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Was kommt dabei heraus, wenn ein katholischer Priester, studierter Biologe und Theologe, vertraut mit den Grenzfragen zwischen Naturwissenschaft und Medizin einerseits, sowie Philosophie und Theologie andererseits nach Jahrzehnten im Schul- und Hochschuldienst jahrelang mit der Seelsorge in einem großen Krankenhaus betraut wird? In diesem konkreten Fall keine hochabstrakte philosophische Theorie, sondern eine ganz und gar erfahrungsorientierte und erfahrungshinterlegte Reflexion auf das menschliche Leben von seinen schutzbedürftigen Anfangs- bis zu seinen schutzbedürftigen Endphasen. Ein Buch von den im Krankenhaus erlebten Krisen und Chancen und den als Chance genutzten Krisen menschlicher Existenz. Ein Buch, in dem der Glaube mit Krankheit und Leid konfrontiert wird und sich bewähren soll, muss und kann. Ein Buch von der Hoffnung des Glaubens beim endgültigen Loslassen-Müssen und Gehen-Können aus diesem Leben, wie auch beim Start und beim geschenkten Neustart in dieses Leben. Ein Buch, das mit guten Gründen die Hoffnung, die Lebenshoffnung des Glaubens hochhält für Gesunde, Kranke und sogar Sterbende.
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Seitenzahl: 302
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2025
Alle Rechte vorbehalten
www.herder.de
Umschlaggestaltung: Verlag Herder
Umschlagmotiv: Himmelsleiter an der St.-Lamberti-Kirche in Münster
© Marc Geschonke
Satz: Barbara Herrmann, Freiburg
E-Book-Konvertierung: Newgen Publishing Europe
ISBN Print 978-3-451-39621-2
ISBN E-Book (E-Pub) 978-3-451-84621-2
Ich widme dieses Buch all denen,
die mit Hand und Fuß,
mit Sinn und Verstand,
mit Herz und Seele im Krankenhaus
ihren Gottesdienst am Menschen und
ihren Menschendienst vor Gott verrichten.
1. Vorbemerkungen
1.1 Kleine biographische Vorbemerkung
1.2 Erfahrungsorientierung
1.3 Zum Eigenwert von Seelsorge
1.4 „Kunden-Akquise“
1.5 Zu den Texten in diesem Buch
2. Geistlich-liturgische Grundvollzüge
2.1 Gebet
2.1.1 Wie und wozu Beten?
2.1.2 Gebet – vom und zum Herrn
2.2 Eucharistie
2.2.1 Brot vom Himmel und Brot für die Welt?
2.2.2 Brot-Zeit oder Kommunion als Quelle und Gipfel
2.2.3 Kommen in Herrlichkeit?
2.3 Krankenkommunion
2.3.1 Substantiell wandlungsfähig?
2.3.2 Brot vom Himmel?
2.4 Krankensalbung
2.4.1 Hoffnung, Lebenshoffnung auch über den Tod hinaus
2.4.2 Überfahrt zu neuen Ufern
2.4.3 All inclusive?
2.5 Bußsakrament oder Sakrament der Versöhnung
2.5.1 „Je ne regrette rien …“
3. Sterben im Krankenhaus und Auferstehungsglaube der Christen
3.1 Erfahrung der Nähe Gottes auch in Zeiten der Pandemie?
3.2 Überlebensstrategien
3.3 Sterbezeit als Hochzeit?
3.4 Letzte Geburtshilfe?
3.5 Transformation, nicht Deformation
3.6 Diesseits-Embryonen
3.7 Glauben im Zwielicht
3.8 Nur drei Fragen!
3.9 Fragen über Fragen
4. Glaube der „Ungläubigen“
4.1 Lebenshoffnung
4.2 Kein Hundeleben
4.3 Nichts als Mythen?
4.4 „Morgen in Jerusalem!“
4.5 Jenseits von Mumie und Plastinat
4.6 „Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch.“
5. Heilende Wirkung der Beziehung
5.1 Hundert-Tage-Fragen am Beginn des Dienstes
5.2 Beziehungen im Krankenzimmer
5.3 Wiederbelebung wörtlich
5.4 Danke, ja!
5.5 Care-Pakete
5.6 Seel-Sorge kontaminiert
5.7 Und Tschüss
6. Ethische Fragen im Krankenhaus
6.1 Todes-Urteil: Lebenslänglich?
6.2 Vom Raucherbein nichts gelernt?
6.3 Sich den Mund verbieten (lassen)?
6.4 Selbstbestimmung versus Lebensschutz? Nur die halbe Wahrheit!
6.5 Tod und Taufe
6.6 René oder mutterseelenallein
7. Engel am Krankenbett
7.1 Kunst zu(m) Hoffen
7.2 Engelgleich?
7.3 Heaven’s Angels
7.4 Die Engel am Tor oder die Fassung der Krone
8. Kirche im Krankenhaus
8.1 Herrjotts Fott?
8.2 Religions-Gemeinschaft?
8.3 Gehen oder Bleiben?
8.4 Unschuldslamm und Sündenbock
8.5 Schlagschatten
8.6 Mit Bedacht mitbedacht
8.7 Sekt statt Selters
9. Kranksein – genutzte oder vertane Zeit?
9.1 Chronos und Kairos
9.2 Strafe muss sein?
9.3 Mit Leib und Seele bei Gott
9.4 Sterblich auf Lebenszeit
9.5 Leiden als Lehren und Bürgen?
9.6 „Es wird Zeit, dass es Zeit wird!“ (J. B. Metz)
9.7 Von Zeit und Ewigkeit
Anmerkungen
Dank
Bildnachweis
1.1 Kleine biographische Vorbemerkung
Seit acht Jahren bin ich Krankenhauspfarrer am St. Franziskus-Hospital in Münster. Zuvor war ich nach der Priesterweihe ein Dutzend Jahre lang Gymnasiallehrer für die Fächer Theologie und Biologie in Recklinghausen, dann sechs Jahre lang in der Pfarrseelsorge zweier Münsterländer Dörfer und anschließend gut zwanzig Jahre lang Hochschullehrer zunächst in Freiburg, dann in Paderborn und schließlich an der RWTH in Aachen. Ein Schwerpunkt meiner Forschung waren – meinen Studienfächern Theologie, Biologie und Philosophie entsprechend – immer die Grenzfragen zwischen Philosophie, Naturwissenschaft und Theologie. Als ich in Aachen emeritiert wurde, bot mir mein Heimatbistum Münster die Stelle als Krankenhauspfarrer am St. Franziskus-Hospital in Münster an.
