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Der Sophienlust Bestseller darf als ein Höhepunkt dieser Erfolgsserie angesehen werden. Denise von Schoenecker ist eine Heldinnenfigur, die in diesen schönen Romanen so richtig zum Leben erwacht. Das Kinderheim Sophienlust erfreut sich einer großen Beliebtheit und weist in den verschiedenen Ausgaben der Serie auf einen langen Erfolgsweg zurück. Denise von Schoenecker verwaltet das Erbe ihres Sohnes Nick, dem später einmal, mit Erreichen seiner Volljährigkeit, das Kinderheim Sophienlust gehören wird. Volker Lass bemerkte nicht, dass die Sonne schien und dass es Frühling wurde. Bedrückt verließ er das Städtische Krankenhaus. Die täglichen Besuche bei Melanie wurden immer schmerzvoller. Er hatte begriffen, dass es so gut wie keine Hoffnung mehr gab. Volker ging über die Fahrbahn, ohne auf die hupenden Autos zu achten. Sicher würde Dorit, seine fünf Jahre alte Tochter, wieder weinen. Sie wollte immer ihre Mutter im Krankenhaus besuchen. Bis vor einer Woche hatte er sie auch meistens mitgenommen. Sehr brav war sie an seiner Hand durch die nüchternen Gänge gelaufen. Sie war wirklich ein vernünftiges Kind und bemühte sich stets, alles recht zu machen. Er hatte sie zum Beispiel gebeten, die Mutter nicht mit Fragen zu quälen. Dorit hatte es versprochen und hatte ihr Versprechen auch gehalten. Sie hatte der Mutter von zu Hause und von den Geschwistern erzählt. Es waren meist lustige kleine Erlebnisse gewesen. Bis vor einer Woche war alles gut gegangen, und er, Volker, war stolz auf seine Tochter gewesen. Doch beim letzten Besuch hatte Dorit, ehe er es verhindern konnte, gefragt: »Warum hast du so ein dickes Gesicht, Mami?« »Du weißt doch, dass Mutti sehr krank ist«, hatte er schnell gesagt, ehe Melanie hatte antworten können. Glücklicherweise war zur gleichen Zeit eine Schwester in das Zimmer gekommen, und er hatte sie gebeten, das Kind mitzunehmen. Kaum hatte sich die Tür hinter den beiden geschlossen, hatte Melanie zu weinen angefangen.
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Seitenzahl: 148
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Volker Lass bemerkte nicht, dass die Sonne schien und dass es Frühling wurde. Bedrückt verließ er das Städtische Krankenhaus. Die täglichen Besuche bei Melanie wurden immer schmerzvoller. Er hatte begriffen, dass es so gut wie keine Hoffnung mehr gab.
Volker ging über die Fahrbahn, ohne auf die hupenden Autos zu achten. Sicher würde Dorit, seine fünf Jahre alte Tochter, wieder weinen. Sie wollte immer ihre Mutter im Krankenhaus besuchen. Bis vor einer Woche hatte er sie auch meistens mitgenommen.
Sehr brav war sie an seiner Hand durch die nüchternen Gänge gelaufen. Sie war wirklich ein vernünftiges Kind und bemühte sich stets, alles recht zu machen. Er hatte sie zum Beispiel gebeten, die Mutter nicht mit Fragen zu quälen. Dorit hatte es versprochen und hatte ihr Versprechen auch gehalten. Sie hatte der Mutter von zu Hause und von den Geschwistern erzählt. Es waren meist lustige kleine Erlebnisse gewesen.
Bis vor einer Woche war alles gut gegangen, und er, Volker, war stolz auf seine Tochter gewesen. Doch beim letzten Besuch hatte Dorit, ehe er es verhindern konnte, gefragt: »Warum hast du so ein dickes Gesicht, Mami?«
»Du weißt doch, dass Mutti sehr krank ist«, hatte er schnell gesagt, ehe Melanie hatte antworten können.
Glücklicherweise war zur gleichen Zeit eine Schwester in das Zimmer gekommen, und er hatte sie gebeten, das Kind mitzunehmen. Kaum hatte sich die Tür hinter den beiden geschlossen, hatte Melanie zu weinen angefangen. Es war das erste Mal seit Beginn ihrer Krankheit gewesen, und er hatte beschlossen, Dorit in Zukunft nicht mehr mitzubringen.
