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Jean begleitet seine Mutter zu einer Ballettaufführung, die von Zwergen überfallen wird. Eine willkommene Abwechslung für ihn. Leider beschließen Isa, Nat und Sofie ihm zu helfen und verbreiten das übliche Chaos. Knapp mit dem Leben davongekommen, wird Jean mit einer Bande konfrontiert, die vom gefährlichsten Monster angeführt wird, das er kennt: ein Monster wie er selbst. Er hat geschworen, seine dämonischen Kräfte nie einzusetzen, aber dieser Auftrag bringt ihn an seine Grenzen. Kann er ein Wesen besiegen, das absolute Kontrolle über Körper und Geist seines Opfers hat? Enthält: riesige Vögel, Rache und Blutspenden
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Impressum
Die Wächter von Magow 5: Incubussi
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Die Handlung und alle handelnden Personen sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder realen Personen wäre rein zufällig.
Er wurde schwächer. Das Blut floss aus ihm heraus. Über einen dünnen Schlauch lief es in Röhrchen, die das weißgekleidete Monster auf ein Tablett stellte. Das Monster hatte ihm schon mindestens einen Liter abgezapft und es würde nicht aufhören. Als das ganze Tablett voller Röhrchen war, klemmte es den Schlauch kurz ab. Pfeifend erhob es sich, streckte die langen Beine, und stellte seine Beute in den Kühlschrank. Es lächelte, als es zurückkam. Lange Haare tanzten um ein Puppengesicht.
»Du siehst immer noch fit aus.« Der Blick des Monsters streifte ihn nur flüchtig. »Sehr gut. Wir werden ein Vermögen an dir verdienen.«
Er hätte etwas gesagt. Zum Beispiel hätte er es eine geldgeile Dreckskuh genannt. Oder ein feiges Luder. Oder ein Monster, ein verkacktes Monster, genau wie … Aber der Knebel füllte seinen Mund aus und raubte ihm den Atem. Seine Zunge wurde so weit nach hinten gedrängt, dass er sie fast verschluckte. Er schmeckte den roten Plastikball, schmeckte, dass er nicht der Erste war, der ihn im Mund hatte. Nun, es war klar, dass das Monster das hier nicht zum ersten Mal machte. Es war zu routiniert, seine Bewegungen zu flüssig.
Der Raum, soweit er ihn sehen konnte, war ein kleines Labor, schäbig, ohne Fenster. Es roch nach Desinfektionsmittel und Eisen.
Sein ganzer Körper juckte. Er hätte sich gekratzt, aber die Fesseln schweißten seine Handgelenke an die Griffe der Liege und machten es unmöglich, seine Hände zu bewegen.
Wütend starrte er an die Decke, ein arschhässliches Schachbrettmuster aus gesprungenen Gipsplatten. Er spürte das Leben aus sich fließen. Ihm war schlecht und schwindlig. Weiße Punkte tanzten vor seinen Augen und er fühlte sich so erbärmlich wie noch nie in seinem Leben. Nun, fast nie.
Ich kann jetzt nicht sterben, dachte er. Maman war ganz alleine. Sie war zäh, aber sie brauchte ihn. Nur er konnte den Dreckskerl töten, der ihr alles genommen hatte.
Außerdem … na ja. Wen hatte Maman noch, wenn er jetzt einfach verreckte? Er sah sie vor sich, wie sie ohne ihn diese beknackte Vampir-Serie schauen würde, nur begleitet vom Maunzen der Katzen und dem Bass, der ständig von unten durch die Bodendielen drang. Nein. Er hatte eine Aufgabe. Er hatte einen Job zu erledigen. Er konnte jetzt nicht sterben.
Sein Zorn gab ihm die Energie, sich noch einmal gegen die Fesseln zu sträuben. Sich aufzubäumen und alle Muskeln anzuspannen. Das blöde Ding auf seiner Brust verrutschte. Schwer und kalt kroch es über seine nackte Haut. Das war auch alles, was er erreichte. Die Fesseln hielten. Er war immer noch gefangen. Immer noch kroch sein Blut durch den Schlauch, hell und rot.
Die Weißgekleidete lachte. »Reg dich nicht auf, Jean. Du musst nicht mehr lange leiden.«
»Er kommt nach«, sagte Isa und betrachtete ihr triefendes Falafel-Sandwich. Sorgenfalten furchten ihre Stirn. »Sie lassen ihn heute wieder zu seinem Bruder. Da konnte er nicht Nein sagen.«
Ihre Unterhaltung ging beinahe im Rauschen der Autos hinter ihnen unter. Die Bismarckstraße war vierspurig und auch jetzt, lange nach Feierabend, voll genug, um die Luft mit dem Dröhnen der Motoren und mit Abgasen zu erfüllen.