Natürlich wollte ich nicht die Beine hochlegen und mir nur selbst dabei zusehen, wie ich neunzig Jahre alt werde. Aber noch etwas anderes, Zufälliges, falls es Zufälle gibt, berührte mich bei diesem Angebot: In diesem Krankenhaus wurde ich selbst geboren und überdies hier von meinem eigenen Großonkel getauft. Hier schließt sich also der Kreis, aber ich hoffe, noch nicht so bald.
Außerdem dachte ich: In jedem Bett, zu dem ich gehe, liegen meine beiden Lieblingsfächer Biologie und Theologie in Personalunion als Patient1 vor mir, und da gibt es sehr oft einen auch über die Philosophie hinausgehenden Gesprächsbedarf. Und dann ist es gut, und zwar nicht nur bei Herzpatienten, zu wissen, wie dies einzigartige Organ Herz gebaut ist und in etwa funktioniert, um besser ermessen zu können, was jemand auf dem Herzen hat und was ihm am Herzen liegt. Dann ist es gut, und zwar nicht nur bei Hepatitispatienten oder Lebertransplantierten, zu wissen, wo die Leber liegt und wie sie in etwa funktioniert, um ermessen zu können, wie es sich anfühlt, wenn jemandem eine Laus oder Schlimmeres über die Leber gelaufen ist, z. B. in Form einer als ruppig empfundenen Arztauskunft oder der Vergesslichkeit einer Schwester, die vor Arbeit nicht mehr weiß, wo ihr der Kopf steht. Dann ist es gut, nicht nur bei Patienten mit Schädel-Hirntraumata, zu ahnen, wo ihnen der Kopf steht und was ihnen Kopfzerbrechen bereitet. Dann ist es gut, und gerade nicht nur bei „lupenreinen“ Katholiken oder Protestanten, theologisch auskunftsfähig zu sein über die Seele und den menschlichen Gottesbezug, um zu ermessen, was jemandem auf der Seele liegen kann, auch und gerade wenn er sich nach eigener Auskunft selber mechanistisch seelenlos und überdies gottlos fühlt.
Und noch eine biographische Kleinigkeit in Sachen Krankenhaus sei hier angemerkt. Als Student in Münster und Regensburg habe ich in doppelter Hinsicht einschneidende Erfahrungen mit dem Krankenhaus gemacht. In den vorlesungsfreien Zeiten, Semesterferien nannte man das damals auch eher provokant als zutreffend, habe ich insgesamt wohl ein ganzes Jahr als Werkstudent und Hilfspfleger im Dülmener Franz-Hospital mitgearbeitet und „learning by doing“ die Pflegeseite kennengelernt.
Und mitten im Studium erwischte mich eine Lungentuberkulose, die mir einen einjährigen Aufenthalt im Fürstabt-Gerbert-Haus, einem Lungensanatorium in St. Blasien im Schwarzwald bescherte. Dort und auch bei diversen anderen Aufenthalten in Krankenhäusern und Uni-Kliniken musste, konnte und durfte ich die Patientenseite intensiver kennenlernen. Das Kennenlernen des Krankenhauses aus der (Hilfs-) Pfleger- und der Patientenperspektive sind zwei Erfahrungen, die auch prägend für mich waren und die nun die dritte Perspektive, die des Seelsorgers, hilfreich ergänzen.
1.2 Erfahrungsorientierung
Das hier vorgelegte Buch ist keine theoretische Abhandlung über den Ist- oder den Sollzustand der Krankenhausseelsorge oder gar des Krankenhauswesens in unserem Land und kann oder will das auch nicht sein. Die Idee zu diesem Buch entstand im Verlag Herder, dem es ursprünglich um den Erfahrungsbericht eines Krankenhausseelsorgers während der Corona-Pandemie ging, und dann allgemeiner um die Frage, wie der Glaube sich angesichts von Krankheit und Leid bewähren muss und kann. Die Quellen dieses Buches sind also einzig und allein die konkreten, von mir gemachten realen Erfahrungen aus dem Alltag der Krankenhausseelsorge. Allerdings gehen sie weit über den Horizont der Corona-Pandemie und der mit ihr zunächst verbundenen Schockstarre in der Gesellschaft hinaus. Die gewünschte Erfahrungsorientierung schließt die subjektive Erkenntnis von Fehlern im System und vor allem auch von eigenen Fehlern mit ein.
Die Seelsorge im Kontext Krankenhaus bedeutet nicht unbedingt, dass hier grundsätzlich ganz andere Lebenserfahrungen zur Sprache kommen als in „normalen“ Gemeinden; denn die Menschen sind weitgehend dieselben. Wohl aber begegnet man im Hospital, da alle Menschen krank werden können, auch den Menschen, die den Weg zur Kirche oder zur Gemeinde schon lange nicht mehr oder sogar noch nie gefunden haben. Und es bedeutet wohl auch, dass vielleicht häufiger und intensiver als in Normalgemeinden eine Individualseelsorge nachgefragt wird, weil plötzlich, wenn auch ungewollt, Zeit da ist, weil das krankheitsbedingte Konfrontiert-Sein mit sich selbst und mit den im Alltag überlagerten oder aufgeschobenen Fragen und Problemen plötzlich unausweichlich wird und existentielle Fragen nach Antworten verlangen.
Die Orientierung an meinen eigenen Erfahrungen bedeutet nicht, ich wäre der Meinung, nur meine Erfahrungen seien bemerkenswert, einzigartig, mitteilens- und aufschreibenswert. Der Austausch mit Kolleginnen und Kollegen bestärkt mich immer neu in der Meinung, jeder und jede in der Krankenhausseelsorge Tätige macht bemerkenswerte und einzigartige, erschütternde und erfreuliche, ja sogar wunderbare und darum höchst mitteilenswerte Erfahrungen. Nur leider schreiben die wenigsten sie auch auf. Ich bin meinerseits auch immer wieder dankbar für und bereichert durch den Austausch der je konkreten Erfahrungen im Seelsorgeteam.
