Ins Nordlicht blicken - Cornelia Franz - E-Book

Ins Nordlicht blicken E-Book

Cornelia Franz

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Beschreibung

Kann man die eigene Vergangenheit leugnen oder gar löschen? Grönland im Jahr 2020: Eine immer grüner werdende Insel, das ewige Eis dramatisch geschmolzen. Der junge Bildhauer Jonathan Querido macht sich von Deutschland auf in seine alte Heimat – und muss sich dabei seinem eigenen dunklen Geheimnis stellen. Das, was damals vor neun Jahren passiert ist und zum Bruch mit seinem alten Leben führte, lässt noch heute Panik in ihm aufkommen. Was ist aus seinem Vater, seinen alten Freunden und seiner ersten Liebe Maalia geworden, nachdem ihn alle für vermisst und tot erklärt hatten? Was ist damals wirklich geschehen, auf dem Kreuzfahrtschiff MS Alaska von Grönland nach Hamburg?  - Klima-Buchtipp der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendliteratur e.V., Januar 2013

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Seitenzahl: 299

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Über das Buch

Grönland im Jahr 2020: Eine immer grüner werdende Insel, das ewige Eis dramatisch geschmolzen. Jonathan kehrt nach neun Jahren zurück in seine alte Heimat. Das Land und vor allem der Ort seiner Kindheit haben sich verändert. Doch das ist es nicht, was Panik in ihm aufkommen lässt. Es ist vielmehr ein dunkles Geheimnis aus seiner Vergangenheit, das ihm keine Ruhe lässt …

Eine mitreißende, atmosphärisch dichte Geschichte um die Fragen nach Schuld, Identität und Selbstfindung – spannend wie ein Thriller

Von Cornelia Franz sind bei dtv außerdem lieferbar:

Die Flipflop-Bande

Passwort Villa X

Piraten im Klassenzimmer!

Das Geheimnis des Roten Ritters

Seeräuber vor Sylt!

Verrat

So fremd, so schön

Wenzel und die wilden Räuber

Cornelia Franz

Ins Nordlicht blicken

Roman

Ich danke Susanna für das gemeinsame

geduldige Warten auf das Nordlicht, dem Hotel

Arctic in Ilulissat für das schöne Zimmer und

das grönländische Wiegenlied, Gitte aus

Kangerlussuaq für die Stiefel – und meiner

Familie für die vielfältigen Inspirationen.

MS Alaska, Nordatlantik, Sommer 2020

Es war eine klare, wolkenlose Nacht, in der Jonathan Querido in einem Liegestuhl an Deck der Alaska saß und versuchte, die Panik in den Griff zu bekommen, die ihn aus seiner Kabine getrieben hatte. Er konzentrierte sich auf seinen Atem und lockerte die verkrampften Hände. Das schwerfällige Wiegen des Schiffes war hier kaum noch zu spüren. Für einen Moment konnte er sich einbilden, zu Hause auf dem Balkon zu sitzen, wo er manchmal die frühen Morgenstunden verbrachte, wenn er nicht schlafen konnte. Doch das grenzenlose Flimmern dort oben, diese Weite, die einen aufsaugte, wenn man zu lange hinaufschaute, hatte nichts mit dem Hamburger Großstadthimmel gemeinsam. Es war ein Himmel, wie er ihn in einem anderen Leben gekannt hatte.

Jonathan presste die Finger gegen die Schläfen. Die dritte Nacht an Bord und wieder hatte er es nicht geschafft. War erstickt in der Schwärze der Kabine, der schalen Luft, ausgeliefert dem Stampfen der Motoren im Bauch des Schiffes. An der Leuchtanzeige seines Handys hatte er erkannt, dass es erst halb vier Uhr morgens war. Kaum drei Stunden Schlaf. Kein Wunder, dass er sich wie erschlagen fühlte. Er hatte versucht, ruhig zu atmen, gleichmäßig und tief, so wie er es vom Judo kannte. Doch die Panik war in ihm angeschwollen. Verzweifelt hatte er den Schalter gesucht, bis er ihn schließlich fand und das Licht anging. Reiß dich zusammen, hatte er sich gesagt, du hast ein Recht, hier zu sein, Jonathan. Du bist hier vollkommen sicher, du kannst dich frei bewegen, kannst jederzeit aufstehen, atmen, leben.

Es hatte nicht funktioniert, die Geister hatten sich nicht durch Vernunft verjagen lassen. Er war aus der Kabine gestürzt, den Gang hinunter, die Treppe hoch, obwohl es sinnlos war. Die Geister sind mächtiger, auch wenn du nicht an sie glaubst.

Als er vor vier Tagen im Hamburger Hafen, der nach der Sturmflut des vergangenen Herbstes noch immer nicht völlig instand gesetzt worden war, über die Gangway gegangen war, hatte es angefangen. Natürlich war er aufgeregt gewesen, die Alaska zu betreten, nervös und beklommen. Doch dass sich hier an Bord eine erdrückende Angst in ihm ausbreiten würde wie eine lang schwelende Krankheit, die man nicht mehr ignorieren konnte, damit hatte er nicht gerechnet. Nicht nach so langer Zeit. Unter freiem Himmel trieb die Seeluft die Angst aufs Meer, und wenn er so wild durch den Pool kraulte, dass die älteren Damen hinter ihm herschimpften, vergaß er sie manchmal sogar. Aber sobald es still und dunkel um ihn wurde, war sie wieder da. Ein Gefühl, das stets gleich ablief. Wie ein Film, bei dem es keine Möglichkeit gab, Szenen zu überspringen. Oder am besten für immer zu löschen.

