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Das Buch präsentiert Überblickswissen zu motorischen und kognitiven Beeinträchtigungen. Bewusst verabschiedet es sich von sonderpädagogischen Zugängen und der traditionellen fachrichtungsorientierten Sicht (der Geistig- und Körperbehindertenpädagogik). Unter inklusiver Perspektive erfolgt die Auseinandersetzung mit Begriffen und Theoriezugängen der Vergangenheit und Gegenwart. Für die zukünftige Entwcklung propagiert es ein pädagogisches Handeln und eine Unterrichtsgestaltung, die selbstbestimmtes Lernen fördert und Leichte Sprache und Unterstützte Kommunikation als Mittel zum Abbau von Barrieren betrachtet. Im Ausblick verweist es auf ungelöste Probleme und offene Fragen, um schulische Inklusion zu realisieren.
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Seitenzahl: 183
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Inklusive Schule
Herausgegeben von Gottfried Biewer
Die Autorinnen, der Autor
Dr. Gottfried Biewer war von 2004 bis 2020 Professor für Sonder- und Heilpädagogik an der Universität Wien und danach Gastprofessor am Institut für Rehabilitationswissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin.
Dr. Gertraud Kremsner hat die Professur für Erziehungswissenschaften mit dem Schwerpunkt Pädagogische Professionalität im Kontext schulischer Heterogenität und Inklusion am Fachbereich 1 (Bildungswissenschaften) an der Universität Koblenz-Landau (Campus Koblenz).
Dr. Michelle Proyer ist Assistenzprofessorin (Tenure-Track-Professur) für Inklusive Pädagogik am Institut für Lehrer*innenbildung und dem Institut für Bildungswissenschaft an der Universität Wien.
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1. Auflage 2022
Alle Rechte vorbehalten
© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Print:
ISBN 978-3-17-034741-0
E-Book-Formate:
pdf: ISBN 978-3-17-034742-7
epub: ISBN 978-3-17-034743-4
Vorwort
1 Einleitung
2 Grundlegende Begriffe und Systematiken sowie deren Kritik aus der Perspektive Inklusiver Pädagogik
2.1 Begriffe der Vergangenheit
2.2 Beispiele für Begriffe mit medizinischen Wurzeln
2.2.1 Cerebrale Bewegungsstörungen
2.2.2 Progrediente Erkrankungen
2.2.3 Chromosomenabweichungen
2.2.4 Epilepsien
2.2.5 Autismus-Spektrum-Störung (ASS)
2.2.6 Zum pädagogischen Umgang mit medizinischen Diagnosen
2.3 Begriffe mit heilpädagogischen, sonderpädagogischen und integrationspädagogischen Wurzeln
2.3.1 Körperliche Behinderung als Förderschwerpunkt ›körperliche und motorische Entwicklung‹
2.3.2 Geistige Behinderung als Förderschwerpunkt ›geistige Entwicklung‹
2.3.3 Komplexe Behinderungen
2.3.4 Kritik der sonderpädagogischen Klassifikationen
2.4 Begrifflichkeiten auf der Basis der WHO-FIC
2.4.1 Die ICD als Klassifikation der Krankheiten
2.4.2 Die ICF-CY als universal einsetzbare Sprache
2.5 Von ›Musterkrüppelchen‹ und ›Menschen mit Lernschwierigkeiten‹: Begriffe der Selbstvertretungsbewegung behinderter Menschen und der Disability Studies
2.6 Zum Umgang Inklusiver Pädagogik mit vorhandenen Begriffen
3 Pädagogisches Handeln
3.1 Paradigmenwechsel: Von der Zuschreibung von Unvermögen zur Entdeckung von Ressourcen
3.2 Kinder und Jugendliche als Akteur:innen ihrer eigenen Entwicklung
3.3 Gestaltung inklusiver Lernumgebungen