Die Erfahrungsorientierung nötigt jedem, der in der Seelsorge aktiv ist, eine Besinnung auf die Grundvollzüge des eigenen Tuns auf. Und dazu gehören im katholischen Kontext zunächst das Gespräch, aber auch das Gebet, das Bußsakrament, die Eucharistie, die Krankenkommunion und die Krankensalbung. Welche Bedeutung haben diese Grundvollzüge im Kontext der Krankenhausseelsorge? Wo, wann und warum ist es an der Zeit zu beten, sich die Versöhnung mit Gott im Bußsakrament, die Ermutigung zum Leben in Eucharistie und Krankenkommunion, den Trost und die Stärkung in den Lebenskrisen durch die Krankensalbung zusprechen zu lassen? Alle betitelten Abschnitte sind in sich geschlossen und zwingen keinen festgelegten Lesefahrplan auf. Es ist mir ein Anliegen, dass dieses an meinen konkreten Erfahrungen orientierte Buch auch für andere ein geistliches Lese- und Lebensbuch ist oder werden kann.
Die Daten und Fakten der hier geschilderten Erfahrungen sind – und mussten das auch notwendigerweise sein – samt und sonders so verfremdet, dass sichere Rückschlüsse auf Patienten, auf verwaltendes, pflegendes und ärztliches Personal nicht möglich sind. Der große Einzugsbereich, aus dem die Patienten stammen, Niedersachsen im Norden, die Niederlande im Westen, ganz Nordrhein-Westfalen und mehr, trägt auch ein wenig zur Anonymisierung der vorgetragenen Fakten bei.
1.3 Zum Eigenwert von Seelsorge
Das Krankenhaus ist auch historisch betrachtet zunächst und primär eine Einrichtung, deren Sinn und Zweck im Bereich einer der Heilung dienenden Pflege stand, die oft durch eigens dafür gegründete Orden gewährleistet wurde. Man denke an die Antoniter, die Camillianer, die Barmherzigen Brüder, die Vinzentiner mit ihren jeweiligen oft weit größeren weiblichen Zweigen und an die buchstäblich in die Hunderte gehenden der Krankenpflege gewidmeten Frauenorden. Man muss sagen: Pflege war und ist ganz überwiegend weiblich, so auch im Münsteraner St. Franziskus-Hospital, wo die Mauritzer Franziskanerinnen, gegründet 1844 in Telgte, seit 1857, also vor der Einführung der Alters-, Kranken- und Sozialversicherungen, ihren beispielhaften Dienst taten.
Erst mit einer durch Anatomie, Morphologie, Physiologie, Biochemie auch naturwissenschaftlich besser ausgestatteten Medizin tritt diese als selbständige Disziplin und als Kompetenzerweiterung ins Krankenhauswesen ein und dominiert bald – und das nicht nur und nicht immer zum Vorteil der Kranken – auch die Pflege.
Das Krankenhaus ist aber jenseits der pflegerischen und medizinischen Tätigkeitsfelder auch ein Wirtschaftsunternehmen. Und nicht selten dominiert die Betriebswirtschaft die Medizin und die Pflege gleichermaßen und drückt ihnen ihren manchmal arg monetären Stempel auf. Und jenseits der betriebswirtschaftlichen Erwägungen gibt es noch die gesundheitspolitisch-volkswirtschaftlichen Rahmenbedingungen, denen auch die Betriebswirtschaft des Krankenhauses oder der Krankenhausgesellschaft unterworfen ist und zu entsprechen hat.
In diesem durchaus hierarchischen Zuständigkeits- und Dominanzgeflecht steht die Seelsorge und hat sie sich zu bewähren und manchmal auch mühsam zu behaupten.
Kaum ein Krankenhausträger kann es sich heute noch leisten, auf das Feld der Seelsorge bzw. auf „Spiritual Care“, wie es oft mit einem den Bereich nochmals weitenden Begriff genannt wird, zu verzichten. Seelsorge bzw. Spiritual Care gehört inzwischen zu den Qualitätsmerkmalen eines Krankenhauses.
Gleichwohl untersteht auch die Seelsorge einer pflegerischen, medizinischen und betriebswirtschaftlichen Observation. Das kann sowohl der Verbesserung ihrer Qualität dienlich als auch im Sinne einer Einengung ihrer Tätigkeit hinderlich sein.
Auch in christlich-konfessionell geführten Häusern sah sich die Seelsorge in Corona-Zeiten dem überwiegend von Medizinerseite geäußerten Verdacht ausgesetzt, nur ein zusätzlicher und damit zeitweilig auszuschließender oder zumindest einzugrenzender Kontaminationsfaktor zu sein. Es ist also damit zu rechnen, dass die Schärfung und Fokussierung auf das Medizinisch-Funktionale zu einer deutlichen Einengung des Blickfeldes führen kann, das eigentlich dem ganzen Menschen gelten sollte. Dass nicht nur sie entscheidend und wichtig und also von entscheidender Wichtigkeit sind, haben manche Mediziner zum Leidwesen der Pflegenden und mancher anderen Berufsgruppen einschließlich der Seelsorge im Studium noch nicht gelernt. Manche lernen es erst in ihrer beruflichen Praxis, einige wenige vielleicht nie.
An Alltagsbeispielen zur „Vorfahrtsregelung am Krankenbett“ mag das verdeutlicht werden. Selbstverständlich wird sich jeder Seelsorger, der ein Krankenzimmer betritt, in dem gerade ein Patient mit Besuchswunsch pflegerisch betreut wird, zurückziehen und später nochmals wiederkommen. Selbstverständlich wird kein Psychoonkologe den Seelsorger und kein Seelsorger den Psychoonkologen vom Bett wegschicken, nur weil er jetzt kommt. Nicht so selbstverständlich ist es, dass eine Mitarbeiterin des Krankenhauses, die die Speisewünsche des Patienten für die nächsten Tage aufnehmen möchte und auf eine seelsorgliche Gesprächssituation trifft, ihrerseits zurücktritt und nochmals wiederkommt. Es gibt seelsorgliche Gespräche, die eine solche Unterbrechung vertragen und nachher gut fortgesetzt werden können. Aber es gibt eben auch solche Gespräche, die durch Abfragebanalitäten nachhaltig gestört und deren Intimität verletzt wird. Die Störung kann auch von dem Doktoranden ausgehen, der eine statistische Befragung im Patientenkollektiv durchführt, oder von der Reinigungskraft, die just bei der Spendung der Krankensalbung unter dem Bett durchwischen, oder von dem Techniker, der während der Krankenkommunion den Bedside-Fernseher auswechseln möchte.
Ja es gibt, gottlob, auch die Chefärzte, die nicht wie ein unabwendbares Naturereignis hereinrauschen und für alles andere, was sich im Krankenzimmer und am Krankenbett gerade ereignet, den Reset-Knopf drücken, nur weil sie jetzt da sind.
Bei solchen betriebsbedingten Kollisionen wäre eine kurze in Sekundenschnelle mögliche Verständigung zwischen Seelsorger und Pflegekraft oder Seelsorgerin und Arzt oder Seelsorgerin und Techniker sinnvoll, ob eine solche Unterbrechung tolerabel ist oder nicht. Es hat auch etwas mit dem Respekt vor den Bedürfnissen des Patienten und mit dem Respekt vor der Tätigkeit der Seelsorgerin zu tun, dass das seelsorgliche Gespräch am Krankenbett nicht zur Knautschzone der sonstigen krankenhaustypischen Abläufe und Vorgänge wird. Hier sollte sich die Seelsorge kooperativ, aber doch auch ihres Eigenwertes bewusst verhalten und den für ihr Tun notwendigen Platz er- und behalten.
1.4 „Kunden-Akquise“
Hier stellt sich zunächst die Frage, für wen der Krankenhausseelsorger oder die Krankenhausseelsorgerin zuständig ist. Das sind sicher zunächst die Patienten, dann aber auch die Angehörigen und Freunde der Patienten; denn oft sind sie durch den Tod oder die hohe Pflegebedürftigkeit oder die bleibende schwere Behinderung der ihnen nahestehenden Personen besonders betroffen und haben einen großen Gesprächsbedarf.
Dann aber gehören zur Hospitalgemeinde auch das medizinische, pflegerische und verwaltungstechnische Personal. Dienstjubiläen, Dienstantritte, Verabschiedungen, das Totengedenken für verstorbene Mitarbeiter und Patienten etc., all das wird in dem Krankenhaus, in dem ich arbeite, gemeinsam auch gottesdienstlich begangen und gefeiert. Selbstverständlich gehören auch alle Feste des Kirchenjahres wie Weihnachten, Ostern, Pfingsten, Fronleichnam etc. dazu, also alle Feste zwischen Advent und Christkönig.
Über die im Hospital tätigen oder betreuten Menschen hinaus hat sich aber auch eine kleine Personalgemeinde von außen eingefunden, die das gottesdienstliche Leben durch Musik sowie durch den Lektoren- und den Kommuniondienst mitgestaltet.
Und natürlich stellt sich auch die Frage, wie und wann und warum die Seelen zum Seelsorger kommen und die Seelsorger zu den Seelen. Dazu gibt es ein böses Wort von Christian Dietrich Grabbe (1801–1836): „Wo nichts mehr helfen kann, da ruft man Pfaffen! Und das ganz folgerecht. Denn niemand hilft so wenig als ein Pfaffe.“ (Don Juan und Faust II, 1)
Das scheint nahezulegen, dass Seelsorger dann oder zumindest vermehrt dann auftauchen, wenn die Ärzte und Pfleger mit ihrem Latein am Ende sind. Das scheint nahezulegen, dass die Seelsorge zuständig ist für das Verabreichen von Trostpflästerchen, die bestenfalls eine Placebo-Wirkung haben könnten. Das könnte ein vernichtendes (Vor-)Urteil sein, wenn man nicht aus medizinischen Studien wüsste, dass in manchen Fällen die Placebo-Wirkung ähnlich groß ist wie oder sogar größer ist als die „Wirkstoff-Wirkung“. Und selbst dann, wenn die Probanden in Rechnung stellen oder mitgeteilt bekommen, dass sie ein Placebo erhalten haben, ist sehr oft noch eine positive Wirkung feststellbar.
Auch wenn der Seelsorger oder die Seelsorgerin gelegentlich noch immer erst kurz vor dem „letzten Schnaufer“ des Patienten gerufen wird, so sieht doch die Wirklichkeit, wie die Seelsorger und Seelsorgerinnen an die Seelen kommen und umgekehrt, im Krankenhausalltag erheblich anders aus.
Auf einem Fragebogen, den man beim vorgeplanten Eintritt ins Krankenhaus erhält, kann man mit einem Häkchen sein Interesse bekunden, wenn man das Gespräch mit einem Seelsorger oder einer Seelsorgerin wünscht.
Häufig werden Bitten um seelsorgliche Unterstützung von den Stationen an uns herangetragen, auch wenn dabei nicht explizit und primär ein religiöses Suchen oder eine drängende theologische Frage im Vordergrund stehen. Aber nicht selten tut sich genau das im Nachhinein auf.
Hilfreich ist auch das Nachfragen am Stationsstützpunkt, ob irgendwo bei den Patienten ein von den Pflegenden oder von der Ärzteschaft wahrgenommener Gesprächsbedarf besteht. Dabei fällt mir auf, dass es falsch-positive Angaben, es sei bei jemandem Gesprächsbedarf, der aber bei genauerer Nachfrage nicht besteht, nahezu nie gibt. Häufiger wohl gibt es falsch-negative Angaben, es gäbe bei diesem oder jenem Patienten keinen Gesprächsbedarf, der sich beim dennoch Besuchten aber dann nicht selten sogar als existentiell dringlich herausstellen kann.
Bei den falsch-negativen Patienten ist häufig die irrige Annahme der Pflegekräfte leitend, junge Patienten hätten eher kein, alte Patienten eher vermehrt ein Bedürfnis, den Seelsorger oder die Seelsorgerin zu einem Gespräch zu bitten.
Alle hauptamtlich in der Seelsorge Tätigen haben ein gemeinsam vereinbartes Kontingent von Stationen und Sonderaufgaben zur Betreuung. An den Wochenenden, vom Freitagnachmittag bis Sonntagmittag bin dann zumeist ich allein für die Seelsorge im Haus zuständig. Auch durch Reihen-Besuche in den Zimmern der jeweils zugewiesenen Station ergeben sich Gesprächskontakte zwischen Patienten und Hauptamtlichen aus der Seelsorge. Die gemachten Erfahrungen fließen in das wöchentliche Dienstgespräch der hauptamtlichen Seelsorgerinnen und Seelsorger ein.
