Inspector Swanson und das Haus der verlorenen Kinder - Robert C. Marley - E-Book

Inspector Swanson und das Haus der verlorenen Kinder E-Book

Robert C. Marley

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Beschreibung

London 1896 – Bei Bauarbeiten am neuen U-Bahn System stoßen Arbeiter auf den in Badetücher gewickelten Leichnam eines Mannes. Sämtliche Spuren führen in ein Dorf bei Edinburgh. Chief Inspector Donald Swanson sieht sich gezwungen, den Zug zu besteigen und gemeinsam mit Sergeant Phelps in seine schottische Heimat zu reisen. Dort versucht Frederick Greenland, der reiche Lebemann aus Bloomsbury, derweil mehr über die Herkunft seines Ziehsohnes in Erfahrung zu bringen. Das gefällt offenbar nicht jedem. Ein paar Mal entgeht er nur um Haaresbreite dem sicheren Tod. Wer steckt hinter den Anschlägen? Und welche Rolle spielt der Fremde, der ihnen auf Schritt und Tritt zu folgen scheint? Schützenhilfe bekommt Frederick von Arthur Conan Doyle, der dort gerade seinen alten Professor besucht. Doch als ein weiterer Mord geschieht, überschlagen sich die Ereignisse. Selbst Swanson muss sich eingestehen, dass ein perfider Mörder sie an der Nase herumführt …

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Beliebtheit




Für Uwe Lischper

und Markus Korf –

gegangen 2022

»Wer weiß nicht, dass Betrug, Diebstahl,

Raub, Streit, Tumult, Beleidigung, Empörung,

Totschlag, Verrat und Giftmord – durch die

üblichen Strafen mehr geahndet als verhütet

Ausstürben, wenn das Geld erwürgt wäre?«

Sir Thomas Moore

»He, Geist! Wo geht die Reise hin?«

William Shakespeare

Vorbemerkung

Im 19. Jahrhundert kam der merkwürdige und zweifelhafte Beruf der Babyfarmerinnen auf. Junge Mütter – ob mittellos oder aus anderen Gründen nicht dazu in der Lage, die von ihnen geborenen Kinder großzuziehen – zahlten eine Summe Geldes an Pflegemütter, die versprachen, die Babys in ihre Obhut zu nehmen und für ihr weiteres Wohlergehen zu sorgen. Eine Vorgehensweise, die uns aus heutiger Sicht bereits erschaudern lässt. Doch es war weit schlimmer.

Obwohl es zahlreiche seriöse »Babyfarmerinnen« gab, die der eingegangenen Verpflichtung tatsächlich nachkamen, waren doch die schwarzen Schafe in der Überzahl. Nicht selten wurden die Kinder, wenn sie fünf oder sechs Jahre alt waren, weiterverkauft – an windige Geschäftsleute, die sie für sich arbeiten ließen und wie Sklaven hielten.

1896 stand in London mit Amelia Dyer eine skrupellose Frau vor Gericht, die das Geschäft mit den Pflegekindern noch mehr pervertierte. Dyer ließ sich von den Müttern die vereinbarte Summe aushändigen und tötete die Kinder anschließend sofort. Auf diese Weise starben 200 oder sogar mehr Kleinkinder durch ihre Hand. Nach Leichenfunden in der Themse, die zu ihr zurückverfolgt werden konnten, wurde sie schließlich verhaftet und erhielt die Todesstrafe.

Und noch 1903 wurden Amelia Sach und Annie Walters – als Babyfarmer von Finchley berüchtigt – für den Mord an mindestens zwölf Kleinkindern zum Tode verurteilt und im Londoner Gefängnis Holloway gehängt.

Die Handlung des folgenden Romans ist natürlich frei erfunden. Dennoch möchte ich Sie bitten, diese Tatsachen während der Lektüre im Gedächtnis zu behalten.

R. C. M.

PROLOG

» ›Ich liebe dich, mich reizt deine schöne Gestalt;

Und bist du nicht willig, so brauch ich Gewalt.‹

Mein Vater, mein Vater, jetzt fasst er mich an!

Erlkönig hat mir ein Leids getan! – «

Johann Wolfgang v. Goethe

Fairweather Manor, Bilston, Schottland,

21. Mai 1887

Der Regen klatschte in jener Nacht in wilden Böen gegen die hohen Fenster, während die gezackten Blitze wie Peitschenhiebe über den bewegten, schwarzen Himmel zuckten und das Grollen des Donners die Fensterscheiben erzittern ließ.

Henry Fairweather stand der Schweiß auf der Stirn. Die Woche war ungewöhnlich heiß gewesen, und der Regen hatte kaum Kühlung gebracht. Nervös ging er auf dem Gang vor dem Schlafzimmer seiner Gattin auf und ab, die Hände hinter dem Rücken, wie es seine Gewohnheit war, wenn er nachdachte.

Im Januar erst war sein jüngerer Bruder Roderick ums Leben gekommen. Ertrunken in den eisigen Fluten des Atlantiks. Das Schiff auf dem er fuhr, die Kapunda, war auf dem Weg von London nach Fremantle vor Brasilien mit einer Bark kollidiert und innerhalb von Minuten gesunken. Nur sechzehn der 319 Passagiere und Besatzungsmitglieder waren gerettet worden. Roderick war nicht darunter gewesen. Er hatte Roderick abgeraten, die Reise zu unternehmen. Ihre Diamantenminen in Afrika warfen mehr Profit als genug ab. Doch sein Bruder war nicht zu bremsen gewesen. Ein Pionier und Abenteurer, überzeugt davon, Australien würde West-Griqualand noch den Rang ablaufen. Einzelne Funde waren vielversprechend gewesen. Zum goldenen Jubiläum der Königin im Juni wollte er zurück sein …

Was, wenn nun auch noch Clara …?