3.3.1 Räumliche Gestaltung
3.3.2 Gestaltung des Unterrichts
3.3.3 Schüler:innenspezifische Adaptierung
3.3.4 Technische Möglichkeiten und Ausstattung
3.4 Methoden selbstorganisierten und selbstbestimmten Lernens im Kontext der motorischen und/oder kognitiven Entwicklung
3.4.1 Ein historischer Rückblick auf die Methodengeschichte des (selbstbestimmten) Lernens
3.4.2 Maria Montessori und ihre Rezeption für eine Grundlegung selbstbestimmten Lernens
3.4.3 Reformpädagogische Zugänge für inklusiven Unterricht
3.4.4 Selbstbestimmtes, selbstorganisiertes und selbstreguliertes Lernen im Fachunterricht der Sekundarstufe
3.4.5 Selbstbestimmung in Lernumgebungen
3.5 Pädagogische Förderung, individuelle Hilfen, therapeutische Intervention und pflegerische Tätigkeiten
3.5.1 Disziplinäre Grenzen und Herausforderungen: Inklusive Pädagogik, Therapie, Förderung und Pflege
3.5.2 Professionelle und strukturelle Bedarfe
3.6 (Leichte) Sprache und (Unterstützte) Kommunikation
3.6.1 Leichte Sprache
3.6.2 Unterstützte Kommunikation
4 Strittige Fragen, ungelöste Probleme und mögliche zukünftige Entwicklungen
4.1 Gesellschafts- bzw. bildungspolitische Diskurse
4.2 Orte der Beschulung
4.3 Leistungsbeurteilung im Kontext kognitiver und motorischer Entwicklung
4.4 Entwicklungsaufgaben für Schule und Unterricht
4.5 Ausblick: neue Strukturierungsansätze
5 Literaturverzeichnis
Die Aufgabe eines Studienbuches ist es, relevantes Wissen auszuwählen und strukturiert zu präsentieren. Es ist damit eine Hinführung zum wissenschaftlichen Eindringen in ein Fachgebiet und zu dessen Erschließung. Wenn der inhaltliche Bereich von kontroversen Diskussionen geprägt ist, so spiegeln sich diese auch im vorliegenden Buch wider.
Es hat länger gedauert als geplant, bis dieses Buch fertiggestellt werden konnte. Eine Ursache war auch die inhaltliche Schwierigkeit, dem Anspruch von Inklusion zu genügen, gleichzeitig aber spezialisiertes Wissen auszuwählen. Unter uns Autor:innen, die auf den Grundlagen des vorausgegangenen Bandes »Inklusive Schule und Vielfalt« aufbauen möchten, führte dies zu intensiven Diskussionen.
Wir versuchen, auf Nahtstellen gegenwärtiger Diskurse hinzuweisen, gleichzeitig aber auch eigene Antworten mit einzubringen. Das Buch sieht sich dem gesellschaftspolitischen Anspruch der Inklusion verpflichtet, versucht aber gleichzeitig, eine Brücke zwischen in Jahrzehnten und Jahrhunderten generiertem Wissen und auf die Zukunft gerichteten Aufgabenstellungen zu schlagen.
Wir haben vielen Personen für inhaltliche Hinweise und Diskussionen zu danken. Ein besonderer Dank gilt Básheba Metzner Rickards und Karolin Beyer für die kritischen Kommentare, das Korrekturlesen von Manuskriptteilen und auch viele sprachliche und inhaltliche Verbesserungsvorschläge.
Abschließend noch ein Hinweis zu formalen Angelegenheiten: Das vorausgegangene Buch (Inklusive Schule und Vielfalt) hat den Gender-Asterisk (*) verwendet. Wenn dies im vorliegenden Band nicht mehr erfolgt, so ist es die Konsequenz dessen, dass damit neue Ausschlüsse hergestellt werden können bezüglich der Barrierefreiheit gendersensibler Sprache. Wir als Autor:innen eines Buches, das auch die Problematik von Sprache in den Blick nimmt, sind weiterhin auf der Suche nach einer Form, die allen Ansprüchen gerecht wird.
