Indian Summer - Malu Cailloux - E-Book

Indian Summer E-Book

Malu Cailloux

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Beschreibung

Eine Familie in Montana, deren Wurzeln weit zurück bis zu den Schwarzfuss Indianern reichte und deren Leben von uralten Gebräuchen und Heilkünsten geprägt wird, steht im Mittelpunkt. Auch in schwierigen Zeiten halten die gemischten Kulturen eng zusammen. Ist es Schicksal, dass Lilian Brook, eine angesehene Computerexpertin, zu der Familie Gardener geführt wird? Lakota, die Tochter und Ärztin der Familie ringt mit ihren angeborenen Fähigkeiten als Schamanin und versucht verzweifelt ihr gebrochenes Herz zu kitten. Citlali, eine mexikanisch-indianische Verwandte, weilt zu Besuch auf der Ranch und wird dort von ihrer schrecklichen Vergangenheit heimgesucht.

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Die Tage vergehen wie das im Wind fliegende Herbstlaub und die Tage kehren wieder mit dem reinen Himmel und der Pracht der Wälder.

Indianische Weisheit

Inhaltsverzeichnis

PROLOG

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

EPILOG

PROLOG

Nodin saß im Schaukelstuhl auf der Veranda seines sich im Bau befindenden neuen Hauses und rauchte seine langhalsige, selbstgeschnitzte indianische Pfeife. Die Rauchkringel schwebten wie kleine Wolken in der kühler werdenden Nachtluft. Ein dezenter Geruch aus Kräutern und Tabak hüllte ihn ein. Normalerweise beruhigte ihn sein abendliches Ritual, doch heute schien etwas Mystisches in der Luft zu hängen. Er lauschte den vertrauten Stimmen der Natur. Eine Eule schrie aus dem nahen Wald und ein anderes nachtaktives Tier antwortete ihr. Der Mond, eine runde helle Kugel am sternenklaren Himmel, ließ auf der Erde jedes Schattenbild wie ein Gespenst erscheinen, während der Wind rhythmisch das Laub in den Bäumen raschelte. Eine Laterne flackerte auf dem unfertigen Fußboden und hüllte den Mann, der diese Einsamkeit und Ruhe genoss, in ein warmes Licht. Er hatte frisch geduscht, das schwarze Haar glänzte noch feucht. Seine große, kräftige Statur steckte in sauberen Kleidern. Über dem blauen karierten Baumwollhemd trug er eine leichte lederne Weste und seine Füße bedeckten verzierte schwarze Mokassins, die er als Hausschuhe bevorzugte. Sie erinnerten ihn an seine Herkunft, denn in ihm floss das Blut seiner Ahnen, der Blackfoot Indianer. Ursprünglich waren sie ein Präriestamm Nordamerikas und züchteten große Pferdeherden. Vielleicht war das auch der Grund, wieso Nodin auf der Ranch mit den Pferden arbeitete. Man nannte ihn den Pferdeflüsterer, denn er brachte es fertig, den wildesten und gefährlichsten Hengst ohne Gewalt zu zähmen. Er liebte seine Arbeit überaus, doch genauso freute er sich auf den morgigen freien Tag. Er musste unbedingt auf der Terrasse um das Haus herum den Boden verlegen, bevor der Winter einbrach. Tief atmete er den erdigen, waldigen Geruch ein, der sich abends noch verstärkte, und legte seine Pfeife auf den kleinen runden Holztisch, den er wie vieles in seinem Haus selbst gezimmert und mit geschnitzten Ornamenten verziert hatte. Die Unruhe, die ihn schon den ganzen Abend begleitete, war ihm unangenehm, denn er war ein Mann, der seine Energieströme mit sich im Einklang hielt. Mit ruhiger, wohltönender Stimme sprach er, als er sich aus dem Schaukelstuhl erhob: „Komm Nashoba, gehen wir schlafen.“ Sofort spitzte der graubraune Hund, der ihm zu Füßen gelegen hatte, die Ohren und folgte dem Meister ins Haus. Nicht umsonst besaß er diesen Namen, denn er glich einem Wolf und man wusste nicht genau, wessen Blut mehr in seinen Adern floss, das eines Hundes oder das eines Wolfes. Gehorsam legte er sich im Korridor auf seine Matte, während Nodin die Treppe hinauf in sein Zimmer stieg. Dort drehte er sich bis zum Morgengrauen unruhig auf der dicken Rosshaarmatratze umher. Manchmal fiel er in einen leichten Schlummerzustand. Dann sah er wie durch einen Nebel eine Frau. Sie hatte leuchtend rotes Haar und Haut wie Porzellan. War es eine Göttin, die sich ihm offenbarte? Sein Traumfänger, der am Fenster hing, wiegte sich sanft im Wind und beruhigte sein Gemüt. Als das Morgenrot den Himmel verzauberte, stand er auf und machte sich an die Arbeit.