Die Blätter der Linden verfärbten sich bereits und der Wind wurde kühler. Zum ersten Mal seit langem trug Sofie eine Lederjacke über ihrem Shirt. Vivi hatte eine goldene Strickjacke an, die mit herzförmigen Kristallen besetzt war, und Isa war mit einer pink-grünen Trainingsjacke aus den frühen Neunzigern bekleidet, die so abscheulich grell war, dass Sofie jedes Mal den Blick abwenden musste, wenn sie in ihre Richtung schaute. Die Filmstudenten am Nebentisch starrten Isa jedoch neidisch an. Ihre buntgemusterten Fleecejacken mussten ebenfalls Originale sein.
»Er besucht ihn immer noch?« Sofie sah auf ihren Döner und versuchte, ihn so zu halten, dass ihr die Soße nicht über die gesamte Hand lief. Zu dritt standen sie an einem Klapptisch und sahen der Sonne beim Sinken zu.
»Nat halt.« Isa zupfte ein Salatblatt hervor und steckte es sich in den Mund. »Er hat Orion natürlich längst verziehen, dass er ihn aufschlitzen wollte.« Sie verschlang das halbe Sandwich mit einem Biss, der ihren Werwolf-Papa stolz gemacht hätte.
»Du nicht, oder?« Sofie betrachtete Isas sommersprossiges Gesicht.
Isa schüttelte den Kopf, kaute und schluckte. »Wenn sie den Mistkerl je aus der Hochsicherheitsverwahrung rauslassen, tret ich ihm in den Arsch.«
»Das wirst du nicht«, murmelte Vivi.
Isa schob die Unterlippe vor. »Willst du sagen, dass ich belle und nicht beiße?«
Vivi schwieg und lächelte.
»He, ich habe den Anführer des Schattenfellrudels besiegt, weißt du noch?« Isa verzog das Gesicht. »Mist, jetzt hab ich daran gedacht. Jetzt krieg ich nichts mehr runter.«
»Denk an was anderes«, sagte Sofie und probierte. »Lecker!«
Sie drehte sich zu der ranzigen Bude um, neben der sie standen. Der Besitzer des »Kingdom of Döner, Fischbrötchen and more« säbelte gerade am Spieß herum.
»Erwartet man nicht, was?« Isa deutete auf den Mann, der fast so breit wie sein Stand war. »Er ist einer von uns. Einer wie ich.«
Ein Werwolf also. Moment, war das Dönermesser etwa …
»Ist das ein Wächterschwert?«
»Nee, einfach ein magisches Schwert. Die Dinger gibt's wie Sand am Meer.«
Selbst Sofie hatte inzwischen eins. Seine magische Kraft bestand darin, dass es je nach Stimmung die Farbe wechselte. Magische Schwerter gab es massenhaft, gute magische Schwerter hingegen …
»Was kann seins?« Sie deutete auf den Mann.
»Es salzt.«
»Praktisch.«
Vivi blickte von ihrem Fischbrötchen auf. »Da kommt Nat.«
Er stiefelte über den Bürgersteig. Das Licht der Straßenlaternen machte seine Haut noch blasser und färbte die tief ins Gesicht gezogene Kapuze seines roten Parkas orange. Die Hände hatte er tief in die Taschen gesteckt, um sie vor dem fast verschwundenen Sonnenlicht zu schützen. Er sah müde aus, und älter als sonst.
Isa winkte und er winkte zurück. Als er es bis zu ihnen geschafft hatte, sahen sie die Falten, die sich in seine Mundwinkel gegraben hatten.
»Hi.« Er lächelte. Seine Eckzähne blitzten.
»Wie war's?«, fragte Isa. »Geht es dem … geht es Orion gut?«
Ein Schatten flog über Nats Gesicht. »Ja, also, den Umständen entsprechend. Er ist der letzte lebende Zeuge. General Stein hat ein Team aus Profi-Wächtern um ihn positioniert und er sitzt in Einzelhaft. Aber trotzdem …«
»General Stein weiß, was er tut.« Isa legte ihr halbiertes Sandwich weg. »Wenn der auf Orion aufpasst, kommt schon keiner durch. Auch kein Verräter.«
»Das Problem ist, dass niemand weiß, wer es sein könnte.« Nat schaute betrübt auf die schmierige Tischplatte. »Was, wenn es einer von den Profi-Wächtern ist? Was, wenn es General Stein selbst wäre? Oder Onkel Lars?«
»Onkel Lars war auf dem Boot, als der Ifrit ermordet wurde«, sagte Sofie. »Weißt du noch? Der war so beschäftigt damit, uns anzubrüllen, dass er gar keine Zeit gehabt hätte, den armen Kerl umzubringen.«
»Ja.« Nat seufzte leise.