Volkers Schritte wurden jetzt langsamer. Er näherte sich seinem Haus und hatte Angst vor den Fragen der Kinder. Dorit und Christian wollten immer alles von der Mami wissen, und seine Schwester, die seit Melanies Krankheit die Kinder betreute, machte mit ihrem deutlich zur Schau getragenen Mitleid alles noch viel schlimmer. Trotzdem war er Bettina dankbar. Ohne sie hätte er nicht gewusst, was er mit den Kindern hätte machen sollen.
Das Haus, das etwas abseits der Straße lag, tauchte vor Volker Lass auf. Melanie hatte es sehr geschmackvoll eingerichtet und auch den Garten selbst bearbeitet. Jetzt kümmerte sich niemand mehr um ihn, sodass er verwilderte. Bettina hatte genug mit den drei Kindern zu tun.
Volker seufzte. Das Privatleben seiner Schwester kam wirklich zu kurz. Im Grunde war sein künftiger Schwager zu bewundern. Bettina hatte nur noch selten Zeit für ihren Verlobten. Sie opferte sich für seine Familie auf.
Wo waren die glücklichen Stunden geblieben? Sinnend sah Volker sich um. Sie hatten oft im Garten gesessen, und Dorit war mit Christian darin herumgesprungen. Er sah Melanie wieder so vor sich, wie sie noch vor einem Jahr ausgesehen hatte. Sie war hübsch und lebenslustig gewesen. Dann war ihnen noch das Wunschkind Ina geschenkt geworden. Melanies Leben war voller Sonnenschein gewesen. Sechsundzwanzig Jahre war sie jetzt erst alt. Ein ganzes Leben sollte noch vor ihr liegen, aber nun gaben ihr die Ärzte höchstens noch einen Monat.
Wie grausam das Schicksal sein konnte! Volker bedeckte sein Gesicht. Es hatte ganz harmlos angefangen. Melanie hatte oft über Müdigkeit geklagt und über Entzündungen im Mund. Plötzlich hatte dann schon die kleinste Arbeit eine gewaltige Anstrengung für sie bedeutet.
In diesem Stadium war Melanie zum Arzt gegangen. Dr. Klein hatte ihn danach in seine Praxis bestellt. Es war der schlimmste Tag in seinem Leben gewesen. Melanie hatte Leukämie. Es war unfassbar!
Lange hatte er überlegt, ob er Melanie sagen sollte, woran sie litt. Doch er hatte auf ein Wunder gehofft und geschwiegen.
Um Melanie zu entlasten, hatte er sich an Bettina gewandt und sie gebeten, eine Zeit lang seinen Haushalt zu führen. Ohne zu zögern hatte sie eingewilligt. Er ahnte, wie schwer es für Melanie gewesen war, zu sehen, wie ihr nach und nach alles aus der Hand genommen worden war. Doch sie hatte schon bald nicht mehr die kleine Ina versorgen können. Sie hatte die Tage meist auf dem Sofa im Wohnzimmer verbracht und ihren Kindern beim Spielen zugesehen. Er hatte ihr Mut zu machen versucht und war so oft wie möglich bei ihr gewesen. Seine Auslandsarbeit hatte er abgesagt.
Melanie war zunächst zweimal in der Woche zur ambulanten Behandlung in das Krankenhaus gegangen. Sie hatten sich beide daran geklammert, dass ihr die Blutübertragungen, die sie erhielt, helfen würden. Aber die Krankheit hatte sich nicht aufhalten lassen. Eines Tages hatte er seine Frau zur stationären Behandlung übergeben müssen. Es war furchtbar gewesen, denn er hatte zu ahnen begonnen, dass sie das Krankenhaus nicht mehr lebend verlassen würde.