Kapitel 1

Auch Lilian hatte schlecht geschlafen. Sie vermied es sonst in Hotelzimmern zu übernachten. Doch da ihr Flug von Boston sehr spät angekommen war, blieb ihr nichts anderes übrig, als eine Nacht in Bozeman zu verbringen. Sich zu später Stunde noch einen Wagen zu mieten und in die Nacht hineinzufahren, in einer Gegend, die ihr fremd war, fand sie nicht angebracht.

Sie hatte bisher in Boston gelebt. Aufgewachsen war sie bei ihrer Großmutter in Irland. Nun hatte sie einen neuen Job angenommen, der sie aufs Land geführt hatte. Genau genommen auf eine Ranch im Staate Montana. Die Stadt mit ihren vielen Menschen, den überfüllten Verkehrsmitteln und den zu dicht bewohnten Vierteln hatte sie zu sehr eingeengt. Der Zustand wurde von Jahr zu Jahr schlimmer und so beschloss sie, Boston hinter sich zu lassen. Wieso gerade den viertgrößten Staat der USA, größer als Deutschland? Montana, das spanische Wort montaña für Berge, war von den Rocky Mountains durchzogen und grenzte im Norden an Kanada, im Süden an Wyoming, im Westen an Idaho und im Osten an Nord- und Süddakota. Lilian wusste bis heute nicht genau, was sie dazu veranlasst hatte, in diese Gegend zu kommen. Vielleicht war es der Spitzname „Treasure State“, Staat der Schätze. Nicht nur lag es am Reichtum der Bodenschätze wie Erdöl, Kohle, Kupfer, Silber und Gold, die man dort gefunden hatte. Die Bilder der grenzenlosen Weite und Schönheit der Natur hatten Lilian überwältigt. Montana war ein Stück Land für Naturliebhaber.

Natürlich war ihr Job auf der Farm der Gardener auch ein Anziehungspunkt gewesen und eine gewisse Herausforderung. Die Familie Gardener plante ein kleines Ferienresort für Naturverbundene aufzubauen und brauchte eine fachkundige Computerexpertin, die ihnen half, die Internetseiten zu gestalten und Programme auszuarbeiten. Nachdem Lilian ein kleines Frühstück zu sich genommen hatte, ließ sie sich von einem Taxi zur Autovermietung fahren. In dieser Gegend war ein Allrounder vielleicht eine gute Sache, dachte sie bei sich und mietete sich einen dunkelblauen Cherokee Jeep. Mit dem Ziel im Navigationsgerät eingetippt und dem Gepäck im Kofferraum machte sie sich auf den Weg. Nach einer guten Stunde näherte sie sich langsam der Farm. Die weiten Flächen und die bewaldeten Hügel beeindruckten Lilian sehr und ließen ihr Herz vor Freude hüpfen. Zur Countrymusik summend bog sie mit quietschenden Reifen nach links in einen breiten Kiesweg ein. Fast hätte sie vor lauter Faszination und Ablenkung die Einfahrt verpasst. Sie verlangsamte ihr Tempo und fuhr bedächtig die Anhöhe hinauf. Weit vorne am Waldrand sah sie ein Haus und dachte bei sich, dass dies wohl kaum das Anwesen der Ranch war. Vielleicht führte der Weg ja bei diesem Gebäude vorbei. Als sie sich jedoch vor dem Neubau befand, ging die Straße nicht mehr weiter und sie hielt an. Ein großer, kräftiger Mann mit verblichenen, zerrissenen Jeans und einem hellen Shirt, das einige dunkle vom Schweiß bedeckte Stellen aufwies, kam ihr entgegen. Sein rabenschwarzes langes Haar hielt er mit einem Lederband im Nacken zusammen und um die Stirne trug er ein farbenfrohes Band, das den Schweiß der harten Arbeit aufhielt. Seine rotbraune muskulöse Haut glänzte feucht und in der großen Hand hielt er einen Vorschlaghammer, während um seine schmalen Hüften an einem ledernen Gurt noch andere kleinere Werkzeuge steckten. Seine großen schokobraunen Augen waren von dichten dunklen Wimpern umrahmt und musterten die Fremde eindringlich.

