innenseiten des kriegs - Otl Aicher - E-Book

innenseiten des kriegs E-Book

Otl Aicher

0,0
8,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

dies ganz außergewöhnliche buch beschreibt, wie es trotz allem möglich war, sich im deutschland der kriegs- und nazizeit freiheit und selbstachtung zu bewahren. schon für den mittelstufen-gymnasiasten aicher, jahrgang 1922, stand fest, daß er mit der hitlerei nichts zu tun haben wollte; so verweigerte er den beitritt uir hitlerjugend, weswegen er sein abitur nicht ablegen durfte. zwar konnte er dem wehrdienst nicht entgehen, aber er schafft es, unkorrumpiert von machtwahn und immun gegen die faszination durch den krieg, moralisch unbeschädigt aus den schreckensjahren hervorzugehen, auch deswegen, weil er sich gewissermaßen klein machte, sich weigerte, offizier zu werden. otl aicher hat diese aufzeichnungen vierzig jahre nach kriegsende publiziert. möglicherweise auch deshalb, weil er manche fehlentwicklung in dieser republik ausmachte. jedenfalls wollte er, wie es im buch heißt, »zu denen gehören, auf deren gesinnung verlaß ist, die im aushalten und durchstehen von geschichte gelernt haben, vor sich selbstachtung haben zu können«. in einer zeit, in der neuerdings die soldaten eine besondere ehre zugesprochen bekommen sollen und die bundeswehr als werkzeug der politik für auslandseinsätze benützt wird, ist dies buch aktuell und wichtig. die nachwachsende generation kann darin viele bedenkenswerte reflexionen finden. zum beispiel: »wer sich mit der opposition im kopf zufrieden gibt, zieht sich in die bürgerliche unverbindlichkeit zurück. und trocknet darin aus.« ein buch gegen das austrocknen.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 373

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Otl Aicher

innenseiten des kriegs

FISCHER E-Books

Inhalt

der erste sonntagkein antifaschistder lebensraumdas verseuchte denkender lehrer waserdie bestieeinzelgängerchristentumanfang einer freundschaftdie klasseelterntrainingfreundeüber freundschaften hinausein klassenkameradmännerordender eidwildschweinbratensophie in münsterwer ist gott?modelle und große wertenachspielmein dienstplanende einer kindheitpaulusnapoleonunsere sprachedas vierte rommoses und leninentfernung von der truppedas koppelschloßoffizierkriegsbeuteumkehrmaskenball in grusiniensterbengärten der patriarchenmosdokein gefreiterdie hierarchie eines lazarettsstalinoausgestoßenoberbefehlsophie in bad hallbraunau und linzrepublikanerwird es eine revolution geben?die gespaltene personhauptbahnhof münchenkunst und unterdrückungeine buchhandlungmachtstaat und utopievaterlanddenken im zornmenschenwürdepolitik und architekturübungentributkertschheroische landschaftenachilles und tomatesklavenzivilisationspiegelstolz und flüchtigkeitgabe an das meerzugverkehrherrenrassedie oberleutnantsideologie und funktionauch ich brauche siegetruppenbewegungrotbuchenfrontsoldatmilitärische niederlagebaden gehendie geputzte uniformgeburtstagder arme vogelendstation eisenbahn

der erste sonntag

es war ein strahlender sonntag. es war der erste sonntag im krieg. seit vorgestern wird zurückgeschossen. den sonntag verbrachten wir sonst kaum noch in der familie. wir mieden die kleinbürgerlichen rituale und zogen uns schon am tag zuvor mit einem schlafsack bewaffnet in die wälder und ihre nächte zurück. auch im winter. sonntagskleidung war uns das letzte relikt einer gesellschaft der äußerlichkeiten. die jugendbewegung gab uns formen des verhaltens mit, die uns halfen, an der bürgerlichkeit vorbeizukommen, indem wir sie provozierten.

diesmal war es anders. ich blieb zuhause. seit tagen hing ich am radio. meistens, um ausländische sender zu hören. später stand ein zweiter empfänger in einem kleiderschrank versteckt, und unter wintermänteln flüsterte radio beromünster oder die BBC aus london hervor. ausländische sender zu hören, wurde verboten und stand unter strenger strafandrohung. mancher kam deswegen ins KZ.

wir wußten, daß es diesmal ernst war. er trieb sein spiel mit drohungen und verlockungen wie bei der sudetenkrise, wie eh und je. einmal bot er immerwährenden frieden an, sprach von einer letzten forderung, dann wieder drohte er mit dem einmarsch in danzig. ich wußte, daß ihn das diplomatische spiel störte, der versuch, über botschaften und botschafter den frieden zu retten. jedermann konnte ja nachlesen, was er wirklich vorhatte. er hatte es niedergeschrieben, schwarz auf weiß, unverschlüsselt.

aber meine mutter hatte ›mein kampf‹ nicht gelesen.

es gab kein hin und her mehr. auch unser bangen und zittern war zu ende. »seit heute früh, null uhr fünfundvierzig, wird zurückgeschossen«, hatte er vorgestern verkündet. er hatte einen polnischen überfall auf rundfunkstationen nahe der grenze inszeniert, um aufbrechen zu können, einem »volk ohne raum« ein neues herrschaftsgebiet zu erschließen. der osten gehört den deutschen. seit den tagen der »christlichen« ritterorden, seit dem mittelalter, ziehen die deutschen nach osten.

was geschichtlich hätte sein sollen, vielleicht heroisch, was die leute auf die straße treiben oder die kirchenglocken zum läuten bringen sollte, war an diesem sonntag gefühlsverlust mitten in einem familienmilieu. ich hatte mir nie vorstellen können, wie ein krieg anfängt, aber so hatte ich es mir nicht gedacht. mit sonne und sonntagsbraten. ausgerechnet an den tagen, an denen der zweite weltkrieg begann, war ich eingeschottet in ritual und konvention. ich befand mich unter verdutzten bürgern, die nach einer aufbruchstimmung suchten, nach helden, die sie dereinst verehren wollten, sich aber am schönen sonntag freuten, ihrem braten, ihrem kaffee und kuchen.

den nachmittagskaffee mit kuchen konnte ich umgehen. werner scholl rief an. wir verabredeten uns nach dem essen am ortsausgang zum klosterwald. er kam mit einem freund, ulli, den ich nur vom sehen kannte. da die spekulationen vorbei waren, konnte das gespräch nicht viel höhe gewinnen. das überraschende am krieg war seine wirklichkeit. wir hielten uns fast geschäftlich an das faktische.

es klang auch ganz geschäftlich, als werner fragte, ob ich mitmachen würde, eine widerstandsgruppe aufzubauen, eine sabotagegruppe. ich war weder überrascht noch bestürzt. es war nur eine frage.

wie lange er glaube, daß der krieg dauern würde, fragte ich. es wird schnell gehen. die engländer, franzosen haben zeit gehabt zu rüsten, sind aus dem ersten weltkrieg gestärkt hervorgegangen, haben die ganze grenze entlang eine verteidigungs- und aufmarschlinie aufgebaut, haben flugzeuge über flugzeuge, panzerarmeen. in ein paar tagen wird es losgehen.

mach keinen blödsinn, sagte ich zu werner. der krieg kann lange dauern. denk daran, wie sich hochtechnische armeen von verdun bis lille ineinander so verkrallt hatten, daß es kein vor und zurück mehr gab. eine widerstandsgruppe fliegt in diesem partei- und polizeistaat über kurz oder lang auf. jeder ist des andern spitzel geworden. es ist ja für das vaterland.

werner hatte eine kalte verwegenheit. kürzlich hat er nachts der büste der justitia vor dem gerichtsgebäude eine hakenkreuzbinde um die augen gebunden. sie stand da, groß, erhaben, eine bronzene waage in der steinernen hand, nun einen stoffetzen mit dem symbol der partei um die augen. beim heldengedenktag der garnison gab es beim feierlichen zapfenstreich auf dem nächtlichen münsterplatz plötzlich einen ohrenbetäubenden knall. eine knallkapsel war hochgegangen. so war er.

werner und ich gingen in dieselbe schulklasse, die bald ihr abitur machen sollte. wir waren freunde geworden, weil ich mich hartnäckig weigerte, in die hitlerjugend einzutreten. man ließ mich deshalb weder zum abitur noch zum studium zu. meine isolation in der klasse war aufgebrochen. werner zog auf seine art folgen daraus. er trat aus der naziorganisation aus, was aufsehen erregte. seine geschwister, vor allem hans und inge, waren früher in der hitlerjugend gewesen, man kannte sie in der ganzen stadt.

werner und ich bestimmten die politische diskussion in der klasse, benützten schulaufsätze zu anspielungen, so daß uns die lehrer die arbeiten mit der bitte zurückgaben, sie verschwinden zu lassen. wir verwickelten lehrer, von denen wir das gefühl hatten, daß sie uns nicht verpfeifen würden, in diskussionen über die neue interpretation der deutschen geschichte und ihre widersprüche. nietzsche, einen vorgeblichen ideologen des neuen staates, kannten wir so gut, daß wir ihn dagegen ausspielen konnten.

werner traute ich zu, daß er eine konspirative gruppe zustandebringen würde, er würde sich zur not funkgeräte und sabotagematerial beschaffen. aber das netz der bespitzelung und beobachtung war zu eng, als daß man ohne konspirative schulung lange würde überleben können. die gesamte öffentlichkeit vom »blockwart« bis zum »hauswart« war mit parteimitgliedern durchsetzt, und neben der partei stand die allgegenwärtige geheime staatspolizei. die wände hatten ohren, und die nacht hatte augen.

gab es noch einen rückhalt? konnten einzelne der totalen isolierung standhalten? werner und ich waren keiner politischen bewegung zuzurechnen. die parteien waren vor sechs jahren schon eliminiert worden. wir hatten kaum noch erinnerungen an sie. der widerstand gegen die nazis speiste sich aus der alltäglichen erfahrung und aus der wahrnehmung, wie ein regime das denken gleichschalten konnte. dies nicht nach gründen der vernunft oder einsicht, sondern nach den oft willkürlichen direktiven seiner führung. wer sich widersetzte, wurde kaltgestellt oder verschwand spurlos. man wollte uns zwingen, nicht mehr eigene gedanken zu denken.

ich fragte werner, ob er nicht zu weit gehe, ob er nicht das gefühl habe, eine schuld abtragen zu müssen, da er früher einmal bei den nazis mitgemacht hatte. konvertiten sind oft radikaler als orthodoxe. er empfand schuldgefühle. in erster linie wegen der unfähigkeit der deutschen, sich dem neuen staat zu entziehen. keiner wollte sehen, was er täglich sah, keiner wollte glauben, was er täglich hörte. und wer ein kritisches wort äußerte, wurde wie ein aussätziger gemieden, wie einer, der mit egoismen den großen aufschwung einer ganzen nation beschmutzte. alle hatten sie ihn gewählt.

das kann schuldgefühle erzeugen. schuldgefühle für ein ganzes volk. ich redete auf werner ein. ich versuchte, ihn zu überzeugen, daß widerstand nur dann sinn hätte, wenn es eine möglichkeit gäbe zu überleben. widerstand ist kein selbstzweck. er muß um der veränderung willen geschehen, aus dem willen kommen, an die stelle der jetzigen eine andere welt zu setzen.

welche form des widerstands hat überhaupt eine chance, gegen diesen staat etwas auszurichten? und nur die aussicht auf erfolg rechtfertigt aktionen gegen ihn. das opfer an sich ist kein motiv. kann es sein, daß ich feige war?

wie soll man sich verhalten? sollen wir diesen staat anfallen wie raubkatzen, ihn aus verstecken angreifen wie schlangen, oder sollten wir ihn unterhöhlen wie maulwürfe?

füchse leisten keinen widerstand. auch sie schalten ihre gegner aus und holen ihre beute. aber sie sind weder heroisch noch treu, weder unbestechlich noch berechenbar. sie besitzen keine verhaltensnormen, aber sie haben einen verstand für das richtige. sie sind listig. sie sind feige ohne ehrverlust, wenn eine aktion nichts eingebracht hat. dann eben das nächste mal. sie sind ihren methoden nicht als methode treu, wenn sie nichts einbringen. ein reh ist ein fluchttier, es eilt davon. der fuchs flieht nicht, er gebraucht eine intelligenz der anpassung, der verstellung, der behauptung durch unauffälligkeit. er baut burgen unter der erde und operiert über tage. er lebt im untergrund und holt sich auch bei tageslicht sein huhn. aber er lebt in der verborgenheit, und er agiert allein. er ist erfolgreich nur als einzelner. weder hat er die macht der vielen, noch kann er fliehen. so baut er auf überraschung, die nur aus dem agieren als einzelner kommt.

werner sah die möglichkeit, daß der krieg in kurzen, harten schlägen beendet werden könnte, so wie preußen einmal in so gut wie nur einer schlacht, bei sedan, frankreich bezwungen hatte. voraussetzung dafür sei, daß auch hinter der front züge entgleisten. dazu seien kleingruppen notwendig, die von der erdoberfläche verschwunden sind, wenn die mine gelegt ist.

mein problem war ein anderes. ich sah hier keinen krieg, in dem armeen gegen armeen stehen, soldaten gegen soldaten, geschütze gegen geschütze. es standen sich staaten gegenüber. hitler hatte nicht nur generäle beauftragt, einen krieg zu führen. das ganze volk war in die mobilmachung einbezogen, seine arbeiter, seine wirtschaft, seine wissenschaft, seine universitäten, seine kirchen. das konnte kein spaziergang werden.