Berlin, Koblenz und Wien im April 2022
Gottfried Biewer, Gertraud Kremsner und Michelle Proyer
Thematisiert wird in diesem Buch das Handlungsfeld motorische und kognitive Entwicklung. Damit stellt sich die Frage danach, was ein Handlungsfeld ist und wer in diesem handelt. Beim Blick auf weitere Publikationen, welche im inklusiven Kontext des pädagogischen Handlungsfelds zu finden sind, treten Begriffe wie Prävention, Unterricht oder neue Technologien in den Vordergrund (vgl. Hedderich et al. 2016, 8). Im vorliegenden Buch ist die Pädagogik zugunsten individueller und sozialer Entwicklung das Handlungsfeld. Das Handeln der Schüler:innen steht in Wechselwirkung zur Tätigkeit der Pädagog:innen, sodass der Begriff der Entwicklung nicht nur auf Schüler:innen, sondern auch auf Lehrer:innen abzielt. Zudem steht im Zentrum dieses Handlungsfeldes die motorische und die kognitive Entwicklung – allerdings verortet im Kontext einer Inklusiven Pädagogik. Diese wird verstanden als Bezeichnung für »Theorien zur Bildung, Erziehung und Entwicklung, die Etikettierungen und Klassifizierungen ablehnen, ihren Ausgang von den Rechten vulnerabler und marginalisierter Menschen nehmen, für deren Partizipation in allen Lebensbereichen plädieren und auf eine strukturelle Veränderung der regulären Institutionen zielen, um der Verschiedenheit der Voraussetzungen und Bedürfnisse aller Nutzer/innen gerecht zu werden« (Biewer 2017, 204).
Ausgehend von diesem Verständnis möchte die vorliegende Publikation eine Abkehr von kategorialen Ausrichtungen vornehmen und Barrieren des Lernens und der Entwicklung in diesem Kontext unter einer neuen Systematik angehen. Wo es möglich ist, verabschiedet sich das Buch daher von Begriffen, die aus Selbstvertreter:innenperspektive als diskriminierend empfunden werden. Aufgrund des derzeitigen Diskurses ist es (noch) unmöglich, gänzlich von der Benennung einzelner Personengruppen abzusehen. Dennoch betrachtet dieses Buch Inklusive Pädagogik als einen dem sonderpädagogischen Denken gegenüber veränderten Zugang, auch wenn es Inhalte anspricht, die über Jahrzehnte in Diskursen zu ›körperlicher‹, ›geistiger‹ oder ›schwerster‹ Behinderung angesiedelt waren. Es stellt also den Anspruch, abseits des Nachzeichnens der etymologischen Begriffsentwicklung einen Schritt weiterzugehen und neue Begriffe und Konzepte anzuregen und zu denken. Und obwohl das zweite Kapitel dieses Buches sich eingehend mit Begrifflichkeiten auseinandersetzt und diese in ihrer geschichtlichen Genese betrachtet, kommen die Autor:innen nicht umhin, einige Begriffsverwendungen gleich zu Beginn zu klären, um Missverständnissen vorzubeugen. Dies begründet sich u. a. darin, dass Menschen, die in ihrer motorischen und kognitiven Entwicklung beeinträchtigt sind, seit Jahrhunderten besonderen Ausschlüssen und Marginalisierungen ausgesetzt sind und dadurch im Handeln behindert werden. Behinderungen äußern sich in vielfältiger Weise – sowohl in potenziell stigmatisierenden Begriffen, mit denen Menschen in der Vergangenheit tituliert wurden, als auch in Bildungsgängen und Ausbildungsmöglichkeiten, die ihnen vorenthalten wurden und werden.
Für fachliche Darstellungen auf der Basis einer Inklusiven Pädagogik bezieht sich der Begriff der ›Behinderung‹ (engl.: disability) primär auf soziale Gegebenheiten und Faktoren, ›Beeinträchtigung‹ (engl.: impairment) hingegen eher auf individuelle körperliche und kognitive Aspekte. Diese Begriffsunterscheidung, die insbesondere in den Schriften sozialwissenschaftlich orientierter Vertreter:innen der Disability Studies (vgl. Barnes & Mercer 2003) zugrunde gelegt wurde, leitet auch die Darstellung in diesem Buch. Ergänzt wird sie um später entstandene differenziertere Sichtweisen auf sehr unterschiedliche Komponenten, wie anatomische und kognitive Strukturen und Handlungen des Menschen in seiner Umwelt. Differenzierten Darstellungen von Situationen, die Menschen behindern, versucht die ICF (Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit) zu begegnen, weshalb diese Klassifikation ebenfalls Bezugspunkt der Inhalte dieses Buchs ist.