Darüber hinaus wirken etliche vom Bistum Münster sorgfältig ausgebildete und ehrenamtlich tätige Seelsorgerinnen und Seelsorger mit, die bei den Besuchen der in Volllast mehr als 600 Patienten und angesichts der kurzen Verweildauer der Patienten im Hospital eine wichtige ergänzende und unterstützende Tätigkeit wahrnehmen.
Viele Patienten schalten den kostenlosen „Kapellen-Kanal“ ein, der die derzeit vier Gottesdienstangebote pro Woche überträgt, und sie finden so zum Kontakt mit einem Seelsorger. Manche lassen sich samstagsabends nach der Vorabendmesse zum Sonntag, die über den Kapellenkanal ausgestrahlt wird, die Krankenkommunion aufs Zimmer bringen. Die dabei mitwirkenden Kommunionausteiler, zumeist sind es drei, bringen dabei einen wochenweise wechselnden, auch graphisch ansprechend gestalteten Gebetsimpuls für die Patienten mit und nehmen bei ihrem Besuch am Krankenbett ausdrücklich zur Kenntnis, wenn ein Patient oder eine Patientin einen weiteren Kontakt zum hauptamtlichen Seelsorgepersonal wünscht und geben das weiter.
Nicht selten sind es die Angehörigen oder auch die Freunde, die um Seelsorge für die ihnen nahestehenden Patienten bitten, weil sie selbst aus Gründen der inneren oder auch äußeren Entfernung die ihnen wünschenswert erscheinende Betreuung nicht leisten können.
Darüber hinaus gibt es direkte telefonische Anfragen von stationären Patienten, die beim Eintritt ins Hospital den Seelsorge-Flyer erhalten haben, der die Fotos, die Namen und die dienstlichen Telefonnummern der in der Seelsorge Tätigen umfasst. So können Patientinnen und Patienten von sich aus zu einer seelsorglich tätigen Person ihrer Wahl Kontakt aufnehmen.
Nicht wenige Patienten, die in einem terminalen Stadium ihrer Krankheit sind und sich gut begleitet wissen von ihrem Seelsorger oder ihrer Seelsorgerin, bitten darum, auch von ihm oder ihr bestattet zu werden. Das ist grundsätzlich und in Ausnahmefällen, nicht aber als Regelfall möglich, weil ansonsten die Tätigkeitsschwerpunkte erheblich und aus der Krankenhausseelsorge heraus verschoben werden müssten.
Das wären – reichlich merkantil ausgedrückt – die Hauptwege der Angebots- und der Nachfrageakquise, die häufigsten Antworten auf die Frage, wie die Seelen zum Seelsorger kommen und umgekehrt. Die Seelsorgenden müssen sich nicht wie Klinkenputzer aufdrängen, sie sind gefragt, oft über ihre Möglichkeiten hinaus, sie werden befragt, sie sind und werden in des Wortes doppelter Bedeutung angefragt.
1.5 Zu den Texten in diesem Buch
Alle Texte sind aus den konkreten Erfahrungen, Fragen, Bedürfnissen und Hoffnungen im Krankenhaus entstanden. Da jeder Text in sich abgeschlossen lesbar und verstehbar ist, ist es problemlos möglich und steht es jedem frei, das Buch „nach eigenem Gusto querfeldein“ zu lesen.
Einige dieser Texte haben als Predigten Eingang in den Gottesdienst der Hospital-Gemeinde gefunden und versuchen die je unterschiedlichen und oft bitteren Krankheitserfahrungen in den gegebenen Grenzen generalisierend aus dem Glauben zu deuten.
Andere Texte wollen die uns manchmal fremd gewordenen geistlich-liturgischen Grundvollzüge wie Gebet, Eucharistie, Buße, Krankenkommunion und Krankensalbung als „Handwerkszeug des Glaubens“ zur Bewältigung von Krankheit und Leid neu in den Blick rücken. Denn wir sind als Glaubende Krankheit und Leid nicht nur hilf- und hoffnungslos ausgeliefert, sondern haben Deutungsspielräume, Handlungs- und Gestaltungsmöglichkeiten aus den Quellen einer christlichen Spiritualität, und die sollte man nicht zuschütten.
Wieder andere Texte artikulieren das eigene Betroffen-, das Gefordert- und manchmal auch Überfordertsein in konkreten Krankheitssituationen. Da bin ich dann manchmal nur das offene Ohr für die Hoffnung auf Gott, die Zweifel an Gott, die Anklagen gegen Gott oder die gelebte, aber auch ausdrucksbedürftige Gottlosigkeit. Und auch das bloße Hinhören verstehe ich als einen zentralen Dienst am Menschen und im Hospital; denn damit erfülle ich so etwas wie Hebammendienste. Der leidende Mensch bringt seine Lebens-, seine Leidens-, seine Liebesgeschichte zur Welt. Er formuliert seine Deutung des Erlebten und Erlittenen, weil ihm jemand zuhört. Und das alles hilft dem leidenden Menschen zur Selbstvergewisserung und zur Vergewisserung im Glauben.
Etliche Texte greifen das berechtigte Unbehagen vieler Patienten mit der konkreten Kirche auf oder bringen das verlorene Vertrauen und die enttäuschte Hoffnung gegenüber dieser in ihrem Leben oft wichtig gewesenen oder auch noch immer wichtigen Institution zur Sprache.
Wieder andere Texte nehmen Stellung zu ethischen Fragen, die in unserem und in jedem Hospital wie auch in der Gesellschaft insgesamt gestellt werden und daher auch, etwa im Rahmen des Klinischen Ethik-Komitees, beantwortet werden müssen, z. B. die nach dem Lebensschutz am Lebensanfang und am Lebensende oder auch die nach dem menschlichen Versagen in Hospital und Kirche.
Einige Texte nehmen zur Kenntnis, wie sich in Abkehr von einem Gottesglauben, wie ihn die Kirche verkündet, eine niederschwellige mit Kerzenentzünden und Engelglauben praktizierte und sehr individuell ausgestaltete Patchwork-Religiosität zu etablieren scheint.
Die ins Schlusskapitel gestellten Texte befassen sich mit möglichen Deutungen der in Krankheit verbrachten Zeit und fokussieren das Verhältnis von Zeit und Ewigkeit.