*
»Papa! Papa!«, schrie Dorit. Mit offenem Haar kam sie aus dem Haus gestürzt. »Warst du bei Mami? Warum hast du mich nicht mitgenommen?«
Volker Lass fing seine Tochter auf und schwenkte sie durch die Luft. Er wollte sie ablenken, doch Dorit wiederholte beharrlich: »Wann darf ich endlich wieder mit zu Mami?«
»Du weißt doch, dass Mami viel Ruhe braucht.«
»Aber ich bin ganz lieb«, beteuerte die Kleine.
Volker schüttelte unbewusst den Kopf. Nein, dachte er, Dorit soll ihre Mutter so in Erinnerung behalten, wie sie vor ihrer Krankheit ausgesehen hat. Melanie hat sich in den letzten Wochen stark verändert. Die vielen Medikamente haben ihren Körper aufgedunsen und sie um Jahre älter gemacht.
Volker strich seiner Tochter, die mit traurig herabhängendem Köpfchen vor ihm stand, über das schwarze Haar. »Ich weiß, dass du ganz lieb bist«, versuchte er zu trösten. »Ich werde heute wieder Bilder von euch machen, und die bringe ich dann der Mami mit. Dann kann sie euch um sich haben, solange sie will, und es wird nicht so anstrengend für sie.«
Volker Lass war Fotojournalist. So oft wie in den letzten Wochen hatte er seine Kinder noch nie gefilmt und fotografiert. Bei jedem Besuch brachte er seiner Frau neue Bilder und Filme von den Kindern mit. Er wollte, dass sie sich nicht allein fühlte, dass sie ihre Familie immer bei sich hatte.
Christian kam nun auch angelaufen und wollte vom Vater gebührend begrüßt werden. »Ina weint«, verkündete er dann wichtig.
»Ina weint nicht, Ina brüllt«, berichtigte Dorit sofort. Sie war nur zwei Jahre älter als ihr Bruder, aber sie fühlte sich ihm sehr überlegen. Deshalb befahl sie ihm mit einem tadelnden Blick auf seine schmutzigen Hände: »Geh sofort Hände waschen! Papa will uns nachher fotografieren.«
»Fein!«, rief der kleine Bruder und stürmte davon. Als er außer Hörweite war, fragte Dorit altklug: »Geht es der Mami wirklich gut?«
Volker nickte, wich aber dem kritischen Blick der Kleinen aus.
Diese schüttelte auch sofort den Kopf und stellte fest: »Ich glaube dir nicht. Wenn es stimmt, würdest du mich wieder mitnehmen.«
»Dorit, dein Papa ist müde«, ertönte plötzlich eine Stimme, »lauf zu Christian! Du hast mir doch versprochen, mit ihm zu spielen.«
Folgsam trottete Dorit davon, und Volker sah dankbar seine Schwester an, die mit der kleinen Ina auf dem Arm in der Tür erschienen war.
»Du hast es geschafft, dir Respekt zu verschaffen«, sagte er anerkennend. Er ging an ihr vorbei und hängte mit einer müden Bewegung seinen Mantel an die Flurgarderobe. Die ausgestreckten Ärmchen der acht Monate alten Ina beachtete er gar nicht. Erst als die Kleine zu weinen anfing, wandte er sich ihr zu und nahm sie auf den Arm. Sofort fuhr Ina ihm mit beiden Patschhändchen ins Gesicht und krähte laut vor Vergnügen.
»Sie ist bereits ein sehr anspruchsvolles Persönchen«, stellte Volker fest.
»Aber auch ein kleiner Sonnenschein«, verteidigte Bettina ihre Nichte.
»Sie sollte unser Sonnenschein werden.« Volkers Miene verschattete sich wieder. »Ich hatte mir so sehr eine zweite Tochter gewünscht. Sie sollte Melanie gleichen.« Er hielt Ina etwas von sich ab. »Sie gleicht ihr auch!« Er musste sich abwenden. Schnell reichte er das Baby an Bettina zurück.
Ina war kurz vor dem Ausbruch von Melanies schrecklicher Krankheit geboren worden. Die Freude darüber war groß gewesen. Weder Dorit noch Christian hatten Eifersucht gezeigt. Stolz waren sie immer um den Stubenwagen herumgeschlichen.
»Wie geht es ihr?«, fragte Bettina leise.
