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Inklusion stellt einen Bezugspunkt aktueller schulisch-unterrichtlicher Entwicklungsvorhaben dar und wird als Abbau von Ungleichheit und Ungerechtigkeit akademischer und sozialer Partizipation von Schülerinnen und Schülern verhandelt. Inklusion ist an dem Ziel der Überwindung bestehender Exklusionen und Behinderungen orientiert. Welche Rahmen setzen dabei die Schulgesetze? Und in welchem Verhältnis stehen Leistung, Differenzen und Behinderung? Im Spannungsfeld von Inklusion einerseits und Exklusion andererseits bedeutet das für Lehrpersonen, ihr Handeln an Prinzipien der egalitären als auch der hierarchischen Differenz auszurichten. Anhand formaler schulischer Dokumente und dem bildungspolitisch favorisierten Steuerungskonzept beschreibt das Buch die Widersprüche und Herausforderungen und reflektiert sie theoretisch.
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Seitenzahl: 305
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Cover
Titelei
1 Einleitung
2 Zentrale Begriffe des erziehungswissenschaftlichen Diskurses zu Inklusion und Exklusion in Schule und Unterricht
2.1 Behinderung – unterschiedliche Verständnisse innerhalb der Erziehungswissenschaft
2.2 Inklusion und Exklusion: mehrdimensionale und relative Verständnisse
3 Leistung – schuleigene Differenzkategorie
4 Normen und Erwartungen in schulischen, unterrichtlichen und professionalisierten Praxen: Perspektiven der Praxeologischen Wissenssoziologie und der Dokumentarischen Methode
4.1 Normen, (Entscheidungs-)Erwartungen und Praxen: Grundbegriffe der Praxeologischen Wissenssoziologie
4.2 Schulen: gesellschaftliche Institutionen und konkrete Organisationen
4.3 Praxeologisch-wissenssoziologische und Dokumentarische Interpretation öffentlicher Dokumente der gesellschaftlichen Institution Schule
5 Leistungsbezogene Differenzkonstruktionen in formalen schulischen Dokumenten Bayerns und Hamburgs
5.1 Auswahl der Datengrundlage: Schulgesetze, Lehr- und Bildungspläne sowie Verordnungen zum sonderpädagogischen Förderbedarf Lernen
5.2 Allgemeine Erziehungs- und Bildungsaufträge der Schulgesetze
5.2.1 Bayern
5.2.2 Hamburg
5.2.3 Vergleich Bayern und Hamburg
5.3 Schulform- und bildungsgangspezifische Bildungs- und Erziehungsziele der Sekundarstufe I
5.3.1 Bayern: Mittelschule und Gymnasium
5.3.2 Hamburg: Stadtteilschulen und Gymnasien
5.3.3 Vergleich Bayern und Hamburg
5.4 Wechsel und Übergänge innerhalb und zwischen Schulformen und Bildungsgängen
5.4.1 Bayern
5.4.2 Hamburg
5.4.3 Vergleich Bayern und Hamburg
5.5 Sonderpädagogischer Förderbedarf im Förderschwerpunkt Lernen
5.5.1 Bayern
5.5.2 Hamburg
5.5.3 Vergleich Bayern und Hamburg
5.6 Inklusion bzw. Integration
5.6.1 Bayern
5.6.2 Hamburg
5.6.3 Vergleich Bayern und Hamburg
5.7 Lehr-, Bildungs- und Rahmenpläne für das Fach Deutsch des 8. Jahrgangs
5.7.1 Bayern
5.7.2 Hamburg
5.7.3 Vergleich Bayern und Hamburg
5.8 Leistungsbezogene Differenzkonstruktionen in formalen gesellschaftlich-institutionellen, schulischen Dokumenten – eine Zusammenfassung
6 Differenzkonstruktionen im Paradigma und in Programmen evidenzbasierter Bildungsforschung, -politik und -praxis
6.1 Evidenzbasierte Steuerung und Entwicklung von Schule und Unterricht
6.2 Evidenzbasiertes Programm Response-to-Intervention
7 Perspektiven für eine inklusionsorientierte Schulentwicklung und eine professionalisierte, pädagogische Bearbeitung differenzbezogener Normen und (Entscheidungs-)Erwartungen in der Unterrichtspraxis
8 Literatur
Die Autorin
Dr. phil. habil. Tanja Sturm hat die Professur für Inklusive Bildung an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Inklusion und Exklusion in Bildung, Erziehung und Sozialisation, Differenzkonstruktionen in Schule und Unterricht sowie international vergleichende Unterrichtsforschung. Ihre Forschungsarbeiten sind v. a. in der Praxeologischen Wissenssoziologie und der Dokumentarischen Methode verankert.
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1. Auflage 2023
Alle Rechte vorbehalten© W. Kohlhammer GmbH, StuttgartGesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Print:ISBN 978-3-17-033060-3
E-Book-Formate:pdf:ISBN 978-3-17-033061-0epub:ISBN 978-3-17-033062-7
Inklusion ist seit Beginn des zweiten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts zu einem zentralen Begriff und Bezugspunkt schulischer und unterrichtlicher Entwicklungsvorhaben und -reformen des deutschsprachigen Kontextes avanciert. Eine vergleichbare Bedeutungssteigerung lässt sich auch für den erziehungswissenschaftlichen Fachdiskurs beobachten1. Versteht man Inklusion mit Birgit Lütje-Klose und Melanie Urban (2014, S. 114) in theoretischer Kontinuität zu Integration, so kann konstatiert werden, dass die aufgerufenen Inhalte – Behinderungen und deren Reduzierung und Abbau – ihre lange Zeit marginalisierte Position innerhalb des erziehungswissenschaftlichen Diskursfeldes (vgl. Tervooren 2001), zumindest temporär, verlassen konnten. So zeigt sich u. a., dass Inklusion – zunehmend in Verbindung mit Exklusion – nicht mehr fast ausschließlich innerhalb der Diskursfelder der Integrations- resp. Inklusions- und Behindertenpädagogik diskutiert, sondern von weiteren teildisziplinären Fachdiskursen der Erziehungswissenschaft zum Gegenstand gemacht wird, u. a. in der Allgemeinen Pädagogik (vgl. z. B. Dammer 2012; Miethe, Tervooren & Ricken 2017), der Schulpädagogik (vgl. z. B. Müller & Gingelmaier 2019; Schäffer & Rabenstein 2018) und der Historischen Bildungsforschung (vgl. z. B. Vogt, Boger & Bühler 2021). Eine Bedeutungssteigerung lässt sich nicht nur in der erziehungswissenschaftlichen Theoriebildung beobachten, sondern maßgeblich auch in der Lehre. Die gemeinsame Erklärung der Hochschulrektoren- und Kultusministerkonferenz (2015, S. 4) formuliert, dass »Inklusion und Umgang mit Diversität« als Themen und Reflexionsfolien aller Lehramtsstudiengänge zu verankern sind. Vor diesem Hintergrund sind nicht nur Hochschullehrende der Erziehungswissenschaft aufgefordert, sich mit den Themenfeldern Inklusion und Exklusion sowie Differenz auseinanderzusetzen, sondern auch die Kolleg:innen der Fachdidaktiken. Beide Entwicklungen, die durch bildungspolitische Reformimpulse gestützt werden (vgl. Dammer 2012), zeichnen sich, neben Unterschieden – die sich nicht zuletzt aus ihren unterschiedlichen Logiken ergeben –, durch die Gemeinsamkeit aus, dass sie fast durchgängig auf die von den Vereinten Nationen erstellte Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, kurz UN-BRK, (UN 2006; 2008) verweisen. Die menschenrechtlichen Bezugnahmen fungieren dabei wesentlich als Normen und Programmatiken für die Entwicklung von Schulen, Unterricht und pädagogischen Praxen (vgl. z. B. Danz & Sauter 2020) und werden in moralischer, rechtlicher und politischer Hinsicht aufgegriffen (vgl. Weyers 2019). Inklusion wird somit wesentlich als Abbau von Ungleichheit und Ungerechtigkeit akademischer und sozialer Partizipation verhandelt – oder mit anderen Worten: als Überwindung oder Reduzierung bestehender Exklusionen, Schlechterstellungen und Marginalisierungen. Damit knüpft der Inklusionsdiskurs inhaltlich an die erziehungswissenschaftlichen – und mit dem Fokus auf die Ausführungen in diesem Buch – bzw. schulpädagogischen Diskurse zu Heterogenität und Differenzen (vgl z. B. Emmerich & Hormel 2013; Koller, Casale & Ricken 2014; Sturm 2016; Walgenbach 2014) sowie sozialer Ungleichheit an (vgl. z. B. Hertel & Pfaff 2015; Jünger 2008; Wellgraf 2011), deren zentrale Gegenstände ebenfalls Barrieren und Benachteiligungen akademischer und sozialer Partizipation sind.