Seine Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Die Bilder seiner Ahnen blickten streng und mahnend von den goldgerahmten Porträtauf ihn herab. Er blieb am Fenster stehen und klaubte seine Taschenuhr hervor, die am Ende einer silbernen Kette am Knopfloch baumelte.

Gleich fünf vor zwölf. Wo, zum Teufel blieb der Arzt?

Ungeduldig spähte Fairweather durch die schweren Regenschleier vor den hohen Bleiglasfenstern hinunter auf den Vorplatz und den Rundbogen der Einfahrt. Vor Stunden, wie es ihm vorkam, hatte er Watkins, seinen Diener, mit der Nachricht fortgeschickt. Stand nur zu hoffen, dass der Mann mit dem Fahrrad die Stadt überhaupt lebend erreicht hatte.

Die Schlafzimmertür wurde geöffnet, und Mimi, das Hausmädchen, streckte ihren Kopf heraus. Sie sah besorgt aus. »Die Missus verlangt Sie zu sehen, Sir.«

Clara lag auf dem Bett, die Wangen rot und die Augen fiebrig. Eine dünne Decke bedeckte ihren zierlichen Körper und spannte sich über ihren gewölbten Bauch. Das blonde Haar trug sie offen. Wie ein Schleier lag es ausgebreitet auf dem Kissen. Sie lächelte schwach, als sie ihn ansah.

Er setzte sich auf die Bettkannte und nahm ihre Hand. »Es kann nicht mehr lange dauern, Liebling«, sagte er ermunternd. »Er muss jede Minute hier sein.«

»Ja«, sagte sie. »Er muss. Ich halte es nicht mehr lange aus. Sie kommen alle zehn Minuten.«

Er blickte sie fragend an. »Wer kommt?«

»Die Wehen, Liebling«, hauchte sie. »Sehen Sie ihn sich an, Mimi. Unwissend wie jedes Exemplar seiner Gattung.« Sie lächelte wieder, herausfordernd diesmal.

Das Hausmädchen tauchte schmunzelnd den Schwamm in die Schale mit Essigwasser und betupfte sanft ihre Stirn.

Fairweather nahm es gelassen. Solange sie ihren Humor noch nicht verloren hatte, dachte er bei sich, waren seine Sorgen vermutlich unbegründet. Er bemerkte das Magazin auf ihrem Nachttisch. »Du hast im Lady’s World Magazine gelesen? Sprachst du nicht erst neulich davon, wie banal und voller Tratsch es sei?«

»Oh, es ist nicht mehr trivial, Liebling«, entgegnete sie mit schwacher Stimme. »Ich war selbst ganz überrascht. Dieser lustige Oscar Wilde, von dem jetzt alle reden, betreut es neuerdings. Es gibt Artikel über Erziehung und Reinlichkeit. Er scheint wirklich etwas davon zu verstehen.«

»Wie schön.« Er ließ ihre Hand los und erhob sich vom Bett. Am Fenster stehend schob er die Vorhänge beiseite.

Ein greller Blitz erhellte die gotischen Wasserspeier rechts und links des schmiedeeisernen Tores. Es regnete noch immer.

In der Ferne sah er zwei flackernde Lichter in der Nacht, die schaukelnd näherkamen. Das musste die Kutsche des Arztes sein! Kurz darauf drangen das Rasseln und Klappern eines Wagens und das Trampeln eisenbeschlagener Hufe auf regennassem Kies an seine Ohren. Sie kamen die Auffahrt hinauf! Endlich.

»Gott sei Dank, sie sind da, Clara!«, rief er, hüpfte über die Wäschetruhe, rannte, mehrere Stufen auf einmal nehmend, die Treppen nach unten und riss die Tür auf. Der Arzt und Watkins liefen gebückt durch den strömenden Regen auf ihn zu.

»Bin losgebraust, wie der Teufel, Sir«, sagte der Diener, als er in die Halle stolperte. »Aber der verdammte Drahtesel ging auf den letzten Metern zu Bruch.«

Der Arzt trat hinter ihm ein, in der einen Hand einen Weidenkorb, in der anderen seine Tasche. »n‘abend, Henry. Bin so schnell gekommen, wie es ging.« Sein Mantel triefte vor Nässe. »Clara hält sich wacker?«

»Wie gut, dass du da bist, Val«, meinte Fairweather, derweil Watkins dem Arzt den Mantel abnahm. »Sie hat gesagt, sie kommen jetzt alle zehn Minuten.«

»Offenbar halluziniert sie bereits. Was sagt sie, wer kommt?«

»Val, mein Gott!« Fairweather rang die Hände. »Die verfluchten Wehen!«

»Ich brauche heißes Wasser, Handtücher und einen doppelten Brandy. Schnell!« Der Arzt packte den Korb und die Tasche. Dann eilte er die Treppen hinauf und verschwand im Schlafzimmer.

Der Diener lief in die Küche, um alles zu besorgen und lieferte die Sachen an der Zimmertür ab. Von nun an hieß es warten.