»Unverändert, und ich kann ihr nicht helfen!« Tiefe Resignation klang aus Volkers Stimme. In der Tür drehte er sich noch einmal um und erklärte: »Ich glaube nicht mehr an ein Wunder.«
Bettina wollte etwas sagen, doch Volker wehrte ab. »Ich weiß, man soll den Mut nicht verlieren, aber selbst die Ärzte machen mir keine Hoffnung mehr.«
Bettina sah ihm nach, als er in sein Labor ging. Nur in der Arbeit fand er etwas Zerstreuung.
Auch Volker hat sich in den letzten Wochen verändert, dachte Bettina. Er ist so ernst und verschlossen geworden. Vorher war er ein lustiger junger Mann, der stets zu Späßen bereit war. Immer hatte er irgendwelche Anekdoten auf den Lippen, gern hatte er Freunde um sich. Oft war das Haus Schauplatz ausgelassener Partys. Melanie und er waren wie füreinander geschaffen. Warum musste das Schicksal gerade hier so grausam zuschlagen? Bettina fand keine Antwort auf diese Frage.
*
Eigentlich glaubte niemand mehr an Melanies Genesung, und doch war das Ende ein Schock für jeden.
Eines Tages wurde Volker bei der Maibacher Zeitung angerufen. Er unterhielt sich gerade mit dem Chefredakteur über eine Fotoserie. Da er nicht mehr hatte auf Reisen gehen wollen, hatte er sich wieder enger an seine Heimatzeitung angeschlossen. Diese hatte den bekannten Fotojournalisten gern aufgenommen.
Volker Lass und Dr. Schumann waren so in ihre Arbeit vertieft, dass sie unwillig aufblickten, als das Telefon klingelte. Dr. Schumann hob den Hörer ab, dann reichte er ihn wortlos an Volker weiter. Am Apparat war das Krankenhaus. Die kühle Stimme der Stationsschwester teilte dem Fotojournalisten mit, dass seine Frau nach ihm verlange.
»Schwester, ist …, geht es meiner Frau schlechter?« Volker klammerte sich an den Hörer.
»Darüber wird Ihnen der Chefarzt Auskunft geben.« Die Stimme der Schwester klang unpersönlich. Sie hatte schon zu viele Menschen sterben sehen. »Ich habe nur den Auftrag, Sie zu bitten, unverzüglich hierherzukommen.«
»Danke!« Volker legte auf. Er wich dem fragenden Blick von Dr. Schumann aus und verließ die Redaktion.
Es ging mit Melanie zu Ende. Volker brauchte keinen Arzt, der ihm dies bestätigte. Er setzte sich an das Krankenbett und starrte auf seine Frau, die bewusstlos in ihren Kissen lag. Dann schlug die Verzweiflung über ihm zusammen. Er nahm Melanies Hand, küsste sie und stammelte dabei sinnlose Worte.
Plötzlich schlug Melanie noch einmal die Augen auf. Sie bewegte die Lippen, doch ihre Stimme war nur noch ein Hauch.
Er beugte sich dicht über sie und verstand das Wort »Kinder«. Heftig nickte er. »Sie sind in den besten Händen. Du weißt doch, dass Bettina sich gut mit ihnen versteht.«
Die Sorge um die Kinder verlieh ihr Kraft. Ihre Stimme wurde deutlicher: »Bettina wird heiraten! Versprich mir, dass du die Kinder nie verlässt. Sie müssen beisammenbleiben. Sie dürfen nicht in ein Heim kommen.«
»Das würde ich niemals zulassen! Ich werde immer für unsere Kinder da sein.« Volkers Stimme schwankte. Er schämte sich nicht seiner Tränen.
Ein Lächeln verklärte Melanies Gesicht, dann schloss sie die Augen für immer.
Volker brach nicht zusammen, und doch war er fast am Ende seiner Kraft. Stundenlang irrte er durch die Straßen, ehe er nach Hause ging. Da waren die Kinder! Er hatte Melanie versprochen, sie nie im Stich zu lassen, und er würde sein Versprechen halten.