mein problem war, daß ich selbst ohne schaden das dritte reich überleben wollte, ohne mich verachten zu müssen, ohne vor mir selbst zum krüppel geworden zu sein. wenn der krieg vielleicht über jahre dauern sollte, sah ich zunächst keine risse im system, die einen zu untergrundaktionen ermutigen konnten. aber ich sah einen druck auf mich zukommen, dem ich vielleicht nicht würde standhalten können.

ob dann nicht widerstandsaktionen allein aus gründen der selbstbewahrung notwendig würden, einfach, weil es ein leben mit gebrochenem rückgrat nicht gibt? trotzdem blieb ich bei meinem widerspruch.

kein antifaschist

für einen antifaschisten war ich zu jung. kommunisten gab es keine mehr, keine sozialdemokraten, kein zentrum. die parteien waren verboten worden, als ich elf jahre alt war, und ich hatte keinen vater oder großvater, in dessen bücherregal ich einen liebknecht, einen kautsky, einen bernstein, einen rathenau oder stresemann hätte finden können. wir lebten in einer quarantäne. auch im geschichtsunterricht, auch im religionsunterricht wucherte das neue vokabular von volk, rasse und führer, und die neue nomenklatur hieß reich, kampf und vorsehung.

ein mathematiker ließ uns einmal ausrechnen, wieviel wald und ackerboden dem deutschen volke, einem volk ohne raum, verlorenginge durch den bau der reichsautobahn. ich wußte sofort, daß er gegen hitler war, und das war auch schon das äußerste an möglicher politischer argumentation gegen das dritte reich. damals hat ihn noch niemand angezeigt. es war 1935.

für mich gab es keine opposition gegen hitler als politische realität, als front, als geheimzelle, nicht einmal geheimsender gab es. die wirksamste antinazistische argumentation war radio beromünster, auch weil die dort gesprochene sprache so normal war gegenüber dem pathetischen schraubendeutsch der mitteilungen über deutsche ereignisse. radio beromünster verdanke ich viel, gerade dann, als es endgültig verboten war, auslandssender zu hören. halb ein uhr, wenn die mittagsnachrichten kamen, war der angelpunkt des tages, schon allein eben dadurch, daß in einer normalsprache über alles in der welt berichtet wurde, ohne das gläubige pathos oder die sprache des zürnenden wotan, mit denen die deutschen belange aus den deutschen radios verkündet wurden. am donnerstagabend gab es die politische wochenübersicht von j. r. von salis, für mich ein politisches seminar.

man kommt ganz ordentlich durch die welt, wenn man anfängt, die glaubwürdigkeit einer sprache schon im ohr zu prüfen, in gestus und tonfall. so kam es, daß mein geschichtslehrer mit allem, was er über den »führer« sagte, über karl den großen, meister eckhart, versailles, eine widerwillige neugierde bei mir weckte, wie es sich denn wirklich verhalten haben könnte. er weckte den verdacht, auch die franzosen (die eine dekadente rasse sein sollten) seien vor verdun so schlecht nicht gewesen. waldraff hieß er. ich vergesse nie seinen namen und den süßen ton der gläubigen hingabe, in dem er sprach. er blickte immer mit halbverdrehten augen zur decke, wenn er die geschichte auslegte. das große war anwesend. oder sollte anwesend sein. und es blieb doch watte und rauch.

ich gehörte keiner gruppe der bündischen jugend an, stand aber mit ein paar ehemaligen mitgliedern der quickborn-jungenschaft in berlin im kontakt, die ich gelegentlich kennengelernt hatte. die jugendbewegung bedeutete mir viel. sie schuf ein selbstvertrauen in die eigene generation, lehrte uns unabhängig werden und legte uns nahe, einen bogen um spießer und krämer zu machen. die berliner gehörten zu den wenigen, etwas elitären gruppen, die sich gegen den wandervogel oder die pfadfinder absetzten und sich mehr vom kulturellen wind der zwanziger jahre tragen ließen. ich lernte die ersten expressionisten kennen, schon im bewußtsein, mich außerhalb der kulturdoktrin des staates zu bewegen.

ich zog per autostop durch das reich, und es war für mich kein verrat, wenn ich statt zu wandern auf dem sozius einer fünfhunderter »triumph« mit verchromten auspuffrohren durch berlin fuhr. sie gehörte ernst klar, einem älteren freund.

als wir miteinander eine fotoausstellung im kolumbushaus beim anhalter bahnhof anschauten, wurden wir verhaftet, offensichtlich, weil unsere kleidung und haartracht freier aussah als die der bereits auf vormilitärische schulung eingeschwenkten hitlerjugend. man nahm uns zunächst zur feststellung der personalien auf die nächste polizeiwache mit. daß ein süddeutscher und ein berliner sich trafen und offensichtlich außerhalb der staatsjugend agierten, reichte hin, uns so verdächtig zu machen, daß man uns offiziellen verhören unterzog. so kam ich mit fünfzehn jahren in das prinz-albrecht-palais in einzelhaft. hier residierte das reichssicherheitshauptamt. in einzelhaft, einmal um uns zu trennen, aber auch, weil ich mich weigerte, auszusagen, ohne vorher das protokoll meines freundes einsehen zu können, was mir schreiend als provokation vorgehalten wurde. vielleicht durch zufall saß ich so im prominentenflügel mit roten läufern. SS mit weißem koppelzeug patrouillierte. ich selbst mußte meine kurze hose mit der hand halten. der gürtel war abgenommen worden.

es war eine schlimme zeit, eine ungewöhnliche strapaze für einen jungen kerl. jeden tag zum verhör und zurück in eine zelle der endlosen stunden. kein kontakt mit außen, kein brief. wenn ich auf den stuhl stieg, konnte ich durch einen spalt meinen freund beim rundgang im hof sehen, mit ernstem, gefaßtem gesicht, auch er seine hose in der hand. ich wußte nicht, wie lange das dauern würde, wohin das führen konnte, und zermarterte mir den kopf. aber die sache gab nichts her, und wir kamen frei. man suchte nach homosexuellen anlässen, um vorwände für das vollständige verbot der jugendbewegung zu erhalten. zwei freunde von unterschiedlichem alter stehen in einer fotoausstellung und sind für das scharfe auge eines gestapobeamten ein sicheres objekt für die geplante propagandakampagne, die dem verbot vorausgehen sollte. klar, daß sie homosexuell sein müssen.

jetzt hatte ich den staat von innen gesehen, von seinem innersten innern. für mich war dieser aufenthalt wahrlich eine tortur, weil ich nicht wußte, wie lange ich mit mir im reinen bleiben und durchhalten konnte. sie hätten mich ja auch abtransportieren können, und wie sollte ich mich in einer welt der erwachsenen, der gewalt und der macht, der pressionen und zwänge zurechtfinden?

