Inklusion verstehen - Uta Häsel-Weide - E-Book

Inklusion verstehen E-Book

Uta Häsel-Weide

0,0

Beschreibung

Die Verankerung von Inklusion als Querschnittsthema lehramtsbezogener Studiengänge fordert zu einer interdisziplinären Verständigung über die Vorstellung inklusiver Unterrichtsgestaltung heraus. Die Forscher:innengruppe der Universität Paderborn wählt hierfür als methodischen Ausgangspunkt Vignetten als verdichtete Fallbeispiele aus der Unterrichtspraxis, die aus verschiedenen fachübergreifenden praxistheoretischen Perspektiven gelesen und so gemeinsam diskutiert werden. In der Linie praxistheoretischer Arbeiten wird das Buch Praktiken im inklusiven Fachunterricht in der Spannung zu den normativen (sonder)pädagogischen bzw. (fach)didaktischen Vorannahmen reflektieren, um aus dieser Reflexion eigenes verantwortetes Handeln zu entwickeln. Die Vignettenbündel laden so zum diskursiven Austausch, zur Kontrastierung oder zum "Einfangen" selbst erlebter Unterrichtspraxen auf dem Weg des Verstehens von Inklusion in Theorie und Praxis ein.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 375

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhalt

Cover

Titelei

1 Inklusion verstehen – Einleitung

1.1 Inklusionsbegriffe und Perspektiven

1.2 Praxistheoretisch inspirierte Annäherungen an das Verstehen inklusiven Unterrichts

1.3 Vignetten als methodischer Zugang zu domänenspezifischen Perspektiven auf inklusiven Unterricht

Verfassen von Vignetten im Projekt ›Inklusion verstehen‹

Lesarten zu Vignetten im Projekt ›Inklusion verstehen‹

Lesartenantworten im Projekt ›Inklusion verstehen‹

1.4 Entstehung, Aufbau und Einsatzmöglichkeiten des vorliegenden Buches

Literatur

2 Lesartenbündel zur Vignette »Kommt jetzt bitte mal besoffen!«

2.1 Vignette aus dem Deutschunterricht »Kommt jetzt bitte mal besoffen!«

2.2 Eine Lesart zu Spannungsmomenten zwischen Struktur und Partizipation im inklusiven Unterricht

Situationsbeschreibung – Leistungsüberprüfung oder Übungssituation

Theoretische Verknüpfung

Personen – Maxi, die Lehrperson und die Mitschülerinnen und Mitschüler

Theoretische Verknüpfung

Classroom Management – Rituale und Routinen als Entlastung

Theoretische Verknüpfung

Das transportierte Bild – Wie wird die Lehrerin (›und sagt scharf‹ Z. 20) und wie wird (›sogar‹ Z. 8) Maxi beschrieben

Theoretische Verknüpfung

Literatur

2.3 Eine Lesart aus machttheoretischer Perspektive

Dominanzpraktiken

Das Erscheinen des Subjekts

Literatur

2.4 Eine praxistheoretische Lesart gegen den inklusionspädagogischen Strich

Der theoretische Rahmen der Lesart

Die interpretative Lesart zur Vignette

Literatur

2.5 Lesartenantwort – Priorisierung von Kindernot in phänomenologischer Sicht

Ästhetischer Modus des Deutschunterrichts als Kontext der Vignette

Eigenes Vorverständnis zur Bedeutsamkeit der Vignette für den Themenkreis Inklusion

Antwort auf die Lesart und ihre theoretischen Markierungen von Désirée Laubenstein

Antwort auf die Lesart und ihre theoretischen Markierungen von Oliver Reis

Antwort auf die Lesart und ihre theoretischen Markierungen von Franz Schröer und Claudia Tenberge

Literatur

3 Lesartenbündel zur Vignette »High Five«

3.1 Vignette aus dem Mathematikunterricht »High Five«

3.2 Eine Lesart für das soziale Miteinander bei Lernaufgaben im Klassenraum

Der theoretische Rahmen der Lesart

Die interpretative Lesart zur Vignette

Literatur

3.3 Eine Lesart zur Betonung von Mensch-Artefakt-Konstellationen

High-Five als Ausdruck gemeinsamer Zufriedenheit?

Literatur

3.4 Eine praxistheoretische Lesart zum Erkunden

Literatur

3.5 Lesartenantwort – Annäherung an fachliche und soziale Praktiken im inklusiven Mathematikunterricht

Eigenes Vorverständnis der Vignette

Bestätigung, Befremdung, Irritation, Überraschung. Antworten auf ›fremde und andere‹ Lesarten und ihre theoretischen Markierungen

Kooperations»praktiken« im inklusiven Mathematikunterricht

Literatur

4 Lesartenbündel zur Vignette »Dann musst du mal über Strategien nachdenken!«

4.1 Vignette aus einer Katholischen Schule »Dann musst du mal über Strategien nachdenken!«

4.2 Eine praxistheoretische Lesart mit Bezügen auf performative Religionsdidaktik

Schulkultur – Gebetskultur – Gleichaltrigenkultur

Formen – Innen – Außen

Religiöse Praktiken im Kontext Schule

Verhaltensspielräume

Literatur

4.3 Eine Lesart für die kommunikative Bedeutung der Artefakte und routinisierten Handlungen im Miteinander

Kommunikative Bedeutung der routinisierten Handlung

Kommunikative Bedeutung der Artefakte

Miteinander: Ausführung und Herausforderungen

Literatur

4.4 Eine praxistheoretische Lesart zur Interaktion von Akteur:in und Struktur

Zur Praktik Morgengebet

Der Lehrer als Akteur

Der Junge, der ein Gebet vortragen soll, als Akteur

Zusammenführung

Literatur

4.5 Lesartenantwort – Homogenisierung und Differenzbildung in religiösen Praktiken unter Bedingungen religiöser Pluralität

Vorüberlegungen zur inklusionsbezogenen Auswahl der Vignette

Anstöße, Anreicherungen und Ausschärfungen durch die Lesarten

Literatur

5 Lesartenbündel zur Vignette »... ein Kumpan könnte dort sein.«

5.1 Vignette aus dem Homeschooling »... ein Kumpan könnte dort sein.«

5.2 Eine Lesart mit Blick auf Ziel und Bedeutung von Schule

Zählbare Arbeitszeit oder kreatives Produkt – was zählt in der Schule?

Doch immer ist er allein – Interaktionen

Literatur

5.3 Eine Lesart für den ästhetischen Blick auf Lernverhältnisse, Lernwege und Lernprodukte

Woher kommt der »Ritter im Licht«?

Ein einsamer Ritter auf poetisch verschlungenen Wegen

Erwachsen-betreut und peer-verlassen

Digitale Begleiter und die Frage danach, wer den Hut aufhat

Ein wahrer Kumpan?

Literatur

5.4 Eine praxistheoretische Lesart zur Rolle der Schulbegleitung

Hinterfragen oder Weiterlabern? Assistenz in einem Schulsystem Lost in Translation

Der theoretische Rahmen der Lesart

Die interpretative Lesart zur Vignette

Die Bedeutung für das Thema der Inklusion

Literatur

5.5 Lesartenantwort – Zur Beleuchtung der Lernkontexte

Eigenes Vorverständnis der Vignette

Kontext der Vignette

Antworten auf Gemeinsamkeiten der Lesarten: Kernpunkte des Homeschoolings?

Antworten auf einzelne Lesarten

Eigenes Vorverständnis der Vignette für das Thema Inklusion

Literatur

6 Lesartenbündel zur Vignette »Ich hab ja auch noch Julius.«

6.1 Vignette aus dem Sachunterricht »Ich hab ja auch noch Julius.«

6.2 Eine resonanzpädagogische Lesart

Orientierungslos vereinzelte Anti-Experten

Literatur

6.3 Eine Lesart im Spannungsfeld von Abhängigkeit und Autonomie

Multiprofessionelle Kooperation?