Wenngleich bisher v. a. der Begriff Inklusion die Diskurse prägt und durch seine alleinige Verwendung der normative Charakter unterstrichen wird, wird in dem sich stetig differenzierenden Fachdiskurs auch Exklusion zunehmend explizit genannt und deren relative resp. dialektische sowie ambivalente Beziehung hervorgehoben (vgl. z. B. Boger 2017; Dammer 2012; Stein 2013; Willmann & Bärmig 2020). Dies erfolgt entlang unterschiedlicher grundlagentheoretischer Zugänge, wie z. B. den Dis_Ability Studies, die v. a. in den subjekt- und machttheoretischen Arbeiten von Michel Foucault verankert sind (vgl. z. B. Hirschberg & Köbsell 2021; Waldschmidt 2020a), der Kritischen Theorie bzw. Kritischen Erziehungswissenschaft (vgl. Bärmig 2015; Katzenbach 2015) und der Praxeologischen Wissenssoziologie (vgl. z. B. Sturm 2015; Wagener 2018).
Empirische Studien zu schulisch-unterrichtlicher Inklusion, die in den genannten grundlagentheoretischen Zugängen fundiert sind und in den vergangenen Jahren im deutschsprachigen Raum durchgeführt wurden (vgl. z. B. Merl 2019; Reiss-Semmler 2019; Steinmetz, Wrase, Helbig & Döttinger 2021; Sturm & Wagner-Willi 2015; Wagener 2020), zeigen u. a. (wiederholte) Marginalisierungen und Schlechterstellungen von Schüler:innen im Unterricht auf. Diese Positionierungen entfalten sich wesentlich an dem unterrichtlich aufgerufenen bzw. praktizierten Leistungsverständnis (vgl. z. B. Rabenstein, Reh, Ricken & Idel 2013; Sturm 2010). Leistungs(un)fähigkeit wird den Schüler:innen dabei meist individualisiert und hierarchisiert zugeschrieben (vgl. z. B. Reiss-Semmler 2019; Wagener 2020) – unabhängig davon, ob es die Programmatik der Schule bzw. des Unterrichts ist, inklusiv zu arbeiten oder nicht (vgl. Sturm, Wagener & Wagner-Willi 2020). Die Hervorbringung von Leistungsdifferenzen sowie deren schulisch-unterrichtliche Bearbeitung, die akademische und soziale Partizipation für einzelne Schüler:innengruppen behindern, schließen an das Konzept des Ableism (able, engl. fähig) der Dis_Ability Studies an (vgl. z. B. Waldschmidt 2020b). Die Dis_Ability Studies, die v. a. aus der Kritik an einem essentialisierenden Verständnis von Behinderung, das diese als individuelles körperliches und/oder psychisches Merkmal fasst, entwickelt wurden, analysieren die gesellschaftlichen Formen der Konstruktion von Normalität, genauer Erwartungsnormalität und Abweichung resp. Behinderung. Neben expliziten werden v. a. inhärente Normen bzw. Normalitätserwartungen menschlicher Fähigkeiten (ableness) betrachtet, die den Diskursen und Praktiken zugrunde liegen. Damit liegt der Fokus auf der Mehrheitsgesellschaft und ihrer Konstruktion von ›Anderssein‹ und den – damit verbundenen – Privilegierungen jener, die nicht ›abweichen‹ (vgl. Waldschmidt 2005). Die leistungsbezogene Differenzkonstruktionen, wie sie in den genannten Studien des deutschsprachigen Schulkontexts rekonstruiert wurden (vgl. z. B. Sturm et al. 2020; Wagener 2020), stellen eine ausgeprägte Form des ableist divide (Campbell 2009, S. 7) dar, also eine Grenzziehung oder Unterscheidung von Schüler:innen entlang von Leistung und/oder Leistungsfähigkeit. Diese erfolgt, wenn auch nicht ausschließlich, entlang der schuleigenen Kategorie des sonderpädagogischen Förderbedarfs bzw. des besonderen Bildungsbedarfs.