Und schließlich sind in und zwischen den Texten geistliche Impulse eingefügt, die die Leser und Leserinnen zu einem geistlichen Intermezzo einladen sollen. In allen Texten, so hoffe ich, kommt aber als grundlegende Matrix die Hoffnung auf den lebendigen und den – aller Krankheit und allem Leid zum Trotz – Leben schaffenden Gott zum Ausdruck.
Das Krankenhaus ist zugleich eine andere Welt in der Welt und doch ist das Ganze der Welt in dieser Welt. In der Krankenhauswelt werden dieselben Fragen gestellt wie auch sonst in der Welt, aber stärker fokussiert auf Bedürftigkeit, Vergeblichkeit, Gebrechlichkeit, Endlichkeit. In der Krankenhauswelt werden dieselben Hoffnungen artikuliert, aber jenseits aller nur tagesaktuellen Kleinteiligkeit stärker fokussiert auf das Gelingen und den Sinn des Ganzen menschlicher Existenz. Dieses Erfahrungsspektrum können, so hoffe ich, die hier versammelten Texte einigermaßen nachvollziehbar zum Ausdruck bringen.
Die von mir so genannten geistlich-liturgischen Grundvollzüge stehen, wenn sie nicht ausdrücklich und prioritär als solche gewünscht und erbeten werden, also in den meisten Fällen, nicht an erster Stelle. Wir fallen nicht mit der Tür geistlichen Tuns ins Haus der Lebensgeschichte des Kranken. Wir lassen uns vom Gastgeber, dem Patienten, und so wie er oder sie es möchte, die Tür öffnen ins Haus seiner Lebensgeschichte. Und er führt uns in die Räume seines Inneren, die er uns zeigen möchte.
Manche zeigen im Verlauf eines Gespräches zuerst oder überhaupt nur ihre Bibliothek oder ihr Arbeitszimmer. Sie wünschen von mir eine intellektuelle Anregung oder bieten mir eine intellektuelle Herausforderung und beginnen von sich aus mit philosophisch-theologischen Themen. Sie stellen mich als Besucher bewusst oder unbewusst erst auf die Probe meiner Hör- und Wahrnehmungsbereitschaft und meiner Auskunftsfähigkeit. Und manchmal, wenn sie Vertrauen gefasst haben, wird es existentieller und sie führen mich früher oder später in ihren persönlichen Andachtsraum.
Manche Menschen bringen dem Seelsorger gegenüber einen großen Vertrauensvorschuss mit und führen mich gleich nach unseren einander bekannt machenden Begrüßungsworten in das Wohnzimmer ihres Herzens oder ins Schlafzimmer an das Krankenlager ihres Lebens. Der Patient bestimmt, was, wann und wieviel er mir von der Wohnung seines Lebens zeigen möchte. Und er ist es, der den Wunsch nach diesen geistlich-liturgischen Grundvollzügen zum Ausdruck bringt, ich kann diesbezüglich nur ein Angebot machen.
2.1 Gebet
Im Gespräch am Krankenbett mit Patienten und Angehörigen, aber auch bei Exerzitien, die ich mit Verwaltungsangestellten, Ärzten, Pflegenden ein- bis zweimal im Jahr gestalte, wird immer wieder das Gebet thematisiert, sei es, dass man manchmal sehr innig, aber vergeblich gebetet hat, sei es, dass man grundsätzlich am Sinn des Gebetes zweifelt, sei es, dass man besondere Erfahrungen mit dem Gebet gemacht hat, sei es, dass man es für blanke Autosuggestion hält.
Nicht selten aber kommt es vor, dass, wenn bei Krankensalbungen oder Krankenkommunionen am Krankenbett das Vaterunser gebetet wird, der vielleicht erst desinteressiert erscheinende oder in den Akten als konfessionslos ausgewiesene benachbarte Patient plötzlich mitbetet. Vielleicht wird mit diesem Gebet etwas Verschüttetes wieder freigelegt oder etwas tief Verankertes wiederentdeckt oder gar daran neu angeknüpft. Nicht selten endet ein Gespräch mit dem Wunsch des Patienten: „Bitte beten sie für mich.“ Und wenn es die Situation hergibt, frage ich gern zurück, ob wir das „Beten-Füreinander“ nicht einmal hier und jetzt als „Beten-Miteinander“ versuchen sollten.
Und immer wieder lasse ich den Patienten, wenn sie es wollen, auch eine kleine DIN A6-Doppelkarte mit ein paar Bildern und Gebetsimpulsen da, manchmal mit der Bemerkung: „Wenn sie nichts damit anfangen können, machen sie eine Schwalbe daraus und lassen sie sie fliegen. Dann besteht die Hoffnung, dass sie dem- oder derjenigen zufliegt, der oder die sie brauchen kann.“ Einige dieser Gebetsimpulse füge ich hier und da in den Gang der Überlegungen und Erfahrungen ein.
2.1.1 Wie und wozu Beten?
Vor einiger Zeit rief ein Journalist von der Deutschen Welle bei mir an und meinte: „Ich würde mich freuen, wenn Sie rund zehn Minuten Zeit für mich hätten – am liebsten natürlich (wie immer bei Journalisten) so schnell wie möglich. Es geht ums Beten, wegen der bevorstehenden weltweiten Gebetswoche. Und es sollte kompetent und verständlich sein.“
Aber was sagt man auf die Schnelle, in der Kürze und mit Würze? Ein spontanes Examen vor vielen Zuhörern im Rundfunk, das gibt schon einen Adrenalinstoß. Aber eigentlich waren seine Fragen, das wurde mir da bewusst, auch genau die Fragen, mit denen ich auch am Krankenbett oft konfrontiert werde. Und das waren dann seine Fragen:
1. Was ist das Gebet der Christen?
Ich glaube, es ist im Letzten eine Lebenshaltung. Es ist die Überantwortung des eigenen Denkens, Redens und Tuns an den unfasslichen Gott, die Überantwortung an den, der mir näher ist als ich mir selbst. Und unter dieser Voraussetzung kann es überschwänglicher Jubel über das Geschenk des Lebens sein, kann es das stille und tiefe „Atemholen der Seele“ (John Henry Newman) sein, kann es aber auch Klage und Anklage vor Gott sein. Der tief verzweifelte Beter hat dann wenigstens noch eine Adresse für seine Verzweiflung, die dem, der nicht glauben kann oder will, fehlt. Der Philosoph und Essayist Ralph Waldo Emerson (1803–1882) hat es so definiert: „Das Gebet ist die Lebensbetrachtung vom höchsten Standpunkt aus.“2
2. Warum wartet Gott darauf, dass wir den Kontakt zu ihm suchen?
Ich glaube, er wartet sehnsuchtsvoll wie ein Liebender auf seine Geliebte. Er wartet, um uns Herz und Hirn und Hand zu öffnen, um uns aus unserer Enge heraus- und über uns selbst hinauszuführen. Er wartet, um mir, um uns eine Hoffnung zu schenken, die selbst am Tod nicht scheitert. Er wartet auf unsere innere Wandlung, die sich im Gebet vollziehen kann. Und wer sich dann als besserer Mensch vom Gebet erhebt, dessen Gebet ist erhört.