Die Vorherrschaft von Wissensreproduktion

Literatur

6.4 Eine praxistheoretische Lesart zur Expertinnen- und Expertenrolle

Der theoretische Rahmen der Lesart

Die interpretative Lesart zur Vignette

Die Bedeutung der Vignette für Inklusion

Literatur

6.5 Lesartenantwort – Zu mikro- und makrostruktureller Adaptivität von Lernunterstützung im inklusiven Sachunterricht

Expertenarbeit – Problemstellen alternativer Subjektivierungen

Kindorientierung – zur adaptiven Gestaltung strukturierender und aktivierender Leistungen

Methode, Sozialform und Verfahren im fortwährenden Konflikt

Schluss und Offene Fragen

Literatur

7 Lesartenbündel zur Vignette »Zielgleich und zieldifferent«

7.1 Vignette aus dem Mathematikunterricht »Zielgleich und zieldifferent«

7.2 Eine Lesart mit Überlegungen zum Umgang mit Lernunsicherheiten

Situationsauslegung

Die interpretative Lesart zur Vignette

Literatur

7.3 Eine Lesart aus der Perspektive inklusiver Mathematikdidaktik

Kalkül statt inhaltlichem Denken

Doing difference

Literatur

7.4 Eine Lesart unter Berücksichtigung Gewaltfreier Kommunikation

Die Gruppe und Einzelne – Einzelarbeit und Kooperationen

Zusammenhang von Gewaltfreiheit und Bedürfnisorientierung

Differenzierungspraktiken

Literatur

7.5 Lesartenantwort – Zur Frage nach der Addressabilität in inklusiven Lehr-Lernsettings

Kontextbezug

Zur Titulierung der Vignette

Antwort auf die Lesarten

Literatur

8 Verortungen orten. Geteilte Bedeutungen entdecken

8.1 Die schriftliche Dokumentation der mündlichen Kollaboration als Daten

8.2 Die Entdeckung kategorial wirksamer Spannungsfelder in Gespräch und Gesprächsreflexion

Reformulierte Szene 1 – Ereignis und Struktur

Reformulierte Szene 2 – Öffnung und Schließung

Reformulierte Szene 3 – Individualität und Sozialität

8.3 Elementare Spannungsfelder in subjektivierten Diskursen

Ereignis und Struktur

Öffnen und Schließen

Individualität und Sozialität

8.4 Räume, Arbeitsorganisation und Artefakte als Träger des Inklusionsverständnisses

Vignette »Kommt jetzt bitte mal besoffen!«:

Vignette »Ich habe ja auch noch Julius«

8.5 Verortungsprofile zu Inklusion

Verortungsprofil: Ereignis-Öffnung-Individualität

Verortungsprofil: Struktur-Schließung-Sozialität

Literatur

9 Das Forschungsprojekt im Spiegel praxistheoretischer inklusionsbezogener Unterrichtsforschung

Literatur

Die Autorinnen und Autoren

Die Autorinnen und Autoren

Dr.’in Uta Häsel-Weide ist Professorin für Sonderpädagogische Förderung im Fach Mathematik am Institut für Mathematik der Universität Paderborn.

Dr.’in Katharina Kammeyer ist Professorin für Didaktik der Evangelischen Religionslehre unter besonderer Berücksichtigung von Inklusion am Institut für Evangelische Theologie der Universität Paderborn.

Dr.’in Iris Kruse ist Professorin für Germanistische Literaturdidaktik mit dem Schwerpunkt Sprachliche Grundbildung am Institut für Germanistik und Vergleichende Literaturwissenschaft der Universität Paderborn.

Dr.’in Désirée Laubenstein ist Professorin für Sonderpädagogische Förderung und Inklusion in der Schule mit dem Förderschwerpunkt Emotionale und Soziale Entwicklung am Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Paderborn.

Dr. Oliver Reis ist Professor für Katholische Religionspädagogik mit dem Schwerpunkt Inklusion am Institut für Katholische Theologie der Universität Paderborn.

Dr.’in Katharina J. Rohlfing ist Professorin für Psycholinguistik am Institut für Germanistik und Vergleichende Literaturwissenschaft der Universität Paderborn.

Franz Schröer ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Arbeitsgruppe Sachunterrichtsdidaktik mit sonderpädagogischer Förderung im Department Physik der Universität Paderborn.

Uta Häsel-Weide, Katharina Kammeyer,Iris Kruse, Désirée Laubenstein, Oliver Reis, Katharina J. Rohlfing, Franz Schröer

Inklusion verstehen

Szenen aus dem Unterricht in interdisziplinärer Reflexion

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen und sonstigen Kennzeichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese von jedermann frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind.

Es konnten nicht alle Rechtsinhaber von Abbildungen ermittelt werden. Sollte dem Verlag gegenüber der Nachweis der Rechtsinhaberschaft geführt werden, wird das branchenübliche Honorar nachträglich gezahlt.

Dieses Werk enthält Hinweise/Links zu externen Websites Dritter, auf deren Inhalt der Verlag keinen Einfluss hat und die der Haftung der jeweiligen Seitenanbieter oder -betreiber unterliegen. Zum Zeitpunkt der Verlinkung wurden die externen Websites auf mögliche Rechtsverstöße überprüft und dabei keine Rechtsverletzung festgestellt. Ohne konkrete Hinweise auf eine solche Rechtsverletzung ist eine permanente inhaltliche Kontrolle der verlinkten Seiten nicht zumutbar. Sollten jedoch Rechtsverletzungen bekannt werden, werden die betroffenen externen Links soweit möglich unverzüglich entfernt.

1. Auflage 2024

Alle Rechte vorbehalten© W. Kohlhammer GmbH, StuttgartGesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:ISBN 978-3-17-043024-2

E-Book-Formate:pdf: ISBN 978-3-17-043025-9epub: ISBN 978-3-17-043026-6

1 Inklusion verstehen – Einleitung

Katharina Kammeyer, Uta Häsel-Weide und Désirée Laubenstein

Der Anspruch von Inklusion, gesellschaftliche Teilhabe für alle Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen unabhängig ihrer soziokulturellen Herkunft, ihres Geschlechts, ihres Alters, ihrer Religion oder ihrer Behinderung zu ermöglichen, ist heute in vielfältigen Diskursen verankert: (schul-)‌politisch, gesellschaftskritisch oder wissenschaftstheoretisch. Gleichzeitig ist inzwischen offensichtlich, dass in den Praktiken der Umsetzung dieses Anspruches oder auch seiner Reflexion in wissenschaftlichen Disziplinen unterschiedliche Verständnisse aus unterschiedlichen Erfahrungshintergründen eingeschrieben sind. Sich dem Verständnis von Inklusion und damit geforderten Praktiken anzunähern, gilt deshalb nach wie vor als Herausforderung (vgl. KMK, 2011; Urton, Wilbert & Hennemann, 2014; Grosche, 2015). Dies ist auch darin begründet, dass von unterschiedlichen Disziplinen verschiedene und höchst uneinheitliche Bezugspunkte gesetzt werden. Konstruktiv gewendet zeigt sich darin eine Mehrperspektivität diskursiver Auseinandersetzungen je unterschiedlicher Teildisziplinen, die in einen gemeinsamen Erfahrungsraum zusammengeführt werden können, um gerade die individuellen und disziplinären Einschreibungen sichtbar und damit selbst diskutierbar zu machen. Unter dieser Prämisse entstand die Idee von Vertreterinnen und Vertretern schulbezogener Fachdisziplinen der Universität Paderborn, ihr Inklusionsverständnis zu diskutieren, Professionsbezüge herauszuarbeiten und sich auf die Suche nach einem konsensuellen Bereich zu machen, der die Beteiligten in einen zirkulären Verständigungsprozess eintreten lässt, der je unterschiedliche Wissenschaftsbezüge und Einschätzungen beobachtbarer Praxis in dem zusammenbringt, was den Titel des Projektes zielangebend prägt: Inklusion verstehen.

Unser Blick richtet sich auf das Spektrum von Unterricht als Ort des fachlichen und sozialen Lernens, geprägt durch (normative) fachdidaktische und (sonder-)‌pädagogische Prinzipien in der Unterrichtsplanung und -gestaltung (Guthöhrlein, Lindmeier & Laubenstein, 2020). Weil Unterricht sich als gemeinsamer Handlungs- und Erfahrungsraum konstruiert und konturiert, in dem soziale Prozesse und individuelle Bedürfnisse von und zwischen Lehrkräften und Schülerinnen und Schülern aufeinandertreffen (Proske & Rabenstein, 2018), ist die Gestalt, die Inklusion in ihm bekommt, vieldimensional und komplex. Welche Praktiken werden sichtbar im Unterricht, der sich als inklusiv versteht? Und wie lassen sich wiederum diese Praktiken verstehen?