Er schlurfte zur Bude, um sich mit Döner und Bier einzudecken. Als er zurückkehrte, war seine Laune deutlich gestiegen.
»Teambildendes Döneressen ist das beste Döneressen«, behauptete er. »Schade, dass ich Jean nie wieder fragen darf, ob er mitkommt.«
»Er hätte sowieso Nein gesagt.« Bedauernd blickte Sofie auf die leere Serviette in ihren Händen. Hatte sie etwa schon alles aufgegessen?
»Jean steht da hinten«, murmelte Vivi und deutete auf die andere Straßenseite.
»Was?«
Fast synchron wandten sie sich um und sahen Jean, der gerade darauf wartete, dass der Taxifahrer den Kofferraum öffnete. Dann holte ihr Teamkollege einen zusammengeklappten Rollstuhl heraus. Er erstarrte in der Bewegung, als er sie an der Dönerbude sah.
Nat und Sofie winkten ihm. Jean verzog das Gesicht, dann nickte er ihnen mürrisch zu. Er rammte den Rollstuhl auf den Bürgersteig und klappte ihn auf. Ausnahmsweise war Jean nicht in Trainingsklamotten gekleidet, sondern in einen schwarzen Anzug. Sein Schwert hatte er trotzdem dabei, es baumelte von seiner Hüfte. Vermutlich hatte er es mit Oculi ex eingerieben, damit es für nichtmagische Augen unsichtbar war.
»Ah«, sagte Nat. »Sie gehen in die Oper.« Er deutete auf den gigantischen Klotz auf der gegenüberliegenden Seite. Die Deutsche Oper Berlin war in den 60ern erbaut worden und das sah man. Wie ein rechteckiges Kreuzfahrtschiff ragte sie zwischen den umliegenden Gebäuden auf.
»Heute Abend ist eine Aufführung vom Staatsballett«, sagte Vivi und pulte in ihrem Fischbrötchen rum. »Ich schätze, seine Mutter will das sehen.«
»Arme Frau«, murmelte Isa.
Sofie beobachtete, wie Jean die Taxitür öffnete und einer alten Frau heraushalf. Die weißen Haare, ein harscher Kontrast zu ihrer dunklen Haut, hatte sie zu einem strengen Dutt hochgebunden. Sie war dürr wie ein Skelett und steinalt. Doch sie hielt sich so gerade, wie es ihr verkrümmter Körper zuließ. Das schwarze Kleid und die Kunstpelzjacke trug sie wie eine Königin.
»Du meinst seine Großmutter, richtig?« Sofie sah zu, wie Jean ihr in den Rollstuhl half.
»Nein.« Nat räusperte sich. »Das ist seine Mutter.«
Die Frau war doch mindestens achtzig, oder? Sofie musste sich zusammenreißen, um nicht zu starren. Sie sah zu, wie Jean den Taxifahrer bezahlte und seine Mutter den Weg zur Oper hinaufschob.
»Was ist mir ihr passiert?«
»Sie ist einem Incubus in die Hände gefallen«, sagte Isa.
Alle drei sahen zu Boden.
»Oh, natürlich.« Sofie sah zu der Glastür, hinter der die beiden verschwunden waren. Richtig. Jean war ein Incubus, da musste einer seiner Eltern auch einer gewesen sein. Magie war erblich.
»Die Arme.« Nat zögerte. »Aber falls du sie mal triffst, also, sprich ihr lieber nicht dein Mitleid aus. Es sei denn, du willst ohne Kopf weiterleben.«
»Was ist sie? Ein Werwolf?«
»Ein Mensch«, sagte Isa. »Aber sie lebt in Magow. Das darf man, wenn man ein magisches Kind hat.«
Sofie überlegte. Sie hatte Jean als ewig mürrischen Choleriker kennengelernt, und nicht weiter darüber nachgedacht, wie sein Privatleben wohl aussah. Ja, sie hatte nicht einmal gedacht, dass er eins hätte. Schon gar keins, in dem er mit seiner Mutti Ballettvorstellungen besuchte.