Lilian, die aus dem Wagen gestiegen war und von der Sonne geblendet wurde, hielt sich schützend die Hand vor die Stirne. Sie war eine große Frau mit einem wohlgeformten Körper. Ihre weiße Bluse war von der langen Fahrt zerknittert und die gerade geschnittenen Nadelstreifenhosen versteckten ihre langen Beine. Ihre roten Haare, die ihr wild gelockt bis auf die Schultern fielen, leuchteten wie ein goldenes Feuer im Sonnenlicht.

Nodin verschlug es bei ihrem Anblick den Atem und er glaubte, von einer Vision getrübt zu werden, wenn nicht der Staub von dem aufgewirbelten Fahrzeug ihn an der Nase gekitzelt hätte. Seine tiefe, wohlklingende Stimme tönte wie Gesang in Lilians Ohr: „Atsila!“

Auch wenn sie nicht verstand, was er zu ihr sagte, klang es doch so vertraut und ließ sie bis in das innere Mark erschauern. „Wie bitte?“

Ein Lächeln erschien auf seinem erstaunten Gesicht und ließ seine weißen Zähne aufblitzen. „Was sucht eine Feuergöttin in dieser abgeschiedenen Welt?“

Lilians grüne Augen weiteten sich und für einen Moment war sie fassungslos. Eine Göttin hatte sie noch kein Mann genannt und dieses Exemplar, das wenige Meter vor ihr stand, war besonders attraktiv. Sie spürte, wie ein Windstoß um ihren Körper wirbelte und eine Hitze ihr in den Kopf stieg. Die vielen Sommersprossen leuchteten wie goldene Punkte auf ihrer hellen Haut. Im Zauber gefangen spürte sie den Hund, der an ihrer Hand schnüffelte, erst, als seine kalte Schnauze die Innenseite ihrer Hand streifte. Lilian zuckte nicht zusammen, blieb jedoch erstarrt stehen und beobachtete das Tier, das aussah wie ein Wolf, mit wachsamen Augen. „Lakota.“ Bei diesem Wort spitzte der Hund die Ohren und begann mit der Rute freundlich zu wedeln. Mit einer gezielten Handbewegung kam der Hund zu seinem Meister und legte sich ihm zu Füßen. Langsam erwachte Lilian aus der Erstarrung und nach einem Räuspern fand sie sogar ihre Stimme wieder: „Ich suche die Gardener Ranch.“

Nodin lächelte erneut. „Sie müssen von der Hauptstraße etwa fünfhundert Meter weiterfahren und dann rechts abbiegen.“

„Vielen Dank!“ Mehr brachte sie nicht hervor. Ihre Gefühle waren durcheinander und sie kam sich völlig dämlich vor, sogar mit dem Navi den Weg verfehlt zu haben. Würdevoll stieg sie in den Jeep, zog die Sonnenbrille an und startete den Motor. Ein letztes kurzes Nicken und sie wendete das Fahrzeug. Nodin hob seine Hand zum Abschied und schaute ihr unentwegt nach, bis der Wagen hinter der Biegung verschwunden war. „Diese Frau ist ein Geschenk der Götter“, sprach er zu seinem Hund und machte sich wieder an die Arbeit.