Sucht man die Erklärungen für diese skizzierten Formen der Exklusion resp. der schulisch-unterrichtlichen Behinderungen akademischer und sozialer Partizipation nicht allein bei den professionellen Akteur:innen, also den Lehrpersonen, weil diese, zugespitzt und kritisch formuliert, die »falschen Einstellungen« (Trautmann & Wischer 2011, S. 133) haben, liegt es nah, die sozialen und materialen Rahmenbedingungen mit ihren Normen und (Entscheidungs-)Erwartungen, in den Blick zu nehmen. Sie rahmen die Praxen der sozialen Akteur:innen und werden von ihnen bearbeitet. Diese Fremdrahmungen sind im schulisch-unterrichtlichen Inklusions-/Exklusionsdiskurs bisher kaum in den Blick genommen worden; meist wird nur konstatiert, dass der Unterricht dem formalen Anspruch nach inklusiv oder exklusiv ist. Dies ist insofern erstaunlich, als internationale Vergleichsstudien zeigen, dass Schulsysteme ökonomisch und sozial vergleichbarer Länder, in denen Schüler:innen nicht entlang ihrer bisher erbrachten schulischen Leistung unterschiedlichen Bildungsgängen zugeordnet werden, soziale Ungleichheit weniger stark in Bildungsungleichheit transformieren, als dies in den mehrgliedrigen Schulsystemen der deutschsprachigen Länder erfolgt (vgl. z. B. Chmielewski 2014; OECD 2018b; Werfhorst 2021). Dieses Desiderat soll in diesem Buch aufgegriffen werden, indem die Konstruktionen resp. die Verständnisse von Leistung und Leistungsdifferenzen – sowie damit einhergehende Behinderungen – des schulisch-unterrichtlichen Rahmens rekonstruiert werden. Diese liegen v. a. in »formalen Regeln [..., die] zu großen Teilen [...] in Schulgesetzen und damit verbundenen administrativen Vorgaben« (Amling 2021, S. 148, Anm. TS) formuliert sind. Der Fokus liegt dabei auf den gesellschaftlich-institutionellen Rahmungen von Schule und Unterricht und nicht auf der Programmatik einzelner Schulen, die sich z. B. als inklusiv/exklusiv verstehen. Mit diesem Vorhaben sollen auch die Perspektiven auf den erziehungswissenschaftlichen Gegenstand schulisch-unterrichtlicher Inklusion und Exklusion erweitert werden, indem sie einerseits dezidiert über die Frage von mit/ohne sonderpädagogischem Förderbedarf resp. Regel-/Sonderschule hinausgehend betrachtet werden und andererseits nicht die Praxen, sondern die Policy, also die (bildungs-)politisch formulierten Inhalte, als die unterrichtlichen Praxen fremdrahmende Normen und (Entscheidungs-)Erwartungen den Gegenstand darstellen. Mithilfe der durch diese Perspektiven zu generierenden Erkenntnisse, so die Erwartung, lassen sich schulisch-unterrichtliche Praxen, die wesentlich von Lehrpersonen gestaltet werden, stärker kontextualisiert und in Relation zu den jeweiligen Fremdrahmungen und weniger als isolierte Phänomene betrachten.
Vor diesem Hintergrund entfaltet sich das zentrale Vorhaben dieses Buches: die den formalen Dokumenten zugrunde liegenden Verständnisse von Leistung, Differenzen und Behinderungen in den Blick zu nehmen. Diese Verständnisse umfassen Normen und damit verbundene (Entscheidungs-)Erwartungen an die professionellen Akteur:innen. Letztgenannte finden sich z. B. in der Erwartung, dass Lehrpersonen mittels individueller Leistungsbewertungen eine Legitimation für die Zuordnung von Schüler:innen zu unterschiedlichen Bildungsgängen vornehmen sollen. Mit den Ausführungen soll eine Reflexionsfolie geschaffen werden, die einen differenzierteren und zugleich inhaltlichen Blick auf die bildungspolitischen Rahmungen unterrichtlicher Praxen eröffnet, ohne dass diese als determinierend verstanden werden. Vielmehr werden sie, den Annahmen der Praxeologischen Wissenssoziologie folgend, als Fremdrahmungen verstanden. Die schulischen Akteur:innen sind gefordert, diese in ihren Praxen zu bearbeiten.
Die Praxeologische Wissenssoziologie und die Dokumentarische Methode (vgl. Bohnsack 2017, 2021b) bieten in ihrem Zusammenspiel einen grundlagentheoretischen und begrifflichen Rahmen für dieses Vorhaben, da mit ihnen sowohl Normen und (Entscheidungs-)Erwartungen, die in kodifizierter, d. h. expliziter, Form vorliegen, als auch Praxen sowie deren Relation zueinander kategorial fass-, analysier- und beschreibbar werden. Auf der Grundlage dieses meta-, also grundlagentheoretischen Verständnisses sollen im Rahmen des Buches dementsprechend nicht Praxen, die sich im Unterricht oder in der Schule konstituieren, rekonstruiert werden, sondern hier stellen die gesellschaftlich-institutionellen Dokumente, die wesentlich vonseiten der Bildungspolitik formuliert sind und u. a. in Schulgesetzen, Bildungs- und Rahmenplänen sowie Steuerungsstrategien vorliegen, den Gegenstand dar. Die in ihnen explizierten und/oder sich dokumentierenden Leistungs-, Differenz- und Behinderungsverständnisse sowie damit verbundene Normen und (Entscheidungs-)Erwartungen, die an pädagogische Professionelle im Kontext von Schule und Unterricht formuliert sind, sollen rekonstruiert werden. Mit diesem Vorhaben ist das Ziel verbunden, eine bisher im Diskurs zu Inklusion und Exklusion in Schule und Unterricht nur wenig eingenommene Perspektive auf die Rahmungen bzw. die Policy in den Blick zu nehmen. Mit dieser Perspektiverweiterung geht das Buch insofern über eine Einführung in das Themenfeld Inklusion und Exklusion in Schule und Unterricht hinaus, als nicht ein Überblick über historische und aktuelle Entwicklungen und Perspektiven dargelegt und diskutiert wird – derer es aktuell bereits mehrere gibt (vgl. z. B. Korff & Neumann 2023; Lütje-Klose & Sturm 2023; Moser 2012; Sturm & Wagner-Willi 2018). Vielmehr stellt das Buch eine aktuelle Forschungsarbeit dar, mit der die bisherigen Perspektiven erweitert und neue Kenntnisse generiert werden sollen. Entlang der eingenommenen Perspektive werden die Ausführungen der deutschsprachigen Policy-Forschung zu Schule und Unterricht, die v. a. mit Blick auf Inklusion v. a. aus governanceanalytischer Perspektive erfolgen, differenziert (vgl. Altrichter & Feyerer 2011).
Das Buch richtet sich mit seinem Anliegen gleichermaßen an Studierende, Lehrpersonen sowie Personen, die in den unterschiedlichen Phasen der Lehrer:innenbildung, der Bildungsverwaltung und -administration tätig sind – unabhängig von dem jeweiligen Lehramtstyp –, sowie an alle, die sich für Fragen von schulisch-unterrichtlicher Inklusion und Exklusion resp. für die Konstruktion von Leistung, Differenzen und damit verbundenen Behinderungen interessieren. Es ist explizit nicht die Zielsetzung des Buches, didaktische und pädagogische Gestaltungsmöglichkeiten von Inklusion zu entwickeln, die einem vermeintlich technischen Wissen gleichkämen, das bei ›korrekter Anwendung‹ den Abbau von Exklusion zur Folge hat. Vielmehr liegt das Ziel darin, ein Reflexionsangebot für die Betrachtung der hochgradigen Komplexität schulisch-unterrichtlicher Praxen von Inklusion und Exklusion darzulegen. Dabei werden schul- und inklusionspädagogische Perspektiven insofern miteinander verbunden, als die schulpädagogischen Kernbegriffe – Schule, Unterricht und Professionalität – zum einen mit den teildisziplinär übergreifenden Diskursen zu Leistung und Differenz und zum anderen mit den inklusions- und sonderpädagogischen zu Behinderungs- und Normalitätskonstruktionen sowie Inklusion/Exklusion verbunden werden. Gemeinsam stellen sie das begriffliche Fundament für die Analysen bildungspolitischer Dokumente dar.