Bezeichnend für den sich konstant wandelnden bzw. erweiternden Diskurs rund um Begrifflichkeiten sind auch Bestrebungen aus Gemeinschaften (communities) bzw. Selbstvertretungsbewegungen heraus, die Bezeichnungen für ihnen zugeschriebene Beeinträchtigungen selbst festzulegen. Ein rezentes Beispiel dafür ist die Einführung des Begriffs Neurodiversität (neurodiversity), welcher erstmals Ende der 1990er Jahre im angloamerikanischen Raum zur Anwendung kommt. Während der breit auslegbare Bedeutungshorizont – ausgehend von Autismus Spektrum und Dyslexie bis hin zu ›intellektuellen Behinderungen‹ wie Down Syndrom – dort seit den 2010er Jahren gehäuft in Publikationen diskutiert wird, steht die Auseinandersetzung im deutschsprachigen Diskurs noch am Anfang. Ausgehend von Armstrongs Eingrenzungsansatz wird klar, dass der Begriff über die Bezugnahme auf rein neurologisch bedingte Ursachen hinausgeht: »(T)he word (neurodiversity) includes an exploration of what have thus far been considered mental disorders of neurological origin but that may instead represent alternative forms of natural human differences« (2010, 8). In einer der vermuteten Quellen der Erstnennung – der Bachelorarbeit von Judy Singer, selbst Mutter eines Kindes mit der Zuschreibung Asperger Syndrom – wird der Begriff sogar als neue politische Kategorie beschrieben: »The ›Neurologically Different‹ represent a new addtion to the familiar political categories of class/gender/race and will augment the insights of the social model of disability« (Singer 1999, 64 nach Armstrong 2010, 7).
Die Autor:innen sind sich bewusst, dass sie sich mit der Wahl von Begriffen in Problemlagen begeben, die Brahm Norwich (2008) als »identification dilemma« bezeichnet hat: Es ist nur schwer möglich, auf potentiell diskriminierende Begriffe zu verzichten und gleichzeitig Situationen zu benennen, die Hilfen und zusätzliche Unterstützung legitimieren. Womöglich ist die Ausgangslage noch komplizierter, als Norwich dies mit dem Begriff Dilemma nahelegt. Nach Boger (2019, 7) haben wir es mit einem Trilemma zu tun, wenn zwei Aussagen als richtig und zutreffend erkannt werden, dies aber zum Ausschluss einer dritten Aussage führt, die ebenfalls als zutreffend betrachtet wird. Der Begriff der »trilemmatischen Inklusion« (ebd.) zielt auf diese Problematik: Sich selbst als anders zu verstehen kann zum Begehren auf Teilhabe und damit zum Wunsch führen, nicht als anders wahrgenommen zu werden. Wer sich hingegen nicht als anders versteht, kann auch nicht seine:ihre Stimme erheben und die Anerkennung seiner:ihrer Andersheit einfordern. Wer sich wiederum als fundamental anders versteht und gegen die Entwertung der Andersheit kämpft, begehrt, als normal wahrgenommen zu werden (vgl. S. 7f.).
Ein Studienbuch, welches das Handlungsfeld von Pädagog:innen bezugnehmend auf die motorische und kognitive Entwicklung von Kindern und Jugendlichen im Blick hat, ist mit Dilemmata und Trilemmata konfrontiert. Es kann sie nicht aufheben, aber es sollte sich ihrer bewusst sein. Statt eine Theorie zu fundieren, kann dieses Buch eher Probleme benennen, die (Inklusive) Pädagogik erschweren oder verunmöglichen. Ein Studienbuch würde seine Aufgabe aber keineswegs erfüllen, würde es sich ausschließlich auf diese Anliegen beschränken. Vielmehr muss es, als Werk für Studierende und angehende Lehrkräfte, konkretes Wissen vermitteln, das die Wirklichkeit nicht nur problematisiert, sondern auch Lösungen bzw. zumindest Lösungsvorschläge für Probleme bereithält. Bei der Rezeption bereits bestehender Wissensbestände verfolgen die Autor:innen das Ziel, explizit pädagogische Implikationen herauszuarbeiten und im Sinne einer Inklusiven Pädagogik nutzbar zu machen, statt medizinisch implizierte Zuschreibungen zu reproduzieren.
