Inklusive Schule - Diagnostik und Beratung - Saskia Schuppener - E-Book

Inklusive Schule - Diagnostik und Beratung E-Book

Saskia Schuppener

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Beschreibung

Ausgehend vom inklusiven Auftrag, Teilhabe und Partizipation zu ermöglichen, stellt das Buch die zentralen Wissensbestände zu den Themenfeldern Diagnostik und Beratung unter inklusiver Perspektive dar. Angesichts der Bedeutung diagnostischer und beraterischer Kompetenzen im Kontext inklusiver Schule werden Aufgabenbereiche sowie konzeptionelle Handlungsmöglichkeiten von Diagnostik und Beratung im inklusiven Schulalltag sowie im Rahmen von inklusionsorientierter Schulentwicklung aufgezeigt. Das Buch bietet eine grundlegende Einführung in dieses fachübergreifende Qualifikationsprofil, das in einer diversitätssensiblen LehrerInnenausbildung einen zentralen Platz einnimmt.

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Inklusive Schule

 

Herausgegeben von Gottfried Biewer.

 

Eine Übersicht aller lieferbaren und im Buchhandel angekündigten Bände der Reihe finden Sie unter:

 

https://shop.kohlhammer.de/inklusive-schule

 

Die Autorin und der Autor

 

Dr. Saskia Schuppener ist Professorin für Pädagogik im Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung am Institut für Förderpädagogik der Universität Leipzig.

Dr. Marcus Schmalfuß war dort wissenschaftlicher Mitarbeiter und arbeitet aktuell als Lehrer und Diagnostiker an einer Schule mit dem sonderpädagogischen Schwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung.

Saskia Schuppener, Marcus Schmalfuß

Die inklusive Schule – Diagnostik und Beratung

Verlag W. Kohlhammer

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1. Auflage 2023

 

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

 

Print:

ISBN 978-3-17-037226-9

 

E-Book-Formate:

pdf:        ISBN 978-3-17-037227-6

epub:     ISBN 978-3-17-037228-3

Vorwort

Die Ausführungen in diesem Buch folgen einer wissenschaftlichen Perspektive von akademisierten, privilegierten und sonderpädagogisch sozialisierten Autor*innen. Wir forschen und lehren seit vielen Jahren zu Fragen inklusiver Bildung und inklusiver Schulentwicklung an der Universität Leipzig.

Die Erarbeitung der einzelnen Kapitel erfolgte stellenweise unter der Mitarbeit von Christian Eichfeld (Kapitel 2.2 als alleiniger Autor; Kapitel 1.2 und 2.1 in gemeinsamer Autor*innenschaft mit Saskia Schuppener) und Mattis Scherrer (Kapitel 1.4 als alleiniger Autor), bei denen wir uns hiermit ganz ausdrücklich und herzlich bedanken möchten.

Wir sind um eine diskriminierungssensible Sprache und eine inklusionsorientierte Schreibweise bemüht, wohl wissend, dass es ein wirklich diskriminierungsfreies Sprechen nicht gibt. Wir nutzen in unseren Ausführungen das Gender* und möchten damit die Vielfalt von verschiedensten Geschlechteridentitäten jenseits eines binären Geschlechtermodells verdeutlichen. Bei von uns verwendeten Begriffen wie ›Eltern‹ oder ›Familie‹ möchten wir explizit die Pluralität aller Familienformen sowie Konstellationen erziehungs-/sorgeberechtiger Personen mitgedacht wissen.

Nicht zuletzt möchten wir ein ganz herzliches Danke sagen an Charlotte Henningsen und Henrik Röckle für ihr aufmerksames Korrekturlesen.