Lilian schimpfte vor sich hin, als sie in den Weg zur Ranch abbog. Wie konnte sie sich nur so dämlich benehmen und als Computerexpertin nicht einmal das Navigationsgerät richtig lesen. Sie fuhr ein schäumendes, von Steinen übersätes Flussbett entlang und durchquerte einen Waldabschnitt. Wegen der Straße hatte man eine Schneise geschlagen, und als sie am Ende der Waldlichtung ankam, breitete sich vor ihr eine weite grüne Weidefläche aus. Auf dem massiven steinernen Torbogen stand der Name Gardener Ranch eingemeißelt. Vergessen war ihre Dummheit und ihr Herz begann, vor Entzücken über die hinreißende Sicht vor ihr, schneller zu schlagen. Weit entfernt auf einer Anhöhe prangte das große dreistöckige Landhaus. Das Fundament war aus Stein gemauert. Die oberen Stockwerke aus einheimischem Holz erbaut, ließen das Gebäude mit der Natur verschmelzen. Für einen Augenblick stoppte sie das Fahrzeug, denn der Weg verzweigte sich in verschiedene Richtungen. Nach links zeigte der Holzpfeil zu den überdachten angelegten Stallungen mit Freilaufgehegen. Auf den eingesäumten Weideflächen grasten kleinere Viehherden, während auf den Koppeln einzelne Pferde verspielt herumgaloppierten. Einige davon lieferten sich einen erbitterten Wettlauf und schüttelten dabei wiehernd ihre Mähnen. Der entgegengesetzte Weg führte zu den Holzhütten, die man für die Gäste errichtete. Massenweise Holzstämme und Baumaschinen standen dort herum, aber da Sonntag war, hatte man die Arbeit stillgelegt. Andächtig, fast im Schritttempo, fuhr Lilian geradeaus ihrem Ziel entgegen, berührt und fasziniert von der Umgebung, die für eine Zeitlang ihr Zuhause sein würde. Wenn sie mit den Gardeners telefoniert oder gemailt hatte, war sie mit dem ältesten Sohn der Familie in Verbindung getreten. Mel war ihr gegenüber immer höflich und zuvorkommend gewesen und so hoffte sie sehr, dass die Gardeners sie freundlich aufnehmen würden. Sie parkte vor dem großen Wendeplatz des Farmhauses und stieg aus, dabei streckte sie ihre langen Glieder und atmete den erdigen frischen Duft tief in sich hinein. Ein gutes Gefühl durchströmte sie und eine Vertrautheit, mit der sie nichts anzufangen wusste, schlich sich jubelnd in ihr Herz.

Auf der sonnigen Seite des Hauses war ein weitflächiger Garten angelegt. Eine große Frau mit einer Schürze bekleidet, die ihr langes, buntes Kleid vor Schmutz schützte, erhob sich inmitten einer farbenfrohen Blütenpracht und kam winkend auf sie zu. Dabei entfernte sie die grünen Handschuhe. Ihre schwarzen Haare trug sie zu einem dicken, langen Zopf geflochten, der ihr auf dem Rücken fast bis zur Taille reichte.

Ihre Haut, golden rot gemischt, und die dunklen fast schwarzen Augen verrieten ihre indianische Abstammung. Die Sprache, ein perfektes Englisch, ließ Lilian bei der Begrüßung aufhorchen.

„Aiana Gardener, sehr erfreut. Sie müssen Lilian Brook sein.“ Sie streckte freundschaftlich die langgliedrige Hand aus und umschloss mit einem warmen, festen Händedruck die gepflegte ausgestreckte Hand ihres Gegenübers. Ein Lächeln erschien auf dem hübschen Gesicht, dessen Wangenknochen sich betont hervorhoben. Die kurze Musterung aus den dunklen Augen genügte, um Lilians Wesen zu ergründen und festzustellen, dass ihre Seele einen guten Kern besaß, auch wenn sich die Fremde ein wenig distanziert gab. Sie würde sich langsam an die junge Frau herantasten und sie erblühen lassen, wie sie es mit all ihren Pflanzen im Garten Jahr für Jahr tat. „Mein Mann ist bei den Stallungen, aber ich habe versprochen, ihm Ihre Ankunft sofort mitzuteilen. Bis zu seinem Eintreffen werde ich Sie einquartieren. Kommen Sie, holen wir Ihr Gepäck.“

Aiana Gardener erwies sich als eine äußerst starke Frau, als sie gemeinsam die Koffer und Taschen ins Ranch Haus brachten. Lilian bekam ein geräumiges Zimmer im zweiten Stock mit einer wunderbaren Aussicht über das weite Land. Die Fenster zierten gelbe Baumwollvorhänge. Das Doppelbett und die rustikalen Möbel waren aus dem gleichen Holz verarbeitet. Die farbenfrohen indianischen Webteppiche gaben dem Raum eine besondere Wärme und passten zu dem naturbelassenen Holzboden. Es roch nach den frischen Blumen, die in einer Vase auf dem runden Tisch standen, und nach Zitronenöl. Lilian fühlte sich sofort wie zu Hause.