3. Wie sollen Menschen beten?
Ich glaube, es ist die erste Voraussetzung des Gebets, selber still zu werden, sich auf sich selbst und auf den wartenden Gott zu besinnen. Als Beter müssen wir vor allem Hörende sein. Wir sollten hinhören auf die Fragen, die in uns aufsteigen, hinhören auf die Antworten, die uns dann und wann geschenkt werden. Das Gebet kann vom Anfang bis zum Ende auch ganz ohne Worte auskommen. Aber wenn man betend zum Wort greift, dann muss es wohl ganz von innen kommen, authentisch und existentiell sein. Gewiss kann man vorformulierte Gebete nehmen, um ins Beten hineinzufinden. Aber sie sollten nicht das freie Gebet ersatzlos ablösen. Ich glaube, die vorformulierten Gebete bedürfen der freien Gebete und umgekehrt. Und das gemeinschaftliche öffentliche Gebet braucht ebenso das private individuelle Gebet wie umgekehrt.
4. Welchen Sinn haben vorformulierte Gebete wie z. B. das Vaterunser?
Vorformulierte Gebete wie das Vaterunser oder die Psalmen sind zur Sprache gewordene Gotteserfahrungen von Jahrhunderten oder Jahrtausenden. Sie bieten dem im Meer der Sinnsuche Treibenden einen sicheren Ankerplatz oder einen Hafen. Sie bewahren die lebensrettende Hoffnung auf den lebenspendenden Gott im Wort. Gott steht beim Menschen und der Mensch steht bei Gott im Wort. Andere vorformulierte Gebete, wie z. B. der so oft als spiritueller Leistungssport verkannte Rosenkranz, sind nur wie eine Leinwand, auf der die vorbeiziehenden Bilder des Heils mir aufleuchten und einleuchten können. Vielleicht sind die gottlob nicht kurzweiligen und kurzatmigen, sondern die im besten Sinne lang-weiligen und lang-atmigen Psalm- oder Rosenkranzgebete wie Sandberge, die man umschaufeln muss, um die Goldkörnchen einer existentiellen Gottesbegegnung auszuwaschen.
5. Wenn Beten eine Form von Kommunikation ist, wie passiert dann das Hören des Gläubigen, wie das Reden Gottes?
Ich glaube, Gott kann auf vielfältige Weise reden und wir Menschen können auf vielfältige Weise hören. Er spricht z. B. durch die Stimme unseres Gewissens, wie das II. Vatikanum sagt (Gaudium et spes Nr. 16). Gott spricht in den Ereignissen unseres Lebens, die wir natürlich deuten müssen, weil das nicht einfach platte und eindeutige, sondern deutungsoffene und deutungsbedürftige Tatsachen sind. Er spricht zu uns in der Begegnung mit anderen Menschen, und zwar mahnend, tröstend und ermutigend. Gott spricht, wie uns die Bibel am Beispiel des Josef mitteilt (Mt 1,20), manchmal auch verschlüsselt in unseren Träumen.
6. Lässt der unfehlbare Gott sich überhaupt von den Gebeten einfacher Menschen beeinflussen?
Warum sollte sich der allwissende Gott von den Bitten unwissender Menschen nicht beeinflussen lassen? Eine alte jüdische Weisheit sagt: Der Mensch wird des Weges geführt, den er gewählt hat. Gott respektiert sogar unsere oft in die Irre gehende Freiheit, er lässt sich auf unsere Umwege und Irrwege ein. Aber er bleibt uns als Beistand und Wegweiser an der Seite, sogar wenn unsere Wege weit abseits von den seinen liegen; ja er wird, um uns nahe zu sein, sogar Mensch. Er lässt uns unsere ins Elend führenden Erfahrungen selbst machen, aber auch, sogar im selbst gewählten Elend, die Erfahrung seiner Nähe.
7. Was ist, wenn der allmächtige Gott anders plant als der betende Mensch?
Irgendwo las ich: Entweder Gott erhört unsere Bitten, oder er weiß etwas Besseres für uns. Und meine eigene Erfahrung zeigt mir, dass mir nicht selten dort, wo meine eigenen Pläne durchkreuzt wurden, ein spezielles Lernprogramm zuteil und etwas vom Plan Gottes erahnbar wurde. Dass die, die sich alle Wünsche erfüllen können, glücklichere Menschen sind, bezweifle ich nachdrücklich. Vielleicht muss man sogar sagen: Wen Gott strafen will, dem erfüllt er alle Bitten. Matthias Claudius (1740–1815) hat das Miteinander von göttlichem Plan und menschlichem Gebet so formuliert:
Herr lass mich zu dir finden im Gebet,
dass ich mein Leben in der Tiefe schaue
und meinen Teil zu deinem Tempel baue,
der unvergänglich steht.3
Gebetsimpuls
Gott, du bist uns nahe.
Du bist uns nahe im Wort der Schrift.
Du bist uns nahe in unseren Gebeten.
Du bist uns nahe im Schrei der Not, auch der eigenen.
Du bist uns nahe in der Stille.
Du bist uns nahe in der Natur.
Du bist uns nahe in den Menschen, die uns tragen
und auch in denen, die uns zu tragen geben.
Du bist uns nahe in der Stimme unseres Gewissens.
Du bist uns näher als wir uns selbst! –
Lass uns etwas von deiner Nähe erahnen und erspüren.
Lass uns daraus Trost, Ermutigung und Stärkung gewinnen; und dann lass uns dich mitnehmen, dich, den so nahen Gott, zu denen, die dich und uns brauchen.