Als Erstes die Furcht, entdeckt zu werden. So wie als Kind beim Versteckenspielen, wenn er im Gebüsch auf dem Boden gelegen und auf die näher kommenden Stimmen der anderen Kinder gelauscht hatte, das Gesicht in den Armen vergraben. Ein nervöses Kribbeln, das sich ganz gut in den Griff bekommen ließ. Dann plötzlich die schreckliche Erkenntnis, das Falsche getan zu haben, nicht alles bedacht zu haben, gefangen zu sein und nicht rechtzeitig herauszukönnen. Ein Druck auf den Schläfen, immer stärker, ein stolpernder Herzschlag. Und dann kam die Panik.

Jonathan umklammerte die Armlehnen des Liegestuhls und presste die Lippen aufeinander. Wie hatte er nur so unglaublich naiv sein können, auf der Alaska zu buchen? Er sah hinaus auf das Meer, das in den wenigen Minuten, die er hier saß, seine Schwärze verloren hatte. Die Sonne war noch nicht aufgegangen, aber der Himmel leuchtete schon so hell, dass die Sterne zusehends verblassten. Er hatte die Nacht überstanden. Keine zwölf Stunden mehr, dann war diese Fahrt zu Ende. Jetzt spürte er plötzlich, wie müde er war. Er gab seiner Erschöpfung nach und glitt in einen traumlosen Schlaf.

»Inuugujoq, kumoor …«

Jonathan zuckte zusammen. Benommen drehte er den Kopf in die Richtung, aus der die Stimme kam. Eine Frauenstimme. »Inuugujoq, kumoor«, antwortete er, ohne zu überlegen. Dann war er endgültig wach. Was hatte er da gesagt? Woher kamen diese Worte? Worte, die er vergessen hatte und die dennoch da gewesen sein mussten, irgendwo in ihm, versteckt in der Tiefe seines Unterbewussten. Eine einzige Bemerkung hatte genügt, sie hervorzulocken.

Er starrte geradeaus und versuchte, die Frau zu ignorieren. Doch er nahm sie aus den Augenwinkeln wahr und es war ihm klar, dass sie sich nicht ignorieren lassen wollte. Sie lehnte wenige Meter von ihm entfernt an der Reling, Jogginganzug, neu aussehende Laufschuhe, eine Frühaufsteherin. Ihr schwarzes Haar hing ihr bis über den Rücken, so dicht und schwer, dass der leichte Seewind es nicht aus der Ruhe bringen konnte. Sie war eine Inuit, aber sie sah nicht so aus, als ob sie ihm gefährlich werden könnte. Sie schien ihn nicht zu kennen.

Jonathan konnte der Versuchung nicht widerstehen, mit ihr zu sprechen. »Inuugujoq, kumoor«, wiederholte er. Er fühlte sich, als wäre er im Stimmbruch. Die Worte klangen ungeschliffen und spröde aus seinem Mund.

Die Fremde sah ihn mit einem aufmunternden Lächeln an. Plötzlich war es ihm peinlich, so vor diesem Mädchen zu liegen, in T-Shirt und mit Boxershorts, die straff über seinen nackten Oberschenkeln spannten. Ungelenk stand er aus dem Liegestuhl auf und ging zu ihr hinüber. Aus der Nähe betrachtet sah sie älter aus, als er sie eingeschätzt hatte. Sie war sicher so alt wie er. So alt, wie auch Maalia jetzt sein musste. Sie zeigte Richtung Westen und sagte etwas, das er nicht verstand.

»Uteqqissinnaaviuk?« Auch dieses Wort tauchte aus der Unergründlichkeit seines Gedächtnisses auf, als hätte es sich nur unter der Oberfläche versteckt gehalten. Er sprach es vorsichtig aus und ließ dabei die Frau nicht aus den Augen. Wie jemand, der Falschgeld herausgibt und darauf lauert, ob der andere es bemerkt. Sie sah ihn eine Sekunde zu lange an, als ob sie versuchte, ihn einzuschätzen. Jonathan wiederholte seine Frage auf Englisch. »Could you please repeat that?«

»Wir können auch deutsch miteinander reden«, sagte sie. Sie machte einen Schritt auf ihn zu und legte den Kopf schief. So wie Maalia es gemacht hatte.

Maalia. Die letzten Jahre hatte er kaum an sie gedacht. Nur manchmal und mit der Zeit immer seltener war sie in seinen Träumen aufgetaucht, wo sie nach und nach von anderen Mädchen, anderen Frauen abgelöst worden war. Sie war ihm nicht wichtig gewesen, warum auch. Die Rolle, die sie in seinem Leben gespielt hatte, war nur die einer Statistin gewesen. Eigentlich hatte er sie kaum gekannt. Und doch war als Erstes sie ihm in den Sinn gekommen, als er erfahren hatte, dass die Alaska nach Grönland fahren würde. »Du kommst zurück«, hatte sie ihm damals zum Abschied zugeflüstert. Sie hatte ihm mit den Lippen über das Ohr gestrichen und ihm war heiß geworden trotz der Kälte, die an seinem letzten Morgen in Grönland geherrscht hatte.

Die Fremde lehnte jetzt direkt neben ihm an der Reling, ihre Ellenbogen berührten sich fast. »Ich habe gehört, wie du mit dem Steward deutsch geredet hast.« Sie hatte einen leichten dänischen Akzent. War sie eine Grönländerin, die in Dänemark lebte und dort Deutsch gelernt hatte?

»Okay, das vereinfacht die Sache.« Jonathan räusperte sich. »Ich kann nur ein paar Brocken Grönländisch. Ich …« Er brach ab und bemühte sich zu lächeln. »Ich glaube, ich muss in die Kabine und mir etwas Wärmeres anziehen.« Mit ausgestrecktem Arm zeigte er ihr die schwarzen Härchen, die sich von der Kälte sträubten, eine Geste, die ihm selbst übertrieben vorkam. Abrupt wendete er sich ab.

Während er über das Deck zur Treppe ging, spürte er ihren Blick in seinem Rücken so intensiv, dass es wehtat. So als würde sie ihm mit dem Fingernagel die Wirbelsäule entlangstreichen. Was sah sie in ihm? Einen nicht übel aussehenden Typen mit Dreitagebart, dessen schwarze Haare zerwühlt und struppig waren, als hätte er eine wilde Nacht hinter sich? Einen unbeholfenen Penner, der am Abend zu viel getrunken hatte? Oder durchforstete sie gerade ihre Erinnerungen, weil sie ihn doch noch erkannt hatte?

An der Treppe, die nach unten führte, drehte er sich noch einmal zu ihr um. Sie lag jetzt in seinem Liegestuhl, die Arme hinter dem Kopf verschränkt, und schaute hinaus aufs Meer. Ein schönes, harmloses Bild. Nein, er brauchte sich keine Sorgen zu machen. Sie hatte ihn einfach nur für einen Grönländer gehalten, mit dem sie ein paar Worte wechseln wollte. Bleib locker, Jonathan.

Trotzdem, die Begegnung mit der Frau hatte ihn irritiert. Und nicht nur, weil sie ihn an Maalia erinnerte. Durch das kurze Gespräch hatte er begriffen, dass es sinnlos war vorzugeben, kein Grönländisch zu sprechen. Er war wie ein Schwimmer, den man ins Meer warf und der schwimmen würde, ganz gleich, wie sehr er sich bemühte, es nicht zu tun. Wenn er es geschickt anstellte, konnte er ihr vielleicht entgehen, bis sie in Nuuk ankamen. Bei gut tausend Passagieren an Bord, die meisten von ihnen Deutsche, musste es möglich sein, den Tag zu überstehen, ohne auf Grönländisch angesprochen zu werden.

Doch dann schaute er zum Horizont, der sich jetzt scharf vom Meer absetzte. Die Alaska schob sich unaufhaltsam gen Westen, ihrem eigenen Schatten folgend. Am Abend würden sie in Nuuk einlaufen. Nein, es hatte keinen Sinn, den Kopf in den Sand zu stecken. Spätestens in Nuuk blieb ihm nichts anderes übrig, als mit anderen Menschen zu reden und sich ihrer ganz normalen Neugier zu stellen.

Als er sich zu dieser Reise entschlossen hatte, hatte er den ersten Schritt gemacht, ohne sich darüber im Klaren zu sein, welchen Weg er damit einschlug. Er war einfach losgegangen, weil es offenbar so sein sollte. Aber jetzt gab es kein Zurück mehr und auch Stehenbleiben ging nicht. Vielleicht war es ganz okay, mit der fremden Frau ins Gespräch zu kommen. Ein sicheres, unvermintes Gelände, eine Übung für den Ernstfall.

Nuuk, Grönland, Frühjahr 2011

Vorm Café Crazy Daisy tobte der Sturm durch die Straßen von Nuuk und ich klopfte mir den Schnee von der Jacke. Im Radio hatte irgendwer von Frühlingsgefühlen geredet, aber das war wohl ein Witz gewesen. Im Crazy Daisy roch es nach Kaffee, Pizza und Fisch und der Laden war gestopft voll. Halb Nuuk schien sich vor dem überraschenden Schneegestöber ins Daisy gerettet zu haben.

Ich setzte mich in meine Stammecke an den roten Plastiktisch, wo ich schon unzählige Stunden meines Lebens vergeudet hatte, und wartete auf Aqqaluk. Wir hatten uns für ein zweites Frühstück verabredet, aber wie so oft tauchte er nicht auf. Stattdessen hockte sich ausgerechnet Ingvar neben mich, und der ging mir schon nach drei Minuten auf die Nerven.

»Hör mal, Pakku«, sagte er in diesem nuscheligen Ton, den er für cool hielt. »Ist dir klar, dass du ins Guinnessbuch der Rekorde gehörst?« Er stemmte die Hand auf seinen breiten Schenkel und grinste mich an.

»Nee«, antwortete ich und rührte in meinem Milchkaffee. Wahrscheinlich kam gleich eine Anspielung darauf, dass ich Kaffee trank und kein Bier.

»Du bist der langweiligste Typ in der langweiligsten Stadt der Welt!« Ingvar lachte und haute mir auf die Schulter.

»Genau.« Ich lächelte müde. »Du hast es erfasst, Ingvar. Und deshalb gehe ich jetzt auch nach Hause und räum mein Zimmer auf. Oder ich lese ein gutes Buch, mal sehen. Jedenfalls irgendwas richtig schön Langweiliges.«

Ich nickte ihm zu, ging zum Tresen, um meinen Kaffee zu bezahlen, und ließ die Tür des Cafés hinter mir zufallen. Draußen zog ich mir die Kapuze bis zu den Augen und stemmte mich gegen den Wind. Was ging mich Ingvar an?

Eine halbe Stunde später hatte der Schneesturm so plötzlich aufgehört, wie er gekommen war, und die Sonne arbeitete daran, die Sache mit den Frühlingsgefühlen voranzutreiben. Ich saß am Computer, Wand an Wand mit meinem Vater, der im Nebenzimmer mit sich selber sprach, und spielte Backgammon. Ein Spiel, das so altmodisch war, dass ich bei Ingvar wahrscheinlich endgültig unten durch gewesen wäre, wenn er mich dabei erwischt hätte. Ich spielte mit Spider, so wie ich es fast den ganzen langen Winter über getan hatte.

du hast glück heute

glück?

zwei päsche hintereinander

wenn du das glück nennst

tu ich. du nicht?

nein

was ist denn glück für dich?

drei päsche hintereinander

das auch

was ist los? das war ein idiotischer zug

schlechte laune

krach mit den eltern?

quatsch

Spider hatte recht. Das war ein idiotischer Zug. Ich versuchte, mich auf das Spiel zu konzentrieren und die Stimme auszublenden, die nebenan herumschrie. Auch zwei Päsche nützen nichts, wenn du kurz darauf Fehler wie ein Anfänger machst.

Aber es ging nicht. Das Gemurmel meines Vaters war in Toben und Fluchen übergegangen. Es drang durch die dünne Holzwand in meine Ohren und von dort in mein Hirn und legte es lahm. Kurzschluss. Ich klinkte mich aus dem Spiel, ohne mich zu verabschieden, schaltete den PC aus, ließ mich in meinem Schreibtischstuhl zurücksinken und gab mich wehrlos dem Gebrüll hin. Mein Vater war auf Entzug, so wie in jedem Frühling. Wenn die Tage länger wurden, erwachte in ihm der Kampfgeist. Er schüttete den Rest seines Wodkas in den schmelzenden Schnee, überließ mir seine halb volle Kiste Bier und begab sich hinaus in die majestätische Natur, wie er sich ausdrückte. Das hieß, er rannte stundenlang ohne Mütze und in einer viel zu dünnen Jacke durch die vom Schnee und Eis befreite Landschaft, bis er nicht mehr konnte, kam bester Laune nach Hause und kippte dann erschöpft auf sein Bett. Drei, vier Tage machte er das so, dann war sein Akku leer. In einem letzten Aufbäumen gegen den Durst schloss er sich in seinem Zimmer ein, hustete und schimpfte und trampelte wie ein gefangenes Tier auf und ab und begann mit dem Gebrüll. Manchmal drehte ich meine Anlage bis zum Anschlag auf, um ihn nicht zu hören.

Ich wusste, dass er nicht lange durchhalten würde. Solange ich ihn kannte, hatte er es noch nie länger als sechs Tage geschafft. Aber immerhin bedeutete das fast eine Woche, in der ich Ruhe hatte vor seinen Spleens, in die er sich verstrickte, wenn er genügend Sprit getankt hatte.

Mein Vater wollte, dass ich Bienen züchtete. Ich war siebzehn und ich sollte Imker werden. Auf Grönland … Welche Biene war so verrückt, sich hier niederzulassen? Mehr als drei Viertel des Landes liegen unter Eis begraben und noch im August wird es in Nuuk kaum wärmer als fünfzehn Grad. Grönland … Kalaallit Nunaat, das Land der Menschen … was für ein Witz. Niemand kam freiwillig hierher, ans Ende der Welt. Niemand außer meinem durchgeknallten Vater.

Die Idee mit den Bienen steckte seit dem letzten Sommer in seinem Kopf, als wir einen unserer seltenen Vater-Sohn-Ausflüge gemacht hatten. Wir waren mit dem Schiff nach Nanortalik gefahren, ganz im Süden, um dort zu klettern. Er wollte mir zeigen, dass er noch der Alte war. Der Typ, der fast den Gipfel des Ketil bezwungen hätte, wenn er damals das Geld für eine anständige Kletterausrüstung gehabt hätte. Aber er war zu betrunken gewesen, um seine Stiefel alleine zuzukriegen. Und so waren wir nur im Qinguadalen gewandert, was man auch auf Alk noch schafft. Ein paarmal stolperte er über seine Schuhbänder. Wenn ich ihn nicht am Arm erwischt hätte, wäre er der Länge nach hingeschlagen.

Im Qinguadalen gibt es richtige Bäume. Es ist eine der wenigen Gegenden Grönlands, die so etwas wie einen Wald haben. Keine geduckten, armseligen Krüppelkiefern, die vor der Kälte kapituliert haben, sondern sechs Meter hohe Birken, durch die der Wind flirrt. Und als er die Bäume und Schafsweiden und blühenden Wiesen sah, wurde er sentimental und erzählte mir von seiner Kindheit in Dannenberg.

»Weißt du, Pakku?«, hatte er gefragt und geräuschvoll seine Nase hochgezogen. »Deine Großmutter hatte Bienenstöcke, hinten im Garten am Bahndamm. Sie hatte wirklich Ahnung von diesen Dingen. Sie hat einen wunderbaren Honig gemacht, ganz mild und weich wie Sahne. Für den würde man hier bei uns ein Vermögen bezahlen.« Sein Gesicht war von einem schwärmerischen Leuchten überzogen gewesen, was äußerst selten vorkam, wenn er von Deutschland sprach. Normalerweise fluchte er über die Deutschen und ihr spießiges kleines Land.

Am Abend nach unserer Wanderung, als mein Vater mit seinem üblichen Sechserpack Bier vor dem Brugsenladen in Nanortalik saß, um zu verschnaufen, drückte ihm jemand einen Zettel in die Hand. Man sollte irgendwas unterschreiben oder spenden oder irgendwo mitmachen. Ich hatte nicht so genau hingeschaut, was ein Fehler war. Ich hätte ihm das Flugblatt aus den Händen reißen müssen. Ich hätte es wegwerfen sollen oder aufessen, so wie es die Geheimagenten mit gefährlichen Papieren machen.

Erst als wir bei Mikael Aariak gewesen waren, einem alten Kumpel meines Vaters, in dessen Zweizimmerhäuschen wir übernachteten, hatte er den Zettel gelesen.

»Hey«, hatte er gesagt, »hey! Das ist vom Verein Bienen auf Grönland. Die wollen hier Bienen züchten! Gerade vorhin hab ich noch davon gesprochen und jetzt dieses Schreiben! Das ist kein Zufall!« Und dann hatte er mir und Mikael erzählt, was für eine großartige Sache die Imkerei sei und dass man reich und berühmt werden würde, wenn man es schaffte, auf Grönland Honig zu gewinnen. Mikael hatte sich auf die Schenkel geschlagen und ihm erklärt, dass Nanortalik Bärenort bedeutet, weil hier die Eisbären auf dem Treibeis vom Polarmeer vorbeischipperten. »Bären!«, hatte er gedröhnt, »nicht Bienen, kapierst du?« Doch mein Vater hatte bierernst auf ihn herabgeschaut und gewartet, bis Mikael mit dem Lachen aufgehört hatte. »Wir werden das professionell aufziehen«, hatte er salbungsvoll verkündet. Das war einer seiner Lieblingssprüche.

Als wir wieder in Nuuk waren, fing er gleich an, alle möglichen Bücher über Imkerei zu bestellen und das Internet zu durchforsten. Tagelang saß er zu Hause am Computer und las sich fest. »Auf Island haben sie es auch geschafft«, ließ er mich wissen. »Apis mellifera mellifera, die schwarze Biene, dreizehn Kilo Honig hat ein einziger Bienenstock im Sommer 2003 gebracht, und der war nicht mal besonders warm.«

Wenn mein Vater einen seiner Träume träumte, dann mussten alle mit träumen. Das heißt, ICH musste es. Bis er dann auch diesen Traum im Alkohol ertränkte. So wie die Idee, ein Reisebüro für deutsche Trekkingtouristen aufzumachen oder in unserem schäbigen Haus ein Bed & Breakfast einzurichten. Ein paar Wochen war er Feuer und Flamme und dann blieb nur noch ein Häufchen Asche übrig. Aber dieses Mal hatte er eine erstaunliche Hartnäckigkeit an den Tag gelegt. Und das lag daran, dass bei diesem Stück ICH die Hauptrolle spielen sollte. Meine Zukunft in Grönland sollten die Bienen sein. Ich sollte sie hochpäppeln und ihnen den Honig abluchsen und er wollte dann den Vertrieb übernehmen. Den Herbst über und den ganzen langen Winter nervte er mich mit dem Quatsch. Wir hatten sogar Bienenkästen gezimmert. Sie lagen halb fertig und vom Schnee und Regen verwittert hinter unserem Haus. Der Daumennagel, den er sich dabei zerquetscht hatte, war immer noch schwarz.

Ich hielt das Fluchen und Husten im Zimmer nebenan nicht mehr aus, nahm wieder meine Daunenjacke vom Haken und ging aus dem Haus. Ich stemmte mich gegen den Wind, lief hinunter zum Hafen und schaute dem Sonnenuntergang über dem Fjord zu. Irgendwann würde ich woanders leben und dann würde ich es schaffen, meine eigenen Träume zu träumen. Irgendwo, wo es richtige Straßen gab, die nicht nach wenigen Kilometern im Wasser oder im Eis endeten. Wo man mit der U-Bahn fahren konnte und durch breite Alleen ging, in denen die Menschen vor den Cafés saßen und sich von gut aussehenden Kellnern ihre Drinks bringen ließen. Große Städte, in denen du ewig laufen kannst und niemanden triffst, der deinen Namen kennt. Irgendwann würde ich weit weg von hier leben. Alles war weit weg von hier aus.

Ich sah zu dem Touristenschiff hinüber, das im Hafen lag. Ich sah die Leute an der Reling stehen, dünne schwarze Silhouetten vor gleißendem Gold, und hörte ihre begeisterten Rufe. Es war der Sonnenuntergang. Jeden Abend bejubelten sie ihn.

Ja, irgendwann würde ich diesen wahnsinnigen Himmel nicht mehr sehen, diesen Himmel, der in Gelb, Orange, Rot und Violett leuchtete, von schwarzen Wolkenfetzen durchzogen, ein Himmel, wie kein Maler der Welt ihn malen konnte. Sogar die zusammengeschaufelten Schneeberge am Straßenrand färbte er rosa. Immer wenn ich diese Farben sah, die sich im Weiß des Treibeises spiegelten, begriff ich, warum mein Vater nach Grönland gekommen war, vor zwanzig Jahren, und warum er hierblieb.

»Hey, Pakku!«

Ich drehte mich um und erkannte Aqqaluk. Er hatte die gleiche beige Daunenjacke an wie ich, die gleichen Goretexstiefel und die gleichen halblangen, glatten schwarzen Haare. Er sah aus wie ich, und das war eins von den Dingen, die mich so deprimierten. Es gab so viele hier wie mich und so wenige, die ganz anders aussahen. Wir kauften unsere Jeans, unsere Jacken und selbst unsere Unterhosen in denselben Läden, gingen zum selben Friseur, hatten dieselben gelangweilten Gesichter.

»Hey, Pakku, wieso warst du nicht im Daisy? Kommst du noch mit rüber zu Ingvar?«

Ich schüttelte den Kopf. Ich hatte keine Lust auf einen Nachmittag bei Ingvar. Auch das war immer das Gleiche. Wir würden ziemlich viel Bier trinken, Pornos im Internet anschauen und noch mehr Bier trinken. Vielleicht auch Wodka, falls Ingvars Vater seinen Schrank nicht abgeschlossen hatte. Ingvars Vater, Gunnar Kleist, gehörten ein paar Privatflugzeuge und ein Hubschrauber, und er und Ingvar bildeten sich eine Menge darauf ein.

»Sorry, Aqqa, keine Zeit.« Ich stand auf, warf einen letzten Blick zu den Touristen hinüber, winkte Aqqaluk zu und rannte nach Hause.

In Deutschland war es Abend. Vielleicht wartete Spider ja noch auf mich.

MS Alaska, Nordatlantik, Sommer 2020

Jonathan ließ sich gerade einen zweiten Milchkaffee bringen, als er die schwarzhaarige Fremde am Buffet entdeckte. Auch sie hatte ihn gesehen und nickte ihm zu. Ein Tablett mit Brötchen, Obst, Müsli, Rührei und Schinken in den Händen balancierend kam sie auf ihn zu. Den Trainingsanzug hatte sie gegen eine enge schwarze Hose und einen dünnen Pullover getauscht. Sie war sexy, keine Frage, auch wenn sie nicht sein Typ war. Die Frauen, die ihm spontan gefielen, sahen anders aus: blond, zierlich, mit schmalen Gesichtern und hellen Augen, so als ob er in ihnen das Gegenteil seiner selbst suchte. Einen Menschen, der das Sonnenlicht reflektierte, statt es zu absorbieren.

Sie stellte ihr Tablett auf seinen Tisch, zog sich einen Stuhl heran und setzte sich schon, während sie noch »Darf ich?« fragte.

Jonathan schob die Vase mit den künstlichen Blumen zur Seite, damit sie das, was sie auf ihrem Tablett hatte, auf dem Tisch ausbreiten konnte. »Wie viele Leute erwartest du noch?«, fragte er und ließ den Blick über all das Essen wandern, das sie um ihren Frühstücksteller herum verteilte.

»Seeluft macht hungrig, genau wie Joggen«, sagte sie, während sie mit dem Müsli begann. »Läufst du auch?«

Jonathan schüttelte den Kopf. »Ich bin mehr der Fußballtyp.«

Sie musterte ihn ohne Hemmung. »Wie heißt du eigentlich?«

»Jonathan.«

»Ich heiße Shary.«

»So wie der Hurrikan, der Kuba zerstört hat?«

»Genau.« Sie lachte. »Sei lieber vorsichtig. Ich kann ganz schön stürmisch werden.«

Jonathan erwiderte ihr Lachen. »Ich kann auf mich aufpassen«, sagte er. »Aber Namen haben keine Bedeutung.« Er nahm sich von den Blaubeeren, die in einem Schälchen vor ihm standen. Doch anstatt die Beere in den Mund zu stecken, zerdrückte er sie zwischen Daumen und Zeigefinger. »Als Kind hab ich Bickbeeren dazu gesagt, aber offiziell heißen sie Heidelbeeren. Auf Dänisch werden sie, glaube ich, bølle genannt. Dieser Beere ist das ziemlich egal, schätze ich. Ich weiß, dass Menschen ihre Kinder nicht zufällig Felix oder Victoria oder auch Adolf nennen. Aber ich bin mir sicher, dass Namen nur ein Etikett sind. Im Gegensatz zu der hier können sie nicht abfärben.« Er nahm seine Serviette und wischte sich den rötlichen Saft von den Fingern.

Sie ließ eine halbe Minute verstreichen, bis sie weitersprach. Die Frage, die sie ihm dann stellte, überraschte ihn. »Wo warst du, als New York unterging?«

Jonathan brauchte nicht lange zu überlegen. Die Tage, in denen die Katastrophenmeldungen aus den USA durch die Medien gegangen waren, würden ihm auf immer im Gedächtnis bleiben. Es waren aufwühlende Bilder gewesen, auch wenn der Hurrikan Laura verhältnismäßig wenige Todesopfer gefordert hatte – anders als die kurz zuvor in den Tropen wütenden Taifune, die etliche Millionenstädte in Südostasien vernichtet hatten. Die Evakuierung Manhattans war unglaublich geordnet vonstattengegangen, obwohl die Subway unter Wasser stand und als Transportmittel der Millionen Menschen ausgefallen war. Aber die Stadt war durch die Katastrophen in Asien alarmiert gewesen und hatte vorsorglich eine eigene Busflotte für den Notfall angelegt, wofür man allerdings den Central Park geopfert hatte. Die New Yorker hatten die Situation mit einer unvergleichlichen Gelassenheit akzeptiert. Als dann, am 26. September 2019, der Wirbelsturm mit unerwarteter Wucht auf Manhattan traf und die Insel innerhalb von Stunden in den Fluten versank, sodass nur noch die Wolkenkratzer aus dem Wasser ragten, hatte die Welt den Atem angehalten. Dabei hatte sie sich doch in den vergangenen Jahren an Untergangsszenarien gewöhnt. Das Wasser hatte verheerende Verwüstungen hinterlassen und ein großer Teil der Ostküste war nicht mehr bewohnbar.

In den Monaten danach hatte Jonathan eine Skulptur geschaffen, eine Art Friedhof mit Grabsteinen, auf denen Sendemasten und Antennen wie Spinnenbeine in den Himmel ragten. Es war seine erste wirklich gute Arbeit gewesen, viel besser als die Skulptur, mit der er im Jahr davor einen internationalen Wettbewerb gewonnen hatte. Aber durch die Auszeichnung damals hatte er zum ersten Mal Geld mit seiner Bildhauerei verdient, satte fünftausend Euro. Das Geld war erst ein paar Tage auf seinem Konto gewesen, da hatte er sich das Ticket für die Fahrt auf der Alaska gekauft – die Fahrt, die eigentlich nach New York gehen sollte.

Jonathan versuchte, sich wieder auf Shary zu konzentrieren, die mit verschränkten Armen dasaß und auf seine Antwort wartete. »Ich war in Berlin«, sagte er. »Um an einem Workshop teilzunehmen, für Bildhauer. Wir haben allerdings nicht mehr gearbeitet, sondern uns die Übertragungen aus den USA angeschaut. Es waren wahnsinnige Szenen … Und du? Wo warst du?«

»Ich war in Kopenhagen bei meiner Schwester. Ich habe ihr geholfen, ihre neue Wohnung zu renovieren. Ein Nachbar rief durchs Treppenhaus, dass New York gerade in den Fluten versinkt, und wir haben alle zusammengesessen, um die Bilder anzusehen …« Sie schüttelte den Kopf, als könnte sie immer noch nicht glauben, was sie gesehen hatte, dann lächelte sie. »Meine Schwester hat dadurch ihren Freund kennengelernt, er wohnt im selben Haus. Sie ist immer noch total verknallt.«

»Ja«, sagte Jonathan. »Jedem Ende wohnt ein Anfang inne.«

»Hesse. Haben wir auch in der Schule gelesen.« Shary hob ihr Orangensaftglas und prostete ihm zu. »Auf das Ende dieser Reise.« Sie grinste ihn an, streckte den Rücken und machte eine förmliche Verbeugung. »May I introduce myself – Shary Enoksen.«

»Jonathan Querido. Nice to meet you.« Jonathan stieß mit seiner Milchkaffeeschale gegen ihr Glas.

»Querido? Ist das nicht spanisch?«

»Das ist ein philippinischer Name. Der Geliebte. Aber wie wir gerade festgestellt haben, sagt ein Name nicht viel aus.«

»Stammst du von den Philippinen? Ich dachte, dass du Grönländer bist.«

Jonathan trank seinen Kaffee aus, der ihm plötzlich nicht mehr schmeckte. »Ach, vergiss es«, sagte er. »Vielleicht sollten wir das mit den Namensschildchen lassen. Manchmal verwirren sie nur.«

Jetzt sah sie ihn mit aufreizender Offenheit an. »Ich weiß nicht … Es könnte ganz reizvoll sein, ein bisschen Verwirrung zu stiften, Jonathan Querido.«

Jonathan wich ihrem Blick aus und stand abrupt auf. »Kann sein«, sagte er. »Aber ich glaube, ich muss jetzt los. Ich will noch ein paar Telefonate führen. Sorry.« Er hatte noch nicht zu Ende gesprochen, da tat es ihm schon leid, wie brüsk er zu ihr war. Aber so war das nun mal. Um nichts in der Welt war er jetzt in der Stimmung, sich auf eine Frau einzulassen. Und schon gar nicht auf eine wie sie. Auf eine wie Maalia.

Sie sah ihn aus ihren mandelförmigen schwarzen Augen an und wieder senkte Jonathan den Blick, weil er die Nähe nicht aushielt, die sie zu ihm suchte. Verdammt noch mal, sie sollte ihn in Ruhe lassen. In ein paar Stunden, wenn sie in Nuuk Station machten, würde er sowieso von Bord gehen. Und wer weiß, ob er überhaupt dabei sein würde, wenn das Schiff nach Hamburg zurückfuhr. Nein, Shary Enoksen musste sich für ihre Flirtversuche jemand anderen suchen.

Nuuk, Grönland, Frühjahr 2011

warum hast du aufgegeben? deine chancen waren gut

zu viel krach im haus

kleine geschwister, oder?

quatsch nicht. würfel endlich

immer noch schlechte laune?

Statt einer Antwort ließ ich die Würfel klackern. Es war ein gutes Geräusch, irgendwie unbeschwert und fast so, wie ich es von früher in Erinnerung hatte, als ich mit meiner Großmutter gespielt hatte. Ein altmodisches Geräusch, ein altmodisches Spiel, total uncool.

Wir spielten ein Spiel nach dem anderen. Doch ich war einfach nicht bei der Sache. Im Zimmer meines Vaters war es still geworden, sein Brüllen war verebbt, und als ich auf den Flur ging, sah ich, dass seine Jacke nicht am Haken hing. Er war rausgegangen. Zum Trinken. Das wusste ich, weil er nicht kurz zu mir reingeschaut hatte, um Tschüss zu sagen. Sein schlechtes Gewissen hing noch in der Luft, nistete in unserem ungelüfteten, engen Flur, sodass ich unwillkürlich die Nase verzog. Ich überlegte, ob ich ihm nachgehen sollte, ihn stoppen, aber es hatte eh keinen Sinn. Niemand konnte ihn stoppen, ihn nicht und all die anderen nicht, die sich genau wie er den Verstand aus dem Schädel soffen, egal wie teuer der Sprit auch war. Ich starrte die leeren Bierflaschen an, die neben dem PC auf meinem Schreibtisch standen, und fegte sie vom Tisch. Sie kollerten auf den Holzboden, auf dem nur ein dünner Baumwollteppich lag. Es klang wie das Rollen der Würfel auf dem Bildschirm. Ich wollte nicht trinken. Ich wollte nicht so werden wie mein Vater, so ein Verlierer. Ich wollte mein eigenes Leben leben.

Ich hatte mein FS-10-E Examen in der Tasche, eins, das ich nicht gerade gerne herausholte. Die einzigen Fächer, in denen ich geglänzt hatte, waren die, in denen man nicht reden musste. Klar, ich hatte ja erst mit neun Jahren Grönländisch und Dänisch gelernt. Das ganze erste Schuljahr in Nuuk hatte ich kein einziges Wort gesagt. Stumm hatte ich neben Aqqaluk gesessen, der mir alle fünf Minuten freundlich zulächelte und der mich abschreiben ließ und mir manchmal sogar die Hausaufgaben machte, obwohl ich ihn kein einziges Mal darum gebeten hatte. Aber wäre ich in Deutschland besser mit der Schule zurechtgekommen? Wahrscheinlich nicht, denke ich mal. Schließlich war mein Vater auch nicht gerade der Typ, der stolz auf seinen Verstand sein konnte. Und meine Mutter … keine Ahnung, wie gut die in der Schule gewesen war. Woher sollte ich das wissen?

Egal. Das beste Examen nützt dir nichts, wenn du keinen Schimmer hast, was du mit deinem Leben machen sollst. Es gab nur eins, was definitiv klar war: Grönlands erster Honigproduzent würde ich bestimmt nicht werden. Ich aß das klebrige Zeug ja nicht mal gerne.

schon wieder ein pasch. glückspilz

kann man mit backgammon geld verdienen?

brauchst du geld?

wer nicht?

bekommst du nicht genug taschengeld?

geht dich nichts an

Ich würfelte und stand auf, um mir aus der Küche noch ein Bier zu holen. Ich hatte zwar ein schlechtes Examen gemacht, aber ich war nicht blöd. Schon seit Tagen versuchte der gute Spider, was aus mir rauszukitzeln. Immer wieder mal streute er Fragen nach meinem Zuhause ein, wollte wissen, wer ich war, wie alt, ob männlich oder weiblich, wo ich wohnte und all das. Bisher hatte ich alles abgeblockt und war auf keine seiner Bemerkungen eingestiegen.

Ich war mir ziemlich sicher, dass Spider ein ganzes Stück älter war als ich. Wie gesagt, ich kannte niemanden in meinem Alter, der Backgammon spielte. Ich kannte überhaupt niemanden, der das spielte. Auch mein Vater ballerte nur Alien Attack am PC oder haute sein Geld beim Pokern raus mit den Typen, die er seine Freunde nannte.

In Deutschland war es jetzt drei Uhr morgens. Wahrscheinlich war Spider ein einsamer alter Knacker, der keine Arbeit hatte, wegen der er am nächsten Morgen aufstehen musste. Vielleicht so ein verklemmter Freak, der auf Jungs stand, die ihm nicht wirklich gefährlich werden konnten.

Ich hörte, wie die Haustür aufging, und drückte auf Log-out. Ich hatte die letzten drei Spiele gewonnen, ein guter Zeitpunkt, um aufzuhören. Außerdem hatte ich keine Lust, von meinem Vater beim Backgammon erwischt zu werden. Es war mir unangenehm. So als würde er mich beim Wichsen stören.

Als er in der Tür stand, fuhr ich gerade den PC runter. Er grinste mich an, die Wangen von der Kälte und dem Wodka gerötet.

»Hey, Pakku. Noch auf?«

»Ja, aber nicht mehr lange. Ich gehe ins Bett.«

»Warst du bei Aqqaluk?«

»Nur kurz.«

Einen Moment lang schien er zu überlegen, ob es noch etwas gab, was er fragen sollte. Er hielt sich mit der rechten Hand am Türpfosten fest, fuhr sich mit der linken durch die blonden Haare und starrte mich aus seinen babyblauen Augen an. Dann schüttelte er den Kopf, als müsse er Wasser aus den Ohren kriegen.

»Hör mal, Pakku. Weißt du, was Peer erzählt hat?«, sagte er. Seine Stimme hatte diesen eindringlichen Tonfall angenommen, der auf einen ziemlich hohen Spritpegel deutete. »Peer hat gesagt, dass es in zehn Jahren im Sommer kein Eis mehr geben wird.«

»Wieso? Macht Frisco pleite?«

Frisco ist das dänische Langnese. Als Kind hatte ich mich komischerweise darüber aufgeregt, dass die hier einfach einen anderen Namen für das gleiche Eis benutzten. Ich wollte, dass alles so war wie zu Hause. So wie in Deutschland.

Mein Vater überhörte mein Witzchen und redete weiter. »Das ist der Klimawandel, Pakku. Jedes Jahr wird es wärmer, immer mehr Eis schmilzt und immer schneller, als man gedacht hat. Das hast du wohl auch schon gehört.«

»Und?«

»In Südgrönland ist es jetzt schon wie in den Alpen. Kapierst du?«

»Nee.«

»Mann, Pakku! Die Bienen … hier wird es immer wärmer. Immer grüner. Grünland, kapierst du? Wenn wir die Ersten sind, die Honig machen können, haben wir die Nase vorn. Ich sag’s dir, das wird ein Superhonig. So wie der von deiner Großmutter.«

Ich rollte mit den Augen. Doch mein Vater ließ sich nicht im Geringsten irritieren. Er bedachte mich mit einem Lächeln, das er für geheimnisvoll hielt. »Frische Brötchen mit Honig. Oder selbst gemachtem Apfelgelee … Weißt du noch, Pakku?«

Natürlich wusste ich. Meine Kindheitserinnerungen waren nicht viel anders als seine. Ich hatte in seinem Kinderzimmer geschlafen, in seiner löcherigen Micky-Maus-Bettwäsche, ich hatte mit seiner Carrerabahn gespielt und war in seiner alten Lederhose auf den Apfelbaum geklettert. Ich war auf seine Grundschule gegangen, hatte im selben Klassenzimmer gesessen und hatte sogar seine ehemalige Klassenlehrerin gehabt, Frau Mirow, die kurz vor der Pensionierung stand. Seine Mutter war auch meine Mutter gewesen, ich kannte keine andere. Manchmal kam ich mir vor, als wäre ich sein Klon. Ein Klon, der durch einen verrückten Tick der Natur wie das komplette Gegenteil aussah. Mein Vater blond und blauäugig, der reinste Wikinger, und ich mit pechschwarzen Haaren und Augen wie Murmeln aus Lavastein. Vielleicht war das der Grund, warum ich oft das Gefühl hatte, im falschen Körper zu stecken.