Das Buch baut auf dem Band »Inklusive Schule und Vielfalt« (Biewer, Proyer & Kremsner 2019) auf und setzt voraus, dass dessen Inhalte bekannt sind. Davon ausgehend geht es Inklusiver Pädagogik nicht primär um die Erreichung extern gesetzter Normen durch den Abbau von Defiziten, sondern um ein pädagogisches (Selbst-)Verständnis von Kindern und Jugendlichen als Akteur:innen der eigenen Entwicklung. Dementsprechend bedarf die Umsetzung Inklusiver Pädagogik immer eines Zusammenspiels von institutionellen Strukturen und den darin handelnden Akteur:innen, insbesondere Lehrkräften. Inklusive Pädagogik fragt nach den Grundlagen des neuen Denkens und findet Berührungspunkte zu bekannten pädagogischen Theorien. In Auseinandersetzungen der Kritischen Pädagogik und der Tradition der sozialen Bewegungen behinderter Menschen (Selbstbestimmt Leben-Bewegung) sieht sie ebenso ihren Ausgangspunkt wie in pädagogischen Zugängen, welche kindliche Eigenaktivität als Basis für pädagogisches Handeln betrachten:
1. Kritische Pädagogik im Kontext der Agenda 2030 als theoretische Rahmung:Eine Pädagogik für Menschen in benachteiligenden Lebenssituationen, die für deren Rechte Partei ergreift, hat jahrzehntelange Tradition in der Kritischen Pädagogik (vgl. Freire 1973; Giroux 2013), auf die internationale Konzepte zu inklusiver Bildung Bezug nehmen (UNESCO 2005; UNESCO 2009). Der Ansatz ist in globalem Rahmen aktueller denn je. Giroux, der sein Werk in der Tradition von Gramsci und Freire sieht, beantwortet im letzten Kapitel seines Buches die Frage, ob Kritische Pädagogik eine Zukunft habe (Giroux 2013): Er bejaht dies und seine Antworten wirken in Teilen wie eine Vorwegnahme von Positionen, die die Vereinten Nationen einige Jahre später in der Agenda 2030 im vierten Ziel für nachhaltige Entwicklung (SDG 4) formulierten (UNESCO 2015). Der Ausgangspunkt in der Kritischen Pädagogik und der aktuellen globalen Reformagenda unterscheidet die theoretische Basis Inklusiver Pädagogik von vielen Ansätzen traditioneller Sonderpädagogik.
2. Die Selbstbestimmt Leben-Bewegung von Menschen mit Behinderungen als auf den Menschenrechten basierter politischer Zugang:Es waren in den 1960er Jahren Menschen mit Behinderungen, die für ihre Rechte eintraten und sich nicht mehr länger als Objekte von Fürsorge betrachten lassen wollten. Ihre Aktivitäten begannen mit Hilfen bei der Wohnungssuche für Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen an der Universität Berkeley in Kalifornien. Daraus entstand ein »Center for Independent Living«, das vorwiegend Peer-Beratung durch behinderte Studierende anbot (Theunissen 2013, 86). In kurzer Zeit entstanden ähnliche Einrichtungen in anderen Städten, die ihre Aufgaben erweiterten und sich zu Zentren der (Selbst-)Vertretung von Interessen behinderter Menschen entwickelten. Diese in den USA entstandene soziale Bewegung artikulierte sich mit nur geringer Verzögerung und mit ähnlicher Schlagkraft auch in europäischen Ländern – so auch im deutschsprachigen Raum. Die Akteur:innen waren primär Menschen mit motorischen oder sensorischen Beeinträchtigungen. Menschen mit Lernschwierigkeiten, also Personen, die in ihrer kognitiven Entwicklung beeinträchtigt sind, wurden damals noch als ›geistig behindert‹ bezeichnet (zur Begriffsbestimmung siehe Biewer, Proyer & Kremsner 2019) und waren lange Zeit nicht vertreten. Obwohl bereits 1980 Wolfgang Tempfer, ein Mann mit Down Syndrom aus Österreich, vor einem UNO-Komitee anlässlich des ›Internationalen Jahres der Menschen mit Behinderung‹ auftrat und dadurch erstmalig Menschen mit Lernschwierigkeiten als für sich selbst eintretende Gruppe sichtbar wurden (vgl. Lebenshilfe 1981), sind nachhaltige Veränderungen für diese Personengruppe erst gegen Ende der 1980er-Jahre zu verzeichnen.