Inhalt

Vorwort

Einleitung

Struktur des Bandes

1            Diagnostik- und Beratungskompetenzen in der inklusiven Schule

1.1          Kompetenzen in Diagnostik und Beratung

1.2          Diagnostik und Assessment – Begriffe und Konzeptionen

1.2.1       Differente Diagnostikverständnisse

1.2.2       Formen des Assessments

1.3          Beratung – Grundlagen und Funktion

1.3.1       Beratungshandeln in der Schule

1.3.2       Formale Einordnung von Beratung

1.3.3       Organisationsformen professioneller Beratung

1.4          Anlässe und Zugänge von Diagnostik und Beratung in der Schule

1.4.1       Anlässe von Diagnostik und Beratung

1.4.2       Allgemeines Verlaufsmodell von Diagnostik und Beratung

2            Diagnostisches Handeln von Lehrpersonen im inklusiven Setting

2.1          Diagnostisches Handeln

2.1.1       Strukturierungs- und Orientierungsfunktion diagnostischen Handelns

2.1.2       Gegenstände schulischer Diagnostik

2.1.3       Spannungsfelder diagnostischen Handelns

2.1.4       Diagnostische Ergebnisse als Basis für pädagogisch-didaktische Entscheidungen

2.2          Methodenüberblick zum diagnostischen Handeln

2.2.1       Ausgewählte diagnostische Methoden

2.2.2       Ansätze der Lernverlaufsdiagnostik

2.3          Zum Anspruch einer inklusiven Assessmentkultur

2.4          Ethisch-reflexive Anforderungen an diagnostisches Handeln

2.4.1       Ableismuskritische Grundhaltung

2.4.2       Wertschätzung, Anerkennung und Achtsamkeit

2.4.3       Umgang mit Kategori(sierung)en

2.4.4       Reflexion von Etikettierungen

2.4.5       Subjektorientierung und Partizipation

3            Beratung in der schulischen Inklusion

3.1          Beratungsansätze und -methoden

3.1.1       Systemische Beratung

3.1.2       Lösungsorientierte Beratung

3.1.3       Kooperative Beratung

3.1.4       Vergleichende Einordnung unter inklusionspädagogischer Perspektive

3.2          Individuelle Beratung und Professionalisierung

3.2.1       Einsatzfelder und Akteur*innen individueller Beratung und Professionalisierung

3.2.2       Gelingensbedingungen und Herausforderungen individueller Beratung im Kontext schulischer Professionalisierung

4            Diagnostik und Beratung im Kontext inklusiver Schulentwicklung und Lehrer*innenbildung

4.1          Diagnostik und Beratung innerhalb von Schulentwicklung und Interprofessionalität

4.1.1       Zur Rolle der Schulleitung

4.1.2       Zur Klärung von Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten

4.1.3       Zur Rolle von Sonderpädagog*innen

4.1.4       Interprofessionelle Kooperation und Synchronisation inklusiver Praktiken

4.2          Kompetenzentwicklung von Lehrer*innen auf der Basis eines machtkritischen Professionalisierungsverständnisses

4.2.1       Machtkritische Professionalisierung

4.2.2       Adaptive Kompetenzentwicklung innerhalb einer inklusionsorientierten Lehrer*innenbildung

Literatur

Einleitung

»Es lohnt sich, […] Mechanismen der Inklusion oder Exklusion in der Gegenwart anzuschauen: mit welchen Geschichten, welchen Losungsworten Menschen sortiert und bewertet werden. Wer dazugehören darf und wer nicht, wer eingeschlossen und wer ausgeschlossen, wem Macht zugedacht und wem Ohnmacht zugeordnet wird, wem Menschenrechte zuerkannt oder abgesprochen werden, das gehört vorbereitet und begründet in Dispositiven aus Gesagtem und Ungesagtem, in Gesten und Gesetzen, administrativen Vorgaben oder ästhetischen Setzungen, in Filmen und Bildern. Durch sie werden bestimmte Personen als akzeptabel, zugehörig, wertvoll und andere als minderwertig, fremd und feindlich beurteilt« (Emcke 2019, 116).

Für Begründungen und Bewertungen als Schablone für den Einschluss oder Ausschluss von Menschen spielen Diagnostik und Beratung eine zentrale Rolle. Daher erscheint es bedeutungsvoll, diesem Wirkungsfeld eine besondere Aufmerksamkeit zu schenken: Die Bedeutung von Diagnostik und Beratung im Kontext von Schule ist nicht eindeutig konzeptionalisiert und wird scheinbar epochal immer wieder entlang der Professionsentwicklung und der Frage ihrer Relevanz für die Professionalisierung von Lehrer*innen (neu) verhandelt. Für den Inklusionsdiskurs lässt sich hier vielleicht von einer Renaissance der Diagnostik (Hesse & Latzko 2017, 15) und Beratung sprechen, da diese beiden Handlungsfelder zunehmend an Bedeutung gewinnen (Baumert & Kunter 2006, 489; KMK 2011) und ihnen eine gewisse Schlüsselrolle innerhalb der Entwicklung und Ausgestaltung schulischer Inklusion zukommt.