*
Das Leben ging weiter, doch die ersten Wochen und Monate nach Melanies Tod waren für Volker furchtbar. Ohne seine Kinder wäre er verzweifelt. Obwohl Melanie die letzten Monate ihres Lebens im Krankenhaus verbracht hatte, war er doch nicht ganz von ihr getrennt gewesen. Sie war da gewesen, aber jetzt war von ihr nur noch ein kleines Rechteck auf dem Friedhof geblieben
Volker besuchte das Grab oft, meist ohne seine Kinder, denn er wollte mit Melanie allein Zwiesprache halten. Die Kinder waren ihr Vermächtnis an ihn, und er war ihr dankbar dafür. Besonders Ina, die Jüngste, erinnerte ihn täglich stärker an seine Frau.
Und doch waren die Kinder ein großes Problem für Volker. Bettina versorgte sie zwar noch immer, aber Volker sah ein, dass dies keine Dauerlösung war. Bettina hatte zwar noch nie geklagt, aber er wusste, dass es wegen seiner Familie schon zu Streitigkeiten mit Bettinas Verlobten gekommen war. Die beiden hatten schon vor Monaten heiraten wollen, aber trotz des Protestes von Fred Klasen hatte Bettina die Hochzeit immer wieder hinausgeschoben. Einmal hatte sie behauptet: »Fred ist ein Egoist!«
Volker hatte nichts entgegnet, aber er konnte seinen zukünftigen Schwager verstehen. Schließlich wollte Fred sich zusammen mit Bettina ein eigenes Leben aufbauen. Trotzdem hoffte Volker von Woche zu Woche, dass Bettina noch länger bleiben würde. Bei ihr wusste er seine Kinder in guter Hut, aber wie würde es bei einer Fremden sein?
Die Kinder hingen an Bettina. Ina und Christian hatten sie in ihrer Rolle als Ersatzmutter vollkommen akzeptiert. Ina konnte sich an ihre richtige Mutter ja auch überhaupt nicht erinnern. Jetzt, da sie sprechen lernte, nannte sie Bettina Mama.
Dorit aber protestierte laut dagegen. Sie hatte ihre Mutter nicht vergessen. »Ina, du bist dumm«, schimpfte sie. »Bettina ist nur unsere Tante! Sie ist sehr lieb, aber sie ist nicht unsere Mami!«
Ina sah ihre Schwester mit großen Augen an. Sie verstand nicht, was diese meinte, und kurze Zeit danach krähte sie wieder quietschvergnügt: »Mami, hopp!«, und streckte ihre Händchen nach Bettina aus.
Bei Christian war das anders. Er konnte sich zwar kaum noch an seine Mutter erinnern, aber er wusste genau, dass Bettina seine Tante war. Und doch kam es vor, dass auch er sie Mama nannte.
Als Dorit dies wieder einmal hörte, sagte sie energisch: »Ich will nicht, dass du zu Tante Bettina Mama sagst!«
»Warum?«, erwiderte Christian trotzig. »Tante Bettina ist jetzt unsere Mama, und ich will eine Mama haben!«
»Ihr habt Mami schon lange vergessen!«, schrie Dorit. Tränen schossen ihr in die Augen. »Ihr habt die Mami überhaupt nicht lieb gehabt.« Noch ehe die Erwachsenen etwas sagen konnten, rannte sie weinend aus dem Wohnzimmer.
Volker ging ihr sofort nach. Er suchte sie im Kinderzimmer, in seinem Arbeitszimmer. Endlich wies ihm ihr Schluchzen den Weg. Dorit war ins Schlafzimmer gelaufen. Zusammengekauert hockte sie vor den Ehebetten und hatte das Bild der Mutter in den Händen.
Sanft hob Volker sein Töchterchen hoch. Dorit schmiegte sich an ihn. »Papi, warum?« Ihre Stimme zitterte. »Warum musste Mami sterben? Ich hatte sie doch so lieb.«
Volker sah auf das Foto seiner Frau, auf dem sie strahlend lächelte. Plötzlich hatte er das Gefühl, sie nickte ihm zu. Er musste eine Antwort finden.