1.1 Inklusionsbegriffe und Perspektiven

Im Beziehungsgefüge dessen, was unter Inklusion verstanden wird, bilden sich unterschiedliche Perspektiven ab, die je nach Blickwinkel den Gegenstandsbereich aus einer spezifischen Fokussierung beleuchten, so z. B. schulorganisatorisch, rechtlich, normativ, deskriptiv, fachdidaktisch oder (sonder-)‌pädagogisch, und dabei wiederum unterschiedliche Bezüge und Perspektiven einnehmen.

»Die uneinheitliche Verwendung des Inklusionsbegriffs, die aus einer Vielzahl von Definitionen und Begriffsverständnissen resultiert, führt in Wissenschaft und Praxis zu unterschiedlichen Schwierigkeiten und Missverständnissen« (Egener, Scheer, Laubenstein & Melzer, 2020, S. 198)1.

Gleichwohl handelt es sich nicht um eine reine Pragmatik, denn Inklusion ist »als Herausforderung für bildungswissenschaftliche Reflexion, didaktische Theoriebildung und empirische Forschung« (Musenberg & Riegert, 2016, S. 7) zu verstehen. Hier verdeutlicht sich bereits eine Vielfältigkeit des Verstehens unterschiedlicher (Teil-)‌Disziplinen, das eines Aushandlungsprozesses darüber bedarf, was denn nun Inklusion ist, was sie anstrebt, welche Handlungsstrategien sie vorgibt, welche Praktiken des Miteinanders unter einem von diesem Begriff geprägten Dach konturiert werden.

1.2 Praxistheoretisch inspirierte Annäherungen an das Verstehen inklusiven Unterrichts

Wie also nehmen Disziplinen Unterrichtssituationen unter dem Maßstab von Inklusivität wahr? Wie gelingt ein multiperspektivischer Blick auf sichtbar werdende Praktiken und Handlungsverflechtungen? Und welches Wissen lässt sich generieren aus einem solchen interdisziplinären Blick, der – so wäre es das Forschungsideal – zu einem Brennglas wird für Erkenntnisse über Bestehendes, Nötiges und Mögliches im Handlungsfeld der Heterogenität an Schulen?

Ein gelingender inklusiver Schulentwicklungsprozess scheint uns angewiesen zu sein auf diesen Brennglaseffekt Disziplinen vermittelnden Denkens, mithin auf Einigungsprozesse, die – selbst gleichsam ›inklusiv‹ – zu fassen versuchen, was Inklusion ist, sie in ihren Kulturen, Strukturen und Praktiken zu erkennen, zu benennen und zu erklären. Annäherungsversuche an ein Verstehen von Inklusion, wie sie beispielsweise in praxisnahen Publikationen zum Thema (z. B. Nöldeke, 2018) oder in Arbeitshilfen (z. B. Booth & Ainscow, 2016) vorgenommen werden, zeigen vielfach starke normative Setzungen und Lenkungen, die es zumindest in Bezug auf eine gemeinsame Begriffsannäherung, Begriffsbestimmung und im Hinblick auf die zugrundeliegenden immanenten pädagogischen Praxen kritisch zu hinterfragen (vgl. Ahrbeck, 2016) und in ihren wissenschaftstheoretischen Bezügen transparent darzustellen gilt (vgl. Scheer & Laubenstein, 2018, S. 128 ff.).

Die Referenzperspektive, die in unserer Forschungsgruppe über unsere Fachzugehörigkeit eingenommen wird, ist divers, aber uns vereint ein sozialkonstruktivistischer Blick. Im Sinne sinnverstehender Unterrichtsforschung (Proske & Rabenstein, 2018) betrachten wir Unterricht als soziales Phänomen, dem sich aus unterschiedlichen Perspektiven genähert werden kann. Eine dafür genutzte und für uns in der weiteren Auseinandersetzung gewinnbringende Annäherung stellt der praxistheoretische Blick dar (Proske, 2018).

Anders als in didaktischer Perspektive wird in der Praxistheorie nicht danach gefragt, wie sich Lehr-Lernprozesse begründen, planen und umsetzen lassen. Auch steht in dem Ansatz nicht wie in Schuleffektivitäts- und Lehr-Lernforschung vor allem der Ertrag von Unterricht in Gestalt von Leistungen der Lernenden oder die Kompetenzen der Lehrpersonen als Forschungsgegenstand im Fokus. Vielmehr sind geplante, aber auch ungeplante, überraschende und ggf. unbemerkte Wirkungen des Handelns der Lehrperson und weitere, sich beeinflussende Wirkungen unterschiedlicher Akteurinnen und Akteure von Interesse. Dies können neben den verschiedenen anwesenden Personen auch Verhalten, Artefakte, mentale Zustände sein (Schäfer, 2016), die allesamt die kulturelle Ordnung von Schule prägen. Mit dem Fokus auf Praktiken entwerfen Praxistheorien ein spezifisches Verständnis von sozialer Ordnung: Sie heben die Dichotomie von Individuum und Gesellschaft auf und verorten das Soziale stattdessen auf der Ebene der Praktiken. Dadurch wird das Soziale beobachtbar und die soziale Ordnung, der für die Inklusion relevante Zustand, ausgehend von Praktiken konzeptualisiert (Schäfer, 2016, S. 40).

Diese Perspektive impliziert, dass Handlungsspielräume durch die vorhandenen Praktiken der jeweiligen Kulturen nicht unerheblich vorbestimmt sind und dass sich zugleich Umgangs- und Entwicklungsspielräume in ihnen abzeichnen. Inklusive Kulturen und Praktiken können folglich nicht schlicht »eingeführt« werden. Vielmehr ist mit Schäfer (2016, S. 10) einerseits nach Spielräumen und Handlungsmöglichkeiten der Akteurinnen und Akteure innerhalb der kulturellen Ordnung zu fragen, andererseits die Entwicklung dieser kulturellen Ordnungen, ihre Reproduktion und Transformationen zu klären.

Was aber sind Praktiken? Praktiken stellen in praxistheoretischen Perspektiven die fundamentale theoretische Kategorie dar (Schäfer, 2019). In Praxistheorien werden Praktiken als wiederkehrende Regelmäßigkeiten verstanden und ent-fachlicht. Sie sind »das Tun, Sprechen, Fühlen und Denken, das wir notwendig mit anderen teilen. [...] Sie werden nicht nur von uns ausgeführt, sie existieren auch um uns herum und historisch vor uns« (Schäfer, 2019, S. 20). Das Denken und Tun einzelner wird also immer in Verbindung mit dem Handeln anderer gesehen, handelnde Personen nicht unabhängig von Praxis gedacht, sondern als »sozialisierte Körper«, die in enger Abhängigkeit zu den Bedingungsstrukturen der Praxis stehen (Hillenbrand, 2015, S. 439). Auf unserer Suche nach Momenten inklusiver bzw. exklusiver Schulkultur fragen wir daher nach »doing school« (Keßler, 2017) bzw. »doing culture« und damit nach Praktiken in ihrem Vollzug. Es geht weniger um Vorhaben, Absichten und Einstellungen, sondern um die Auswirkungen derselben im Handeln von Lehrpersonen und Schülerinnen und Schülern im Rahmen dessen, was in der jeweils schulkulturell vorfindlichen Konstellation verabredet und vereinbart bzw. für die Beteiligten sinnvoll ist und womit andere am Geschehen beteiligte Personen überrascht oder irritiert werden.

Um Praktiken auszuführen, sie aufzubauen oder aufrecht zu erhalten, bedarf es mehrerer Individuen. In diesem Zusammenhang von gemeinsamen Handlungen, den Schatzki als »field of practices« bezeichnet (Schäfer, 2016, S. 11), besitzen Körperlichkeit, Materialität und Routinen für die praxeologische Sicht einen besonderen Stellenwert. Die im Handeln sichtbar werdende Logik dieser Praktiken ist daher für uns interessant, denn mit ihnen schaffen sich die Akteurinnen und Akteure »eine entsprechende ›Sinnwelt‹ [...], mit denen die Gegenstände und Personen eine implizit gewusste Bedeutung besitzen, und mit denen sie umgehen, um routinemäßig angemessen zu handeln« (Reckwitz, 2003, S. 292). Unsere Fragegestellung knüpft hier an und sucht nach Momenten, in denen solche Praktiken sichtbar werden, die den schulischen Alltag prägen. Gesucht werden gemeinsame Handlungen, die sich wiederholen und so stabil bleiben. Sie werden vor einem fachlichen Hintergrund betrachtet. Die Praxistheorie kann dabei aufzeigen, dass sich innerhalb von Kulturen Räume für Variantenbildung und somit Veränderungen entwickeln. Dies betrifft etwa die Rolle, die akademische Leistung spielt, oder das Aushandeln schulkultureller Codes insbesondere im Wechselspiel mit peerkulturellen Codes (Keßler, 2017). Adressierungen von Schülerinnen und Schülern durch Lehrpersonen lassen sich mit einem praxistheoretischen Blick als Praktiken untersuchen, die Positionierungen von Kindern und Jugendlichen als »selbstständige« oder »hilfsbedürftige« Personen bewirken bzw. »Anerkennung« verteilen oder entziehen (Reh, Rabenstein & Idel, 2011, S. 215). Die Frage nach der Verteilung von Handlungsressourcen in pädagogischen Bezügen und daraus resultierenden Praktiken, werden dabei praxistheoretisch mitgedacht (Reh et al., 2011, S. 215).

Im Kontext inklusiver Schulentwicklungsprozesse einer gleichberechtigten Bildungsteilhabe muss hier beobachtet und analysiert werden, welche Praktiken es braucht, um allen Akteurinnen und Akteuren einen zuverlässigen Handlungsrahmen zu bieten und wie diese Praktiken stabil gehalten werden können. Genauso wichtig ist aber auch die Frage, wieviel Instabilität erlaubt ist, damit ein Entfaltungsraum für Individualität entsteht. Ausgehend vom Modell der regelmäßigen Wiederholung von Praktiken fragt ein praxistheoretischer Ansatz somit einerseits nach der Stabilität des Sozialen in der Zeit. Diese geht mit einer Homogenisierung und gleichförmigen Reproduktion einer Praxis einher. Andererseits fragt ein praxistheoretischer Ansatz aber auch nach Instabilität und identifiziert diese als eine Verschiebung und eine zeitliche Transformation von Praktiken, die typisch für Individualisierung ist.

1.3 Vignetten als methodischer Zugang zu domänenspezifischen Perspektiven auf inklusiven Unterricht

Bei der Suche nach einem geeigneten methodischen Weg für einen interdisziplinären Austausch über das, was wir unter Inklusion verstehen, haben wir uns inspirieren lassen vom phänomenologischen Ansatz der Innsbrucker Vignettenforschung (Schratz, Schwarz & Westfakk-Greiter, 2012). Deren Ziel ist es, Erfahrungen von Akteurinnen und Akteuren im pädagogischen Feld (in der Schule) als »protokollierte Erfahrung in medias res« (Schratz et al., 2012, S. 36) sichtbar zu machen. Einzelne Erfahrungsmomente aus dem schulischen Alltag werden in Schriftvignetten explizit gemacht und gleichsam ins Licht gestellt mit dem Ziel, die Aufmerksamkeit auf etwas zu lenken, was Lehrpersonen im Alltagshandeln nicht wahrnehmen (können). Dem Versuch einer Annäherung an Ideen von Inklusion scheint dieser Ansatz in besonderer Weise zu entsprechen, weil er zum einen nah an Unterricht und darin aufgehobene Praktiken herangeht und überdies die Auswahl bedeutsamer Unterrichtsszenen und -ereignisse mit thematisiert bzw. thematisierbar werden lässt. Damit nämlich eine Vignette als verdichtete Erzählung erlebter Erfahrung entsteht, muss aus der Fülle des Beobachtbaren im Unterricht etwas ausgewählt werden. »[E]‌twas Entscheidendes, Einschneidendes, zuweilen Prekäres« (Schratz et al., 2012, S. 12) muss zunächst fokussiert und im Nachhinein erzählerisch aufbereitet werden.

Was aber gerät in den Fokus? Was wird ausgewählt und von der Beobachterin resp. dem Beobachter sprachlich verdichtet zur Darstellung gebracht? Weil in diesem Auswahl- und Darstellungsprozess, der zur Schriftvignette führt, aufscheint, was der schreibenden Person jeweils wichtig und bedeutsam ist, während anderes in den Hintergrund tritt und nur kurz oder gar nicht erzählt wird, liegt in der vertieften Arbeit mit Vignetten dieser hoch subjektiven Prägung hohes Potenzial für die interpersonelle und zugleich interdisziplinäre Verständigung, die wir in unserer Forscherinnen- und Forschergruppe anzielen. Indem die Vignette »nicht präzise [ist] in dem Sinne, dass sie detailgetreu abbildet, was sich im Feld tatsächlich ereignet hat« (Schratz et al., 2012, S. 35), sondern vielschichtige Einschreibungen dessen enthält, was der oder dem zunächst beobachtenden, dann schreibenden Forscherin oder Forscher wichtig ist, wird sie für uns prägnant und zu einem gehaltvollen Ausgangspunkt für weitere erkenntnisgenerierende Zugriffe.

Eine Vignette dieser Prägung beabsichtigt keine eindeutige Erklärung dessen, was beobachtet wird. In ihrer Form der Nacherzählung des Moments bringt sie vielmehr eine in ihren Details reichhaltige Beobachtung und Darstellung als Konsequenz mit sich, die sich produktiv im weiteren Forschungsprozess nutzen lässt. Dieser sieht vor, dass jede Schriftvignette einen Lektüre- und Ausdeutungsprozess innerhalb der Forschungsgruppe durchläuft, der ihr Alternativdeutungen an die Seite stellt. Indem die Rezipierenden an die Fülle der zur Verfügung gestellten Details anknüpfen und den in ihnen aufgehobenen Bedeutungsüberschuss aufnehmen und ihrerseits fortschreiben, erschließen sich nochmals weitere Bedeutungsebenen.

Verfassen von Vignetten im Projekt ›Inklusion verstehen‹

Für unseren Ansatz der Vignettenforschung erweist es sich als konstitutiv, dass der Fokus der Vignettenautorinnen und -autoren unterschiedlich sein kann und sich die Beobachtungsschwerpunkte je individuell ausrichten. Gemeinsamer Kern aller zu Vignetten führenden Beobachtungen ist der Wille, ›etwas, das mit Inklusion zu tun hat‹, einzufangen und zur Darstellung zu bringen. Während sich der Fokus der Innsbrucker Vignettenautorinnen und -autoren an den sichtbar werdenden Lernerfahrungen und -vollzügen der Schülerinnen und Schüler orientiert und damit möglichst »nah am Kind« (Schratz et al., 2012, S. 36) bleibt, ist der Blick unserer Forschungsgruppe weiter und die Fokusse sind diverser. Während einige Vignetten ›zoomen‹, also einzelne, spezifische Momente der Interaktionen einfangen, ›zappen‹ andere zwischen verschiedenen Momenten in einer Gesamtsituation, ›scannen‹ nach Irritationen und springen dabei von Momenten der Schärfe zu Momenten der Unschärfe im Bemühen, das Gesamtsystem unterrichtlicher Praxis in ihren Merkmalsausprägungen zu erfassen. Anders formuliert: Einige Vignetten haben einen monoszenischen, andere einen pluriszenischen Blick. Immer aber sind sie vieldeutig und werden aus ihrer Übercodiertheit heraus zu ›Seziertischen‹, auf denen die jeweiligen Ordnungen der Fachspezifität sichtbar werden. Sie tragen eine ›Ordnung der Blicke‹ (vgl. Reich, 1998a; 1998b) in sich, die unterrichtliche Praxen und in ihrem Netz die Akteurinnen und Akteure hervortreten lässt und hervorbringt. Im Selbstverständnis unserer Forschungsgruppe geht es dabei um die Arbeit mit Einzelfällen und um die Besonderheiten einzelner Situationen. Bezüge auf allgemeine Themen sind nur in dem Bewusstsein möglich, dass keine Verallgemeinerungen ausgehend von der vorliegenden Schilderung möglich sind.

Was fließt nun konkret in die Entstehung einer Vignette ein? Die Sprache der Anwesenden ebenso wie hörbare Geräusche und mit allen anderen Sinnen wahrnehmbare Reize, die die Gestaltung des Raumes, der Menschen im Raum und der vorfindlichen Medien betreffen. Dabei sind folgende Leitfragen, mit denen die Innsbrucker Vignettenforschung arbeitet, auch für unser Forschungsanliegen hilfreich: »Was passiert? Wer ist anwesend? Wer sagt und tut was? Wie fühlt sich das an? Wie ist die Stimmung? Was ist hörbar, sichtbar, spürbar? Welche Blicke, Bewegungen, Töne, Klänge [sind wahrzunehmen]? Welche Bilder entstehen? Gibt es eine Wende? Was markiert den Schluss? Was bleibt offen?« (Schratz et al., 2012, S. 38).

Es bleibt die Frage, wie das Anliegen erreicht werden kann, sich vor Analysen und Interpretationen zu hüten und vor allem darzustellen. Während die Innsbrucker Gruppe die Vignette im Team auf ihre Resonanz geprüft und gemeinsam weiterentwickelt hat, liegt die Verantwortung für Form und Inhalt jeder einzelnen Vignette unserer Forschungsgruppe jeweils bei deren Verfasserin resp. deren Verfasser, die bzw. der zugleich auch die Beobachterin resp. der Beobachter der zur Darstellung kommenden Situation ist. Dadurch gelingt es den jeweils spezifischen Blick der bzw. des Vignettenschreibenden, geprägt durch die jeweilige Forschungsrichtung, den persönlichen (fach-)‌sprachlichen Ausdruck und den je eigenen Blick auf die eingefangene Unterrichtssituation deutlich zu Tage treten zu lassen.

Die Frage, wie viel Hintergrundinformationen über die sicht- und hörbar gewordenen Szenen notwendig sind, was also an Unterrichtshandeln vor der gewählten Momentaufnahme geschah und wie die beteiligten Kinder bzw. Jugendlichen beschrieben wurden, hat die Diskussionen unserer Gruppe bewegt. Ist es hilfreich, Kenntnisse über medizinische und pädagogische Diagnosen und Förderschwerpunkte zu erhalten und diese in den Vignetten oder Lesarten zu nennen? Brauchen wir Beschreibungen dessen, was Kinder und Jugendliche inhaltlich konnten und wussten, um genauer zu fassen, was in den beschriebenen Situationen erfahren/erlebt/gelernt wurde? Oder dienen diese Rahmeninformationen eher dem Denken in Vorerwartungen und verstellen den Blick?

Wir haben uns ebenso wie die Innsbrucker Gruppe dafür entschieden, in einem ersten Schritt auf die Darstellung dieser Rahmenbedingungen zu verzichten, um die Offenheit der Interpretationswege bewusst zu erhalten. Statt des gewohnten didaktischen Blicks und des Bemühens um das Planen von nachvollziehbaren Lernschritten steht hier der durch die Praxistheorie herausgeforderte Blick im Vordergrund, der unabhängig von geplanter und vermeintlich gewusster Ausgangslage danach sucht, was wirkt. Auf eine Einordnung der Situation wird verzichtet, weil mehr Faktoren in die Lernerzählungen einfließen, als dargestellt und vergleichend rückverfolgt werden könnten. Das Innsbrucker Autorinnen- und Autorenteam merkt an:

»Der Wunsch, Bescheid zu wissen, wird von der Vignette nicht erfüllt, weil sie nicht didaktisch angelegt ist. Vielmehr öffnet die Vignette eine Tür in eine Erfahrungswelt, die unklar und mehrdeutig ist« (Schratz et al., 2012, S. 44).

Die Bereitschaft, Offenes auszuhalten und fragend zu lesen, wird diesem Vignettenforschungsprinzip zufolge als professionelle Haltung angesehen. Mit Sichtweisen konfrontiert zu werden, die der eigenen didaktischen Absicht widersprechen, löst dabei Erfahrungen aus, die »widerständig mit uns umgehen« (Schratz et al., 2012, S. 46), so die praxistheoretisch anmutende Formulierung. Während der didaktische Blick geübt darin ist, gelernte Antworten zu geben, fordert die Arbeit mit der Vielfalt der Interpretationen einer Vignettensituation dazu auf, umzulernen und auszuhalten, dass die Vielschichtigkeit didaktischen Handelns viele Fragen herausfordert.

Lesarten zu Vignetten im Projekt ›Inklusion verstehen‹

Eindeutige Interpretationen von Vignetten sind mithin weder möglich noch gewollt:

»Vignetten verhindern, falls ihnen die Verdichtung gelungen ist, eine unmittelbare Interpretation. Weil wir stets mehr gesehen haben und wissen, als wir sagen können, erzeugen wir im Vignettenschreiben unbemerkt Überschüsse für die Lesenden« (Meyer-Drawe & Schwarz, 2015, S. 128).

Die Fülle der Vignette und ihre Offenheit für Assoziationen, die durch sie ausgelöst werden, macht sie zu einem gewinnbringenden Text für ihre Leserinnen und Leser. Diese bleiben an einzelnen Passagen oder Aussagen hängen, die eine Reaktion, eine Idee, eine Empfindung auslösen. Die Polyphonie der Vignette »ruft Resonanzen hervor, die zum schreibenden Erläutern drängen, das sich in den Lektüren niederschlägt oder festsetzt, die verschriftlichen Schatten der eigenen Erfahrungen, Stellungnahmen oder das Beziehen eines Standortes im Rahmen einen gegebenen Horizontes sein können« (Bauer & Schratz, 2015, S. 172). Dabei wird keine Analyse nach einem vorgegebenen Schema vorgenommen und es werden auch keine vergleichbaren Kategorien generiert, sondern die Vignette wird gelesen und die hervorgebrachten Assoziationen, Fragen, Irritationen werden als sogenannte Lesart (schriftlich) formuliert.

Perspektivvielfalt ist bei der Verfassung von Lesarten ein wichtiges Thema des Wechselspiels von Vignettentext und Lesarten. Die Innsbrucker Gruppe betont, nicht vom konkreten Beispiel auf allgemeine Diskussionen und Aussagen zu verweisen, sondern auf die geschilderte Erfahrung wiederum mit »Erfahrungen, die wir kennen« (Schratz et al., 2012, S. 38), zu antworten. Es geht darum, »die Fülle und Reichhaltigkeit von Erfahrung, die sich in ihnen artikuliert, auszudifferenzieren und in möglichst vielen Facetten und in unterschiedlichen Lektüren zu zeigen« (Schratz et al., 2012, S. 39).

Leitend für Lesarten sind deshalb Betrachtungen dessen, was sich in Vignetten zeigt, hervorgehoben, also sichtbar gemacht wird oder verborgen bleibt. Die Lesarten sind gleichwohl auch geprägt, was die lesenden Personen anspricht, bewegt, irritiert und berührt. In der Lesart formulieren die Lesenden diesen je ihrem eigenen, von Erfahrungen geprägten Blick. Diese wird – soweit der eigenen Reflexion zugänglich – durch das explizite Rekurrieren auf theoretische Rahmungen expliziert und mit in einen wissenschaftlichen Diskurs gebracht. In diesem Feld des Resonanzraumes zwischen Vignette und Lesart mit Blick auf das Verständnis von Inklusion eröffnen sich dabei im interdisziplinären Diskurs fachtheoretische, fachdidaktische und professionsspezifische Schärfen und Unschärfen, Differenzen, Divergenzen und gemeinsame Verständnisse von inklusiven Praktiken in unterrichtlichen Settings. Der praxistheoretische Blick wird dabei immer als eine der Perspektiven eingenommen.

Lesartenantworten im Projekt ›Inklusion verstehen‹

Die schriftlichen Lesarten, die von Mitgliedern unserer Forscherinnen- und Forschergruppe verfasst wurden, werden wiederum gelesen. Und die Lektürewirkung, die von diesen resonanten Texten ausgeht, ist erneut von entscheidender Bedeutung für den Prozess der interpersonalen und -disziplinären Verständigung. Wie wirken die Lesarten auf die Vignettenschreibenden zurück? Löst die in der Lesart sichtbar werdende Wirkung der Vignette Irritationen, Bestätigungen, neue Assoziationen aus? Überrascht das, was andere in der Vignette gesehen haben? In welchem Verhältnis steht es zur eigenen Wahrnehmung und zu den eigenen Empfindungen? So wie die Vignette selbst, werden auch die Lesarten zu einem Klangkörper, dessen Schwingungen aufgenommen werden und auf die in einem neuerlichen Text reagiert wird: Die Verfasserin resp. der Verfasser der Vignette antwortet auf die Lesarten mit einem Antworttext, den wir im Rahmen unseres Projektes als »Lesartenantwort« bezeichnen. Resultiert aus den Eindrücken, die in den Lesarten vermittelt werden, eine Veränderung des eigenen Blicks auf die zur Darstellung gebrachte Szene? Weiten die disziplingeprägten Blickwinkel die eigene Perspektive? Steht die erlebte und ausgewählte Szene womöglich in einem anderen neuen Licht? Die Lesartenantworten tun das, was ihren Namen prägt: Sie versuchen Antworten zu geben auf diese Fragen, die die Lesarten aufwerfen und geben damit Auskunft über deren subjektiv empfundene Wirkung.