Watkins brachte ihm zwischendurch einen Brandy. »Wird schon alles gut ausgehen, Sir«, meinte er. Doch die Minuten zogen sich wie Stunden. Auf dem Gang umhergehend hörte er Clara stöhnen und wimmern. Dann wurde Mimi hinausgeschickt, um mehr heißes Wasser zu holen. Und nach einer weiteren Viertelstunde noch einmal.

Jetzt war es gespenstisch still. Henry Fairweather drückte sein Ohr an das Türblatt. Nichts.

Dann, nach einer Ewigkeit – es war mittlerweile weit nach zwei Uhr am Morgen –, da öffnete sich die Schlafzimmertür, und der Arzt trat auf den Flur hinaus, den geschlossenen Weidenkorb in der rechten Hand.

Fairweather stürzte sogleich auf ihn zu. »Wie geht es Clara?«

»Sie ist wohlauf«, antwortete der Arzt. »Ich habe ihr ein Beruhigungsmittel gegeben. Das Mädchen ist bei ihr. Sie schläft.«

Glücklich strahlte er über das ganze Gesicht. »Und das Kind?«

»Es tut mir aufrichtig leid, Henry.« Der Arzt sah ihn traurig und ernst an. »Das Kind hat es nicht geschafft. Es war zu schwach.«

»Es ist tot?«

»Die Nabelschnur. Sie hatte sich um seinen Hals geschlungen.«

Fairweather schluckte schwer, bemüht, die Tränen zurück zu halten, die bereits in seinen Augen glänzten. »War es ein Mädchen oder ein Junge?«

»Ein Junge«, entgegnete der Arzt.

»Kann ich ihn sehen, Val?« Er zitterte, als er jetzt den geschlossenen Weidenkorb anstarrte.

»Das kann ich nicht zulassen, Henry.« Der Arzt legte ihm die Hand auf den Arm. »Es ist ein entsetzlicher Anblick. Das Beste wird sein, du vergisst, dass das Kind überhaupt geboren wurde.«

»Es vergessen?« Er dachte an die Monate der Aufregung und Vorfreude, an die bangen Stunden auf dem Flur, und die Tränen schossen ihm in die Augen. »Nein.«, sagte er. »Nein, Clara hat ihn zur Welt gebracht. Und ich …« Er rieb sich die Augen. »Und ich werde ihn mit allem gebotenen Anstand beerdigen.«

Der Arzt drückte seinen Oberarm und wandte sich zur Tür. »Du hast natürlich ganz recht, Henry. Es ist dein Kind. Ich werde die nötigen Schritte in die Wege leiten.« Er hielt kurz inne, so als sei ihm im Nachhinein ein Gedanke gekommen. »Abgesehen vom Begräbnis, sind einige rechtliche Formalitäten zu erledigen, fürchte ich. Ich werde mich darum kümmern.«

Fairweather nickte unter Tränen. »Danke.«

»Keine Ursache. Kümmere dich um Clara. Aber sag es ihr noch nicht.«

Entsetzt und fahrig sah er ihn an. »Sie weiß nicht Bescheid? O mein Gott!«

»Es wäre nicht gut. Niemand weiß, wie sie die Nachricht aufnähme. Wir müssen jegliche Aufregung vermeiden. Sonst könnte es womöglich noch zum Wochenbettfieber kommen.« Er seufzte schwer. »Um ihre vollständige Rekonvaleszenz nicht zu gefährden, halte ich es für ratsam, es ihr frühestens übermorgen zu sagen – nach der Beisetzung.«

»Was so schnell bringen wir ihn unter die Erde?«

»Das ist absolut notwendig, glaub mir. Ich werde alles Nötige veranlassen.«

»Also schön, Val.« Fairweather straffte sich. »Wenn du es für richtig hältst.«

»Vertrau mir, Henry«, entgegnete er. »Clara wird es dir eines Tages danken.« Er ging zur Tür.

»Ich werde ihn Roderick nennen. Nach meinem verstorbenen Bruder.«

»Gewiss. Das ist ein guter Name. Ich gebe es an den Steinmetz weiter.«

Aus dem Korb drang ein schwaches aber hörbares Geräusch. Es klang wie ein leises Fiepen. Der Arzt hüstelte.

»Was war das?«

»Die Faulgase, Henry.« Der Arzt machte ein ernstes Gesicht. »Es ist höchste Zeit. Es beginnt bereits, sich zu zersetzen. Ich sagte ja, es sei ein entsetzlicher Anblick.«

Fairweather nickte und schlug die Hände vors Gesicht.

»Du musst jetzt stark sein. Für euch beide. Ich sehe morgen Nachmittag nach Clara und bringe die Papiere mit.« Er öffnete die Tür, und der Regen wehte herein. »Auf bald, Henry.«

»Auf bald.« Fairweather zog die Tür hinter sich zu. Dann sank er langsam mit dem Rücken daran herab, bis er auf dem blanken, regenfeuchten Steinfußboden hockte und begann hemmungslos zu weinen.

Am folgenden Nachmittag kehrte der Arzt nach Fair­weather Hall zurück. Desinteressiert und das Herz voller Kummer kritzelte Henry Fairweather seine Unterschrift unter die Papiere, die Val ihm hinlegte.

Die Beisetzung fand tags darauf um die Mittagsstunde in aller Stille auf dem nahegelegenen Friedhof von Bilston statt. Nur er, der Arzt und der Priester waren anwesend. Die Sonne schien hell und warm an diesem Tag.