3. Schüler:innenzentrierung und Reformorientierung als Ausgangspunkt für Pädagogik und Didaktik:Für den deutschsprachigen Raum kann das Jahr 1994 als Einschnitt und Wendung betrachtet werden: Mit dem Kongress »Selbstbestimmung« des deutschen Bundesverbandes Lebenshilfe wurde Selbstbestimmung zu einem zentralen Thema eines Universitätsfaches, das sich als ›Geistigbehindertenpädagogik‹ bezeichnete. Bereits der damalige Kongressband enthält einzelne, wenn auch wenige Beiträge, die sich dem Thema Schule widmeten (Bundesvereinigung Lebenshilfe für geistig Behinderte 1996). Selbstbestimmtes Lernen durch handlungsbezogenen Unterricht und Montessori-Pädagogik wurden auf dem Kongress der Lebenshilfe erstmals mit dem Konzept ›Selbstbestimmung‹ der Bewegung behinderter Menschen verknüpft. Zweifellos wurde hier auch konzeptionell Neuland beschritten. Gleichzeitig wurde aber auch die Verbindung zu einem breiten Bestand an Theorien zur Bildung, Erziehung und Entwicklung hergestellt.
Wenn wir uns mit Schule und Unterricht befassen, sehen wir eine Vielzahl von Entwürfen, die in sehr unterschiedlichen Kontexten entstanden sind. Es mangelt aber nach wie vor an Konzepten, die sich originär als inklusive Didaktik und/oder inklusive Fachdidaktik bezeichnen (vgl. Riegert & Musenberg 2015). Impulse für eine Didaktik mit heterogenen Gruppen kamen aus der europäischen Reformpädagogik des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts. Zu nennen sind zudem amerikanische Entwürfe in der Nachfolge von John Deweys pragmatistischem Ansatz sowie Beschreibungen eines reformorientierten Unterrichts seit den 1970er Jahren in den deutschsprachigen Ländern. Weitere Anregungen brachten Ergebnisse der Lehr- und Lernforschung im Kontext der Instruktionspsychologie sowie neue Unterrichtskonzepte für Kinder mit Lernschwierigkeiten seit der Gründung entsprechender spezialisierter Schulen ab den 1960er Jahren. Aktuelle Entwicklungen ergeben sich über den Ansatz des ›Universal Design‹ und des ›Universal Design for Learning‹. David Mitchell (2008) sondiert die verschiedenen Methoden des Unterrichts und fragt, was davon besonders gut im inklusiven Unterricht umsetzbar ist. Solche Zusammenstellungen und Bewertungen sind eher selten.