2.1.2 Gebet – vom und zum Herrn
Beten Sie? Manchmal, selten, nie oder doch regelmäßig? Es ist nicht so sehr von Bedeutung, was man oder wie man etwas sagt. Das viele Reden beim Gebet kann ja durchaus nichtssagend sein. Es ist nicht einmal von Bedeutung, ob man überhaupt etwas sagt; denn das Gebet kann völlig wortlos und doch vielsagend sein. Vielleicht muss das Gebet im Letzten sogar wortlos werden, um Gott ganz zu Wort kommen zu lassen und um dabei selbst ganz Ohr zu werden. Wichtig ist jenseits aller Ausdrucks- und Vollzugsformen des Gebets die im Gebet vollzogene existentielle Hingabe des Beters, die Selbstüber-Antwortung an Gott als das tiefste und hoffnungsvolle Geheimnis der Welt.
Das Herrengebet, das Vaterunser, ist am Krankenbett das immer wieder gesprochene, das allseits bekannte „Gebet schlechthin“. Vielfach ist es als Einübung in die Hoffnung oder als Auslegung der Hoffnung gedeutet worden. Gott, der Allmächtige, der Allwissende, der Allgegenwärtige und der Allgütige wird schon eingangs als „unser Vater“ angerufen, und damit wird seine unendliche Erhabenheit in eine geradezu familiäre Nähe und menschliche Intimität überführt. Dieses exemplarische Gebet hat Jesus seinen Jüngern hinterlassen, mit ihm hat er sie in sein Gottesverhältnis eingeführt und mit ihm hat er sie beten gelehrt. Durch dieses Gebet hat er den Gott des Himmels hoffnungsvoll für den Menschen „geerdet“.
Das Vaterunser weist zwei Arten von Bitten auf. Die erste Gruppe umfasst die drei Du-Bitten: Hier geht es um das Verhältnis von Gott und Welt und um das allumfassende Ziel von Welt und Geschichte, um die heilshafte Ausrichtung des Ganzen durch Gott und auf Gott hin.
1. „Geheiligt werde dein Name …“
Nur im Anruf Gottes, im Namen Gottes vollzieht sich das Heil an der Welt. Darum soll sein Name heilig gehalten werden, weil Heilung und Heiligung an sein Dasein gebunden sind, weil er das umfassende Heil schenkt. Nicht in Drei-Teufels-Namen, sondern in Gottes Namen finden wir Heilung, Heiligung und Heil.
2. „Dein Reich komme …“
Gegen alle Reiche dieser Welt, gegen alle „Tausendjährigen Reiche“, gegen alle „Heiligen Römischen Reiche Deutscher (und anderer) Nation“, gegen alle Kaiser- und Weltreiche, gegen alle Militär-, Wirtschafts- und Finanzimperien wird um das Reich gebetet, das nur Gott schenkt, indem er seine allumfassende Macht zur Entfaltung bringt. Erst Gottes Reich macht den Menschen wirklich und endgültig reich, nämlich himmelreich.
3. „Dein Wille geschehe wie im Himmel so auf Erden …“
Nicht anders, als indem der Wille Gottes geschieht, kann diese Erde dem Himmel ähnlich werden. Wo der Mensch seinen Willen absolut setzt, wo andere ihm zu Willen sein müssen, macht er diese Erde zur Hölle. Die totalitären Systeme, ganz gleich ob es nationalsozialistische oder faschistische oder marxistisch-leninistische oder stalinistische oder maoistische Systeme waren, sie alle, und leider nicht nur sie, haben eine gewaltige Blutspur durch die Geschichte gezogen. „Des Menschen Wille ist sein Himmelreich“, sagen wir sprichwörtlich. Des Menschen Wille ist nicht sein Himmelreich, sondern eher seine Hölle. Gottes Wille ist des Menschen Himmelreich.
Gottes Name, Gottes Reich, Gottes Wille sind nur die Chiffren für Gott selbst. Sie verdeutlichen uns nur die Dimensionen seiner Präsenz in dieser Welt. Um Gottes allumfassende, um Gottes Raum-Zeit umfassende Gegenwart beten wir.
Die zweite Gruppe von Bitten, die Wir-Bitten, richten sich auf das Verhältnis der Menschen untereinander, das Verhältnis von Mensch zu Mensch. Hier geht es um die alltäglichen Hoffnungen, die sonn- und werktäglichen Hoffnungen.
4. „Unser tägliches Brot gib uns heute.“
Diese Bitte umfasst mit dem Brot alles das, was wir zum biologischen Leben notwendig haben. Wenn wir Gott um dieses Brot bitten, machen wir deutlich, dass er der eigentliche Brotgeber, der Geber alles Lebensnotwendigen ist. Aber wir sollten uns auch bewusst sein, dass Gott dem Menschen das Brot durch Menschen gibt. Wer dem Mitmenschen das tägliche Brot vorenthält oder den Brotkorb hoch hängt, wer sich im Angesicht der Hungerleider selbst Lachs und Kaviar aufs Brot legt, dem sollte diese Bitte im Halse stecken bleiben; denn sie ist dann blanker Hohn. Vor der Brotbrechung in jeder Eucharistie beten wir das Vaterunser, damit, wer das eucharistische Brot empfängt, das tägliche Brot teilt.
5. „Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern.“
Direkt nach dem täglichen Brot erwähnt Jesus Christus in seinem Gebet die Schuld; denn sie ist so täglich wie das tägliche Brot. Und die tägliche wechselseitige Vergebung ist so notwendig wie das tägliche Brot. Gottes Vergebungsbereitschaft soll der Maßstab für die Vergebungsbereitschaft des Menschen sein. Wo sich die Vergebungsbereitschaft des Menschen an der Menschlichkeit Gottes orientiert, wird etwas von der Göttlichkeit des Menschen erahnbar.
6. „Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen.“
Gott ist der, der endgültig vom Bösen befreien kann. Diese Bitte umfasst personalisiert den Bösen und neutral das Böse. Fassungslos starren wir Menschen oft in die tödlichen Abgründe des Bösen. Alles, was nur irgendein krankes, abartig perverses, sadistisches Gehirn sich ausdenken kann, hat die Menschheit getan und tut sie noch immer in ihrer bestialischen Geschichte. Keine denkbare Bosheit hat sie ausgelassen. Nicht mehr in den Zwiespalt zwischen Böse und Gut zu geraten, nicht mehr auf die Probe gestellt zu sein, sondern mit Entschiedenheit das Gute zu erkennen, zu wollen und zu tun, das ist Erlösung von dem Bösen.