Er hatte mit Mimi gesprochen. Sie hatte seinen Sohn in jener Nacht zu Gesicht bekommen. Ganz rot sei er gewesen. Und friedlich habe er ausgesehen, hatte sie zu ihm gesagt. So, als schliefe er nur.

Henry Fairweather erfuhr nie, dass das Kind, das ihm seine liebste Clara geboren hatte, dass sein Sohn und Erbe, noch am Leben war.

Erster Teil

Unter der Erde

» Königlich ruhst du in deiner Verlassenheit, Garten –und selten nur tust du die Tore weit …

Mit deiner steilen Gebüsche

verschwiegnem Verlies.«

Stefan Anton George (1868–1933)

KAPITEL 1

Baker Street, London, 16. September 1896

Tief unter den Straßen Londons, war es stockdunkel, stickig und heiß. Nur die schwachen Lichter der Öllampen der vorauseilenden Arbeiter tanzten an den gewölbten Tunnelwänden des U-Bahnschachts wie aufgescheuchte Gespenster in einer Gruft.

Chief Inspector Donald Swanson versuchte, in der Dunkelheit mit den zwei Männern Schritt zu halten. Sergeant Peter Phelps, der mit einer eigenen Lampe hinter ihm ging, schnaufte vor Anstrengung.

Die Meldung, man habe bei Bauarbeiten eine Leiche gefunden, war vor gut einer Stunde eingetroffen. Swanson hatte sich sofort Peter Phelps geschnappt und war mit einem Hansom Cab zum U-Bahnhof Baker Street gefahren, wo zwei Arbeiter sie am Eingang erwarteten. Von dort waren sie zunächst durch unzählige helle Gänge voller Menschen gelaufen, hatten dann abseits der Reisenden zwei eiserne Wendeltreppen nach unten genommen, und waren schließlich in den im Bau befindlichen Tunnel gelangt. Die ersten fünfhundert Yards war er noch beleuchtet gewesen, wenn auch spärlich. Ein paar elektrische Lichter an der gewölbten Decke. Immerhin hell genug, um zu erkennen, wohin man trat. Doch nun war es seit einer Ewigkeit, wie es Swanson vorkam, finsterste Nacht um sie herum. Die Arme vor sich ausgestreckt, stolperte er blind hinter den auf und ab hüpfenden Lichtschimmern der Laternen her und hoffte das Beste.

»Wir sind da, Sirs!«, rief einer der Arbeiter vor ihnen, als sie an eine riesige Konstruktion aus glänzendem Eisen kamen – eine mächtige hydraulische Presse, die bis an die Tunneldecke reichte. Der Lichtschein der schaukelnden Lampen huschte hektisch darüber und beleuchtete dann eine schmale Kluft rechts davon. »Kommen Sie, drücken Sie sich seitlich vorbei. Aber passen Sie auf Ihren Kopf auf.« Und damit verschwand er in dem schmalen Spalt zwischen der Maschine und der Tunnelwand.

Swanson musste den Bauch einziehen und sich mit kleinen Schritten seitlich hindurchquetschen, um ihm überhaupt folgen zu können. Irgendetwas fegte ihm den Bowler vom Kopf. Es war sinnlos im Dunkeln danach zu suchen. Als er auf der anderen Seite herauskam, wartete der Arbeiter bereits auf ihn. Swanson duckte sich unter einem herabhängenden Flaschenzug hindurch, und kurz darauf gingen nacheinander surrend einige elektrische Lampen an.

Hier war es noch heißer als im übrigen Teil des Tunnels. Swanson lockerte den Knoten seiner Krawatte und öffnete den obersten Knopf seines Kragens.

»Wir müssen da raufklettern, Sir«. Der Mann deutete auf das bis unter die Decke reichende Gerüst aus Eisenträgern, das aus vertikalen Stützpfeilern und horizontal verlaufenden Trägern bestand, die zusammen sechs Abteilungen bildeten. Swanson erinnerten sie entfernt an Bienenwaben.

»Was ist das?«, fragte er. »Eine Bohrmaschine?«

»Nein, Sir.« Der Mann hob belustigt die Augenbrauen. »Graben müssen wir schon noch mit Spitzhacke und Spaten. Das da ist nur der sogenannte Rahmen. Schützt uns bei der Arbeit vor herabfallenden Steinen und Erdreich.« Der erste Querträger des Rahmens befand sich auf Augenhöhe. Der Arbeiter zog sich kraftvoll daran hoch, drückte die muskulösen Arme durch und stemmte sich auf die Hände. Dann schwang er, elegant wie ein Trapezkünstler, die Beine nach oben und lugte über den Rand zu Swanson herunter. »Sie sehen es nur von hier aus, Sir. Meinen Sie, Sie schaffen das?«

»Mein Sergeant wird mir raufhelfen«, sagte er. Er reichte seine Lampe nach oben und winkte Peter Phelps heran, der eben mit Swansons Bowler in der Hand aus dem Spalt ins Licht trat. »Sie werden mir raufhelfen müssen. Ich glaube zum klettern bin ich zu alt.«

»Kein Problem, Sir.« Der Sergeant reichte ihm den Hut. Und als Swanson ihn aufgesetzt hatte, verschränkte Phelps die Finger, stellte sich breitbeinig hin und nickte dem Chief Inspector zu. »Geben Sie mir Ihren Fuß, ich hebe Sie hinauf.«

Oben packten vier Hände Swansons Arme und Achseln, und eine Sekunde später stand er auf dem Querbalken. Phelps tat es dem Arbeiter gleich und zog sich mit einer Leichtigkeit auf die Plattform, die Swanson beeindruckte.