Die Thematik dieses Buches, sich mit der inklusiven Schule unter dem Aspekt des Handlungsfeldes der motorischen und kognitiven Entwicklung auseinanderzusetzen, steht vor der Aufgabe, sehr unterschiedliche Handlungskonzepte miteinander zu verknüpfen, die in jeweils eigenen Zusammenhängen entstanden. Eine Verbindung Kritischer Pädagogik mit Positionen der sozialen Bewegungen von Menschen mit Behinderung und dem Wissensbestand einer reformorientierten Pädagogik muss Inhalte zusammenführen und sinnvoll aufeinander beziehen, die bislang versprengt in unterschiedlichen Diskursen ein Eigenleben führten. Was dies bedeutet, kann an einem Beispiel veranschaulicht werden: Paulo Freire analysiert die Lebenssituation von Menschen unter den Bedingungen sozialer Randständigkeit und entwickelt daraus Methoden und Inhalte der Alphabetisierung von Slumbewohner:innen (vgl. Biewer 1998). Er bezeichnet die pädagogische Tätigkeit als kulturelle Handlung zur Erlangung von Freiheit (vgl. Freire 1972). Dieser Zugang einer Kritischen Pädagogik, die Erfassung der sozialen und individuellen Lebensbedingungen und die Erstellung dazu passender Methoden und Inhalte stellt auch für das Handlungsfeld motorische und kognitive Entwicklung eine passende Strategie dar. Wie dies konkret aussehen soll, bemühen sich die nachfolgenden Kapitel zu veranschaulichen.
Als Studienbuch, das gleichzeitig einführen wie auch vorhandenes Basiswissen präsentieren soll, steht es vor einem Dilemma: Die innovative Schulpraxis besteht erst fragmentarisch oder punktuell und ein vorhandenes Wissen ist nicht hinreichend unter der Perspektive der inklusiven Schule systematisiert. Auch dieses Buch ist damit Teil eines Implementierungs- und Konstituierungsprozesses der inklusiven Schule sowie ihrer Pädagogik und Didaktik.
Welche Perspektiven können diesen Konstituierungs- und Gestaltungsprozess leiten? Vielleicht wird Barrierefreiheit zu diesem durchgängigen und vielleicht auch wichtigsten Konzept von Schule und Unterricht im Kontext einer auf den Menschenrechten basierenden Inklusiven Pädagogik.
Fragen zur Diskussion
1. Warum ist das Handlungsfeld motorische und kognitive Entwicklung für die Inklusive Pädagogik interessant?
2. Welche Bedeutung kann die Selbstbezeichnung von Betroffenen für die Inklusive Pädagogik haben?
3. Warum ist die Entwicklung von inklusiver (Fach-)Didaktik ein so langsamer Prozess?
4. Warum ist es wichtig, Kategorisierungen von Personengruppen dezidiert abzulehnen? Und wieso werden sie in vorliegendem Werk trotzdem aufgenommen/reproduziert?
Worum es gehtDieses zweite Kapitel erläutert Bezeichnungen für die Bezugsgruppen im Handlungsfeld kognitive und motorische Entwicklung. Dabei skizziert es zunächst die Begriffsgeschichte, bevor auf aktuelle Termini in pädagogischen und insbesondere schulischen Kontexten eingegangen wird. Aus der Fülle möglicher somatischer Faktoren, welche die motorische und kognitive Entwicklung beeinträchtigen können, beschreibt das Kapitel einige besonders häufige Beispiele anhand von Darstellungen der einschlägigen, überwiegend medizinischen und psychologischen bzw. von diesen Disziplinen allzu oft geprägten (sonder-)pädagogischen Literatur. Auch in heute verwendeten Begriffen spiegelt sich eine Entwicklung wider, die vom medizinischen Modell von Behinderung ausgeht, tendenziell in traditionellen Ansätzen einer Heil- und Sonderpädagogik vertreten ist und über das soziale Modell von Behinderung der Disability Studies bis hin zum menschenrechtlich orientierten Zugang Inklusiver Pädagogik reicht.
Wenn mit einem Begriff ein Gegenstand oder Sachverhalt benannt wird, der diesen von anderen unterscheidet, können wir von Klassifizierungen sprechen. Es sind alltägliche Vorgänge, die uns helfen, einzelne Merkmale zu Gruppen zusammenzufassen. Ohne Klassifizierungen ist es nicht möglich, unseren Alltag zu gestalten. Wenn Banane, Apfel, Birne und Pflaume als Obst bezeichnet werden, ist dies eine Klassifizierung, die wir im Alltag durchführen und die vermutlich kaum auf Kritik stoßen wird. Im Wissenschaftsbereich sind Klassifizierungen oder Kategorisierungen Teil normierter Begriffssysteme, die Aussagen über ihren Gegenstandsbereich ermöglichen. Sie vereinfachen die Kommunikation, da komplexe Sachverhalte nicht immer wieder aufs Neue erklärt werden müssen, sondern an einem gemeinsamen fachlichen Wissen angeknüpft und darauf Bezug genommen wird.