»Ich dachte irgendwie, dass er in der Zentrale wohnt und seine ganze Freizeit im Trainingsraum verbringt.«
»Aber nein, sie wohnen zusammen. Und sie gehen jeden Monat zu einer anderen Ballettaufführung.« Nat biss endlich in seinen Döner.
»Hat er dir das erzählt?«, fragte Isa.
»Nein.« Nats Stirn legte sich in Trauerfalten. »Für ein Team wissen wir viel zu wenig übereinander. Und Jean gibt sich nicht gerade Mühe, das zu ändern. Ich habe das von der Schwester von Lilifloras Ex. Sie wohnt im gleichen Haus wie die beiden und ihre Mutter ist mit Jeans Mutter befreundet.«
»Also das passiert, wenn man einen Incubus, also …« Sofie räusperte sich. »Man altert?« Sie sah in die Runde, aber vor allem auf Vivi. Die hatte meist die Antwort auf ihre Fragen und manchmal sprach sie auch laut genug, dass man sie verstand.
»Ja. Die Paarung mit einem Incubus oder Succubus entzieht Lebensenergie. Sie tötet sogar, wenn sie zu lange dauert. Man verliert … Jahre. Jahrzehnte. Und je nachdem, wie viele man noch hat, kann man daran sterben.«
Das klang furchtbar. Vor allem, weil man keine Wahl hatte. »Kann man sich dagegen wehren?«
»Nein. Also, so heißt es zumindest. Ein Incubus kontrolliert sein Opfer, absolut. Man … man kann nichts dagegen tun.« Vivi zupfte einen Zwiebelring aus ihrem Brötchen. »Jeans Mutter war kaum zwanzig, als er sie erwischt hat.«
Dann war sie jetzt um die vierzig? Kaum zu glauben, dass …
Etwas Weißes blitzte auf. Da, hinter den Scheiben der Oper. Das Licht verschwand und Schwärze breitete sich aus. Einen Moment lang hörte Sofie nur das Rauschen der Autos hinter ihr, dann ertönte der erste Schrei, dünn und schwach durch die Entfernung. Der nächste. Leute rannten über die Stufen, hinaus aus der Oper. Ihre Gesichter waren bleich und verzerrt.
»Wir sollten nachschauen, was passiert ist«, sagte Sofie und stellte ihr Bier weg.
Jean zerrte an seinem Kragen und fluchte stumm. Die Aufzugtüren öffneten sich. Vor ihnen erstreckte sich der große Saal, links und rechts ragten die Logen wie Umzugskartons aus den mit Holz verkleideten Wänden. Es gab eine Loge nur für Rollstuhlfahrer, aber diese Tickets waren ausverkauft gewesen. Also mussten sie sich durch die Menge quälen.
»Es riecht wie früher«, sagte Maman. Hier hatte sie getanzt. Hier hatte sie ihren ersten Auftritt gehabt, vor der Katastrophe. Ihr Gesicht entspannte sich ein wenig, als sie sich zu ihm umdrehte. »Riechst du das auch, Jean?«
Jean roch verbrauchte Luft und sah zu viele Menschen. Menschen, die störten. Er würde wieder hundert von diesen Trotteln höflich bitten müssen, aus dem Weg zu gehen, weil Maman ihm verboten hatte, denen einfach den Rollstuhl in die Hacken zu jagen.
»Riecht super«, sagte er.
»Es ist die Atmosphäre vorher. Die spürt man bis hier. Hinter der Bühne machen sie sich gerade bereit.«
Sie wandte den Kopf zum Vorhang, der unter ihnen lag, hoch und geschlossen. Ihre Stimme wurde weich und er wusste wieder, warum er sich den Mist jeden Monat antat.
»Würden Sie bitte Platz machen?«, knurrte er dem ersten Trottel zu, der im Weg war.
Der Trottel, ein alter weißer Zausel, runzelte erst die Brauen und hüpfte dann aus dem Weg.
»Tut mir leid«, krächzte er. »War keine Absicht.«
»Schon gut.« Maman nickte ihm zu. Hier war sie viel netter als sonst. Gestern hatte Jean den Salat mit Sonnenblumenöl statt Rapsöl angerichtet und sie hatte sich den ganzen Abend darüber beschwert.
»He, Sie!«, raunzte Jean der nächsten Im-Weg-Steherin zu. »Zur Seite oder …« Er räusperte sich. »Würden Sie bitte Platz machen?«
Die Dame durchbohrte ihn mit ihrem Blick und hob eine blonde Augenbraue.
»Ich bin gerade erst angekommen«, trillerte sie. »So viel Zeit muss doch …«
Die Lichter erstarben.