Der Arbeiter wandte sich um. Swanson hob seine Lampe auf und folgte ihm.

»Hier haben wir ihn gefunden«, sagte der Mann und streckte den Zeigefinger aus.

Swanson blickte ratlos geradeaus. Er sah nichts weiter als eine Wand aus Erde und Lehm. »Ich sehe nichts weiter als eine Wand aus Erde und Lehm«, sagte er schließlich. »Wo genau ist er?«

»Sie müssen schon näher rangehen. Erst haben wir gedacht, das sei bloß eine tief ins Erdreich ragende Baumwurzel.« Der Mann robbte auf Knien bis ganz an die dunkle Wand heran. »Als wir uns das aber näher angesehen haben, da war klar, das ist ‘n Mensch, Sir.«

Swanson duckte sich unter einem quer verlaufenden Eisenträger hindurch, ging neben dem Arbeiter in die Hocke und schaute dem Mann dabei zu, wie der am unteren Teil der Wand vor sich ein Stück der vermeintlichen Wurzel mit einem Lappen vom Dreck befreite.

Nun sah er es auch. Ein haariges, weißes, zur Hälfte von Erdreich umgebenes menschliches Bein kam, von der Hüfte abwärts, zum Vorschein. Der Rest des Körpers steckte allem Anschein nach noch aufrechtstehend in der Erde.

»Wie tief sind wir unter der Erde?«, fragte Swanson, dem mittlerweile der Schweiß auf der Stirn stand.

»Gut hundert, hundertzehn Fuß, grob geschätzt«, sagte der Arbeiter.

Phelps tauchte neben ihnen auf und leuchtete mit seiner Lampe die Wand vor ihnen ab. Dann begann er, mit der rechten Hand, die gelbe, lehmige Erde um den Fuß und den Unterschenkel herum zu entfernen. »Sie ist nicht fest«, sagte er. »Kann jemand die Leiche hier heruntergebracht und, na ja – da eingemauert haben?«

Der Arbeiter stieß einen missbilligenden Grunzlaut aus und schüttelte den Kopf. »Nicht während der letzten Woche«, sagte er. »Wir haben rund um die Uhr gegraben.«

»Und in der Woche davor?«, fragte Phelps.

»Da war der Tunnel dreißig Yards kürzer. Kann mir nicht vorstellen, dass jemand hier mit ‘ner Schaufel runterkommt und einen dreißig Yards langen Gang in den Tunnel gräbt, nur um den da zu verstecken. Und dann noch aufrechtstehend. Es wäre leichter gewesen, irgendwo im Wald ein Loch zu graben.«

»Sie haben Recht.« Swanson rieb sich mit Daumen und Zeigefinger über den Schnurbart. »Das ergibt keinen Sinn. Wie heißen Sie?«

»Barnes, Sir. Ich bin hier der Vorarbeiter.«

»Haben Sie eine ungefähre Vorstellung davon, was sich draußen über uns befindet, Mr Barnes?«

»Ich habe sogar eine sehr genaue Vorstellung davon, Sir. Wir graben hier ja nicht nach Gefühl.« Er lachte. »Es gibt Pläne nach denen wir arbeiten.«

Swanson nickte und blickte ihn abwartend an. »Nun? Was befindet sich da draußen direkt über uns?«

»Der Regent‘s Park. Wir graben uns direkt darunter durch. Warum fragen Sie?«

»Nun, wenn die Leiche nicht über den Tunnel hergebracht wurde, kann sie nur von oben gekommen sein, habe ich Recht?«

»Ja. Sieht ganz danach aus.«

»Ich frage mich nur, weshalb jemand ein hundert Fuß tiefes Loch graben sollte, um darin eine Leiche zu verstecken. Viel zu aufwendig.«

»Nicht, wenn man schlau ist. Dann lässt man andere für sich graben, Sir«, sagte Barnes und lachte wieder.

»Ein bisschen mehr Respekt vor den Toten. Das da in der Wand ist immerhin ein Mensch.« Phelps wandte sich ärgerlich um und ging neben den beiden Männern in die Hocke. »Sie halten sich wohl für sehr witzig, was, Mr Barnes?«

»Oh, nein, Sir. Überhaupt nicht«, beeilte der Mann sich zu sagen. »Ich mein ja nur, dann nimmt man eben einen der Luftschächte und wirft die Leiche dort hinein.«

»Es gibt Luftschächte?« Phelps Gesicht entspannte sich wieder.

»Alle Meile. Sie bohren sie auf der vorgegebenen Strecke vor bis runter auf unsere Tiefe. Damit wir hier unten genügend Frischluft haben. Wir graben uns von einem zum anderen.«

Swanson nickte nachdenklich. »Demnach wissen Sie, wo sich der fragliche Luftschacht befindet.«

»Klar, Sir. Ich gebe Ihnen einen der Pläne für den Streckenabschnitt, an dem wir arbeiten. Darin ist der Schacht eingezeichnet. Sie können ihn gar nicht verfehlen.«

»Danke, Mr Barnes.« Swanson erhob sich. »Es war richtig, uns unverzüglich zu verständigen.«

Barnes richtete sich ebenfalls wieder auf und stemmte die Hände in den Rücken. »Was machen wir den jetzt mit dem?« Und er nickte in Richtung Wand. »Wir arbeiten nach einem sehr knappen Zeitplan. Lange Pausen können wir uns nicht leisten, Sir. Sollen wir ihn ausgraben?«

Phelps stand an der Wand und bohrte mit den Fingern im Erdreich. »Schauen Sie mal hier, Sir.«

»Was haben Sie, Phelps?«

»Oberhalb der Hüfte steckt noch etwas in der Erde.« Er zupfte daran. »Scheint eine Art Tuch zu sein.«

Swanson betrachtete es. Es war nur eine winzige Spur weißer als das Bein der Leiche. »Womöglich die Kleider des Toten.«

»Hm«, machte Phelps. »Ich weiß nicht recht, Sir. Scheint sich eher um ein Laken oder etwas Ähnliches zu handeln.«

»Wir werden es erst wissen, wenn wir ihn aus der Wand heraushaben. Bis dahin hilft leider alles Spekulieren nichts. Habe ich Recht, Phelps?«

»Sicher, Sir.« Der Sergeant wischte sich die Hände an den Hosenbeinen ab.

»Was ist denn nun mit dem toten Kerl?«, meldete sich Barnes wieder zu Wort. »Sollen wir ihn jetzt ausgraben?«

»Ich fürchte, wir werden das tun müssen«, antwortete Swanson. Wenn die Leiche das Opfer eines Gewaltverbrechens war, galt es, mit Umsicht vorzugehen. Sie würden Charly Stedman brauchen, der Obacht gab, dass mögliche Spuren an der Leiche unversehrt blieben. Und sie würden Wensley mit seinem Photoapparat herbringen müssen, damit er sämtliche Schritte dokumentierte. »Sie und Ihre Leute werden für eine Weile mit der Arbeit aufhören müssen, Mr Barnes.«

Der Arbeiter blickte ihn entsetzt an. »Aber das geht nicht, Sir. Der Zeitplan. Man wird uns die Hölle heiß machen.«

»Es tut mir sehr leid.« Swanson steckte die Hände in die Hosentaschen. »Dieser Mensch dort muss wie ein Fossil ausgegraben werden – mit äußerster Vorsicht. Und dafür muss ich diesen Abschnitt des Tunnels sperren lassen.«

Das Entsetzen wuchs noch. »Ihn sperren?«

»Es geht nicht anders.«

»Verflucht! Und für wie lange?«

»Das lässt sich schwer sagen.« Swanson seufzte. »Wenn wir uns beeilen sind unsere Leute bis morgen früh fertig. Kommen Sie damit zurecht, Mr Barnes?«

»Wenn ich Pech habe, verliere ich deswegen meine Anstellung.«

»Nicht, wenn Sie nichts mit dem Toten dort zu schaffen haben.« Swanson lächelte ihn an. »Und das haben Sie doch nicht?«

»Gott behüte!« Barnes trat einen Schritt zurück und stieß sich den Hinterkopf an dem quer laufenden Eisenträger. »Au! Verflucht, noch eins! Ich hab ihn doch bloß gefunden. Warum der da drin liegt, davon weiß ich nichts. Vielleicht war es ja auch nur ein Unfall. Läuft im Dunkeln durch den Park, der Kerl, und bricht sich beim Sturz in den Schacht den Hals.«

»Vielleicht.« Swanson nickte wieder. Er trat an den Rand des Rahmens heran und blickte mit mulmigen Gefühlen nach unten in die Dunkelheit. Eines war sicher: Wenn er heil hier herauskam, würde er seine gute schottische Kinderstube für eine halbe Stunde vergessen und Peter Phelps im Red Lion entgegen seinen Gewohnheiten ein Bier ausgeben.

KAPITEL 2

Docklands, London

Benjamin Rickman klopfte an die mächtige Eichentür von Stetsons Büro. Er hatte ein schlechtes Gewissen. Die letzten Tage über hatte er diesen Gentleman, der in Hatton Garden herumschnüffelte, nicht mehr aus den Augen gelassen, genau wie Stetson es ihm befohlen hatte. Wie ein Schatten war er gewesen, während er ihm gefolgt war; bis zu einem Pub, in dem er sich mit einem abgerissen aussehenden Mann getroffen hatte, der nichts weiter getragen hatte als ein paar verschlissene graue Hosen und ein verwaschenes Unterhemd. Doch danach hatte er ihn verloren. Dummerweise war es ihm nicht gelungen, ebenfalls eine Droschke zu bekommen, als der vornehme Kerl in ein Hansom Cab gestiegen war.

Stetson hatte daraufhin ein einziges Wort zurückgekabelt: Herkommen!

Als von drinnen ein halbherziges »Herein« ertönte, öffnete Rickman zögerlich die Tür und trat in den großen, lichtdurchfluteten Raum.

Wie sonderbar es doch jedes Mal war, wenn er herkam, dachte er. Von außen sah das dreigeschossige Gebäude in den Docks wenig beeindruckend, ja fast ärmlich aus. Es lag eingeklemmt zwischen zwei Lagerhäusern, die es fast zu zerdrücken schienen, und wirkte beinahe baufällig. Erst wenn man eingelassen wurde, erkannte man, von welch erlesener Qualität das Innere des Hauses und dessen Einrichtung in Wirklichkeit war.

»Schließen Sie die Tür«, sagte Stetson.

Rickman tat es, dann trat er über die kostbaren persischen Läufer langsam an den großen, blank polierten Nussbaumschreibtisch heran, hinter dem Stetson in einem erhöhten Sessel thronte, und machte Anstalten, sich auf den Stuhl davor zu setzen.

»Unnötig, Platz zu nehmen. Für Geplänkel fehlt mir die Zeit. Das hier ist keine Teestunde.«

Rickman schluckte, versuchte aber, sich sein Unbehagen nicht anmerken zu lassen. Er blieb hinter dem Stuhl stehen und legte die Hände auf die Rückenlehne. »Das ist mir bewusst.«

Auf dem Tisch stand ein flaches Schälchen. Auf den ersten Blick mochte man das, was es enthielt, für Zucker halten. Doch in Wahrheit waren hunderte kleiner Diamanten darin, die im Sonnenlicht funkelten. Stetson schob es zwischen seinen Händen hin und her. Dann sagte er mit ruhiger Stimme: »Sie haben versagt, mein Junge.«

»Das ist …« Er schluckte wieder. »Das ist nicht gänzlich meine Schuld.«

»Bloß Dummköpfe übernehmen die Verantwortung für ihre Fehler nicht.«

»Es waren unglückliche Umstände. Ich hatte ihn in der Menge zunächst aus den Augen verloren. Und zu allem Überfluss stieg er …«

»Tun Sie das noch einmal, und Ihre Ohren werden das größte Stück von Ihnen sein, dass man begraben wird«, unterbrach Stetson ihn. Er lächelte böse mit schief gehaltenem Kopf. »Und mit Verlaub – Sie haben besonders kleine Ohren, Rickman.«

Der war sich nicht sicher, ob Stetson scherzte. Bei einem Mann wie ihm, konnte es ebenso gut ein Witz wie eine unverhohlene Drohung sein. »Ich habe alles versucht. Wirklich«, fügte er hinzu.

»Nun, ganz offensichtlich war es nicht genug.« Stetson lehnte sich in seinen Sessel zurück und verschränkte die Finger vor dem Bauch. »Was schlagen Sie mir vor, wie ich Sie bestrafen soll?«

»Bestrafen?«

Das böse Lächeln kehrte zurück, als er sich vorbeugte. Stetson hob das Kinn und sah ihn unbewegt an. Mit dem rechten Zeigefinger rührte er wie selbstvergessen in dem Schälchen mit den Diamanten.

»Ich werde ihn wiederfinden und nicht mehr aus den Augen lassen«, sagte Rickman schließlich. »Sie können sich auf mich verlassen.«

»Ich habe Sie nicht gefragt, was Sie als nächstes vorhaben, mein Junge«, sagte Stetson mit milder Stimme. »Sie hatten nur eine Aufgabe – die, meine Augen und Ohren zu sein. Sie haben bewiesen, dass auf Sie kein Verlass ist. Ich fragte danach, wie ich Sie bestrafen soll.« Er zog eine Schublade auf, nahm ein kleines Messer mit Elfenbeingriff heraus und legte es vor sich auf den Tisch. »Wissen Sie, was man in den Diamantminen von West-Griqualand mit jenen Arbeitern macht, die beim Stehlen erwischt werden?«

Rickmans Finger krampften sich um das Holz der Rückenlehne. »Nein.«

»Man amputiert ihnen die Füße. Auf diese Weise erhält man sich ihre Arbeitskraft. Allerdings haben Sie keine Gelegenheit mehr, herumzulaufen und Unsinn anzustellen.« Er zog die Augenbrauen hoch. »Haben Sie das gewusst?«

»Nein.« Er schüttelte den Kopf. Schluckte wieder. »Nein, das habe ich nicht.«

Stetson sah ihn mit väterlicher Milde an. »Kommen Sie her zu mir, Rickman.« Er winkte ihn mit dem Zeigefinger heran. »Kommen Sie her und leihen Sie mir für einen Moment Ihr Ohr.«

Dann hob er das Messer auf.

Hyde Park, London

Unter einem blauen, fast wolkenlosen Nachmittagshimmel marschierten sie über die Grünflächen, der Chief Inspector und sein Sergeant, der diesmal ein anderer war, da Peter Phelps anderweitig zu tun hatte. Swanson fand es an der Zeit, ihm Führungsaufgaben zuzuteilen. Daher hatte er ihm heute kommissarisch die Leitung des Einsatzes im U-Bahn-Tunnel übertragen, obwohl Phelps im Rang noch unter Charles H. Stedman stand.

Phelps hatte sich in den letzten Jahren gemacht. Er war, wie man so schön sagte, erwachsen geworden. Der unbeholfene, grüne Junge, den man ihm unter Commissioner Munro anvertraut hatte, war zu einem ausgewachsenen Yard Beamten herangereift, der die Kriminalabteilung mit dem nötigen Verstand und seiner ganz eigenen Herangehensweise bereicherte. Nicht mehr lange, und er würde zum Inspector befördert werden. Nun galt es, ihm mehr Verantwortung zu übertragen und zu beobachten, wie er damit umging. Blieb vor allem abzuwarten, wie er mit Frederick Wensley zurechtkam.

»Da ist es, Sir«, sagte Detective Sergeant Clarence Penwood und verlangsamte seine Schritte.

Swanson steckte die Karte, die ihnen Barnes gegeben hatte, in die Manteltasche und nickte.

Der Einstieg des Luftschachts befand sich auf einer von Bäumen umstandenen, sonnenbeschienenen Wiese am südlichen Ende des Parks, war mit einem Bretterzaun umgeben und mit einer dachartigen Holzkonstruktion versehen, über die man eine Persenning gegen den Regen gespannt hatte. Der Abraum, ein gut zehn Fuß hoher Erdhaufen von dunkler, gelber Farbe, lag etwas abseits davon.

In der Ferne gingen adrett gekleidete junge Damen mit den Sprösslingen ihrer Herrschaften spazieren oder schoben wippende Kinderwagen vor sich her. Etwa zweihundert Yards entfernt stand ein großes, Zelt; vermutlich das eines Gauklers, dachte Swanson, der den roten Schriftzug darauf auf die Distanz nur verschwommen zu lesen vermochte. Grillen zirpten, die Luft war warm und es duftete nach Spätsommer.

Der Sergeant machte ein ehrpusseliges Gesicht und seufzte. »Ich danke Ihnen, Sir.«

»Wofür?«

»Dass Sie mich und nicht Wilson mit raus in den Park genommen haben. Kaum vorstellbar, dass da unten jetzt unsere Leute in einem Tunnel stehen und eine Leiche ausgraben«, meinte Penwood mit belegter Stimme und rückte unbehaglich seine runde Brille zurecht. »Wir sind nicht dafür geschaffen, unter der Erde zu leben. Und Züge sollten da fahren, wo man sie sehen kann, finde ich. Manchmal macht einem der Fortschritt richtiggehend Angst, denken Sie nicht auch, Sir?«

»Ich weiß, was Sie meinen, Clarence«, sagte Swanson, der insgeheim selbst mehr als froh war, jetzt hier draußen an der frischen Luft zu sein und nicht mit den anderen im Dreck des finsteren Tunnels stehen zu müssen und einen Toten auszugraben.

Er selbst hatte noch nie einen U-Bahn Waggon betreten und nicht vor, es in absehbarer Zeit zu tun. Das gute alte Hansom Cab war ihm stets lieber gewesen, doch er sah auch die Vorteile, die die Untergrundbahn mit sich brachte. London wuchs und wuchs. Jeden Tag strömten Scharen von Menschen aus den umliegenden Ortschaften in die Stadt und verstopften mit ihren Karren, Kutschen und Bussen die Straßen. Immerhin die Untergrundbahn hatte bereits Wirkung gezeigt. Der Verkehr hatte sich deutlich beruhigt. Und mit jeder Meile, die sie sich weiter in Richtung der Vororte gruben, würde es besser werden.

»Warten Sie für den Augenblick hier.«

»Zu Befehl, Sir.«

Swanson ging langsam einmal um die Baustelle herum. Auf den ersten Blick war nichts Ungewöhnliches zu entdecken. An allen vier Seiten war am Zaun gut sichtbar ein handgemaltes Schild befestigt, auf dem in roter Farbe: Betreten verboten! Lebensgefahr! stand.

»Nichts«, sagte er, als er wieder bei Sergeant Penwood anlangte. »Suchen wir ein bisschen gründlicher.«

»Wonach suchen wir denn? Nach etwas Bestimmtem?«

»Nein, Clarence. Ich weiß es leider auch erst, wenn ich es sehe. Fußspuren, Stoffreste, irgendetwas.«

»Oh, natürlich. Verstehe.«

»Wir versuchen es erstmal außerhalb des Zauns. Sie gehen links herum, ich rechts«, sagte Swanson und deutete in die fragliche Richtung. »Wir treffen uns auf der anderen Seite.«

»Nichts lieber als das, Sir.« Penwood nickte, putzte sorgfältig seine Brille und ging langsam los, den Blick am Boden.

Swanson rüttelte an mehreren Stellen kräftig an der Holzeinfassung. Sie war stabil und bewegte sich kaum. Die Vorstellung, der Mann sei bei Nacht versehentlich in den Schacht gestürzt, war angesichts der gut gesicherten Baustelle absurd. Das Loch war besser geschützt als so manche Zinnmiene, die er im Dartmoor gesehen hatte. Der Mann hätte schon über den Zaun klettern und unter die Persenning kriechen müssen, um hinein zu stürzen. Und das war ganz sicher nicht versehentlich geschehen. Entweder hatte er den Zaun aus eigener Kraft überwunden, oder jemand hatte ihn darüber getragen. In beiden Fällen wäre es nötig gewesen, auf die Holzsparren zu steigen. Womöglich ließen sich dort Spuren davon entdecken. Doch nichts.

Swansons Nacken begann zu schmerzen, und er richtete sich auf. »Haben Sie schon etwas gefunden, Clarence?«

»Nein, Sir!«, rief Penwood von der anderen Seite zu ihm herüber. »Aber es hat seit Wochen nicht geregnet. Der Boden ist trocken wie altes Brot. Man sieht nur jede Menge Hufabdrücke und die Rillen, die wahrscheinlich die Speichenräder der schweren Lastkarren in die Erde gedrückt haben. Sonst nichts.«

»Suchen Sie trotzdem weiter. Vielleicht hat der Mann etwas verloren. Oder eine der Personen, die ihn hergebracht haben.«

Penwoods Kopf tauchte seitlich neben der Dachkonstruktion auf. »Und wenn es doch ein Unfall war, Sir? Kann doch sein, er war neugierig und wollte sehen, was unter der Persenning ist. Er sieht das Loch nicht oder stolpert –« Der Sergeant stieß einen langgezogenen, zischenden Pfeifton aus. »Und dann Bumm! Wäre nicht der erste, dem seine Neugier zum Verhängnis geworden ist.«

»Möglich, Clarence«, räumte Swanson ein. »Er könnte natürlich betrunken gewesen sein.«

»Und was, wenn er einfach nur pinkeln musste?«