„Bevor Sie auspacken, trinken wir zusammen einen Tee.“

Die Küche war gigantisch und für eine große Familie gedacht. Der Feuerherd war doppelt so groß wie ein normaler Elektroherd und in einer hohen Pfanne köchelte ein Eintopf, nach Kräutern und Gemüse duftend, vor sich hin. Auf dem Tisch stand ein langes selbstgebackenes Brot, das noch leicht dampfte, und auch dort schmückte ein kleiner Blumenstrauß den Raum.

„Sie dürfen sich jederzeit hier in der Küche bedienen, fühlen Sie sich wie zu Hause! In gut zwei Stunden werden wir einen Lunch zu uns nehmen und jeden Sonntagabend kommt die ganze Familie zusammen und wir genießen ein ausführliches Mahl mit anschließender Zusammenkunft im Wohnzimmer. Es gibt immer viel zu erzählen und das gemeinsame Musizieren ist auch eine unserer beliebten Traditionen.“

Als Samuel Gardener durch die Hintertüre trat, hatte der Tee bereits gezogen und die Tassen standen auf dem langen Tisch bereit. Er war ein imposanter Mann mit grauen Haaren, die einmal blond gewesen sein mussten. Die Augen strahlten so blau wie ein klarer Bergsee und die vom Wetter gegerbte Haut wies reihenweise Lachfältchen auf. Er war auch noch im Alter ein äußerst attraktiver Mann. Seine buschigen Augenbrauen hoben sich anerkennend, als er seinen Gast begrüßte, und die tiefe, warme Stimme erweckte in Lilian eine Vertrautheit, die weit zurück in ihre Vergangenheit reichte. Erinnerungen an ihren Großvater, den sie viel zu früh verloren hatte, stiegen in ihr auf. Die enge Verbundenheit zu ihm und ihrer Großmutter, mit der sie ihre Kindheit verbracht hatte, holte sie wieder ein. Oh Gott, wie sehr hatte sie die beiden geliebt. Die große schwielige Hand, die ihr entgegengehalten wurde, riss sie aus den Gedanken.

„Hallo Miss Brook. Es freut uns sehr, eine solch hervorragende Computerexpertin bei uns als Gast begrüßen zu dürfen.“

Lilian erwiderte sein charmantes Lächeln und errötete leicht über seine intensive Musterung, was ihre Sommersprossen noch mehr hervorhob. Man plauderte übers Geschäft und Samuel Gardener versprach, dass man ihr am nächsten Tag das gesamte Gelände der Ranch zeigen würde. Zum Lunch waren sie nur zu viert. Ronj, der jüngere Sohn, ein waschechter Cowboy, glich seinem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten. Dieselben anziehenden Augen und eine dunkelblonde Lockenpracht, die von goldenen Strähnen durchzogen war. Er musste ein paar Jahre jünger als Lilian sein, wusste jedoch mit seinem charmanten Benehmen und dem strahlenden Lächeln, dass seine Wirkung jedes Frauenherz schneller schlagen ließ. Die lockere und lustige Unterhaltung bei Tisch löste Lilians Anspannung und entrang ihr manch helles Lachen.

Am Nachmittag packte sie endlich ihre Koffer aus und füllte den Schrank und die Truhe mit ihren wenigen Kleidern. Sie würde sich später gezielt das Nötigste besorgen, um sich den gegebenen Umständen entsprechend kleiden zu können. Vielleicht würde sie sich sogar einen waschechten Cowboyhut und ein paar tolle Stiefel kaufen. Da ihr noch genug Zeit bis zum Abendessen blieb, spazierte sie um das große Anwesen, durchquerte den Garten und stellte zu ihrem Erstaunen fest, dass es dort nicht nur eine Vielfalt von Blumen gab. Der hintere Teil bestand aus einem riesigen Gemüsegarten. Ein kleines Treibhaus, wo Tomaten, Peperoni und Chili gezogen wurden, erregte ihre volle Aufmerksamkeit. Außerhalb des Zaunes gab es ein paar alte Obstbäume. An den knorrigen Ästen hingen rotbackige Äpfel und reife Birnen bereit zum Pflücken. Der Wind wirbelte durch das farbige Laub und vereinzelte gelbe Blätter schwebten wie Federn langsam zu Boden.