Die Gestaltung inklusiver Bildung erfordert eine kritische Diskussion und Neubestimmung systemischer, schulischer und unterrichtlicher Strukturen, Kulturen und Praktiken. Dazu gehören zentral auch diagnostische und beraterische Handlungsfelder. Die Frage nach der Relevanz von Diagnostik und Beratung im Kontext Inklusiver Schule ist also eng verbunden mit der Frage nach einer Rekontextualisierung (vgl. Amrhein 2016). Grundsätzlich müsste das Schulsystem eine grundlegende innovative inklusive Reform erfahren. Stattdessen erfolgen primär verschiedentliche bundesländerspezifische oder regionale Anpassungsversuche sowie Entwicklungsinitiativen einzelner Schulen. Dieses ›Einzelengagement‹ ist wichtig, es kann jedoch das grundlegende Dilemma der Reformverweigerung inklusiver, systemischer Transformation nicht kompensieren: Wir blicken nach wie vor auf das Artefakt eines differenzierten, mehrgliedrigen, selektiven Schulsystems, das auf Inklusion als innovativen Anspruch trifft. Dieser Anspruch steht »derart in Opposition zur Logik des eigenen Systems« (ebd., 27), dass sich nicht das Schulsystem ändert, um der Innovation Inklusion gerecht zu werden, sondern das System so viel Anpassungsdruck erzeugt, dass die Innovation gewandelt wird (vgl. ebd.). Das hat dazu geführt, dass wir auf Widersprüchlichkeiten, Paradoxien und auch differente Mechanismen der Abwehr, der Blockade stoßen, wenn es um inklusive Schulentwicklung geht1. Dies lässt sich unseres Erachtens an der Diskussion um die Frage nach der Standortbestimmung und dem konzeptionellen Selbstverständnis von Diagnostik und Beratung im Kontext schulischer Inklusion sehr gut ablesen: Nach wie vor gilt als klärungsbedürftig, »in welcher Weise diagnostische [und beraterische] Aufgaben zwischen Lehrkräften verschiedener Lehrämter zu verteilen sind und wer über welche Kompetenzen verfügen muss« (Ricken 2017, 187). Diesbezügliche Klärungsversuche stellen jedoch eine wesentliche Voraussetzung für gelungene multiprofessionelle Zusammenarbeit dar.

Die Themen Diagnostik und Beratung werden aber nicht nur in der Frage nach der personellen Zuständigkeit und Verantwortung anhaltend diskutiert; auch im Hinblick auf Fragen der inhaltlichen und konzeptionellen Verortung lassen sich Differenzen konstatieren. Einerseits wird das Selbstverständnis einer sogenannten »Inklusiven Diagnostik« (vgl. Schäfer & Rittmeyer 2015; Simon & Simon 2013) an sich schon kontrovers verhandelt und andererseits wird von der Konstituierung »Inklusiver Diagnostik« Abstand genommen und es erfolgen eher Versuche der Konturierung einer »Diagnostik im Kontext inklusiver Bildung« (vgl. Amrhein 2016) sowie Reformulierungen von »Pädagogischer Diagnostik« mit den zentralen Bezugspunkten Inklusion und Behinderung (vgl. Schiefele, Streit & Sturm 2019). Beratung wird meist konzeptionell nicht zentral mitgedacht und/oder eher als ein kleiner Teilbereich von Diagnostik adressiert. Die Bedeutung von Beratung und die Konsequenzen einer inklusiven Perspektive auf beraterisches Handeln sollten jedoch eine deutlich stärkere Beachtung erfahren.