Mit den Lesartenantworten, die eine methodische Fortschreibung der Forschungspraktiken der Innsbrucker Vignettenforschung darstellen, komplettiert sich ein Textpaket, das wir als »Vignettenbündel« bezeichnen. Ein solches Bündel enthält 1. eine Vignette, 2. drei Lesarten und 3. eine Lesartenantwort.

1.4 Entstehung, Aufbau und Einsatzmöglichkeiten des vorliegenden Buches

Die vorliegende Sammlung von insgesamt fünf Vignettenbündeln aus Vignetten, Lesarten und Lesartenantworten ist Produkt eines zweijährigen gemeinsamen Weges von Kolleginnen und Kollegen unterschiedlicher Disziplinen der Universität Paderborn. Der Entstehungsprozess von der gemeinsamen Idee, der Entstehung der ersten Vignetten, ihrer fachspezifischen Lesarten, der zunehmenden Ausschärfung und immer stärker praxistheoretischen Prägungen der Sichtweise der Gruppe und der Lesarten bis zum vorliegenden Buch, das dem Gesamtkorpus aller Vignettenbündel den Versuch einer kategorienbildenden praxistheoretisch grundierten Gesamtlesart (Kapitel 5) hinzufügt, kann als organisch charakterisiert werden. Erste Vignetten und Lesarten entstanden, während sich die Zusammensetzung der Paderborner Gruppe final formierte und sich das Vorgehen des Umgangs mit den Texten und der Form des gemeinsamen Diskurses ausschärfte. Es fand also keine Pilotierung im engen Sinne statt, sondern die Gruppe begab sich auf einen gemeinsamen Weg, begeistert von neuen Perspektiven im interdisziplinären Diskurs. Im Fokus stand hierbei die Frage nach einem Verständnis von Inklusion und seiner unterrichtlichen Praktiken. In diesem intensiven Austausch rückten Schärfen und Unschärfen pädagogischer Denkkonstrukte und Alltagsroutinen in den Mittelpunkt der Betrachtung der Gruppe, die maßgeblich den Prozess der Gestaltung bestimmten. Begleitet wurden die inhaltlich anregenden Diskurse, der Austausch der Lesarten, ein sich zunehmendes Offenbaren und Verstehen der Sichtweisen vom Ringen um ein stringentes methodisches Vorgehen.

Legt man einen für alle Vignettenbündel gleichermaßen eingehaltenen Prozess von

1.

Einfangen der Vignetten im Erleben inklusiven Unterrichts,

2.

individuellen Erstellen von Lesarten aus den drei unterschiedlichen Disziplinen mit

3.

nachfolgendem Diskurs in der Paderborner Gruppe und einer

4.

anschließenden Formulierung der Lesartenantwort

zugrunde, kann das Vorgehen methodisch zufriedenstellen. Dabei musste sich auch unsere Forschungsgruppe der Herausforderung der durch die Corona-Pandemie bedingten Schulschließung stellen, da fraglich war, wie nun Vignetten eingefangen werden konnten. Dies wurde produktiv gewendet und durch das Aufnehmen einer Vignette aus dem Homeschooling sichtbar gemacht.

Gerahmt von Einleitungs- und Diskurskapitel finden sich im Buch die fünf Vignettenbündel. Die Reihenfolge ihres Abdrucks entspricht der Chronologie ihrer Entstehung. Die Lesarten und die Lesartenantworten wurden vor der Veröffentlichung in diesem Buch von ihren Verfasserinnen und Verfassern insofern überarbeitet, dass Quellen stringent ausgewiesen, theoretische Bezüge expliziert und sprachliche Anpassungen vorgenommen wurden.

Die einzelnen Vignettenbündel sind unabhängig voneinander zu lesen und zu verstehen. Gerne sind Sie, liebe Leserin, lieber Leser, eingeladen, in einem chronologischen Lesen unserem zunehmenden praxistheoretischen Verständnis nachzuspüren. Die Vignetten können jedoch aus den Bündeln herausgelöst werden und als eigene Textsorte auf ihre Lesenden wirken. Sie laden ein, selbst (schriftliche) Lesarten zu verfassen, auszutauschen und diese mit den Vorliegenden zu kontrastieren. Die Bündel können anregen, eigene Bündel einer Gruppe zu erstellen und so einen eigenen Weg des Verstehens von Inklusion zu gehen.

Literatur

Ahrbeck, B. (2016). Inklusion. Eine Kritik (3., aktualisierte Auflage). Stuttgart: Kohlhammer.

Bauer, C. & Schratz, M. (2015). Phänomenologisch orientierte Vignettenforschung. Eine lernseitige Annäherung an Unterrichtsgeschehen. In M. Brinkmann, R. Kubac & S. S. Rödel (Hrsg.), Pädagogische Erfahrung. Theoretische und empirische Perspektiven (S. 159 – 180). Berlin, Heidelberg: Springer.

Booth, T. & Ainscow, M. (2016). Index für Inklusion: Ein Leitfaden für Schulentwicklung. Weinheim: Beltz.

Egener, L., Scheer, D., Laubenstein, D. & Melzer, C. (2020). Entwicklung und psychometrische Evaluation eines Fragebogens zur Erfassung subjektiver Definitionen von Inklusion (FEDI). In M. Grosche, J. Decristan, K. Urton, N. C. Jansen, G. Bruns & B. Ehl (Hrsg.), Sonderpädagogik und Bildungsforschung – Fremde Schwestern? (S. 198 – 204). Bad Heilbrunn: Klinkhardt.

Grosche, M. (2015). Was ist Inklusion? Ein Diskussions- und Positionsartikel zur Definition von Inklusion aus Sicht der empirischen Bildungsforschung. In P. Kuhl, P. Stanat, B. Lütje-Klose, C. Gresch, H. A. Pant & M. Prenzel (Hrsg.), Inklusion von Schülerinnen und Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf in Schulleistungserhebungen (S. 17 – 39). Wiesbaden: Springer.

Guthöhrlein, K., Lindmeier, C. & Laubenstein, D. (2020). Unterrichtsentwicklung und Unterrichtsgestaltung. Stuttgart: Kohlhammer.

Hillebrandt, F. (2015). Praxistheorie und Schulkultur. Identifikation und Analyse schulischer Praktiken. In J. Böhme, M. Hummrich & R.-T. Kramer (Hrsg.), Schulkultur. Theoriebildung im Diskurs (S. 429 – 444). Wiesbaden: Springer.

Keßler, C. I. (2017). Doing School. Ein ethnographischer Beitrag zur Schulkulturforschung. Wiesbaden: Springer.

KMK, Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland (2011). Inklusive Bildung von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen in Schulen.

Meyer-Drawe, K. & Schwarz, J. F. (2015). (Über-)‌Sehen, (Über-)‌Hören, Zuschreiben. Lernende im Licht und im Schatten der Aufmerksamkeit. In M. Brinkmann, R. Kubac & S. S. Rödel (Hrsg.), Pädagogische Erfahrung. Theoretischen und empirische Perspektiven (S. 125 – 142). Wiesbaden: Springer.

Musenberg, O. & Riegert, J. (2016). Didaktik und Differenz. Bad Heilbrunn: Klinkhardt.

Nöldeke, T. (2018). Inklusion: Ganz oder gar nicht. Wie wir das gemeinsame Lernen retten können. Göttingen: Vanderhoeck & Ruprecht.