trotzdem empfand ich diese erfahrung als ein privileg. ich gehörte zu denjenigen, die bescheid wußten, und es festigte sich eine einstellung, die eindeutig darauf hinauslief: nicht vor dir selber feige werden, dich nicht etwas anderm als dir selbst überlassen. schließlich hatte ich sie gezwungen, mir das protokoll vorzulesen, ehe ich redete. aber was hätte ich machen sollen? weiß man mit fünfzehn, was man sagen darf, was nicht?

es gab in meiner heimatstadt einen friseur, der aussah wie einer der gestapobeamten, die mich verhört hatten. ich gehe auch heute, wenn ich ihm begegne, auf die andere straßenseite, um sein gesicht nicht sehen zu müssen. ich weiß, er hat mit der sache nicht das geringste zu tun. aber er wirft erinnerungen auf.

noch etwas habe ich gelernt: dieser staat versucht, menschen zu brechen, sie mit macht zu brechen. er versucht, das beste am menschen, seine haltung, zu knicken. er begnügt sich nicht mit indoktrination, nicht mit manipulation, nicht mit druck und überredung, er zerschlägt das rückgrat.

ich ahnte, worum es ging, als man bei uns ums eck zwei kommunisten abholte. ich kannte sie aus der zeit der reichspräsidentenwahlen 1932. nun war an der stelle, die sie in unserem knaben-spielrevier eingenommen hatten, eine lücke.

nein, ich war kein sozi oder kommunist. ich habe aus eigener erfahrung gelernt, was das für ein staat ist. keine siegesmeldung rührte mich mehr, keine erfolgsmeldung, kein wahlsieg, keine marschmusik.

ich verlor allmählich die empfindung, daß ich allein durch die welt ging. ich ging immer mit mir zusammen. wir waren immer zu zweit. und über alles, was da auf uns zukam, waren wir im gespräch, im dialog. das gab gelegentlich skrupel und konflikte, aber wir haben uns immer wieder gefunden. das sprechen mit sich selbst überbrückt nicht nur das alleinsein. ich glaube, besser als das denken hilft es, wahrheiten zu finden, glaubwürdige übereinstimmungen. in solchen zeiten ist man von allen ewigen wahrheiten verlassen. sie verflüchtigen sich in abstraktionen. und die welt, die immer anders ist als die eben verstandene, ist milde gestimmt und öffnet sich, wenn man über sie spricht, anstatt nur über sie nachzudenken.

der druck war groß, auch der meiner umgebung. ich solle doch nicht so dumm sein, das sei ja keine zustimmung, wenn ich in die hitlerjugend ginge. alle machten mit.

auf der straße war man verpflichtet, marschierende kolonnen, denen eine fahne vorausgetragen wurde, mit dem faschistengruß, der erhobenen hand, zu grüßen. ich tat es nicht mehr und steckte prügel ein. was hätte es ausgemacht, wenn ich gegrüßt hätte? gar nichts. ich hätte trotzdem derselbe bleiben können. genau das aber begann ich zu bezweifeln. wer einmal mit erhobener hand grüßt, ist kein nazi, wer zehnmal mit erhobener hand grüßt, ist kein nazi, aber ein mitläufer. und wer hundertmal grüßt, ist kein nazi, aber ein opportunist. er hat kein rückgrat mehr.

man könnte sagen, mein selbstwertgefühl, mein selbstbewußtsein, hätte mich zu einem gegner der nazis gemacht. aber in so jungen jahren weiß man nicht, was selbstwertgefühl ist. ich hatte einfach angst, ich könnte mich selber verlieren, erst weich werden wie nasses papier und dann weggeworfen werden.

wer aber einem menschen das rückgrat bricht, der zerstört sein wesen, seine person, sein selbstverständnis, seine übereinstimmung mit sich selbst. das gibts im tierreich nicht, und der seelische krüppel, der übrig bleibt, geht am ende an sich selbst kaputt. wahrheit lernte ich verstehen, nicht so sehr als übereinstimmung mit etwas äußerem, sondern als übereinstimmung mit mir selbst. die unanfechtbarkeit war gewonnen, die zur überzeugung werden kann. nur wagte ich nicht, dies als wahrheit zu definieren, ich war mit einem gefühl der richtigkeit zufrieden.

ich empfand, wie die leute immer mehr begannen, sich zu spalten, sich in verschiedenen verhaltensebenen einzurichten, sich auseinanderzuleben und sich von sich selbst zu entfernen. der staat spaltete sie und entleerte ihre gesichter, ihre augen.

aber steht man das allein durch? ich kannte keine konspirative gruppe, keine mitglieder verbotener parteien.

der pfarrer, der gelegentlich in das haus meiner eltern kommt, wo er sich offen aussprechen kann, sagt mir, er müsse morgen nach paderborn fahren, ob ich ihn begleiten wolle. gerne, es sind ferien. er kommt mit einem kleinen zweitaktauto, holt mich ab, und wir fahren in einen schönen sommertag. nach knapp zwanzig kilometern hält er mitten in einem wald, nimmt ein kleines köfferchen und verschwindet, kehrt wieder, gekleidet als fröhlicher zivilist. er erklärt mir, daß wir gemeinsam eine reise machen, wo polizei und gestapo nicht ihre nase reinstecken sollten. so fahren wir einen ganzen tag.

kurz vor paderborn das gleiche, nur umgekehrt. der zivilist wird zum pfarrer, wir werden in einen saal geleitet, der dann geschlossen wird. an die tausend schwarze soutanen. mein pfarrer wird vorgestellt, und er entwickelt innerhalb von zwei stunden folgende thesen:

1. ich habe alle pfarrer der diözese eingeladen, die am ersten weltkrieg als offizier teilgenommen haben. ich brauche frontkämpfer (hitler nannte sich selbst immer wieder den »frontkämpfer«).

2. wir pfarrer können schon aufgrund des zölibats mehr auf uns nehmen als damals an der front.

3. wir müssen im kampf der nationalsozialisten gegen unsere religion aufs ganze gehen, nicht blindlings, aber ohne persönliche einschränkung.

4. wir müssen gemeinsam agieren. wenn ein einzelner pfarrer auf der kanzel gegen den neuen weltanschauungsunterricht wettert, wird er abgeholt. wenn wir tausend an ein- und demselben sonntag es tun, sind die kerle machtlos.

ich saß, als einziger, der keine soutane trug, in einer hinteren ecke. es gab einen frenetischen beifall. mitten in der flut der braunen weltanschauungen standen wir auf einem felsen.

dieses erlebnis erwies sich als unsinkbares floß. ich konnte, wenn es kritisch wurde, immer wieder darauf zurückspringen. in der erinnerung blieb es eine realität.

der pfarrer war ein mutiger mann. als die partei einen volksauflauf vor seinem pfarrhaus inszenierte, um einen vorwand zu haben, ihn in »schutzhaft« nehmen zu können, rief er den polizeipräsidenten an und sagte ihm: der erste, der in mein haus hereinkommt, ist eine leiche.

ich war in dem haus, als über lautsprecheraufrufe versucht wurde, die volksmenge gegen ihn aufzuhetzen. die SA bildete einen ring um das haus, um ihn zu »schützen«. der pfarrer beobachtete die szene hinter einem vorhang, in der hand einen totschläger. herein kam niemand.

später wurde der pfarrer doch noch verhaftet und ins gefängnis gesteckt, kaltgestellt. sein versuch, eine gegenorganisation aufzubauen, war mißlungen.

in dieser ohnmacht überlegt man sich, wie merkwürdig denken und tun verknüpft sind. wie weit kann eine überzeugung von ihrer wirksamkeit entfernt sein. eine gesinnung reicht nicht aus, die logik des handelns zu ersetzen. erst im handeln wird denken manifest. wer sich mit der opposition im kopf zufriedengibt, zieht sich in die bürgerliche unverbindlichkeit zurück. und trocknet darin aus. das tun gibt einsichten frei.

der lebensraum

so gut wie alle nationalstaaten europas hatten sich kolonien einverleibt. mit der entdeckung amerikas begannen die spanier und portugiesen, sich riesige reiche zu unterwerfen. sie brachten den indios eine neue religion und entwendeten ihnen dafür gold und silber. in grausamen eroberungszügen dezimierten sie völker, die ihnen nie etwas zuleide getan hatten, sie zertrampelten alte kulturen und sitten.

im norden amerikas stritten sich franzosen und engländer um das land der indianer. gewehre, kanonen und schnaps waren den indianischen stämmen und kulturen so überlegen, daß es heute den indianer in der amerikanischen öffentlichkeit so gut wie nicht mehr gibt. was bei den konquistadoren der christliche gott war, als ideologische irritation der urbewohner und als bemäntelung der eigenen verbrechen, war in nordamerika die ideologie der freiheit, der demokratie. beide ideologien hatten den vorzug, daß sie geschäfte sein ließen und sich aus allem heraushielten, was mit besitz, markt, geld, handel und konkurrenz zu tun hatte. so konnte man dominikaner und jesuiten mit erhobenem kreuz unter die völker der anden schicken, um sie zu missionieren und sich gleichzeitig den genossenschaftsbesitz der dörfer, der ja nicht einzelnen gehörte, unter den nagel zu reißen und an die neuen herren zu verteilen. man konnte ein guter demokrat und verfechter der aufklärung sein und doch gegen einen stamm krieg anfangen, der mit seiner herde durch das erschlichene privateigentum zog, auch wenn es einst stammesbesitz war. gemeineigentum wurde als rechtsform aus dem vokabular der justiz verbannt, und schon wurde alles land verfügbar, das nicht einen persönlichen besitzer hatte. der rechtsstaat wurde zum erobererstaat.

und das ging von osten nach westen des nordamerikanischen kontinents mit der geschwindigkeit, mit der eisenbahnlinien gebaut wurden.

genauso trieben die russen ihre bahn ins innere sibiriens und ruhten nicht, bis sie am chinesischen meer waren, alles sich unterwerfend, was es an asiatischen völkern hinter dem ural gab.

die franzosen und italiener drangen in die arabische welt afrikas ein, teilten mit den engländern und buren den ganzen kontinent auf, so daß nicht ein einziges freies gemeinwesen mehr übrig blieb. der segen der technik, der den europäern zugute kam, ließ keinen widerstand zu. auch wenn alles recht auf der seite von pfeil und bogen war, was nutzte es gegen eine kanone.

die holländer besaßen fast die ganze inselweit indonesiens. australien wurde ein rein englischer kontinent.

deutschland ging leer aus. zwar hatte es in afrika kolonien besessen, mußte sie aber im versailler vertrag abgeben. deutschland hinkte der entwicklung der nationalstaaten hinterher. das reich war in einem prozeß der auflösung, als die andern sich anschickten, die welt unter sich aufzuteilen. die schweiz war aus dem reichsverband ausgetreten, auch die niederlande, österreich. jeder landesfürst war sein eigener sonnenkönig und hielt entsprechend hof im neuerbauten schloß.

in der letzten stunde des nationalistischen staates wurde durch preußen noch eine einigung der deutschen kleinstaaten betrieben, und mit dem neuen rumpfdeutschland trat bismarck in den chor der weltmächte ein. eine weltmacht aber ohne kolonien war undenkbar, und sei es nur, um nicht vom spiel und politischen auftreten der andern ausgeschlossen zu sein. ein staat, der nicht expansiv war, nicht fähig war, sich fremde gebiete einzuverleiben, war kein staat im sinne des 18. oder 19. jahrhunderts.

so ganz aus der luft gegriffen war es nicht, wenn hitler ebenfalls einen »lebensraum« für das deutsche volk forderte und wenn er andere völker und menschen als beliebige verfügungsmassen betrachtete, sofern er nur stark genug war, sie zu unterwerfen. nimmt man die politische kultur europas zum vergleich, war es auch nichts außergewöhnliches, polen und russen als menschen zweiter kategorie zu betrachten. das räuberische an hitler war vor allem, daß er das räuberische nicht verhehlte und daß er es damit legalisierte. die exhibitionistische moral des deutschen neigt dazu, das, was er tut, auch noch als solches zu bezeichnen. wenn der weiße mann die letzten jahrhunderte als räuber durch die welt zog, und die welt zu seiner beute zu werden drohte, dann focht es hitler nicht an, auch seine politik als nackte eroberung zu deklarieren. statt eine solche eroberung als heilsbringende christliche mission zu verbrämen oder als aufgeklärten liberalismus, stellte er ihr eine funktionelle ideologie zur seite: das schlagwort vom volk ohne raum. nein, aus der tradition der politischen kultur europas paßte hitler – von der doktrin her gesehen – durchaus ins bild.

was er übersah, war, daß die geschichte europas auch eine geschichte der entrechteten ist, auch wenn sie nicht in die geschichtsbücher einging. was er übersah, war, daß diese entrechteten eine politik der herrschaft von innen heraus in frage stellten und allmählich stark genug wurden, könige zu stürzen. was er übersah, war, daß die kräfte gegen absolutismus, zentralismus, etatismus zu einer formenden, bestimmenden kraft wurden, die in die politik der starken eingreifen konnte. was er übersah, war, daß die aufstände der bauern, die aufstände der stadtbürger gegen adel und herren nicht nur das niedrige wimmern um freien brot- und gelderwerb war, sondern um eine andere politische kultur. hitler verspottete die entartung des bürgers zum kaufmann und die degeneration der freiheit zur ideologie des freien welthandels. aus bürgern waren in seinen augen geldverdiener, plutokraten geworden, aus dem bürgerlichen staat die nackte legitimation der besitz- und kapitalvermehrung.

hitler übersah, daß die freiheit inzwischen auch vom bodensatz der menschheit her, von arbeitssklaven und ausgebeuteten zu einer bestimmenden kraft ge worden war, die sogar den nationalstaat, seine bürokratie, seine polizei, sein militär in bedrängnis brachte. die sozialbewegungen des vorigen jahrhunderts waren nicht nur ein schrei von entrechteten, sondern eine projektion einer anderen gesellschaft, die ohne staatsautorität auskommen wollte. das ende des nationalstaates war eingeläutet. aber hitler hat marx nie gelesen. auch daß diese kraft starke antriebe aus deutschland erhalten hatte, berührte ihn nicht. marx war für ihn jude. er hielt sich eher an den biologismus der zeit, an charles darwin, der im nachhinein eine wissenschaftliche rechtfertigung all dessen gab, was der weiße mann der erde angetan hatte, die legitimation der macht des stärkeren als auswahlprinzip für den fortschritt alles lebendigen.

das verseuchte denken

der faschismus war eine populär-radikale konsequenz des naturwissenschaftlichen zeitalters. der faschismus war die überwindung der metaphysik zugunsten einer naturwissenschaftlichen erklärung der welt. wie die moderne biologie das leben erklärt hatte, wie es spencer und darwin als weltprinzip beschrieben hatten, als motor der entwicklungsgeschichte, sollte es auch unter menschen sein: der kampf ums dasein, das recht des stärkeren, der sieg der auslese sollten in der gesellschaft ebenso verwirklicht werden, wie sie in der natur wirksam sind. der faschismus ist weder tierisch noch eine teufelei, er ist ein mit deutscher gründlichkeit aufgemachter sozialdarwinismus.

es ist einfach nicht wahr, daß die nazis ein plötzlicher ausbruch von etwas unvorhersehbarem, von etwas total anomalem gewesen wären. sie sind auf der höhe der zeit. sie setzen wissenschaft, den letzten stand der wissenschaft, in politik um. sie sind techniker des zeitgeistes.

es ist einfach nicht wahr, daß zuchtwahl und ausrottung als prinzip der entfaltung alles lebendigen aus heiterem deutschen himmel in ein parteiprogramm herabgefallen sind. der biologismus, der die gehirne verdreht hatte, hatte sie überall verdreht.

ich lasse für mich nicht zu, daß man hitler als abseitigen verbrecher hinstellt, zu dessen handlungsantrieben kein rational vollziehbarer erklärungsweg führen würde. hitler ist so normal wie alle bösewichte, die im namen des fortschritts macht und profit verteidigt haben und damit die vernichtung des nicht lebenswerten lebens. es ist zu billig, den nazis all die verbrechen anzuhängen, die man selbst begangen hat, nur weil sie nie ein hehl daraus machten und ihre methoden jedermann hör- und sehbar hinstellten.

es ist im neunzehnten jahrhundert, es ist im namen des naturwissenschaftlichen denkens, aus überzeugung so grundsätzlich leben zertrampelt worden wie im dritten reich. und ich lasse es, wenigstens vor mir, nicht zu, die behandlung der juden als irrwahn der hölle darzustellen, wo alle, amerikaner, engländer, franzosen, spanier, portugiesen und russen mit schwarzen, roten und gelben völkern grausam genug umgegangen sind.

der unterschied ist, daß die nazis ihre verbrechen nicht hinter vorgehaltener hand, nicht versteckt unter dem deckmantel viktorianischer moral begangen haben, sondern als verkündeten ausweis eines neuen, wissenschaftlichen weltverhaltens. nach ihm hat das arme und schwache zu fallen als notwendige auswahl des höheren und besseren. jeder dollarmillionär glaubt heute noch an dieselben philosophen des fortschritts und der höherentwicklung, des kampfes und des sieges über die schwächeren. er würde das nie zugeben und braucht es auch nicht, denn es entzieht sich seiner persönlichen anschauung. er überläßt es der selbstwirkungskraft des geldes, klarheiten zu schaffen, auch wenn er im engeren kreis noch so tolerant und mitfühlend ist.

mag sein, daß weniger indianer erledigt wurden als juden, sicher ist, die aufforderung zu killen war nicht die verordnung einer staatsmaschinerie, sie geschah aufgrund einer als wissenschaftliche erkenntnis verbreiteten überzeugung. wird sie legitim, indem man sie dem privaten ansporn und der privaten nutzanwendung überließ? das neue an hitler ist, daß er dieses problem mit sozialtechnik von sozialingenieuren lösen ließ und dazu tötungsmaschinerien neuer art schuf, die den aufwand von kriegen fast ersparen konnte.

selbst einem amerikaner, der sich für aufgeklärt halten mag, gilt noch heute der reiche erfolgreich durch seine leistung, der arme erbärmlich durch sein versagen. armenfürsorge ist ein eingriff in naturgesetze, gleiche chancen in der bildung, im beruf ist eine den fortschritt, die auswahl hemmende störung des sozialen kampfes um das überleben der besseren. die macht des weißen ruht nicht auf kugeln und kapital, sondern auf der auszeichnung durch die geschichte, die nichts anderes war und ist als ein kampf ums dasein.

frieden? frieden kommt in der natur nicht vor. nur schwächlinge, feiglinge, die nicht kämpfen können, wimmern nach frieden.

wer oben steht, darf sich als produkt der auslese des tüchtigen verstehen.

ich möchte wissen, was ist ein faschist? und deshalb lasse ich mir ungern die wege zu rationalen einsichten verstellen, indem man die ganze sache verteufelt, möglicherweise aus eigenem schutzinteresse.

ich möchte auf die nazis nicht moralisch-emotional reagieren. und ich möchte auch meinen erkenntnisdrang nicht absperren oder umleiten lassen, indem ich mich auf emotionen umpolen lasse. ich möchte es wissen. und dazu brauche ich die einsicht, daß es hier sicher unterschiede gibt in den methoden der ausrottung, unterdrückung und knebelung, wohl aber nicht im anspruch nach beherrschung.

hier sitzt mehr auf der anklagebank als der schwachsinn und die verbrechen der nazis. hier sitzt der glaube eines neuen zeitalters auf der anklagebank, der glaube an die naturwissenschaft und die übertragung der spielregeln der natur auf die gesetze und verhaltensnormen der menschlichen zivilisation und kultur.

hier sitzt der glaube auf der anklagebank, daß natur und kultur identisch seien.

und dieser glaube, der glaube, daß der mensch ein sprechendes tier sei, ist gemeingut aller, die vorgeben, auf der höhe der zeit zu stehen.