Mit der vorliegenden Publikation möchten wir einen Beitrag zur stärkeren Synthese von Diagnostik und Beratung im Kontext der Inklusiven Schule leisten. Vor dem Hintergrund einer Lehrer*innenbildung, die immer mehr auf ein inklusives Bildungssystem ausgerichtet ist, stellen Diagnostik und Beratung für alle Lehrämter unabhängig ihrer Spezifik und ihres Faches wesentliche Kompetenzbereiche dar (vgl. Baumert & Kunter 2006). So werden diagnostische Kompetenzen und Beratungsfähigkeiten nicht mehr nur einer sonderpädagogischen Qualifizierung zugerechnet, sondern sind Teil eines veränderten Qualifikationsprofils aller Lehrer*innen. Wird Inklusion als Perspektive der Schulentwicklung gedacht, wie es der Reihe »Inklusive Schule« zugrunde liegt, muss eine ehemals sonderpädagogische Sicht auf Diagnostik und Beratung durch eine grundlegend inklusive Perspektive abgelöst werden. Anknüpfend an Band 1 der Reihe ist hierbei von einem ›weiten Inklusionsverständnis‹ auszugehen.

Ausgehend vom inklusiven Auftrag, Teilhabe und Aktivität zu ermöglichen, versucht auch dieses Studienbuch die zentralen Wissensbestände zu den Themenfeldern Diagnostik und Beratung unter einer inklusiven Perspektive darzustellen. Im Rahmen der Reihe »Inklusive Schule« nimmt dieser Band sowohl einen Überblickscharakter ein und bietet gleichzeitig auch Lehrer*innen die Möglichkeit, sich vertiefter mit den Themenfeldern Diagnostik und Beratung auseinanderzusetzen.

Struktur des Bandes

Kapitel 1: Diagnostik- und Beratungskompetenzen im Kontext inklusiver Schule

Das erste Kapitel zeigt einordnend auf, welche Bedeutung Diagnostik- und Beratungskompetenzen in der professionellen pädagogischen Praxis einnehmen. Es werden differente Verständnisse von Diagnostik, Assessment und Beratung sowie zugehörige Anlässe, Anforderungen und Organisationsformen von Diagnostik und Beratung im schulischen Kontext in den Blick genommen. Ausgehend vom Konzept der Heterogenitätssensibilität wird Diagnostik als strukturgebendes Element für die alltägliche pädagogische Arbeit vorgestellt, während Beratung als koordinierende Möglichkeit aufgezeigt wird.

Kapitel 2: Diagnostisches Handeln von Lehrer*innen im inklusiven Setting

In diesem Kapitel werden zunächst grundlegende Funktionen, Ziele und Spannungsfelder diagnostischen Handelns von Lehrer*innen aufgezeigt, bevor auf die Verbindung von diagnostischem und didaktischem Handeln eingegangen wird. Einem Einblick in die Methoden diagnostischen Handelns folgt die Akzentuierung der Entwicklung einer inklusiven Assessmentkultur als Leitbild inklusionsorientierter Schule. Den Abschluss und die Rahmung dieses Kapitels bildet eine Auseinandersetzung mit ethischen Reflexionsanforderungen an diagnostisches Handeln.

Kapitel 3: Beratung in der inklusiven Schule

Das dritte Kapitel widmet sich einführend unterschiedlichen Beratungsansätzen und deren Relevanz im inklusiven schulischen Setting. Beratung wird hier als koordinierendes Element im Spannungsfeld von individueller (schulischer) Entwicklung und institutioneller Schulentwicklung betrachtet. Aus diesem Grund wird nachfolgend sowohl den verschiedenen Einsatzmöglichkeiten individueller, Professionalisierung fördernder Beratung als auch den Gelingensbedingungen für erfolgreiche Beratungsprozesse Raum gegeben.

Kapitel 4: Beratung und Diagnostik im Kontext inklusiver Schulentwicklung und Lehrer*innenbildung

Im finalen Kapitel soll die Bedeutung einer strukturgebenden Diagnostik und einer koordinierenden Beratung für die inklusive Schulentwicklung und die Kompetenzentwicklung von Lehrer*innen zusammengefasst und reflektiert werden. Hierzu werden Fragen an die Klärung von Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten schulischer Akteur*innen gestellt und Möglichkeiten der interprofessionellen Kooperation erörtert. Auf der Basis einer machtkritischen Professionalisierung werden zum Abschluss Ansprüche einer adaptiven Kompetenzentwicklung in den Bereichen Diagnostik und Beratung innerhalb einer inklusionsorientierten Lehrer*innenbildung erörtert.