Vor dem Hintergrund der skizzierten Vorhaben gliedert sich das Buch in sechs weitere, aufeinander aufbauende Kapitel. Den Lesenden wird empfohlen, sie in der dargelegten Reihenfolge zu lesen und ggf. zu diskutieren. Im zweiten Kapitel (▸ Kap. 2) werden zentrale Begriffe, Behinderung und Inklusion sowie Exklusion, vorgestellt, die in den vielfältigen Diskursen der deutschsprachigen Erziehungswissenschaft aktuell verwendet und diskutiert werden. Da der Diskurs zu Inklusion und Exklusion nicht allein in der Praxeologischen Wissenssoziologie verankert ist, die den metatheoretischen Rahmen der weiteren Ausführungen darstellt, soll diese Einführung in die Begrifflichkeiten die Vielfalt und zugleich auch die Unterschiede verschiedener Zugänge zum Themenfeld veranschaulichen. Die Ausführungen erfolgen für eine Auswahl von Verständnissen, die Inklusion und Exklusion als relationales Begriffspaar aufgreifen – und ohne einen Anspruch auf Vollständigkeit. Der aktuelle Diskurs zur schuleigenen Differenzkategorie der Leistung sowie die mit ihr in Verbindung aufgerufene Erwartung der kontinuierlichen Leistungsbereitschaft werden im dritten Kapitel vorgestellt (▸ Kap. 3). Im vierten Kapitel (▸ Kap. 4) werden die grundlagentheoretischen Kategorien der Praxeologischen Wissenssoziologie und der Dokumentarischen Methode dargelegt (vgl. Bohnsack 2017, 2020). Sie stellen den begrifflichen Rahmen für die weiteren, zunehmend mit Inhalten differenzierten Perspektiven auf die Gegenstände Leistung, Differenz und Behinderung in gesellschaftlich-institutionellen Dokumenten und wissenschaftlichen Diskursen dar. Sie werden ebenso wie die methodologisch-methodischen begrifflichen Werkzeuge, mit denen die Verständnisse, die Normen und (Entscheidungs-)Erwartungen rekonstruiert werden, dargelegt. Im fünften Kapitel (▸ Kap. 5), das den Kern des Buches darstellt, werden die Leistungsverständnisse, die in formalen schulischen Dokumenten zweier – im innerdeutschen Vergleich einen maximalen Kontrast darstellenden – Bundesländer, Bayern und Hamburg, zu finden sind, rekonstruiert. Neben ausgewählten Ausschnitten aus den Schulgesetzen bzw. dem Erziehungs- und Unterrichtsgesetz werden die Analysen von Lehr- resp. Bildungsplänen sowie weiteren, diese ergänzenden Dokumenten dargelegt. Im sechsten Kapitel (▸ Kap. 6) werden die Differenzverständnisse des schulischen Steuerungskonzepts der evidenzbasierten Bildungsforschung, das vonseiten der Kultusministerkonferenz (KMK 2016) verbindlich eingeführt wurde, und dessen Entwicklungsvorstellungen auch pädagogischen Programmen zugrunde liegt, vorgestellt und entlang der inhärenten Vorstellungen von (Leistungs-)Differenz rekonstruiert. Das Buch endet mit Perspektiven für eine inklusionsorientierte Schulentwicklung, die neben Entwicklungsperspektiven für gesellschaftlich-institutionelle, die Schule rahmende Dokumente v. a. in der Unterstützung der Genese reflexiver, habitualisierter, professionalisierter Milieus von (angehenden) Lehrpersonen liegen (▸ Kap. 7). Dabei wird die Bearbeitung oder Bewältigung einer Vielzahl unterschiedlicher, sich z. T. widersprechender und konfligierender Erwartungen und Normen im Kontext von Schule und Unterricht unter besonderer Berücksichtigung von Inklusion und Exklusion fokussiert. Weiter werden vor dem Hintergrund der Ausführungen des Buches Perspektiven für die wissenschaftlichen und empirisch zu bearbeitenden Forschungsdesiderata diskutiert (▸ Kap. 7).
1Eine Recherche auf der Website des Fachportals Pädagogik zeigt für das Jahr 2005 27 Veröffentlichungen, v. a. Aufsätze, aber auch Monografien und Herausgeber:innenbände zum Themenfeld »Inklusion«, an, eine Zahl, die in den nächsten sieben Jahren bis 2012 auf 64 jährliche erziehungswissenschaftliche Fachbeiträge kontinuierlich und langsam steigt. Im Jahr 2013 erfolgt dann ein Sprung auf 142 Publikationen, der im Jahr 2020 mit über 310 Beiträgen einen vorläufigen Höhepunkt verzeichnet; im Jahr 2021 waren es 209 Publikationen (DIPF. Deutsches Institut für Pädagogische Forschung (2022). Pedocs. Open Access Erziehungswissenschaften. Zugriff: 12. 06. 2022: DIPF. Deutsches Institut für Pädagogische Forschung).
Der Bedeutungszuwachs, den das Themenfeld der schulisch-unterrichtlichen Inklusion und Exklusion in der deutschsprachigen Erziehungswissenschaft im vergangenen Jahrzehnt erfahren hat, zeigt sich u. a. in der Verbreiterung sowie in der Differenzierung des Fachdiskurses. So lassen sich u. a. anerkennungstheoretische (vgl. z. B. Fritzsche 2018), in der empirischen resp. evidenzbasierten Bildungsforschung (vgl. z. B. Grosche 2015) verankerte, praxeologisch-wissenssoziologische (vgl. z. B. Sturm 2015; Wagener 2018), machtanalytische (vgl. z. B. Link 2019), systemtheoretische (vgl. z. B. Cramer & Harant 2014) sowie in der Kritischen Theorie (vgl. z. B. Bärmig 2015; Katzenbach 2015) fundierte Verständnisse in der Erziehungswissenschaft unterscheiden2. Die Begriffe Inklusion und Exklusion werden, je nach meta- oder grundlagentheoretischem Zugang, unterschiedlich definiert. Damit verbunden sind auch verschiedene Verständnisse von Behinderung, Normalität und Abweichung sowie deren gesellschaftliche, organisatorische und/oder individuelle Konstruktion. Das bedeutet, dass vielfach die gleichen Begriffe verwendet werden, damit aber ganz unterschiedliche Gegenstände oder Phänomene bezeichnet werden. Mit der jeweils gewählten Grundlagen- oder Metatheorie positionieren sich die Autor:innen wissenschaftlicher Texte an einem Standort, von dem aus sie den Gegenstand, z. B. Inklusion und Exklusion, beschreiben, verstehen und betrachten. Die Wissenschaft selbst kann sich einer Standortgebundenheit ebenfalls nicht entziehen. Wissenschaftler:innen sind jedoch gefordert, den von ihnen gewählten meta-theoretischen Zugang, die Gegenstandstheorien sowie die Methodologien und Methoden, mit denen sie arbeitet, zu benennen (vgl. z. B. Meseth, Casale, Tervooren & Zirfas 2019; Thompson & Wrana 2019), um ihre Positionen nachvollziehbar zu machen.