wer wagt es denn, das zeitalter der vernunft, der aufklärung, der naturwissenschaft infrage zu stellen? wer wagt es denn, die gesellschaft aus kulturellen zielprojektionen heraus zu erklären statt aus vitalen antrieben? wer wagt es denn, wertsysteme als ebenso starke antriebe menschlichen verhaltens anzusehen wie biologisch erklärbare triebe und instinkte?

das zeitalter der vernunft war unbestritten eine der bedeutendsten kulturepochen der menschheit. aber ist das zeitalter der aufklärung nicht zu ende, sobald man die biologie über die soziologie und die kulturwissenschaften setzt? ist noch niemandem der zweifel gekommen, daß es zwischen bolschewistischen schauprozessen, deutschen gaskammern und amerikanischem erpressungswettbewerb einen zusammenhang gibt, ja daß es einen zusammenhang gibt zwischen den größten kriegen, die es in der weltgeschichte gegeben hat, und der anerkennung der naturgesetze als letzte wahrheit?

und ganz beiläufig: warum sind es gerade ein carnegie, rockefeller, ein hitler, die soviel für kultur übrig hatten? ist nicht auch die öffentliche demonstration von kulturwillen, die bis zur U-bahn in moskau reicht, ein indiz für verdrängungswillen?

angeklagt ist eine intellektuelle seuche. hitler ist ihre ausgebildetste erscheinung.

wer aber ist ihr ankläger?

der wird sich so schnell nicht finden lassen. eigentlich müßten es die armen, schwachen, die elenden, die ausgestoßenen selber sein, die den vorhang herunterreißen. aber welche kirche steht nicht so im blut, daß sie auf die lehre ihres gründers verweisen könnte.

das christentum müßte die geschichte anders herum denken, nämlich von unten nach oben: der mensch offenbart sich in den schwachen. aber wo ist dieses christentum geblieben?

der mensch lebt weiterhin auf kosten des menschen. die sich erheben, stehen auf den leibern der erschlagenen. das ist nicht etwa nur eine bittere erfahrung, das ist nicht nur zu verstehen als lehre der geschichte, das ist nicht etwa nur eine realität, die man hinnehmen muß. das ist ein glaube, eine heilslehre, es ist das evangelium der neuzeit.

die neuzeit hat die erkenntnis freigelegt, daß jede natürliche erscheinung eine natürliche ursache haben muß, ja daß überhaupt jede erscheinung durch eine ursache ausgelöst wird. das war ein wichtiger schritt. das gesetz von ursache und wirkung hat nicht nur den erfolg der modernen naturwissenschaft ermöglicht und den erfolg der darauf beruhenden technik, die uns von den elementarteilchen der elementarteilchen bis in die weiten des kosmos vordringen läßt. dieses gesetz hat ebenso die teufel, die ideen, die formen, wesenheiten und metaphysischen ursachen und den lieben gott aus der erklärung der natur fortgenommen. das wirkliche entsteht durch wirklichkeiten.

das war ein epochaler fortschritt. leider aber auch ein trugschluß. es ist nicht wahr, daß das wirkliche durch wirkliches entsteht. das trifft sicher zu auf die

erklärung der natur. aber der mensch, die menschliche gesellschaft, die menschliche kultur?

es gibt kausale ursachen, es gibt aber auch finale ursachen, zielvorstellungen. und im bereich der menschlichen kultur haben zielvorstellungen einen stellenwert wie in der natur die kausalität. wenn in der natur nichts ohne kausalität geschieht, so geschieht im menschlichen leben so gut wie nichts ohne projektion. das leben des menschen ist kein zwangsläufiger entwicklungsprozeß, sondern ein entwurf. es mag noch so viel im leben des menschen vorbestimmt sein im sinne biologischer daten, es bleibt trotzdem ein im hohen maße selbstgesteuerter prozeß, für den es einen plan, eine zielprojektion, eine erwartung gibt. der mensch ist kein biologisches, sondern ein kulturelles wesen, das heißt, seine antriebe sind nicht kausaler, sondern finaler art.

niemand sollte die bedeutung der naturwissenschaften auch nur um ein geringes schmälern wollen. das unheil liegt nicht in ihrer revolution des kausalen denkens. das verhängnis ist bis zum hinmorden von millionen von menschen die anwendung des naturwissenschaftlichen denkens auf die kultur. das kritisch-analytische aufspüren von kausalketten hat zu dem unheilvollen erfolg geführt, die welt nur noch als naturwissenschaftliches objekt zu verstehen, als entwicklungsprozeß im sinne einer kausalkette.

in wirklichkeit ist der mensch durch seine selbstbestimmung, durch seine eigene leistung, durch seinen eigenen willen, durch seine eigensteuerung ein außernatürliches wesen im sinne der kausalität. er sucht in seinem leben etwas, was es in den naturwesen nicht gibt, er sucht einen sinn. der mensch lebt nach der projektion, die er selbst von sich entwirft.

das ist der grund, warum ideen, formen, wesenheiten und gott in seinem denken eine so große rolle spielen. aber die, glaubte man, seien tot, zusammen mit der metaphysik endgültig aus dem korrekten denken entfernt. lediglich in der mathematik und in der logik mußte man dabei bleiben, daß man kausalitäten auch entwerfen kann. nur hier gibt es im denken den aspekt der freiheit, des spiels, der freien setzung. im übrigen ist die welt determiniert, mechanistisch, kausal. nur im gefolge der naturgesetze, nur durch zuchtwahl und den erfolg des stärkeren ist freiheit möglich. wer dachte, daß durch diese einbindung des menschen in naturprozesse die freiheit verlorenginge, mußte sich bald überraschen lassen. zwar verloren die von der natur angeblich ausgestoßenen, die naturgeschädigten, die biologisch minderwertigen bald alle freiheit, sie wurden zu sklaven der stärkeren und zu reinen ausbeutungsobjekten. dafür aber erhielten die neuen herren, die rassisch reinen, die stärkeren, die sieger im kampf ums dasein alle nur erdenklichen freiheiten, vorab die von der natur selbst proklamierte, die freiheit, die schwächeren auszurotten. die neuen herren erhielten die noch nie gewürdigte freiheit, neue ausrottungsverfahren zu erfinden, herren über krieg, mord und verelendung zu sein. und wie die deutschen sind, sie machen alles prinzipiell.

die nazis sind nicht vom himmel gefallen, sie sind nicht aus der hölle gestiegen. sie waren die konsequenten normalbürger der neuen zeit. sie unterschieden sich von den andern dadurch, daß sie sagten, was sie dachten, und daß sie systematisch anpackten, was andere nach gelegenheiten taten. es brach ihnen nicht die zunge, wenn sie davon sprachen, andere ausrotten zu wollen. ausrottung war das natürlichste der natur.