Zögernd sagte er: »Das kann ich auch nicht sagen, mein Kleines, aber wahrscheinlich ist es so, dass der liebe Gott manche Menschen derart liebt, dass er sie bei sich haben möchte.«
»Auch meine Mami?«
»Ja, auch unsere Mami.« Um weiteren Fragen aus dem Weg zu gehen, nahm Volker Dorit bei der Hand. »Kommst du mit in mein Fotolabor? Wenn du willst, kannst du mir helfen, die Fotos zu sortieren.«
Die Tränen waren vergessen. Dorit stimmte begeistert zu, und Volker lächelte erleichtert. Er zeigte Dorit, wie Bilder entwickelt wurden, und freute sich an ihrem Interesse.
*
Die Zeit verging, Melanies Todestag jährte sich. Elisabeth Schuster hatte geduldig darauf gewartet. Ihrer Ansicht nach war nun die Zeit gekommen, Volker wieder zurück ins Leben zu führen. Er konnte doch nicht sein ganzes Leben nur mit den Kindern verbringen. Er war ein ausgezeichneter Fotojournalist, er musste wieder reisen und neue Ideen entwickeln. Dazu kam, dass er auch ein gut aussehender Mann war. Er gefiel ihr ausgezeichnet. Gleich nach ihrer Scheidung hatte sie ihr Herz für ihn entdeckt. Nur seine Frau und dann die Trauer um sie hatten sie bisher davon abgehalten, ihm dies auch zu zeigen. Jetzt aber, so fand Elisabeth, von ihren Freunden Sissi genannt, war es höchste Zeit, ihre Zurückhaltung ihm gegenüber aufzugeben.
Seit drei Jahren war sie nun geschieden, und während dieser Zeit hatte sie fast wie eine Nonne gelebt. Im Grunde war sie nie für eine Ehe gewesen, aber mit vierundzwanzig Jahren hatte sie Michael Schuster, einen jungen aufstrebenden Maler, kennengelernt. Vier Wochen später war sie mit ihm verheiratet gewesen.
Eigentlich wusste sie selbst nicht, warum sie so schnell einer Heirat zugestimmt hatte. Jedenfalls hatte sie die Atmosphäre, die Michael umgab, fasziniert. Doch der Zauber war rasch vergangen, als sie festgestellt hatte, dass Michael in ihr mehr sein Modell als seine Frau sah. Bald war es ihr langweilig geworden, ihm stundenlang Modell zu sitzen und dabei seinen Vorträgen über Licht und Farben zu lauschen.
Nein, die Ehe mit Michael war für sie in keiner Weise eine Erfüllung gewesen. Für ihn hatte es nur seine Arbeit gegeben, nur die Malerei. Ihre Arbeit, den Journalismus, hatte er als Kinderei abgetan. Nach zwei Jahren Ehe hatten sie sich so auseinandergelebt, dass selbst Michael nur in der Scheidung eine Lösung ihrer Probleme gesehen hatte. Um Abstand zu gewinnen, hatte Elisabeth ihren Heimatort verlassen, und da die Maibacher Zeitung gerade einen Journalisten gesucht hatte, hatte sie sich um diesen Posten beworben.
Hier hatte sie dann Volker Lass kennengelernt. Er war freiberuflich für große Illustrierte tätig, lieferte aber auch seiner Heimatzeitung hin und wieder eine Fotoserie. Elisabeth schrieb die Texte zu seinen Fotos, und so hatte sich zwischen ihnen bald ein nettes kollegiales Verhältnis entwickelt. Oft war Elisabeth auch Gast in seinem Haus gewesen. Nur hatte niemand geahnt, dass er der Mann ihrer Träume war. Es fehlte Elisabeth nicht an Verehrern, aber sie dachte nicht daran, einen von ihnen zu erhören. Sie träumte davon, Volker auf seinen Reisen zu begleiten. Sie wusste, dass er gern mit ihr arbeitete und sie als Kollegin voll anerkannte.
Elisabeth Schuster war eine selbstbewusste Frau. Eines Tages versuchte sie gezielt Volkers Aufmerksamkeit zu erringen. Sie hielt ihn im Büro fest und meinte: »Wenn ich jetzt ein Mann wäre, würde ich dich zu einem Bier in die Eckkneipe einladen. Ich habe Durst.«