Trotz der Vielfalt sozial- und v. a. erziehungswissenschaftlicher Zugänge zu Inklusion und Exklusion in Schule und Unterricht teilen diese, dass sie sich – meist explizit – auf die Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen der Vereinten Nationen, kurz UN-BRK (2006; 2008), beziehen. Diese fungiert dabei wesentlich als normativer Bezugspunkt, wenngleich nicht immer eindeutig abgegrenzt wird, ob in moralischer, rechtlicher und/oder politischer Hinsicht (vgl. Weyers 2019). Der damit aufgemachte menschenrechtliche Bezug stellt einen übergeordneten und zugleich universalistischen Rahmen dar, zu dem sich auch wissenschaftliche Praxen und ihre Normen in Beziehung setzen müssen (vgl. Wrana 2019). Im deutsch- ebenso wie im englischsprachigen Fachdiskurs zu Inklusion und Exklusion in Schule und Unterricht stellen Behinderung und in Bezug auf Schule und Unterricht sonderpädagogischer Förderbedarf zentrale Begriffe dar. Grob lassen sich für Behinderung individuelle, soziale und kulturelle Verständnisse unterscheiden (vgl. Waldschmidt 2020b). Die verschiedenen Verständnisse umfassen u. a. Vorstellungen, wie die Behinderungen minimiert oder überwunden werden können und in der Folge Teilhabe bzw. Partizipation eröffnet werden kann. Vor diesem Hintergrund gliedert sich das Kapitel wie folgt: Zunächst werden die unterschiedlichen Verständnisse von Behinderung (▸ Kap. 2.1) vorgestellt und diskutiert. Daran anschließend folgen Ausführungen zur Konzeptualisierung von Inklusion und Exklusion in der Erziehungswissenschaft (▸ Kap. 2.2).
Bildung, Erziehung und Sozialisation gelten als drei Kernbegriffe der Erziehungswissenschaft. Behinderung stellt einen konstitutiven Begriff des teildisziplinären Diskurses, der unter unterschiedlichen Bezeichnungen geführt wird, u. a. Behinderten- und Sonderpädagogik, dar. Dabei fungiert Behinderung – wie auch immer sie verstanden und konzeptualisiert wird – als Begründung für diese spezifische pädagogische Perspektive und stellt zugleich den zentralen Gegenstand der Kritik dar (vgl. Moser 2003, S. 53). Innerhalb dieses teildisziplinären erziehungswissenschaftlichen Diskursstrangs werden eine Vielzahl begrifflicher Verständnisse von Behinderung formuliert, die sich entlang der jeweils aufgerufenen Relation von Natur und Kultur – ihrerseits Ausdruck von Metatheorien – unterscheiden (vgl. für einen Überblick: Moser & Sasse 2008; Waldschmidt 2022). Mit Anne Waldschmidt (2005, 2020b) lassen sich grob drei Verständnisse von Behinderung in den Erziehungs- und Sozialwissenschaften unterscheiden: ein individuelles oder individualisiertes, ein soziales und ein kulturelles Modell. Die zwei letztgenannten Ansätze wurden in kritischer Auseinandersetzung mit dem individualisierten Modell – das im Unterschied zu den zwei anderen nicht explizit konzeptualisiert wurde – entwickelt. Sowohl das soziale als auch das kulturelle Verständnis von Behinderung verstehen diese nicht als individuelles Merkmal, sondern als sozial hervorgebrachte Formen der Nicht-Partizipation resp. der Behinderung von Partizipation. Beide Perspektiven können mittlerweile als den erziehungswissenschaftlichen Fachdiskurs dominierende Zugänge betrachtet werden. Das Verständnis von Behinderung als gesellschaftliche Konstruktion liegt auch der UN-BRK zugrunde (vgl. Bielefeldt 2009), also einem zentralen normativen Bezugspunkt erziehungs- und bildungswissenschaftlicher Diskurse. Alle drei Verständnisse sollen kurz vorgestellt werden.
Historisch betrachtet, stellt das individuelle Verständnis von Behinderung insofern einen zentralen Ausgangspunkt aktueller Diskurse in den Sozialwissenschaften dar, als die jüngeren Verständnisse sich aus der Kritik an diesem entwickelt haben. In dem individuellen oder individualisierten Verständnis wird Behinderung als Merkmal oder Eigenschaft von einzelnen Personen konzeptualisiert. Behinderung wird dabei als körperliche oder psychische Schädigung oder Abweichung von einer (unhinterfragten) Normalität verstanden. Die Abweichung ist negativ konnotiert und Teil der Person bzw. ihr inhärent. Schädigungen, die gleichgesetzt sind mit Behinderungen, werden auf der Grundlage von Vergleichen mit anderen, als vollfunktionsfähig oder als ›normal‹ bezeichneten Körpern und/oder Psychen ermittelt und definiert. Die implizit aufgerufene Vergleichsgröße gilt als nicht-behindert und damit als ›normal‹. Die körperliche und/oder psychische Schädigung resp. Behinderung begründet sich in der Körperlichkeit und existiert losgelöst von sozialen und kulturellen Kontexten. Die ›abweichende‹ Natur, Körperlichkeit oder Psyche behindert die davon betroffenen Personen, so eine Kernannahme des Ansatzes, von einer vollwertigen Teilnahme am gesellschaftlichen Leben. Das individuelle oder individualisierende Verständnis von Behinderung wird auch als essentialisierende, medizinische oder ontologische Perspektive bezeichnet (vgl. Waldschmidt 2005).
Dieses Behinderungsmodell geht mit einem Verständnis sogenannter behinderter Menschen einher, deren Leistungsfähigkeit und Arbeitskraft im gesellschaftlichen Produktionsprozess als minderwertig betrachtet werden und die als hilfsbedürftig gelten. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde in den westlichen Staaten industrieller Prägung dieses Verständnis der Hilfsbedürftigkeit institutionalisiert, indem der Staat ebenso wie bürgerliche und kirchliche Einrichtungen den sogenannten Hilfsbedürftigen mit karitativen Angeboten begegnen. Dies wird nicht selten mit der Annahme verbunden, für die Hilfe Dankbarkeit vonseiten der behinderten Menschen erwarten zu können (vgl. Zahnd 2017). Verbunden damit haben sich unterschiedliche Professionen und Berufe etabliert, die sich den Problemen der Personen widmen, u. a. Sonderpädagog:innen, während die Betroffenen selbst nur marginal als Expert:innen oder bei der Suche nach Problemlösungen partizipierend einbezogen werden (vgl. Waldschmidt 2005). Diese ausschließlich individualbezogene Perspektive findet sich in den expliziten erziehungswissenschaftlichen Auseinandersetzungen zum Behinderungsverständnis heute kaum noch. Sie findet sich jedoch – dies wird in den weiteren Ausführungen des Buches aufgezeigt – sowohl in formalen schulischen Dokumenten als auch in Forschungsansätzen (▸ Kap. 5, ▸ Kap. 6).