auch der marxismus, im kern einer idealen projektion von einer klassenfreien gesellschaft verpflichtet, machte seine anleihen in der naturwissenschaftlichen mechanik der notwendigkeiten. die geschichte habe ihre zwangsläufigkeit und laufe ab in klassenkämpfen. das war nicht zu weit entfernt davon, im namen der gesetzmäßigkeit der geschichte über das leben von menschen beliebig zu verfügen. auch wenn es um eine brüderliche zukunft aller menschen geht, ist niemand, weder freund noch feind, vor den krallen des kampfes ums dasein abgesichert. im zweifelsfall weiß die geheimpolizei besser, was notwendigkeit der entwicklung ist, als jedes noch so hohe parteimitglied. aber immerhin steckt im marxismus eine geschichtsauffassung, die man dem christentum zugemutet hätte: die zukunft der geschichte gehört den kleinen, ausgebeuteten, verelendeten, ausgepowerten. die herren, die reichen, die starken, mächtigen, die sieger im kampf der natur werden fallen. nicht der starke wird den kampf ums dasein gewinnen, sondern wer arbeitet. und arbeit ist kein prinzip der natur.

wenn es aber so sein sollte, daß der stärkste der überlebende sein wird, dann übertraf die bestialität der blonden bestie alle. mußte alle übertreffen. aus prinzip. der zweitbeste der bestien ist bereits der verlierer.

der lehrer waser

man sollte ihm ein denkmal setzen. aber niemand

kennt ihn mehr, den lehrer waser.

er hatte kurzes graues haar, ging leicht gebeugt und schützte sich mit der freundlichkeit und dem lächeln eines chinesen.

was ist eigentlich geschichtliche größe? ich glaube, es ist von mark twain: ein großer dichter, der starb, freute sich, im himmel sich unter die großen der geschichte mischen zu können, ihnen persönlich zu begegnen. shakespeare, dante, homer, goethe. er sah sie auch, wollte aber von gott wissen, wer der größte unter allen dichtern sei. und gott zeigte ihm ein gedicht, das vergessen im pult eines kleinen lehrers einer dorfschule gefunden worden war. der sei es. niemand kannte ihn.

der lehrer waser kann nicht einmal den anspruch auf ein gedicht anmelden.

nur wer in einer finsteren zeit gelebt hat, weiß, was es bedeutet, vielleicht nur für einen persönlich bedeutet, wenn ein biologielehrer vor der klasse steht und einführungen in grundlagen der naturwissenschaft gibt und dann folgendes sagt:

die biologische substanz ist als materie wertlos. wenn ich in der einen hand einen nationalsozialisten hätte, in der andern einen haufen dreck, so wäre das – rein biologisch gesehen – ein und dasselbe.

die bestie

im neubaugebiet unserer stadt war, unmittelbar hinter unserer schule, ein block ohne bebauung geblieben.

dort spielten wir fußball. gelegentlich reichte der platz für einen kleinen zirkus. nun stellte sich dort eine kolonne von omnibussen und lastzügen auf, weiß gestrichen, verbunden durch gehstege. motto: weltfeind nr. 1. es war eine wandernde ausstellung. der besuch erfolgte klassenweise. der weltfeind nr. 1 war diesmal der bolschewismus. aus dem osten blickten uns halbasiatische, schlitzäugige untermenschen an, gewehre mit bajonetten in der hand, europa zu überfallen.

das mindestens mochte jeder glauben. ja, das war so. aber war das nicht ein spiegel? sahen wir darin nicht nur unser eigenes gesicht? wer steckte die bajonette auf, europa zu überfallen?

einzelgänger

wenn ich morgens mit dem rad vier kilometer zur schule fuhr, mitten durch die stadt, schielte ich um die ecken, ob nicht eine bande mir auflauerte, um mich zu verprügeln. ich war nicht in der hitlerjugend, infolgedessen – gar nicht so unlogisch – ein feind des staates, der neuen zeit. aus der weimarer zeit waren noch reste bürgerkriegsähnlicher methoden erhalten geblieben. dazu gehörten prügel.

so wurde ich zum einzelgänger, der schleichwege sucht, eigentlich ohne daß ich es wollte. ich litt auch nicht darunter, weil ich mich ganz schön wehren konnte. und dann war ich an nietzsche geraten. die nazis mochten seine rhetorik ausnutzen, so die vom »herrenmenschen«, von der »blonden bestie«, vom »willen zur macht«. in wirklichkeit war seine philosophie die des einzelnen, der aus einer jämmerlichen welt aussteigt und am protestrand der offiziellen kultur sein eigenes selbst realisiert, im maßstab seiner eigenen verantwortung. das half mir.

dann gab es ein ungewöhnliches buch. theodor haecker: ›was ist der mensch?‹ theodor haecker war befreundet mit carl muth, dem herausgeber des ›hochland‹, und mit ludwig von ficker aus innsbruck, dem herausgeber des ›brenner‹, von dem karl kraus sagte, es sei die einzige zeitschrift, die man in österreich noch lesen könne. sonst war haecker nicht einzuordnen, er war nirgendwo angepaßt, auch nicht in seinen themen. im ›brenner‹ hatte er als einer der ersten über kierkegaard geschrieben, er hat ihn übersetzt, und seine monographie ›sören kierkegaard und die philosophie der innerlichkeit‹, schon vor dem ersten weltkrieg geschrieben, hatte einen bestimmenden eindruck auf ludwig wittgenstein gemacht. und als wittgenstein immer wieder versuchte, einen verleger für seinen ›tractatus logico-philosophicus‹ zu finden, fragte er bei ficker an. wo haecker schreibe, könne doch auch er verlegt werden.

haecker war es auch, der karl kraus über wien hinaus bekannt gemacht hatte und ihm einen hochphilosophischen rang zuschrieb über den ruf eines stänkernden wiener kaffeehaus-literaten hinaus, den er zuhause genoß.

›was ist der mensch?‹ war fast ein theologisches buch; man hätte es ebenso verstehen können als eine auseinandersetzung mit der philosophie der zeit, aber es war vor allem ein politisches buch, nur – und das rettete es vor einem verbot – traten alle politisch heiklen fragen im gewand der theologie auf, weniger angreifbar für die nazis.

es war eine zornige, prophetische abrechnung mit den neuen herren, ihren wegbereitern und epigonen. gewiß, geschrieben in einer verschlüsselten sprache, aber wer sie lesen konnte, behielt das buch in seiner rocktasche.

man muß sich das praktisch vorstellen: was gedacht werden durfte, was gesprochen und gedruckt werden durfte, in der zeitung, in der schule, im radio, war: es gibt edle und es gibt minderwertige rassen. und dann kommt einer und sagt in diesem buch: bei allen unterschieden sind alle rassen gleich – vor gott. und wenn gesagt wurde, die minderwertigste rasse sind die juden, sie kennen nur geld und geschäft, sind nur wert, ausgerottet zu werden, dann kommt da einer und sagt, die juden sind das auserwählte volk bis auf den heutigen tag – vor gott.