1     In diesem Zusammenhang muss angemerkt werden, dass (auch) der sonderpädagogische Inklusionsdiskurs stellenweise unpräzise und widersprüchlich geführt ist und damit das »Praxisprojekt Inklusion« (Ackermann 2017, 229) zum Teil eher blockiert als fördert.

1         Diagnostik- und Beratungskompetenzen in der inklusiven Schule

Worum es geht …

In diesem einführenden Kapitel soll die Bedeutung von Diagnostik und Beratung im Kontext inklusiver Schule entlang einer Klärung diagnostischer und beraterischer Grundbegriffe, Kompetenzen und Zugänge erörtert werden. In Kapitel 1.1 (Kap. 1.1) werden zunächst Kompetenzen in Diagnostik und Beratung skizziert. Während Kapitel 1.2 (Kap. 1.2) eine begriffliche und konzeptionelle Einordnung von Diagnostik und Assessment vornimmt, werden in Kapitel 1.3 (Kap. 1.3) Unterscheidungsmerkmale und Kriterien einer Beratung in pädagogischen Handlungsfeldern dargestellt. Kapitel 1.4 (Kap. 1.4) möchte schließlich eine Systematik bereitstellen, mit der Lehrkräfte und andere Professionelle Anlässe und Zugangsfelder von Diagnostik und Beratung verstehend ordnen können.

1.1         Kompetenzen in Diagnostik und Beratung

»Kompetent sein für Inklusive Schule heißt auch Diagnostizieren [und beraten] lernen. Eine Aufgabe nicht nur für Sonderpädagog*innen« (Ricken 2017, 187). Ricken (2017) bezeichnet die Kompetenzen in Diagnostik und Beratung von Lehrpersonen als Gelingensbedingungen für inklusive Schul- und Unterrichtsentwicklung und -gestaltung. Dabei setzt ein an Inklusion orientiertes Diagnostik- und Beratungsverständnis voraus, »sich intensiv mit den verschiedenen Sichtweisen auf Diagnostik [und Beratung], einschließlich Zielsetzungen, Leitideen, Handlungskonzepten und insbesondere deren Bedeutung für Lernende und Lehrende auseinanderzusetzen […] [und] auf der Grundlage der konsequenten Achtung und Umsetzung der Menschenrechte Prozesse der Marginalisierung, Stigmatisierung und Diskriminierung [zu verhindern]« (Gloystein & Frohn 2020, 62). Die Komplexität eines diagnostischen und beraterischen Kompetenzprofils von Lehrpersonen wird durch das folgende Aufgabenportfolio sehr anschaulich:

»Lehrende müssen Lernprozesse beobachten, Kindern in ihrer Interaktion mit Aufgaben und ihrer Lerngruppe wahrnehmen und verstehen (Diagnostik), Lern- und Schulprozesse organisieren (Management), sich untereinander austauschen (Beratung), Unterricht und Interventionen gestalten, vor allem im Team arbeiten. Die Unterschiedlichkeit der Lernprozesse erfordert spezifische Expertise, vom Lernenden als auch vom Gegenstand her gedacht sowie die Expertise, Barrieren zu erkennen, die Lernprozesse behindern. Um mit dieser Vielfalt an Details gut umzugehen, dürfte die Bereitschaft zur Selbstreflexion und zum eigenen Weiterlernen unentbehrlich sein« (Ricken 2017, 193).

Versteht man pädagogische Diagnostik als »allen pädagogischen Handlungen immanente Erkenntnistätigkeit« (Ricken & Schuck 2011, 110), so sind diagnostische Kompetenzen zentrale professionelle pädagogische Kompetenzen. In diesem Sinne sind auch alle Lehrpersonen verantwortlich für pädagogische Diagnostik und benötigen diagnostische Basiskompetenzen, wobei darüber hinaus einige Lehrpersonengruppen über spezifische Qualifikationen verfügen und spezifische schulsystemische diagnostische Funktionen zugewiesen bekommen, wie z. B. Beratungslehrer*innen oder Sonderpädagog*innen (Kap. 4.1.3). Die Verortung grundlegender diagnostischer und beraterischer Kompetenzen innerhalb pädagogischer Professionalität soll im Folgenden anhand des Modells professioneller Kompetenz von Lehrer*innen von Baumert und Kunter (2006, 2011) verdeutlicht werden:

Abb. 1:    Kompetenzen in Diagnostik und Beratung – erweitert eingeordnet in das Modell professioneller Kompetenz von Lehrpersonen nach Baumert & Kunter (2006, 2011)

Überzeugungen und Werthaltungen steuern professionelles Handeln und sollten einer bewussten Reflexion zugänglich gemacht werden. Dies kann bspw. erfolgen über die Aneignung ethischen Reflexionswissens (Kap. 2.4), denn Professionswissen muss explizit gerahmt sein durch eine kritische Auseinandersetzung bspw. mit den (eigenen) normativen Implikationen diagnostischen und beraterischen Handelns. Dafür benötigt es ein ethisches Reflexionswissen, welches z. B. einen selbstkritischen Umgang mit eigenen Vor-›Urteilen‹ und Urteilsfehlern (vgl. Hesse & Latzko 2017) einschließt. Bezüglich grundlegender Überzeugungen und Werthaltungen pädagogischer Professionalität lässt sich an dieser Stelle auf die Werte der European Agency for Special Needs and Inclusive Education (2022)2 verweisen, welche für den Kontext inklusiver Schule als zentral bedeutsam erachtet werden:

  Wertschätzung der Diversität der Lernenden

  Unterstützung aller Lernenden

  Mit anderen zusammenarbeiten

  Persönliche und kollaborative berufliche Weiterentwicklung

Als eine Art verbindendes Element dieser Empfehlungen im Kontext von Kompetenzentwicklung und (schulischer) Inklusion sei hier auf die Entwicklung von Heterogenitätssensibilität verwiesen. Heterogenitätssensibilität lässt sich verstehen als »differenzierte (im Sinne eines maximal weiten Blicks auf verschiedenste Dimensionen) und reflektierte (im Sinne einer Sichtung möglicher Relevanz, Zusammenhang und Interdependenz der Dimensionen) Wahrnehmung und Anerkennung (der unterrichtlichen Bedeutsamkeit) der Heterogenität einer konkreten Lerngruppe in einer konkreten Situation« (Schmitz et al. 2019, 173). In Bezug auf pädagogische Professionalität in inklusiven Settings wird die Entwicklung einer »Sensibilität (angehender) Lehrpersonen im Umgang mit Heterogenität […] als grundlegende und notwendige Voraussetzung für den Erwerb von Fähigkeiten und Fertigkeiten angenommen« (Welskop & Moser 2020, 24).

Motivation und Selbstregulation stellen ebenfalls grundlegende Einflussfaktoren auf professionelles Handeln dar. Baumert und Kunter (2006, 2011) stellen als eine motivationale Eigenschaft heraus, dass die Freude am Lehrer*inberuf in Form von ›Enthusiasmus und Wertschätzung des Unterrichtens‹ einen entscheidenden Einfluss auf die professionelle pädagogische Qualität hat. Dies würde prinzipiell auch eine Wertschätzung gegenüber dem diagnostischen Handeln mit einschließen. Unter Selbstregulation lässt sich nach den Autor*innen die Fähigkeit verstehen, die eigenen Ressourcen zu kennen und angemessen einzusetzen sowie ein ausgewogenes Maß zwischen beruflichem Engagement und Distanz zu beruflichen Angelegenheiten zu finden.

Ein Professionswissen stellt sich insgesamt und auch im Übertrag auf Diagnostik und Beratung als hoch komplex dar. Die Abbildung 1 verkörpert daher lediglich einen Versuch, wesentliche Teilbereiche diagnostischer Kompetenz sichtbar zu machen und – neben dem Beratungswissen – hier einige Kompetenzbereiche und -facetten zuzuordnen:

»Diagnosekompetenz von Lehrkräften [hat u. a.] eine Moderatorfunktion für eine lernerfolgsrelevante Strukturierung von Unterricht« (Baumert & Kunter 2006, 489) und verkörpert somit eine Verbindung von pädagogisch-psychologischem und fachdidaktischem Wissen. Denn es »[…] ist eine große Herausforderung an das fachdidaktische Können, Aufgaben auszuwählen und Arbeitsaufträge zu formulieren, die ein besonderes diagnostisches Potenzial in sich selbst tragen« (ebd.: Herv. i. O.). Im Kontext inklusiver Schul- und Unterrichtsentwicklung wird hinsichtlich der Verbindung von diagnostischer und didaktischer Kompetenz (Kap. 2.1.4) auch vom Wissen über ›Diagnosebasiertes Unterrichten‹ (Schiefele et al. 2019, 54) gesprochen. Eine weitere Verknüpfung diagnostischen und (fach)didaktischen Wissens zeigt sich auch in der Verbindung von Kompetenzdiagnostik und kompetenzorientierter Unterrichtsgestaltung (Schott 2015). Hierzu gehört auch eine Metaebene in Form einer konstruktiv-kritischen Auseinandersetzung mit der immer stärker anwachsenden Bedeutung einer Messung von Kompetenzen.

Nach Hesse und Latzko (2017) beinhaltet diagnostische Expertise »sowohl methodisches und prozedurales Wissen (Verfügbarkeit von Methoden zur Einschätzung von Schülerleistungen und zur Selbstdiagnose) als auch konzeptuelles Wissen (Kenntnis von Urteilstendenzen und -fehlern)« (27; Herv. d. A.). (Nicht nur) im Kontext der inklusiven Schule müssen Lehrer*innen auch über ein spezifisches Handlungswissen hinsichtlich konkreter Umsetzungsmöglichkeiten der Förderung von Schüler*innen verfügen (vgl. anteilig: Metawissen II nach Rittmeyer & Schäfer 2014, 18). Dazu gehört bspw. Wissen im Umgang mit Konzentrations- und Aufmerksamkeitsproblemen oder Lernschwierigkeiten von Schüler*innen oder Wissen im Umgang mit Kommunikations- und Interaktionsspannungen innerhalb des Klassenklimas oder mit Herausforderungen in der Lehrer*in-Schüler*in-Beziehung.

Pädagogisch-psychologisches Wissen erweist sich insbesondere im Bereich der Diagnostik als zentrale Grundlage. Hierzu gehören grundlegende Kenntnisse über Lernprozesse und Entwicklungsverläufe: Entwicklungspsychologisches Grundwissen, Theorien über Wissensaneignung, Kenntnisse über fachbezogene Lernentwicklungsmodelle, Wissen zu Wechselwirkungen von Kognition und Emotion, Wissen über Normentwicklungsvorstellungen und damit einhergehende Normabweichungskonstruktionen (vgl. anteilig: »Metawissen I« nach Rittmeyer & Schäfer 2014, 15; »pädagogisch-psychologisches Wissen über das Lehren und Lernen« nach Hesse & Latzko 2017, 27). Ein Wissen über Methoden der Lernprozess-, Lernstands- und Leistungsbeurteilung (Kap. 2.2) stellt eine wesentliche Grundlage diagnostischer Kompetenz dar.

Neben dem Fokus auf diagnostische Kompetenzen weisen Baumert und Kunter (2006, 2011) auch Organisationswissen und Beratungswissen als zentrale Elemente eines Professionswissens von Lehrpersonen aus. Das Organisationswissen umfasst unseres Erachtens u. a. Kenntnisse über grundlegende Rahmenbedingungen (z. B. die Verfasstheit des Bildungssystems) pädagogisch-professionellen Handelns. Und das Beratungswissen umfasst zum einen kommunikatives Wissen, auf welches im Folgenden noch etwas differenzierter eingegangen werden soll, und zum anderen ein Handlungswissen über Beratungsformen und -methodiken, welches wir in Kapitel 3 (Kap. 3) näher ausführen möchten.