Eigenartig, dachte Lilian, als sie vorher nach draußen gegangen war, schien es absolut windstill gewesen zu sein. Sie drehte sich mit einem Lächeln auf dem Gesicht um und erblickte wenige Meter von sich eine Gestalt, die reglos zwischen Blumen und Gemüsegarten stand. Nicht, dass sie den attraktiven Indianer, den sie heute Morgen zufällig getroffen hatte, nicht wiedererkannt hätte. Lag es am Wind, der ihr wie eine zärtliche Hand um den Körper strich und sie erschauern ließ, oder lag es an seinen dunklen Augen, die sie verzauberten und ihr die Sprache verschlugen? Erst jetzt bemerkte sie, dass der Mann ein bemaltes geschnitztes Jagdmesser in der Hand hielt. Als hätte er ihr plötzliches Misstrauen erkannt, begann er zu sprechen und kam auf sie zu.

„Meine Mutter hat mich in den Garten geschickt, um frischen Salat zu schneiden. Ich bin Nodin Gardener und Sie müssen Lilian Brook aus Boston sein.“ Eine große Hand mit langen Fingern umschloss die ihre und hielt sie für einen Augenblick fest gedrückt. Wie bei der letzten Begegnung musste Lilian zuerst den Zauber, der sie umgab, abschütteln, bevor sie sprechen konnte. Das Lächeln, das erneut auf ihrem Gesicht erschien, wärmte Nodin bis ins Innerste seiner Seele. „Gefällt Ihnen der Garten?“

Seine wohlklingende, fast melodiöse Stimme ließ Lilian sofort Vertrauen fassen und sie erwiderte: „Ich bin bei meinen Großeltern in Irland aufgewachsen. Dort verbrachte ich zusammen mit meiner Großmutter viele Stunden im Garten. Es war für mich die schönste und unvergesslichste Zeit meines Lebens.“

Als Nodin sah, dass sich in ihren grünen Augen plötzlich Traurigkeit zeigte, fragte er nicht weiter und bat sie, ihm beim Auswählen des Salates zu helfen. Lilian, eifrig wie sie war, beugte sich mit dem jungen Mann zusammen über die Reihen von Salatköpfen und meinte zuletzt: „Ich glaube, wir nehmen diesen hier. Der Kopf scheint mir der größte und kompakteste zu sein.“ Als Nodin im Einverständnis das Messer gebrauchte, hörte sie ihn unverständliche Worte vor sich hinmurmeln. Dann übergab er Lilian ehrfürchtig den Salat. Der Geruch nach Erde, frischem Grün und Feuchtigkeit stieg ihr dabei in die Nase und ihr Magen begann zu grummeln. Nodin lächelte, nahm Lilian einfach bei der Hand und zog sie mit sich zum Haus. „Kommen Sie, umso schneller gibt es was zu essen.“ Umhüllt von einer leichten Brise, die einen holzigen, herben Geschmack mit sich zog, traten sie durch die Hintertür in die Küche.

Dort wurde Lilian einem schwarzen Ehepaar vorgestellt. Billy, ein korpulenter Mann mit ergrautem krausem Haar, drückte ihr die Hand mit einer solchen enthusiastischen Art, dass sie richtiggehend durchgeschüttelt wurde. Susuma, seine rundliche Ehefrau, die sich von den Kochtöpfen zu ihr umdrehte, lachte und ihre wulstigen Lippen entblößten eine Reihe weißer Zähne. Schnell wischte sie die Hände an ihrer Schürze ab, bevor sie Lilian die Hand entgegenstreckte.