Eine zentrale Kritik an dem individualisierenden Behinderungsverständnis besteht darin, dass jene, die die Hilfe, Fürsorge und Pädagogik organisieren, auch die Deutungshoheit darüber haben, wer wie und in welcher Form unterstützt wird und als arbeitsfähig gilt (vgl. Sierck 2012b, S. 32). Die kritische und emanzipatorische Auseinandersetzung mit dem Behinderungsverständnis und seinen alltagspraktischen Konsequenzen und Erfahrungen wurde maßgeblich von dem interdisziplinären Forschungszugang der Dis_Ability Studies initiiert. Dieser Forschungsansatz hat sich seit den 1980er Jahren im englischsprachigen Raum – sowohl im Vereinigten Königreich als auch in den Vereinigten Staaten – entwickelt und ist, zeitlich etwas verzögert, auch im deutschsprachigen Fachdiskurs und später auch in öffentlichen Diskursen aufgegriffen worden (vgl. Tervooren 2003). Die Dis_Ability Studies sind an einer emanzipatorischen Idee orientiert, d. h., ihr Forschungsprogramm sieht vor, Benachteiligungen, Menschenrechtsverletzungen und Marginalisierungen aufzudecken und Perspektiven für deren Abbau zu formulieren. Die sozialwissenschaftliche Fundierung des Ansatzes, der als theoretische Bearbeitung und Antwort der in der Gründungsphase starken Politisierung bezeichnet werden kann, stellt eine Alternative und Abgrenzung gegenüber dem bis dahin dominierenden individualisierenden Verständnis von Behinderung dar, das diese wesentlich als gesundheitliche Schädigung verstand, für die Therapien und Rehabilitationsmöglichkeiten zu entwickeln sind. Initiant:innen ebenso wie prägende Akteur:innen der Dis_Ability Studies sind Wissenschaftler:innen, die sich als ›behindert‹ bezeichnen bzw. erleben (vgl. für einen Überblick: Waldschmidt 2022).
In Abgrenzung zum individualisierten Verständnis von Behinderung – und dessen gesellschaftlichen Implikationen für die Betroffenen – wurde das soziale Verständnis entwickelt, das Behinderung nicht als individuelles Defizit, das es zu heilen gilt, oder als Abweichung von einer Norm versteht, sondern als sozial hervorgebrachte Behinderung der gesellschaftlichen Partizipationsmöglichkeiten. Im Vergleich zum individuellen Model zeichnet sich das soziale dadurch aus, dass Schädigungen oder Beeinträchtigungen von Behinderungen unterschieden werden. Körperliche und/oder psychische Schädigungen werden als ›Abweichungen‹ gegenüber sogenannten normalen Körpern und Psychen verstanden. Dies ist vergleichbar mit dem individuellen Modell, ohne allerdings, dass diese natürliche bzw. körperbezogene Seite mit der Behinderung gleichgesetzt wird. Behinderungen verweisen gegenüber der ›Natur‹ der Schädigung auf die soziale Seite, die Partizipation an und den Zugang zu sozialen Zusammenhängen ver- oder eben behindert. Mit anderen Worten: Behinderungen werden sozial hervorgebracht – und sind somit auch durch gesellschaftliche Veränderungen zu überwinden. Beispiele hierfür sind architektonische Barrieren, die Menschen mit einer spezifischen körperlichen Konstitution den Zugang zu (öffentlichen) Gebäuden, zu denen auch Schulen, Universitäten und Polizeiwachen zählen, und/oder Verkehrsmitteln, wie Bussen und Bahnen, erschweren oder behindern. Die Barrieren können Stufen oder fehlende Fahrstühle sein – für Menschen, die sich im Rollstuhl fortbewegen – oder fehlende Handläufe und Informationen in Brailleschrift, die der Orientierung im Gebäude dienen, z. B. Namensschilder an den Bürotüren oder Auskunftstafeln über mögliche Fluchtwege im Brandfall. Neben architektonischen Barrieren gibt es zahlreiche weitere, die nicht in vergleichbarer Form erkennbar sind. Hierzu gehören in unserer Gesellschaft z. B. Erwartungen, seinen Lebensunterhalt durch Einsatz der eigenen Arbeitskraft derart einzusetzen, dass das eigene Leben und ggf. das einer Familie dadurch gesichert werden kann. Bezogen auf Schule und Unterricht zählen hierzu auch didaktische Zugänge und/oder Lehrgänge, mit denen die Lehrpersonen arbeiten und denen (implizit) u. a. Erwartungen bzgl. des Vorwissens einzelner Schüler:innen und ihrer Interessen zugrunde liegen – über die aber nicht notwendigerweise alle Schüler:innen gleichermaßen verfügen, um sich die Inhalte erschließen zu können.
Als wissenschaftlicher Zugang eröffnet dieses Verständnis von Behinderung die Möglichkeit, danach zu fragen, welche sozialen, kulturellen und ökonomischen Behinderungen in der Gesellschaft hervorgebracht werden (vgl. Goodley 2014, S. 3). Das heißt, dass Behinderungen im sozialen Modell im Kontext ihrer sozialen Genese, also ihrer Entwicklung, betrachtet werden. Solche Analysen stellen ihrerseits die Ausgangspunkte zur Formulierung politischer Forderungen zur Veränderung der aktuellen Rahmenbedingungen (z. B. gesetzlich, architektonisch) dar. Das emanzipative Verständnis dieses Zugangs eröffnet die Möglichkeit – gegenüber staatlichen Einrichtungen und Vorgaben –, den Abbau von Behinderungen zu thematisieren und politisch einzufordern. Historisch haben Menschen entlang dieses Verständnisses u. a. darauf aufmerksam gemacht, dass sie gesellschaftlich behindert werden; wie z. B. die sogenannte Krüppelbewegung, die in den 1980er Jahren u. a. in der Öffentlichkeit darauf aufmerksam gemacht hat, dass nicht alle vergleichbaren Zugang zu Gebäuden und öffentlichen Verkehrsmitteln haben (vgl. Köbsell 2018). In pädagogischen Zusammenhängen von Schule und Unterricht ermöglicht das soziale Modell, die Rahmenbedingungen oder die Umwelt – also den schulischen und den konkreten Lehr-Lern-Kontext – auf mögliche Behinderungen der Partizipation zu hinterfragen und Perspektiven ihres Abbaus zu formulieren.