Was? Jean fuhr herum und sah … nichts. Schwärze senkte sich über den Saal. Jemand schrie. Kühler Wind strich über seinen Nacken.
»Licht an!«, brüllte jemand und Jean wusste, dass Maman die Augen rollte. Er hatte bereits sein Schwert in der Hand. Wenn einer von diesen Trotteln in Panik geraten würde, würde er ihn aus dem Weg treten. Mit einer Hand schob er den Rollstuhl näher an die Wand und stellte sich davor. Das würde zwar auch nicht helfen, wenn hier eine Massenpanik entstand, aber so konnte er seine Mutter besser schützen.
Er hörte ein Knallen. Keine Schüsse. Zuschlagende Türen. Plötzliche Stille, schwer vom angehaltenen Atem aller Anwesenden.
»Was ist hier los?«, fragte seine Mutter und er zuckte mit den Achseln, bevor ihm klar wurde, dass sie ihn nicht sehen konnte.
»Keine Ahnung. Schätze, das merken wir gleich.«
Er hörte ein Tippen. Mussten ihre Fingernägel auf der Lehne sein. »Wenn die Aufführung ausfällt, werde ich ungehalten.«
»Du meinst stinksauer.«
»Ja.«
Unten ging ein kleines Licht an. Winzig im Vergleich zu den großen Deckenlampen, aber da es das einzige Licht war, zog es die Blicke aller an wie ein Leuchtturm in der Nacht.
Es kam aus einer Laterne, die von einem lächelnden Mann gehalten wurde. Er war klein und drahtig und außerdem war er ein Zwerg. Die Menschen um sie herum würden ihn für einen Kleinwüchsigen halten, aber Jean erkannte die charakteristische Spitznase der Zehlendorfer Zwergengemeinde. Der da unten war vielleicht ein entfernter Verwandter von Hinnerk, dem Sanitäter.
»Guten Abend!«, rief der Zwerg fröhlich. »Ich will gar nicht stören, aber meine Freunde und ich hängen leider hier fest und brauchen ein bisschen Kleingeld für den Heimweg.«
Zwei weitere Gestalten erschienen neben dem Zwerg. Sie alle hatten schwarze Haare, obwohl Jean sich sicher war, dass zumindest der Typ rechts sie gefärbt hatte. Er war nämlich ein Vampir, genau wie der dritte Kerl. Jean erkannte es an der durchscheinend bleichen Haut und dem gelangweilten Gesichtsausdruck. Von Nat wusste er, dass die meisten Vampire sich die Haare färbten, wenn sie nicht das absolut schwärzeste Mitternachtsschwarz hatten. Vampire waren solche Trottel. Trotz der Entfernung sah er bei dem Kerl rechts einen blonden Ansatz.
»Die sind aus Magow, nicht wahr?«, fragte Maman. Mit eisernem Griff zog sie Jean zu sich, bis sie ihm ins Ohr flüstern konnte. »Mach sie fertig.«
»Ich lass dich nicht allein hier.« Wütend sah er sie an. »Wenn unter den Zauseln hier Panik ausbricht, trampeln sie dich nieder.«
»Denkst du, ich könnte mich nicht wehren? Denkst du, ich wäre eine harmlose alte Omi? Wenn mir einer zu nahekommt, breche ich ihm die Kniescheiben.«
Ah, da war sie. Seine geliebte Maman. Die milde Phase hatte nur fünf Minuten angehalten.
»Hier.« Er drückte ihr einen Dolch in die Hand. Einen Vorteil hatte es, mit dem Rollstuhl reinzukommen: Man musste nicht durch den Metalldetektor. Vorsichtshalber hatte er trotzdem alle Waffen mit Oculi ex eingerieben. Man wusste ja nie.
Es war klar, was die Clowns da unten veranstalteten: einen Überfall. Und das in der nicht magischen Welt. Wenn Onkel Lars die in die Finger bekam, würden nur rote Flecken auf den Bühnenbrettern von ihnen übrigbleiben.
Er zögerte.
Die Idiotentruppe hatte draußen am Dönerstand rumgelungert. Konnten sie helfen? Sollte er ihnen Bescheid sagen? Hm. Ob sie mitbekommen hatten, was hier los war? Ob sie schon unterwegs waren?
Hoffentlich nicht. Sie würden alles versauen, so wie sie immer alles versauten. Und selbst wenn sie ausnahmsweise was hinkriegten, endete es doch immer damit, dass Onkel Lars sie anbrüllte. Ein Wunder, dass der den Putzdienst bis zum Ende ihrer Wächterzeit gelockert hatte.