„Susuma ist eine liebenswerte Frau und eine wunderbare Köchin“, klärte Nodin Lilian auf und fügte an: „Billy ist Gärtner und der Mann für alles. Er besitzt eine außergewöhnliche Fähigkeit. Er haucht den defekten Dingen wieder Leben ein.“

Bei den Gardeners, so stellte Lilian fest, gehörten die Bediensteten genauso zur Familie, deshalb teilten sie mit dem Ehepaar die Mahlzeit im angrenzenden Esszimmer. Aiana hatte inzwischen den Tisch gedeckt und winkte Lilian zu sich. „Meinen Sohn haben Sie bereits kennengelernt und meine Tochter wird etwas später eintreffen, da sie noch einen Patienten besuchen muss. Setzen Sie sich. Möchten Sie ein Glas Wein?“

Lilian bejahte und in diesem Moment kam Sam Gardener herein. Diesmal hatte er ein weißes traditionelles Hemd mit einem Jackett angezogen und schwarze Manchesterhosen wie sein Sohn, der ihm gefolgt war. Billy, Susuma und Nodin brachten aus der Küche dampfende Schüsseln und stellten sie auf den Tisch. Bevor man sich hinsetzte, erklärte Sam den Anwesenden, dass Mel, sein älterer Sohn, erst nächsten Samstag aus Texas zurückkehren würde. Kathleen, Sams Schwester, und eine Nichte ihres verstorbenen Mannes würden ihn begleiten.

Man wartete nicht auf seine Tochter, denn Aiana hatte Lilian kurz informiert, dass Lakota eine freiberufliche Ärztin war, die Alternative Medizin praktizierte und viel zu viel arbeite. Sie besaß ein kleines Haus außerhalb von Big Sky, wo sie über ihrem kleinen Laden und der Praxis wohnte. Als man am Tisch saß, sprach Samuel Gardener ein kurzes Dankesgebet und Aiana rundete das Ganze mit ein paar indianischen Worten ab. Das Essen, wovon das meiste auf dem eigenen Boden gereift war, schmeckte vorzüglich.

„Ende September wird bei uns jedes Jahr ein Erntedankfest abgehalten, wobei alle Freunde und Bekannte eingeladen werden“, erklärte Aiana und reichte ihr die Schüssel mit den Kartoffeln. Lilian suchte sich zwei mittelgroße Stücke aus und übergab es dem Nächsten.

„Ja, ich kenne diesen Anlass aus meiner Kindheit. In Irland haben die Dorfbewohner alljährlich eine Feier abgehalten. Jeder hat etwas mitgebracht. Meine Großmutter und ich haben haufenweise Scones gebacken. Wenn Sie möchten, werde ich das Rezept meiner Großmutter anwenden und auch etwas zum Erntedankfest beisteuern.“

Die Anwesenden waren von ihrer Idee begeistert. Nodin aß schweigend, sagte kaum ein Wort, während sein Blick stets auf Lilian ruhte. Seine stumme Aufmerksamkeit entging ihr nicht und sie versuchte, seinem Blick so gut es ging auszuweichen, was ziemlich schwierig war, denn er saß leicht versetzt gegenüber am massiven Holztisch. Wenn sich ihre Augen begegneten, musste Lilian sich sofort abwenden, denn sie spürte die Röte den Nacken hinauf zum Kopf wandern und sie schämte sich ihrer Schüchternheit. In Bezug auf Männer war sie ziemlich zurückgeblieben. Ihren ersten Kuss hatte sie mit zwölf Jahren beim Abschied von Irland bekommen vom Nachbarssohn ihrer Großmutter. Noch einige Jahre nach ihrer Abreise nach Amerika blieben die beiden in Kontakt. Doch die Briefe und später die E-Mails versiegten mit der Zeit. Aus dem Jungen war ein Mann geworden und heute lebte ihr erster Freund glücklich verheiratet und mit zwei Kindern auf der grünen Insel. Da ihre Großmutter Rose Anne einige Jahre nach ihrer Abreise verstorben war und ihre Eltern das Cottage verkauft hatten, konnte und wollte Lilian nicht mehr nach Irland zurück. Der Schmerz im Herzen über den Verlust war zu groß, als dass sie ihn hätte verkraften können. Später in ihrem Berufsleben gab es ein paar Männer, mit denen sie ausgegangen war, doch ihr Körper hatte sich vehement geweigert, mehr als einen Abschiedskuss zuzulassen. Die meisten ließen ihre Beziehung im Sande verlaufen oder hielten sie für frigide. Sie wurde dieses Jahr sechsundzwanzig Jahre