Proske, M. (2018). Wie Unterricht bestimmen? Zum Unterrichtsbegriff in der qualitativen Unterrichtsforschung. In M. Proske & K. Rabenstein (Hrsg.), Kompendium Qualitative Unterrichtsforschung. Unterricht beobachten – beschreiben – rekonstruieren (S. 27 – 62). Bad Heilbrunn: Klinkhardt.

Proske, M. & Rabenstein, K. (2018). Stand und Perspektiven qualitativ sinnverstehender Unterrichtsforschung. Eine Einführung in das Kompendium. In M. Proske & K. Rabenstein (Hrsg.), Kompendium Qualitative Unterrichtsforschung. Unterricht beobachten – beschreiben – rekonstruieren (S. 7 – 24). Bad Heilbrunn: Klinkhardt.

Reh, S., Rabenstein, K. & Idel, T. S. (2011). Unterricht als pädagogische Ordnung. Eine praxistheoretische Perspektive. In W. Meseth, M. Proske & F.-O. Radtke (Hrsg.), Unterrichtstheorien in Forschung und Lehre (S. 209 – 222). Bad Heilbrunn: Klinkhardt.

Reich, K. (1998a). Die Ordnung der Blicke. Band I. München: Luchterhand.

Reich, K. (1998b). Die Ordnung der Blicke. Band II. München: Luchterhand.

Reckwitz, A. (2003). Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken. Eine sozialtheoretische Perspektive. Zeitschrift für Soziologie, 32 (4), 282 – 301.

Schäfer, H. (2016). Einleitung. Grundlage, Rezeption und Forschungsperspektiven der Praxistheorie. In H. Schäfer (Hrsg.), Praxistheorie. Ein soziologisches Forschungsprogramm (S. 9 – 25). Bielefeld: transcript.

Schäfer, H. (2019). Konstruktivismus und Praxistheorie. In G. Büttner, H. Mendl, O. Reis & H. Roose (Hrsg.), Praxis des Religionsunterrichts (Jahrbuch für konstruktivistische Religionsdidaktik, Band 10) (S. 19 – 29). Babenhausen: Ludwig Sauter.

Scheer, D. & Laubenstein, D. (2018). Schulische Inklusion entwickeln. Arbeitshilfe für Schulleitungen. Stuttgart: Kohlhammer.

Schratz, M., Schwarz, J. F. & Westfall-Greiter, T. (2012). Lernen als bildende Erfahrung. Vignetten in der Praxisforschung. Innsbruck: Studien-Verlag.

Urton, K., Wilbert, J. & Hennemann, T. (2014). Der Zusammenhang zwischen der Einstellung zur Integration und der Selbstwirksamkeit von Schulleitungen und deren Kollegien. Empirische Sonderpädagogik, 6 (1), 3 – 16.

Endnoten

1Mit Blick auf die schulische Praxis beeinflussende Inklusionsverständnisse der Akteurinnen und Akteure wurde in dieser Studie ein Fragebogen zur Erfassung subjektiver Definitionen von Inklusion (FEDI) entwickelt und psychometrisch evaluiert.

2 Lesartenbündel zur Vignette »Kommt jetzt bitte mal besoffen!«

2.1 Vignette aus dem Deutschunterricht »Kommt jetzt bitte mal besoffen!«

Iris Kruse

Zu Unterrichtsbeginn am heutigen Donnerstagmorgen steht in der 2a der sogenannte »Lernwörtertest« an. Zehn gelernte Wörter sollen den Kindern diktiert werden. Dafür sitzen alle Kinder der Klasse an ihren Tischen und bekommen von der Lehrerin ein kleines Schreibblatt ausgehändigt, auf dem Linien für genau zehn Wörter vorhanden sind. Bevor es mit dem Wörterschreiben losgehen kann, werden zunächst noch Sichtschutzmauern aufgebaut. Routiniert stellen die Kinder Schulranzen in die Mitte der Tische und stellen vor sich ihre Federmäppchen auf. Wahre Schreibfestungen entstehen, innerhalb derer sich die solchermaßen vereinzelten Kinder über ihre Blätter beugen. Sogar Maxi, der an einem von den anderen abgerückten Einzeltisch vorn vor der Wandtafel sitzt, hat sein Federmäppchen aufgestellt und kauert sich dahinter. Die Lehrerin diktiert das erste zu schreibende Wort. Es lautet passend zur Jahreszeit Winter. Es ist still im Raum. Die Kinder schreiben konzentriert. Auch Maxi schreibt. Nachdem er seine Buchstaben zu Papier gebracht hat, reckt er sich und ruft laut und vernehmlich »Das zweite Wort ist besoffen!« Die Lehrerin ignoriert seinen Einwurf und formuliert in der auch von Maxi benutzten Wendung den Schreibauftrag für das zweite Wort: »Das zweite Wort ist ... Silvester.« Wieder herrscht konzentrierte Schreibstille. Nach einer kleinen Weile flüstert Maxi leise, aber doch vernehmlich hinter seiner Federmäppchen-Wand: »So, und jetzt kommt besoffen.« Das Wort, das die Lehrerin diktiert, lautet »und«. Maxi kommentiert dies mit dem Ausruf »uuuund: besoffen!«, dann aber schreibt er, was diktiert wurde. Allerdings nur, um unwesentlich später zu rufen »Kommt jetzt bitte mal besoffen?«. Die Lehrerin, die bereits in unmittelbarer Nähe zu Maxis Tisch stand, tritt jetzt direkt zu ihm, legt die Hand auf seine Tischplatte und sagt scharf: »So, Maxi, jetzt reicht's! Du bist jetzt ruhig!« Das Diktat schreitet voran. Die Wörter Ferien, lesen, zwölf, Kalender, wünschen, Schnee und glänzen kommen mehr oder weniger richtig auf die Schreibblätter der Kinder. Nach jedem diktierten Wort formt Maxi mit seinen Lippen deutlich erkennbar das Wort besoffen.

2.2 Eine Lesart zu Spannungsmomenten zwischen Struktur und Partizipation im inklusiven Unterricht

Franz Schröer und Claudia Tenberge

Situationsbeschreibung – Leistungsüberprüfung oder Übungssituation

Die Vignette vermittelt den Eindruck, eine Situation der Leistungsüberprüfung/-kontrolle zu beschreiben, wobei die Formulierung offenlässt, inwiefern dies tatsächlich der Fall ist. Eingangs ist zwar von einem ›Lernwörtertest‹ die Rede, typische Elemente für dieses Ritual, wie das Einsammeln der Zettel im Anschluss sind aber nicht ausformuliert bzw. könnten auch im Anschluss an die beschriebene Situation stattfinden. Der ritualisierte, also in seiner Struktur quasi automatisierte Handlungsvorgang wird, so die Beschreibung, in seinem typischen Ablauf unterbrochen, wobei die Unterbrechung durch ein aus Sicht der Lehrperson nicht angepasstes Verhalten durch den Schüler Maxi ausgelöst wird. Die strukturgebenden Elemente des Rituals, maßgeblich die Schritte der Abgrenzung der Schülerinnen und Schüler voneinander, die Stillarbeit und das Diktieren der Lehrperson an die Schülerinnen und Schüler impliziert ein Verständnis von Leistung, das stark auf die Erreichung einer standardisierten Norm (deutsche Rechtschreibung) hinzielt und somit überwiegend kriterienorientiert ist (vgl. Dickhäuser & Rheinberg, 2003). Der Zeitpunkt, zu Unterrichtsbeginn (Z. 1), impliziert, dass die ›Lernwörter‹ vorab geübt wurden.

Theoretische Verknüpfung

Die Vignette löst in erster Instanz Assoziationen zu Formen der Erhebung von Bewertung schulischer Leistungen aus. In erster Linie formen dabei die gängigen Kategorien der Orientierung an Bezugsnormen (individuell, kriterial und sozial) und der Beschreibung der Erhebungssituation bzw. des Erhebungszeitraums (Produkt- und Prozessbezogenheit) die theoretische Grundlegung der Analyse und Bewertung der Vignette (Adamina, 2019). Damit im Zusammenhang steht auch das, was für uns einen Teil der Prägnanz der Vignette für Inklusion ausmacht: Das Dilemma der Beurteilung und Bewertung von Leistung im Kontext von Inklusion (Seifert & Müller-Zastrau, 2014). Hier lassen sich bezogen auf die o. a. Kategorien viele Fragen an die Vignette richten.

