, kommen Sie von irgendwo jenseits des Großen Teiches?« fragte Brian. Mr. Gaunts Art, sich auszudrücken, interessierte ihn. Sie erinnerte ihn an den alten Herrn, der Masterpiece Theatre moderierte, das sich seine Mutter gelegentlich ansah, wenn in der Fernsehzeitung stand, es wäre eine Liebesgeschichte.

»Ich«, sagte Mr. Gaunt, »komme aus Akron.«

»Liegt das in England?«

»Das liegt in Ohio«, erklärte Leland Gaunt würdevoll, und dann entblößte er seine kräftigen, unregelmäßigen Zähne zu einem sonnigen Lächeln.

Das kam Brian komisch vor, auf die gleiche Art, wie ihm manchmal der Text in Fernsehshows wie Cheers komisch vorkam. Überhaupt hatte er bei alledem das Gefühl, als wäre er in eine Fernsehshow geraten, eine, die ein wenig mysteriös war, aber nicht eigentlich beängstigend. Er mußte lachen.

Ihm blieben ein paar Sekunden, um sich Sorgen zu machen, ob er unhöflich war (vielleicht deshalb, weil seine Mutter ihm immer vorwarf, er wäre unhöflich, und Brian deshalb überzeugt war, in einem riesigen und fast unsichtbaren Spinnennetz von Benimmregeln zu leben), und dann fiel der hochgewachsene Mann in sein Gelächter ein. Die beiden lachten gemeinsam, und alles in allem konnte Brian sich nicht erinnern, jemals einen so angenehmen Nachmittag wie diesen erlebt zu haben.

»Nur zu, sieh dir alles an«, sagte Mr. Gaunt und schwenkte die Hand. »Über unsere Lebensgeschichten unterhalten wir uns ein andermal.« Also sah sich Brian alles an. In der größten Vitrine, die aussah, als böte sie bequem Platz für zwanzig oder dreißig Objekte, lagen nur fünf Dinge. Das war eine Pfeife. Daneben lag ein Foto von Elvis Presley in seiner weißen Auftrittskluft mit dem Tiger auf dem Rücken und einem roten Halstuch. The King (wie seine Mutter ihn immer nannte) hielt ein Mikrofon an die aufgeworfenen Lippen. Der dritte Gegenstand war eine Polaroidkamera. Der vierte war ein polierter Stein mit einer mit Kristallen gefüllten Aushöhlung in der Mitte. Die Kristalle fingen das Licht des Strahlers ein und blitzten und funkelten. Der fünfte war ein Holzsplitter, ungefähr so dick und lang wie einer von Brians Zeigefingern.

Er deutete auf den Stein. »Das ist eine Druse, nicht wahr?«

»So ist es. Du bist ein gebildeter junger Mann, Brian. Ich habe kleine Etiketten für die meisten meiner Objekte, aber sie sind noch nicht ausgepackt – wie der größte Teil meiner Ware. Ich werde arbeiten müssen wie der Teufel, wenn ich bis zur Eröffnung morgen früh fertig sein will.« Aber er schien sich deshalb keinerlei Sorgen zu machen und in aller Ruhe da stehenbleiben zu wollen, wo er stand.

ENDE DER LESEPROBE

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Die Originalausgabe NEEDFUL THINGS erschien bei Viking, New York

2. Auflage Vollständige deutsche Taschenbuchausgabe 10/2009 Copyright © 1991 by Stephen King Copyright © 1991 der deutschen gebundenen Ausgabe by Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg Copyright © 1993 der deutschen Taschenbuchausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich, unter Verwendung einer Illustration von © Anja Filler

eISBN: 978-3-641-03569-3V002

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