Die Weltgesundheitsorganisation hat mit der International Classification of Functioning, Disability and Health, kurz ICF (World Health Organisation 2005), ein Modell vorgelegt, das dieses soziale Verständnis von Behinderung aufgreift und körperliche und psychische Schädigungen in ihrem Wechselspiel mit sozialen Bedingungen betrachtet (vgl. Langner 2017). Behinderungen werden darin nicht allein und ausschließlich als funktionale Abweichungen der Körperlichkeit, sondern in Relation zu den sozialen und materialen Umwelten der jeweiligen Individuen betrachtet. Exemplarisch unterscheidet sich die Situation für eine:n blinde:n Schüler:in darin, ob er:sie in der Schule, die er:sie täglich besucht, z. B. Braille-Beschriftungen vorfindet oder nicht. In dem einen Fall wird seine:ihre Teilnahme behindert, in dem anderen nicht. Am Beispiel von Gehörlosigkeit stellt das Nicht-Hören eine Beeinträchtigung oder Schädigung dar, während eine Behinderung vorliegt, wenn aufgrund von ausschließlichem Gebrauch der Lautsprache, die Partizipation an den Interaktionsgeschehnissen nicht möglich ist. Die Behinderung ließe sich überwinden, indem z. B. auch gebärdensprachlich kommuniziert wird, was u. a. erfordert, dass Hörenden die Möglichkeit zum Erwerb der Gebärdensprache, z. B. in der Schule, eröffnet wird. Die ICF dient in vielerlei Hinsicht als Grundlage für die Zuweisung besonderer Leistungen, wie z. B., dass Schüler:innen neben der regulären pädagogischen auch sonderpädagogische Unterstützung und Begleitung erhalten. In der Schweiz stellt sie einen Bezugspunkt für die Attestierung von besonderem Bildungsbedarf, dem Pendant zum sonderpädagogischen Förderbedarf, dar (vgl. Hollenweger 2006; Hollenweger & Luder 2010).
Eine zentrale Kritik, die in vergleichbarer Weise auf das soziale Modell von Behinderung als auch für das Modell der ICF zutrifft, liegt in dem, trotz der Trennung von Natur und Kultur bzw. Beeinträchtigung und Behinderung, erhaltenen Verständnis ›naturgegebener‹ Schädigungen. Ein solches lässt sich nur vor der Folie des Konstrukts ›normaler Körper‹ und ›normaler Psychen‹ einerseits und Invalidität bzw. abweichende, als nicht-normal betrachtete Körper andererseits konzipieren (vgl. z. B. Goodley 2014; Köbsell 2018; Waldschmidt 2020b). Normalität wird damit letztlich zum Bezugspunkt für die Formulierung von ›Anormalität‹ oder ›unnormal sein‹, die mit defizitären Perspektiven auf Körper und Personen einhergehen (vgl. Hirschberg 2003, S. 177 f.).
Das kulturelle Verständnis von Behinderung wurde in der kritischen Auseinandersetzung sowohl mit dem individuellen als auch dem sozialen Modell von Behinderung entwickelt, wenngleich es eine Vielzahl von Gemeinsamkeiten mit dem sozialen aufweist. Es speist sich wesentlich aus der Bearbeitung der Kritik an dem sozialen Modell – insbesondere des diesem zugrunde liegenden dichotomen Verhältnisses von Natur und Kultur.
Während das soziale Modell eine individuelle von einer sozialen Seite unterscheidet, löst sich das kulturelle Modell gänzlich von dieser essentialisierenden Sicht, indem die Vorstellung von ›normalen‹ und ›geschädigten‹ Körpern selbst als Ausdruck kultureller Praxen – und nicht natürlicher Gegebenheiten – verstanden wird (vgl. Waldschmidt 2005). Mit anderen Worten: kulturell – und in der Regel implizit – haben sich Verständnisse von Körpern und Menschen entwickelt und durchgesetzt, die auf der Unterscheidung ›nicht-/normal‹ basieren.
Diese gesellschaftlichen Normalitätsvorstellungen basieren dabei wesentlich auf der Idee eines ›perfekten‹, ›vollständigen‹ Menschen bzw. menschlichen Körpers. Abweichungen oder Behinderungen dienen dabei als explizite sowie implizite Vergleichsfolie, die nicht nur gängige Normalitätsvorstellungen prägen, sondern auch zu deren Erhalt beitragen. Behinderung ist diesem Verständnis nach eine Bedingung für Vorstellungen von Normalität ebenso wie Normalität die Voraussetzung für Behinderung darstellt. Beide bedingen einander, wie zwei Seiten einer Medaille. Alle gesellschaftlichen Akteur:innen sind in die Konstruktion von Behinderung und Normalität eingebunden; wenngleich sie dabei unterschiedlich positioniert sind, also verschiedene Positionen innerhalb der aufgemachten sozialen Hierarchien einnehmen: Sie gelten als ›normal‹ oder als ›abweichend‹ bzw. ›behindert‹. Gemeinsam ist den Positionen resp. den Akteur:innen jedoch die Erfahrung, in einer Gesellschaft zu leben, in der Behinderungen und damit verbundene Benachteiligungen, Marginalisierungen, Schlechterstellungen als legitim gelten (vgl. Waldschmidt 2005).
Wissenschaftliche Zugänge, die mit einem kulturellen Verständnis von Behinderung arbeiten, fragen nach den jeweiligen, kulturell verankerten Vorstellungen und Normen sowie den Kategorisierungen, die für sie entwickelt wurden und damit verbundenen Diskriminierungen, Marginalisierungen und Benachteiligungen. Damit steht die Konstruktion von Behinderung insofern im Zentrum der analytischen Betrachtungen, als sie in ihrer Relation zu Normalitätskonstruktionen betrachtet wird. Das heißt, es werden nicht vermeintlich behinderte ›normalen‹ Menschen gegenübergestellt, sondern danach gefragt, wie diese Unterscheidung kulturell hervorgebracht wird. Entsprechend stellt die Bezeichnung oder die Erfahrung von ›Behinderung‹ im Alltag zunächst ein kulturelles Ereignis dar, das – vergleichbar anderen sozial hervorgebrachten Differenzen – in vielfacher Weise erfahren und erlebt wird. Die verwendeten Kategorisierungen können soziale Wirkmächtigkeit erlangen und auch in gesellschaftlichen Organisationen und Institutionen festgeschrieben werden, die sich dann verselbstständigen können, wenn sie nicht als Konstrukt, sondern als Eigenschaft der so markierten Personen verstanden wird. In der Schule erfolgt dies – in Kapitel 5 und 6 (▸ Kap. 5, ▸ Kap. 6) wird dies näher ausgeführt – u. a. entlang der Kategorien von Bildungsgangzugehörigkeiten, wie z. B. des sonderpädagogischen Förderbedarfs oder des Gymnasiums.