In zweiter Instanz ist der Umgang mit Störungen als Bestandteil des Classroom-Managements prägnanter theoretischer Bezugsrahmen für diese Lesart (u. a. Gold & Holodynski, 2011). So sind entsprechend auch die Abschnitte zu den beteiligten Personengruppen und deren Darstellung in der Vignette zu verstehen. Als inklusionsbezogene Betrachtung und Bewertung der Handlungen der Beteiligten, von der Beobachterin in Union mit der Verfasserin der Vignette bis hin zu Maxi.

Personen – Maxi, die Lehrperson und die Mitschülerinnen und Mitschüler

Die Situation berücksichtigt grundsätzlich vier Personen‍(-gruppen). Die Lehrperson, die der Gruppe der Schülerinnen und Schüler Lernwörter diktiert. Maxi ist einer dieser Schüler. Er wird durch sein der Situation nicht angepasstes Verhalten auffällig. Seine Mitschülerinnen und Mitschüler sind eine weitere Personengruppe. Sie werden als routiniert im Durchführen des Rituals und konzentriert beim Schreiben beschrieben. Wie die Formulierung ›Schreibfestungen‹ andeutet, wirken sie mit einiger Begeisterung am Lernwörtertest mit. Zuletzt ist auch die beobachtende Person mit ihrer Sichtweise in die Vignette, zumindest subtil, eingeschrieben.

Die Lehrperson führt scheinbar eine Methode mit der Lerngruppe durch, in der sie selbst und die Schülerinnen und Schüler scheinbar einige Routine haben. ›Sogar‹ Maxi, der allein sitzt, wobei kein Grund dafür beschrieben wird, baut eine ›Sichtschutzmauer‹. Diese schützt üblicherweise davor, dass niemand sich bei Ratlosigkeit Hilfe holen kann. Weder der die Mauer Errichtende noch der durch die Mauer Abgeschirmte. Sinngemäß der visuellen Trennung der Kinder voneinander ist in der Vignette überwiegend die Rede von den Kindern und kaum von der Klasse, was die Exklusion von Maxi aus der Gruppe der Kinder syntaktisch erleichtert. ›Es ist still im Raum. Die Kinder schreiben konzentriert. Auch Maxi schreibt ‹ (Z. 10 – 11). Maxi hat sich zwar durch das Bauen einer Sichtschutzmauer um seinen Platz von den anderen abgeschirmt, jenes aber vermutlich eher um, wie alle anderen, auch eine eigene Mauer zu haben. Eine Mauer also, mit der er paradoxerweise versucht dazu zu gehören.

Maxi hebt sich insofern von der Gruppe der konzentriert, still und routiniert schreibenden Kinder ab, als dass er vor allem nicht still schreibt. Grundsätzlich schreibt er zunächst alle Wörter ›mehr oder weniger richtig‹ (Z. 21) (hier werden alle Kinder, auch Maxi, adressiert). Auch schreibt er die Wörter dem Ritual gemäß auf. Ganz im Stil der Lehrperson fordert er mit zunächst zu- und dann abnehmender Vehemenz die Aufnahme von ›besoffen‹ in die Liste der Lernwörter. Wobei unklar bleibt, ob ›besoffen‹ üblicherweise Teil der Liste der Lernwörter ist und mit welcher Hintergrundidee Maxi das Wort in die Liste der Lernwörter aufgenommen wissen möchte. Die Möglichkeiten, was Letzteres angeht, scheinen schier unbegrenzt. Vielleicht kamen Maxis Eltern bei dem Ritual zugehörigen Üben der Lernwörter am Vortag lediglich auf die Idee, »besoffen« dem üblichen Zustand der Verwandten zu Silvester entsprechend, in die Liste wichtiger Lernwörter aufzunehmen.

Maxis Vehemenz setzt die Lehrperson Sanktionen für sein Verhalten beginnend mit Ignoranz entgegen, was wenn man davon ausgeht, dass Maxi das Bedürfnis nach sozialer Eingebundenheit (negativ gewendet Aufmerksamkeit) verspürt, wohl die Höchststrafe sein dürfte. Entsprechend lässt Maxi mit auf die Ignoranz hinzu nehmender Vehemenz seinen Wunsch lauter und dringlicher werden (›reckt sich und ruft laut und vernehmlich‹ (Z. 12) > ›leise, aber doch vernehmlich‹ (Z. 15) < ›kommentiert dies mit dem Ausruf‹ (Z. 17) < ›später zu rufen »Kommt jetzt bitte mal besoffen?«‹). Was dann schließlich eine Reaktion der bzw. die vehemente Maßregelung von Maxi durch die Lehrperson zur Folge hat. Maxi setzt seinen Wunsch bzw. seine Forderung anschließend leise und unauffällig fort und folgt dabei dem Ritual gemäß den zentralen Regeln: alleine schreiben, richtig schreiben, leise schreiben, auswendig schreiben.

All dies scheint die Gruppe der Mitschülerinnen und Mitschüler nicht zu stören, sie werden jedenfalls nicht weiter erwähnt.

Theoretische Verknüpfung

Unter einem weiten Verständnis von Inklusion, so es ein solches in Abgrenzung von einem engen Verständnis überhaupt gibt (vgl. Grosche, 2015), sind Personen und Personengruppen in ihrer Interaktion aufgefordert, über Gegebenheiten für eine gleichberechtigte Teilnahme und Teilhabe an einem Gut, im Fall der Vignette Unterricht, zu reflektieren (Budde & Hummrich, 2014). Präsent werden unter diesem Verständnis theoretische Andockungspunkte z. B. bei John Rawls (2014), der Gerechtigkeit dahingehend beschreibt, dass in einem gerechten Umfeld privilegierte Personen‍(-gruppen) nicht berechtigt seien, Privilegien oder Ressourcen für sich zu sichern, ohne dabei im gleichen Umfang auch Privilegien oder Ressourcen für marginalisierte Personen‍(-gruppen) zu schaffen. Unsere Lesart versucht sich einer Antwort auf die Frage zu nähern, inwiefern Maxi tatsächlich oder durch die Formulierung der Vignette marginalisiert und in der Konsequenz ggf. exkludiert ist. Entscheidend ist hier, dass die Vignette bestimmte Auseinandersetzungen mit Inklusion und Exklusion zulässt oder begünstigt. Den Blick auf Fragen der De-Se‍gregation bzw. Differenzierung oder auf Fragen nach der Berücksichtigung von Vielfalt verbirgt die Vignette durch die Grenzen der Situation, die sie beschreibt. Ausgehend von gängigen Kategorien der Beschreibung der Rolle der Lehrperson z. B. der Formulierung von Lernzielen in der Zone der nächsten Entwicklung (Vygotskij, 1978), der Unterteilung lernunterstützender Maßnahmen (Scaffolding) in solch kognitiver Aktivierung oder inhaltlicher Strukturierung (Kleickmann, 2012; van de Pol, Volman & Beishuizen, 2010), erscheint die Vignette atypisch für einen moderat-konstruktivistisch ausgerichteten Unterricht insbesondere unter dem Topos Inklusion. So erscheint die Vignette durch zentrale Merkmale der Beschreibung, (1) stark kriterial orientierte Situation der Erhebung von Schülerinnen- und Schülerleistungen, (2) keine Möglichkeiten der Öffnung oder Partizipation sowie (3) vereinzelte Betrachtung einer Person (Maxi) als gegenüber dem Rest der Klasse besonderer bzw. verbesonderter als Gegenbeispiel für Inklusion. Dabei lässt die Vignette offen, ob das die Intention der Verfasserin ist. Ob also als prägnantes Beispiel, Maxi an seiner Situation (allein sitzen) ggf. partizipativ beteiligt war und selber ein Einsehen darin hat, sie vielleicht sogar selber als wohlbegründet ansieht, kann die Vignette nicht fassen. Hierin liegt das maßgebliche Moment der Offenheit ihrer Bewertung, bei auf den ersten Blick solcher Eindeutigkeit, dass man gleich Partei für Maxi ergreifen möchte. Fragen zu Strategien der (Deeskalation in Reaktion auf Störungen rücken dadurch in den Hintergrund. Wir möchten ihnen dennoch in Bezug auf die Anlage von Unterricht und das Verhalten der Lehrperson im folgenden Raum geben.

Classroom Management – Rituale und Routinen als Entlastung

Der Begriff Ritual