Wissenschaft benötigt Begriffe, um diejenigen Inhalte zu benennen, über die sie Aussagen trifft. Diese sind zumindest innerhalb der Sozialwissenschaften in den seltensten Fällen einheitlich und werden mitunter vehement diskutiert. Klassifizierungen im Kontext von Bildung und Erziehung bewegen sich in hochkomplexen Strukturen, die unterschiedliche Deutungen zulassen. Dazu gehören auch Klassifizierungen von Beeinträchtigungen motorischer und kognitiver Entwicklungen, die aber auch eine Hilfe für professionelles Handeln darstellen können. Leider werden aber auch Personen oder gar Personengruppen auf der Grundlage bestimmter Zuschreibungen klassifiziert. Diesen Umstand versucht die Inklusive Pädagogik zu kritisieren, während sie, wie auch in diesem Buch ersichtlich, mitunter selbst nicht umhinkommt, diese Klassifizierungen zu benutzen und damit sicherlich ein Stück weit auch zu reproduzieren. Die Wahl der benutzten Termini kann zu Problemen führen, insbesondere wenn es sich um komplexe und strittige Sachverhalte oder gar um Bezeichnungen für Personen(-gruppen) handelt und Termini aus unterschiedlichen Begriffssystemen gewählt werden können. Demnach sind gewählte Begriffe sorgsam zu reflektieren und beständiger Kritik zu unterziehen.
Die motorische und kognitive Entwicklung von Kindern kann durch somatische Beeinträchtigungen erschwert sein. Hierfür wurden seit den ersten Beschreibungen der Phänomene unterschiedliche Begriffe verwendet, die später stigmatisierende Funktionen erlangten und teilweise immer noch im (alltagssprachlichen) Gebrauch sind. Daher lohnt sich ein Blick zunächst auf die Genese von Begriffen.
Im 19. Jahrhundert wurden Begriffe wie ›Idioten‹ oder ›Krüppel‹ verwendet, die heute nur noch als Schimpfwörter zu finden sind – und zwar sowohl in der Alltagssprache als auch in damaligen Fachveröffentlichungen, beispielsweise in der Medizin. Sierck (1987) skizziert die Zugänge zu bzw. Haltungen gegenüber so bezeichneten Personen(-gruppen) im Verlauf der Geschichte folgendermaßen: Er sieht ›Krüppel‹ als denjenigen Begriff an, der anfangs Verwendung für alle Gruppen behinderter Menschen fand. Das (frühe) Christentum betrachtete ›Krüppel‹ als leidende Brüder bzw. Schwestern, die aus Mitleid versorgt werden müssten – gipfelnd in der regen Gabe von Almosen, um sich von eigenen Sünden freizukaufen. Diese Praktiken werden gegenwärtig auch im globalen Kontext (z. B. religiös geprägt) verhandelt und beeinflussen die Ausgestaltung u. a. der Bildungsangebote für behinderte Menschen mit.
Mit dem Ende der frühen Neuzeit wandelte sich dieses Bild, und ›Krüppel‹ wurden im christlich geprägten Raum als ›Wesen fremder Welten‹ auf dem Scheiterhaufen verbrannt, weil bei ihnen – übrigens Martin Luther folgend – die Hand des Teufels »die Taubheit, die Stummheit, die Lahmheit und das Fieber« (Sierck 1987, o. S.) verursache. In den folgenden Dekaden und Jahrhunderten überlebten ›Krüppel‹ vorwiegend durch Almosen und Bettelei, aber auch dadurch, dass sie z. B. im Zirkus oder am Hof zur Schau gestellt wurden (vgl. ebd.).