Auch mit unserer Sprache bringen wir Normalitäts-/Behinderungsvorstellungen hervor. Zugespitzt findet sich dies in Formulierungen wie ›jemand leidet an einer Behinderung‹ oder ›jemand ist an den Rollstuhl gefesselt‹. Diese Formulierungen legen nah, dass ein Mensch oder eine Personengruppe, die mit einer bestimmten körperlichen Konstitution lebt, darunter leidet bzw. sich in einer Zwangsposition befindet, aus der er:sie sich nicht befreien kann. Hier dokumentieren sich nicht nur negative, abwertende Perspektiven auf spezifische körperliche und/oder psychische Konstitutionen und Lebenssituationen, sondern es werden auch hierarchische Unterscheidungen gegenüber einem, wenn auch implizit bleibenden Gegenhorizont deutlich: die Nicht-Behinderung oder Normalität. Eine Umkehrung der Aussage würde bedeuten, dass das Leben ohne eine Behinderung nicht durch Leid ausgezeichnet sein kann und damit prinzipiell das bessere sei. Auch wird in der Aussage die Möglichkeit ausgeblendet, die im Alltag verwendeten Hilfsmittel als Teil des menschlichen Lebens zu verstehen, so wie andere gesellschaftlich, kulturell geprägte Produkte, wie z. B. Kleidung oder Brillen, betrachtet werden.
Die theoretischen und begrifflichen Perspektiven, die sowohl dem sozialen wie auch dem kulturellen Modell von Behinderung zugrunde liegen, die unmittelbar mit einem emanzipativen Anspruch verbunden sind, betrachtet Raphael Zahnd (2017) vor dem Hintergrund aktueller gesellschaftlich-ökonomischer Entwicklungen als gefährdet. Die gravierenden Veränderungen der Sozialpolitik, die sich seit Ende des letzten Jahrhunderts durch eine zunehmende Ablösung von Prinzipien eines Wellfare zugunsten eines Workfare State entwickeln, die den Erhalt staatlicher Leistungen an eine Gegenleistung binden, also gesellschaftliche Solidarität in Ausmaß und Umfang an Voraussetzungen knüpft und auf Konkurrenz und Wettbewerb basieren, relativieren die emanzipatorischen Potenziale der genannten Behinderungsverständnisse (vgl. Zahnd 2017). Dies ist v. a. dann gegeben, wenn die formulierten Erwartungen für alle Menschen an einer – wie auch immer konstruierten – gleichen Norm ausgerichtet sind; ohne dass sichergestellt ist, dass alle diese gleichermaßen erfüllen könn(t)en. Diese kulturelle Perspektive auf Behinderung eröffnet einen Zugang zur »Historizität und Kulturalität, Relativität und Kontingenz von (Nicht-)Behinderung (dis/ability)« (Waldschmidt 2020a, S. 457, Herv. im Orig.). Das zentrale theoretisch-begriffliche Werkzeug mit dem dies erfolgt, findet sich im Begriff des Ableism.
Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die Behinderungsverständnisse sich darin unterscheiden, ob sie davon ausgehen, dass Menschen – aufgrund ihrer körperlichen und/oder psychischen Verfasstheit – behindert sind oder, ob sie aufgrund gesellschaftlicher, sozialer und kultureller Konventionen, die ihren Ausdruck in Rahmenbedingungen und Alltagspraxen, also deren Kulturen, finden, behindert werden. Die Ausführungen zu den unterschiedlichen Vorstellungen von Behinderung lassen sich vergleichbar für weitere Formen gesellschaftlicher Normalitäts- bzw. Differenzkonstruktionen finden, wie z. B. Ethnizitäts-, Geschlechts- und/oder sozial-ökonomische Klassenkonstruktionen. Für diese Differenzdimensionen finden sich vergleichbare Definitionen, die natürliche und/oder sozial-kulturelle Erklärungen für Unterschiede anführen (vgl. für eine Übersicht: Sturm 2016). Wobei – vergleichbar zu Behinderung – in den aktuellen erziehungswissenschaftlichen Fachdiskursen soziale und/oder kulturelle Erklärungen dominieren. Trotz ihrer Dominanz im fachwissenschaftlichen Diskurs finden sich die individuellen Modelle im Kontext von Schule und Unterricht bis heute gleichermaßen und werden auch für die Legitimation von schulisch-unterrichtlicher Bearbeitungsformen, die exklusiv und separierend sein können, herangezogen (▸ Kap. 5). Im Vergleich zu den anderen Kategorien unterscheidet sich die der Behinderung – bzw. in Schule und Unterricht die des sonderpädagogischen Förderbedarfs – in der gesellschaftlichen Institution Schule, als für die Gruppe der so markierten Schüler:innen nicht nur spezifisch ausgebildete Lehrpersonen (Sonderpädagog:innen bzw. Schulische Heilpädagog:innen) zur Verfügung stehen, sondern auch Sondereinrichtungen, wie Sonder- oder Förderschulen3.
Mit dem Begriff Ableism, für den es keine wörtliche Übersetzung ins Deutsche gibt (vgl. Köbsell 2015a), aber Ableismus als ›deutsche Variante‹ (vgl. z. B. Buchner, Pfahl & Traue 2015) verwendet wird, wird »ein Gesellschaften durchziehendes und strukturierendes Verhältnis«, mit dem hierarchische Bewertungen »von Menschen anhand angenommener, zugeschriebener oder tatsächlicher Fähigkeiten« (ebd. 2015a, S. 21) vorgenommen werden, bezeichnet. Rebecca Maskos (2015, S. 2) beschreibt Ableismus als »kulturelles Wissen [...], das über Behinderung und Nichtbehinderung in der Welt existiert«. Ableismus, so in beiden Zitaten, liegt nicht punktuell vor, sondern beschreibt (in weiten Teilen) geteiltes strukturierendes, gesellschaftliches und kulturelles Wissen. Da dieses begriffliche Werkzeug für die weiteren Ausführungen, v. a. für die Analysen der gesellschaftlich-institutionellen bzw. öffentlichen Dokumente, relevant und anschlussfähig an die metatheoretischen Kategorien der Praxeologischen Wissenssoziologie ist, in der die weiteren Ausführungen verankert sind, soll er im folgenden Abschnitt differenzierter vorgestellt werden.
Ableism oder Ableismus – das zentrale Konzept für die begrifflichen Analyse der Dis_Ability Studies – untersucht gleichermaßen explizit formulierte und implizite Vorstellungen über menschliche Fähigkeiten und Körperlichkeit, die durch die Verallgemeinerung auf ›normierte Menschen‹ jene ausschließen, marginalisieren und/oder verbesondern, die diese Erwartungen nicht erfüllen (können) (vgl. Köbsell 2015a; Rommelspacher 1999). Die Normen und Erwartungen umfassen u. a. Ideale wie Schönheit, Gesundheit und Leistungsfähigkeit, die die Gesellschaft durchziehen. In den letzten Jahren beobachten Alfred Schäfer (2015) und Udo Sierck (2012a) eine Verschärfung von Normalität und der Erwartung der eigenen Optimierung im Sinne der Normalität durch die zunehmende gesellschaftliche Akzeptanz operativer und medikamentöser Angebote, die versprechen, vermeintliche körperliche Vollkommenheit durch leistungssteigerndes Optimierungshandeln zu erreichen. Mit diesen Perspektiven korrespondiert die Ablehnung dessen, was den Idealen zuwiderläuft.
Ableistische oder fähigkeitsbezogene Unterscheidungen oder ableist divides