Für die Verzahnung einer Expertise in Diagnostik und Beratung sind kommunikative Kompetenzen absolut zentral. Aufbauend darauf ist der Erwerb von Beratungskompetenzen für alle Lehrpersonen im Kontext inklusiver Schule zentral, besonders um Selektionsprozessen gezielt entgegenzuwirken und den Fokus auf individuelle Beratung und Förderung zu lenken (Paradies 2015). Mit Blick auf den Themenkomplex »Kommunikation und Inklusion« schlägt Greuel (2016, 283f.) hier u. a. folgende konkrete Beratungskompetenzen im Kontext der inklusiven Schule vor:

  das Kennen von Begriff und Merkmalen der (Leistungs-)Heterogenität bzw. Diversität

  das Reflektieren der persönlichen berufsbezogenen Wertvorstellungen und Einstellungen

  das Erkennen von Benachteiligungen, Beeinträchtigungen und Barrieren

  das Realisieren pädagogischer Unterstützung

  das Verfügen über Kenntnisse zu Kommunikation und Interaktion

  das Kennen von Regeln der Gesprächsführung sowie Grundsätzen des Umgangs miteinander, die in Unterricht, Schule und Elternkooperation bedeutsam sind

  das Reflektieren der Passung des eigenen Lehrens zu den Lernvoraussetzungen und Lernbedürfnissen der Schüler*innen

  das Analysieren von Konflikten und das Kennen von Methoden der konstruktiven Konfliktbearbeitung

  das Erarbeiten von Regeln des wertschätzenden Umgangs miteinander – gemeinsam mit Schüler*innen

  das Unterscheiden zwischen Beurteilungs- und Beratungsfunktion

  das situationsgerechte Einsetzen unterschiedlicher Beratungsformen

  das Praktizieren kollegialer Beratung als Hilfe zur Unterrichtsentwicklung und Arbeitsentlastung.

Die Entwicklung von Diagnostik- und Beratungskompetenzen in Verbindung mit grundlegenden kommunikativen Kompetenzen und Handlungserfahrungen entsteht nicht zufällig oder »von allein im Laufe der Berufsjahre über die schulische Alltagserfahrung« (Hesse & Latzko 2017, 27), sondern setzt eine professionell erworbene Expertise voraus (vgl. ebd.). Welche Bedeutung der Kompetenzerwerb im Rahmen einer inklusionsorientierten Lehrer*innenbildung haben sollte, möchten wir am Ende des Buches in Kapitel 4.2.2 (Kap. 4.2.2) nochmal aufgreifen.

1.2         Diagnostik und Assessment – Begriffe und Konzeptionen*

1.2.1        Differente Diagnostikverständnisse

In schulischen Handlungsfeldern wird oft von einer Verbindung pädagogisch-psychologischer Diagnostik ausgegangen. Diese Diagnostik versteht sich als schulpraxisorientierte »Methode zur Problemlösung« (Tröster 2019, 12), als ein zielgerichteter Prozess, bei dem von einer konkreten Problemstellung ausgehend solche Informationen über Personen und ihr Umfeld erhoben und analysiert werden, die zur Entscheidungsoptimierung beitragen (Kap. 1.4). Eine pädagogisch-psychologische Diagnostik in inklusiven schulischen Handlungsfeldern befasst sich vor allem mit der Heterogenität der schulischen Lernvoraussetzungen, also den differenten Merkmalen und Eigenschaften von Lernenden, die beeinflussen, wie und mit welchem Erfolg sie lernen, sowie den Umfeldfaktoren und Teilhabebarrieren für erfolgreiche Lern- und Entwicklungsprozesse. Mit dieser Heterogenität relevanter Lernvoraussetzungen gehen Aspekte von Differenzkonstruktionen, möglichen strukturellen Benachteiligungen und Zielstellungen von Chancengerechtigkeit einher. Ihren Widerhall finden heterogene Lernvoraussetzungen in pädagogisch-didaktischen Ansätzen einer Pädagogik der Vielfalt und adaptiver3, d. h. individualisierender und differenzierender Unterrichtsgestaltung. Für eine adaptive Unterrichtsgestaltung (Kap. 2.1.4 und Kap. 4.2.2), die sich an heterogenen Lernvoraussetzungen ausrichtet, ergeben sich zentrale diagnostische Aufgaben (Abb. 2).

Die grundlegende Bedeutung pädagogischer Diagnostik für die Feststellung, Beschreibung und Dokumentation von Lernentwicklungsständen, für die Analyse der Bedingungen von Lehr- und Lernprozessen und für die Ermittlung von Bedarfen an individuellen Unterstützungsangeboten scheint somit unstrittig: