Inspector Swanson und das Kabinett der Kuriositäten - Robert C. Marley - E-Book

Inspector Swanson und das Kabinett der Kuriositäten E-Book

Robert C. Marley

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  • Herausgeber: Dryas Verlag
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2024
Beschreibung

London 1896 – In Earls Court findet die große Empire of India & Ceylon Exhibition statt, die mit ihren Fakiren, Gauklern und Karussells ganz London begeistert. Für Chief Inspector Donald Swanson wird dies zum Auftakt einer Mordermittlung. Während einer Fahrt mit dem Riesenrad verschwindet Heather Millers Verlobter spurlos. Tags darauf wird in einem Kuriositätenkabinett in Earls Court eine männliche Leiche gefunden. Die Tatwaffe ist ein wertvoller indischer Dolch, um dessen Griff ein Taschentuch gewickelt ist. Und das gehört niemand anderem, als Miss Millers verschwundenem Verlobten …

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Seitenzahl: 256

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Für Hanne

helle Erinnerungen

in Blau und Türkis

25.08.1945 – 15.04.2024

»Museen sind Friedhöfe für die Kunst.«

Alphonse de Lamartine

»Jedes Herz ist eine Bude

auf dem Jahrmarkt der Eitelkeit«

William Makepeace Thackeray

Inhalt

Vorbemerkung

PROLOG

Oktober 1896

Erster Teil

Kapitel 1

Kapitel 2

Zweiter Teil

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Dritter Teil

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Vierter Teil

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Fünfter Teil

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Sechster Teil

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

EPILOG

Personen & Begriffe

Danksagung

Vorbemerkung

Wenn wir Zitate lesen, glauben wir oft fälschlicherweise, sie müssten zwangsläufig die Meinung des Autors oder der Autorin widerspiegeln. Das ist in vielen Fällen falsch. Im Gegensatz zu Aphorismen, die für sich stehend ihre Gültigkeit haben, sind die bekanntesten Zitate oft aus ihrem Zusammenhang gerissene Fragmente einer fiktiven Geschichte. Bei den gängigsten Oscar-Wilde-Zitaten ist das so. Die Worte wurden nicht im privaten Umfeld gesprochen, sondern entsprangen der Feder seiner Fantasie. Sie sind Teil eines in sich geschlossenen literarischen Zusammenhangs, zur Unterhaltung verfasst, und dürften, für sich allein genommen, gar nicht dem Autor zugeschrieben werden, sondern allein der erdachten Person, die sie in der jeweiligen Geschichte äußert.

Daher möchte ich vorausschicken, dass auch die Personen dieses Romans aus ihrer eigenen, von einer längst vergangenen Zeit geprägten, Persönlichkeit heraus handeln und sprechen.

Sollten Sie sich also an etwas stoßen, freuen Sie sich einfach, dass die Zeiten sich gewandelt haben. Aber bitte verwechseln sie die Geschichte nicht mit dem Autor.

Die Orte in diesem Roman sind wie immer tatsächliche Orte. Und auch den automatischen Schachtürken hat es in der beschriebenen Form gegeben. Das Original verbrannte allerdings in den 1850er Jahren in den USA.

R. C. M.

PROLOG

» Es gibt drei Dinge, die extrem hart sind:

Stahl, Diamanten, und sich selbst zu erkennen. «

Benjamin Franklin (1706–1790)

Oktober 1896

5 Camden Villas, Kennington, London

Annie begrüßte ihn an der Haustür, als Donald Swanson an diesem Abend heimkam. Sie sah zauberhaft aus in ihrem blauen Kleid und der doppelreihigen Perlenkette, die um ihren Hals lag.

»Guten Abend, Don.« Da stand sie mit einem strahlenden Lächeln, das Beste, was ihm jemals widerfahren war. Nach einem langen, schrecklichen Tag wie diesem war sie das Mittel, das ihn nicht an der ganzen Welt zweifeln ließ.

Sie nahm ihm seinen Mantel ab, hängte ihn über den Garderobenhaken und wandte sich noch immer lächelnd zu ihm um. »Du siehst müde aus, Liebling.«

»Das bin ich.« Er legte seine Arme um sie und zog sie an sich, blickte ihr in die Augen, dankbar und glücklich. Annies Augen waren wie kleine Seen, tiefgründig und von einem kühlen Blau. Wie gern hätte er ihr gesagt, was er in diesem Moment für sie empfand. Wie sehr er sie liebte, wie sehr er sie vermisst hatte. Wie gern hätte er mit einem Wort geäußert, wie leid es ihm tat, dass er sie so oft allein ließ. Doch er war kein Mann, dem seine Gefühle leicht über die Lippen kamen. Er stand einfach da, blickte sie an und schwieg.

»Es wird immer anstrengender, habe ich recht, Don?«

»Es war immer anstrengend, Liebes«, sagte er und schlüpfte in seine Pantoffeln. Er hatte es sich von Anbeginn ihrer Ehe zur Gewohnheit gemacht, zu Hause nicht über die Arbeit zu sprechen. Annie hatte das stets respektiert und ihn nur selten danach gefragt. Den Chief Inspector mit all seinen Fassetten legte er ab, noch ehe er die Haustür aufschloss. Und spätestens, wenn er seinen Mantel auszog, hängte er mit ihm auch sämtliche Gedanken an den letzten Fall an den Haken.

Doch nicht so heute.

Er hatte einen Mörder dingfest gemacht und dem Haftrichter vorgeführt, für den er nichts als Mitleid empfand. Und ein zweiter hätte um ein Haar Frederick Greenlands Ziehsohn Badger getötet, um an dessen Erbe zu gelangen. Kaum zu glauben, dass der kleine, obdachlose Bursche, den er vor über zwei Jahren auf dem Markt von Covent Garden aufgegabelt und in Greenlands Obhut gegeben hatte, in Wahrheit Roderick Fairweather hieß und der rechtmäßige Erbe eines Diamantvermögens war. Und ein stolzer Schotte, wie er selbst, noch dazu.

»Wie war dein Tag«, fragte er. »Nicht minder anstrengend, kann ich mir denken.«

»Es war aufregend«, sagte sie. »Ada ist im Garten auf eine Wespe getreten.«

Swanson sog durch die Zähne die Luft ein und verzog das Gesicht. »Für beide nicht angenehm, kann ich mir vorstellen.«

»Die Wespe hat’s wie durch ein Wunder überlebt.« Annie lachte hell. »Aber Ada, die Ärmste, hat natürlich mächtig geweint. Wir haben den Fuß gleich gekühlt. Und nach einer Viertelstunde war wieder alles vergessen. Ach, und die nette Miss Miller von gegenüber kam am Nachmittag auf einen Tee herüber. Sie ist seit gestern verlobt.«

»Wie schön.« Er setzte sich auf die Couch. »Mit einem ordentlichen Burschen, steht zu hoffen.«

»Oh, er ist eine ganz ausgezeichnete Partie. Sagt jedenfalls Miss Miller.« Annie stellte ihm eine Tasse Tee hin und einen kleinen Porzellanteller mit Gebäck. Dann setzte sie sich zu ihm, schmiegte sich an ihn und lehnte ihren Kopf an seine Schulter.

»Was ist mit den Kindern?«, fragte er leise. »Schlafen sie schon?«

»Don, es ist nach zehn. Selbstverständlich schlafen sie schon.«

Swanson lächelte. Hier war die Welt noch in Ordnung, dachte er, während Annie sich bei ihm unterhakte und zärtlich seinen Oberarm streichelte.

Die Türglocke fing plötzlich an zu läuten, und jemand schlug wie von Sinnen gegen die Haustür. Das verhieß nichts Gutes. Swanson war mit einem Satz auf den Beinen. Er wies Annie an, zurück zu bleiben, lief in den Flur, wo das Pochen wie Donner hallte, und riss die Tür auf. »Du meine Güte, was ist denn passiert?«

»Mr Swanson, dem Himmel sei Dank!« Vor ihm stand Frederick Greenland, leichenblass, den Hemdkragen offen und das Haar zerzaust. In seinen verweinten Augen standen die Tränen. An der Straße wartete die Droschke, die ihn hergefahren hatte. »Bitte, Mr Swanson, Sie müssen mit mir kommen, sofort!«, rief er. »Sie sind der einzige, der uns jetzt noch helfen kann!«

»Kommen Sie doch erst einmal rein. Und beruhigen Sie sich«, sagte Swanson, der sich fragte, was in drei Teufels Namen denn bloß geschehen sein konnte, dass Greenland in derart derangiertem Zustand in seinem Haus erschien.

»Es ist fürchterlich.« Frederick schüttelte unentwegt den Kopf, derweil Swanson ihn ins Wohnzimmer bugsierte und Annie bat, eine weitere Kanne Tee aufzusetzen. »Es ist alles ganz fürchterlich. Ich weiß nicht, was ich noch dagegen tun soll?«

»Wo gegen tun?« Swanson schob Frederick zum Sofa. »Reden Sie nicht in Rätseln.«

»Badger – er ist fort«, sagte Frederick und plumpste so kraftlos in die Polster, als sei er die weite Strecke von Bloomsbury nach Kennington hergerannt.

»Schon wieder?« Swanson wusste, dass der Junge schon einmal ausgebüxt war, um auf eigene Faust nach seinen leiblichen Eltern zu suchen. Doch nun, da er sie gefunden hatte …

»Diesmal ist es anders. Da kam so ein arroganter Kerl, der hat ihn einfach mitgenommen.«

Swanson glaubte, seinen Ohren nicht zu trauen. »Das kann nicht Ihr Ernst sein.«

»Hm«, machte Frederick.

»Was meinen Sie damit, er hat ihn einfach mitgenommen.«

»Na, ganz genau das, was ich sage.« Er strich sich die Haare aus dem Gesicht.

»Aus welchem Grund? Wie heißt der Mann?«

»Stetson irgendwas. Kam mit einem Polizisten im Schlepptau und einem richterlichen Schreiben daher. Er hat die Vormundschaft für Badger beantragt. Der Polizist hat gesagt, ich müsse Badger mitgehen lassen.«

»Haben Sie den Namen oder die Dienstnummer des Polizisten?«

Frederick stützte die Ellenbogen auf die Knie. »Nein.«

Swanson setzte sich neben ihn. »Hat er Ihnen gesagt, von welchem Revier er käme?«

»Nein.« Frederick ließ den Kopf hängen, ein Bild des Jammers.

»Wissen Sie wenigstens seinen Dienstgrad?«

»Er trug eine Uniform.« Er sah kurz auf und zuckte mit den Schultern. »Ein Constable, nehme ich an.«

Annie kam mit einer Tasse Tee in der Hand ins Zimmer zurück. Sie stellte sie auf den Tisch und sagte: »Ich habe etwas Milch und Honig hineingetan, Mr Greenland. Das wird sie beruhigen.«

»Danke.« Frederick nahm sie, trank einen Schluck und allmählich fühlte er sich besser. »Danke, Mrs Swanson. Der Tee ist wunderbar.«

Sie lächelte und ließ die beiden Männer wieder allein, um nach den Kindern zu sehen. Aber da noch keines neugierig seinen Kopf ins Zimmer gestreckt hatte, lagen sie wahrscheinlich in seligem Schlummer und träumten von Seeschlachten und heilenden Wespenstichen.

Als sich die Tür hinter Annie geschlossen hatte, sagte Swanson: »Zunächst einmal kann ich Ihnen sagen, dass Sie nicht vollkommen auf verlorenem Posten stehen. Selbst wenn das Schreiben von offizieller Stelle kam, wird kein Richter über Badgers Zukunft entscheiden, ohne diejenigen anzuhören, bei denen er die letzten Jahre gelebt hat. Zumal zweifellos sein beträchtliches Erbe ins Gewicht fallen muss.«

Ein Hoffnungsschimmer glomm auf. »Ist das so?«

»Ohne jeden Zweifel. Wenn dieser Polizist ein echter Polizist war …«

»Großer Gott, was soll das denn heißen?« Der Hoffnungsschimmer war schlagartig dahin. »Denken Sie, es könnte bloß eine Maskerade gewesen sein?«

»Im Augenblick denke ich, wir sollten ruhig Blut behalten, Mr Greenland. Was ich sagen wollte war: Wenn der Mann einen Polizeibeamten in seiner Begleitung hatte, wird am Ende alles gut werden. Denn dann gehen die Dinge einen geregelten Gang. Die Angelegenheit wird ohne jeden Zweifel vor einem Gericht entschieden werden. In Ihrem Beisein. Und das zum Besten des Kindes.«

»Soll ich bis dahin etwa einfach dasitzen und abwarten? Meinen Sie das?«

»Nein. Ich werde sehen, was ich tun kann«, sagte Swanson. »Aber ich brauche den vollen Namen und die Adresse von diesem Stetson.«

Frederick zog sein silbernes Zigarettenetui hervor und entnahm ihm ein kleines Kärtchen, das er Swanson reichte.

»William Stetson, Esq. – Diamantgroßhandel«, las Swanson vor. »Nur das. Keine Adresse.«

»Glaubte ich zunächst auch. Sie müssen sie umdrehen und gegen das Licht halten.« Frederick tippte gegen das Kärtchen. »Die Adresse ist eingeprägt. Fast unsichtbar.« Er fuhr sich mit beiden Händen über das Gesicht. »Dieser Stetson ist ein ziemlich merkwürdiger Kerl, das können Sie mir glauben. Richtig unheimlich.«

»Eine Adresse in den Docklands.« Swanson steckte die Karte ein. Es war nicht sonderlich schwer, sich vorzustellen, was dieser Stetson im Schilde führte. Fiele Badger ihm per Gerichtsbeschluss in die Hände, würde er bis zu dessen Volljährigkeit nach Gutdünken über den Besitz des Jungen verfügen können. Und wer wusste schon, ob dem Mann überhaupt daran gelegen war, dass Badger jemals die Volljährigkeit erreichte.

»Was haben Sie jetzt vor, Mr Swanson?«

»Mr William Stetson, Esq. aufsuchen natürlich«, entgegnete er. »Ich kümmere mich gleich übermorgen darum.«

»Erst übermorgen? Und was kann ich in der Zwischenzeit tun?«

Swanson klopfte Frederick aufmunternd auf den Rücken. »Sie, mein lieber Mr Greenland, fahren jetzt erstmal wieder nach Hause zurück, beruhigen dort Ihre Verlobte und versuchen dann etwas zu schlafen. Ich melde mich bei Ihnen, sobald ich mehr weiß.«

»Darf ich wenigstens noch diesen Tee hier austrinken?« Frederick, der die Tasse in beiden Händen halten musste, so sehr zitterte er, bemerkte selbst, wie patzig er klang. »Du liebe Güte. Bitte entschuldigen Sie. Ich bin nicht mehr ich selbst.«

Nachdem Frederick schließlich mit sanfter Gewalt in die Droschke gesetzt worden war, die noch immer am Rinnstein auf ihn gewartet hatte, setzte sich Annie zu ihrem Gatten auf das Sofa.

Sie hakte sich bei ihm unter und strich sanft über die Härchen auf seinem Handrücken. »Der arme Mr Greenland«, sagte sie leise. »Konntest du ihm denn helfen?«

»Ja, Liebling.« Er räusperte sich. »Die Kinder sind nicht aufgewacht?«

Sie ließ seinen Arm los. »Schlafen wie Steine. Aber wechsle nicht das Thema. Ich habe das meiste davon mitgehört. Und es hat nichts mit deiner Arbeit zu tun. Ich bin eine erwachsene Frau. Also versuche nicht, alles Unangenehme von mir fernzuhalten.«

»Aber das tue ich ja gar nicht«, protestierte er schwach. »Der kleine Junge, von dem ich dir erzählt habe –«

»Badger.«

»Ganz recht – er ist in Schwierigkeiten.« Er nahm ihre Hand und hakte sie wieder in seine Armbeuge, legte ihre Hand in seine. »Greenland ist verständlicherweise aufgebracht, denn er kennt das Prozedere nicht. Tatsächlich gibt es keinen ernstlichen Grund zur Sorge. Ich werde mich der Sache annehmen. Doch das hat bis morgen Nachmittag Zeit, Liebling.«

»Don?«

»Ja, meine Liebste?«

»Es gibt keinen wirklich ernstlichen Grund zur Sorge? Das sagst du nicht nur, um mich zu beruhigen?«

»Du bist eine erwachsene Frau. Warum sollte ich dich beruhigen wollen? Ich versichere dir, Annie, den gibt es nicht.« Er schenkte ihr ein zärtliches Lächeln.

Sie erwiderte es und sagte: »Ich fürchte, dann wird dein Besuch bei diesem unheimlichen Mr Stetson noch etwas warten müssen.«

Ehrlich erstaunt sah er sie an. »Darf ich fragen, weshalb?«

»Weil die nette Miss Miller uns für übermorgen Nachmittag zum Tee eingeladen hat, als sie heute bei mir war.« Annie lehnte ihren Kopf an seine Schulter. Ihr Haar duftete nach Lavendel. »Und weißt du was, Don? Ich habe ihr zugesagt.«

Margravine Cemetery, Baron’s Court, London

Anderswo in London klang der Abend lebhafter aus.

»Ich weiß nicht, Walter.« Die dralle junge Frau mit den schwarzen, nachlässig hochgesteckten Haaren blieb an der Palliser Road am schmiedeeisernen Tor des Friedhofs stehen und hielt sich mit der linken Hand an einem der Gitterstäbe fest. »Es wird bald richtig dunkel sein.« Sie zog die Mundwinkel herunter.

Noch sangen die Vögel in den Zweigen. Doch die letzten Sonnenstrahlen fielen bereits rotgolden über die Giebel der Häuser auf die alten Ulmen und Platanen, die am Wegesrand zwischen den Grabfeldern standen, und tauchten den Ort in ein unheimliches Licht. Es hatte die Farbe von verwässertem Blut.

Der Mann, der sich Walter nannte, legte ihr von hinten beide Hände auf die ausladenden Hüften und küsste sie seitlich auf den Hals. Seinen kitzelnden Vollbart an ihrem Nacken flüsterte er: »Das ist ja der besondere Reiz, Esther, Süße. Es gibt gerade genug Licht, um uns aneinander zu ergötzen, und wenig genug, um dabei nicht aufzufallen.«

Sie quiekte wie ein Ferkel, als er ihr kräftig in den Hintern kniff.

Walter hakte das Tor auf und schob sie hindurch. Soweit er sehen konnte – und es war tatsächlich noch erstaunlich hell um diese Zeit – waren sie mutterseelenallein. Die Constables, die auf den umliegenden Straßen ihre Runde gingen, würden kaum Veranlassung haben, über den Friedhof zu patrouillieren. Selbst diese Leute waren in der Regel abergläubisch bis zum Gehtnichtmehr. Wenn es sich vermeiden ließ, mieden sie den Garten der Toten.

»Geh, Esther, Süße, geh weiter«, sagte Walter, während er die Sträucher und Grabsteine nach einem geeigneten Platz für ihr Liebesspiel absuchte. Der beste Ort dafür war eine Mauernische oder ein hoher, von Büschen umgebener Gedenkstein, dachte er.

Im schwindenden Licht sah er schließlich einen geeigneten.

»Huch!«, rief Esther verhalten, als Walter sie unvermittelt zwischen zwei Rosenbüschen hindurch auf ein hoch aufragendes Denkmal mit breitem Steinsockel zuschob. Sie giggelte und kicherte, als die Dornen wie hunderte winziger Hände am Stoff ihres Kleides zupften, als wollten sie sie zurückzuhalten. Sie musste am Saum ihres Kleides ziehen, um es frei zu bekommen.

Doch als sie schließlich hindurch war, drehte sie sich um, hob den Saum, bis ihre weißen Schenkel sichtbar wurden und grinste ihren Begleiter herausfordernd an. »Hui! Schau, liebster Walter, was ich hier für dich versteckt habe.« Ihr Grinsen wurde noch frecher, als sie sich anzüglich über die vollen Lippen leckte. »Wir warten schon auf dich.« Und ihre Finger fummelten an den Knöpfen seines Hosenschlitzes.

Doch das war nicht nach Walters Geschmack. Er hatte die kleine Dirne nicht hergebracht, um es sich rasch und auf die übliche Weise zu besorgen. Sie lag ihm wirklich am Herzen.

Er nahm sie bei der Hand und führte sie zu einer Bruchsteinmauer auf der anderen Seite des Denkmals, trat ganz nahe an sie heran, bis er den Gin in ihrem Atem riechen konnte, und nahm ihr zartes Gesicht in beide Hände. »Nicht so hastig, Süße«, sagte er leise.

Sie blinzelte enttäuscht. »Ja willst du ihn mir denn nicht gleich geben?«

»Im Leben nicht«, entgegnete er. Er schob eine Hand zwischen ihre Schenkel. Sie waren erstaunlich kühl. »Das Ganze ist ein Spiel, verstehst du, mein Kleines.«

»Ein Spiel?« Esther drückte ihren Schritt in seine Handfläche. »Komm, lass uns mit ihm spielen. Lassen wir ihn raus, Walter, mein Liebster.«

Wieder streckte sie ihre Hand nach seiner Hose aus und betastete sein Glied, das ihm tatsächlich unbequem hart gegen den groben Stoff der Hose drückte.

Trotz seiner wachsenden Erregung, schob er Esther an den Schultern von sich. »Du hast versprochen mir heute Abend eine Nonne zu sein«, sagte er, wobei er sie streng anblickte.

»Aber ich bin ja wie eine Nonne.« Sie deutete kopfschüttelnd auf ihre Brüste. »Du fasst mich gar nicht richtig an, Liebster. Genauso ist eine Nonne.«

Wie ein Theaterdirektor, der ein neues Stück inszenierte, trat Walter zurück und besah sich das Bühnenbild: hinter ihr die Sträucher, rechts die Rosen und das Denkmal, links die Mauer. Dazwischen ein schmaler Gang. »Sieh mal, Esther, Süße, du musst von dort kommen.« Er wies auf einen moosbewachsenen Steinhaufen, den ein fauler Totengräber vor Jahrzehnten an der Mauer aufgeschichtet haben mochte.

Sie ging bis zu dem Steinhaufen und blieb stehen. »Hier?«

Walter stand unterdessen am Denkmal und tat so, als fände er nichts interessanter, als die uralte Inschrift zu entziffern. »Ausgezeichnet«, sagte er und fuhr sich mit der Hand durch den Bart. »Ich stehe einfach da, als sei nichts im Busch, und lasse dich vorbeispazieren.«

»Was ist denn in dem Busch, Walter?« Fragend schaute sie ihn an.

»Da ist gar nichts in dem Busch.« Walter grummelte unzufrieden. »Das sagt man nur so daher.« Seine anfängliche Erregung schwand langsam dahin.

»Sei bitte nicht böse mit mir, mein Liebster. Ich bin nicht so gebildet wie du.«

Nach wie vor starrte er auf die eingemeißelten Buchstaben, als seien sie das Interessanteste von der Welt. »Ich bin nicht böse mit dir.«

Die Arme um ihren Oberkörper geschlungen stand sie wie zur Salzsäule erstarrt bei dem Steinhaufen, so, als warte sie auf ein Zeichen.

Er räusperte sich lautstark, doch als Esther sich noch immer nicht rührte, fuchtelte er ungeduldig mit den Händen, ohne den Blick von der Inschrift abzuwenden und stieß ein »Nun, los«, zwischen den Zähnen hervor.

Da ging sie endlich los, wiegte die Hüften hin und her und säuselte mit verstellter Stimme: »Ich bin eine Nonne. Schau her, mein Liebster, ich bin eine Nonne.«

»Großer Gott!« Er fuhr herum und ging ihr mit wedelnden Armen entgegen. »So geht das nicht.«

Sie zog die Stirn in Falten. »Was hab‘ ich denn falsch gemacht?«

»Alles, Schätzchen, alles.« Er wusste gar nicht, wo er hätte anfangen sollen. »Es langt nicht, wenn du sagst, du seist eine Nonne. Du musst eine Nonne sein.«

»Soll ich nicht lieber eine Dirne spielen?«

»Du bist eine Dirne, Süße. Die brauchst du nicht zu spielen.«

Die Falten auf ihrer Stirn wurden noch tiefer. »Das ist gemein.«

»Du weißt, ich meine es nicht so. Hör zu, fang noch mal drüben an und komm den Weg herunter. Stell dir vor, du lebst mit vielen Frauen unter einem Dach.«

»Das ist nicht schwierig«, sagte sie und nickte. »Ich lebe ja mit vielen Frauen unter einem Dach.«

»Das tust du, Esther, Liebes. Das tust du«, sagte er mit gespielter Geduld in der Stimme. Allmählich versickerten auch die letzten Reste des Sonnenlichts hinter den Dächern jenseits des Friedhofs. Es war kaum noch ein Vogel zu hören. Walter fragte sich, ob es womöglich doch keine so gute Idee gewesen war, ausgerechnet Esther mitzunehmen. Er kannte jede Menge Mädchen, die schneller begriffen. Das Dumme war nur, er wollte sie. Er räusperte sich abermals und sagte: »Schau, es ist im Grunde sehr einfach. Du bist –« Er hob beide Zeigefinger. »Eine keusche Nonne in einem Kloster. Tief ins Gebet versunken spazierst du durch den Klostergarten. Seit Jahren hast du keinen Mann mehr gesehen.«

»Was ist mit den Mönchen?«, fragte sie.

Er schloss die Augen und zwang sich ein Lächeln aufs Gesicht. »Es ist ein ausgesprochenes Frauenkloster, Liebes.«

Wieder nickte sie. »Das wusste ich nicht.«

»Nun weißt du es ja. Also – geh zurück zu dem Steinhaufen.« Er wies ins Dunkel. »Falte die Hände und komme dann langsam auf mich zu. Du betest natürlich.« Er senkte die Stimme zu einem kehligen Gurren. »Deine Gedanken sind keusch und rein und unschuldig, die eines Engels. Bis zu der Sekunde, da du mich dort am Denkmal erblickst – den ersten Mann seit vielen, vielen Jahren. Unbändige, sich plötzlich und animalisch Bahn brechende Lust überkommt dich.«

»Walter, mir wird kalt«, sagte sie.

»Dir wird schon warm werden, wenn es so weit ist, Süße«, erwiderte er laut. Und dann wieder mit gurrender Stimme: »Denk an die Lust. Sie befällt dich, wie eine Sucht. Du kannst nicht anders, als sie zu befriedigen.« Er schnipste mit den Fingern. »Aber du darfst es nicht gleich zeigen. Du kämpfst mit der brennenden Leidenschaft. Und nun geh wieder an deinen Platz.«

Sie gehorchte. Walter selbst nahm erneut Aufstellung am Denkmal. Die Inschrift war jetzt nur noch schemenhaft zu erkennen.

Von irgendwo aus der Dunkelheit rief Esther: »Ich gehe jetzt los!«

Nach einer Weile hörte er links neben sich ihre Schritte und ihr leises Gemurmel: »Lieber Gott, mach, … dass ich nicht mehr allein … mit mir spielen muss. Ich weiß, ich bin eine böse, verdorbene Nonne, doch ich würd‘ so gern mal wieder einen richtigen Mann …« In dem Moment rannte Esther gegen ihn und schrie auf.

Jetzt war ihm alles gleich. Er wollte sie endlich haben, Nonne oder nicht. Walter packte sie um die Taille, taumelte wie ein irrer Tänzer mit ihr durch die Finsternis, während er Esthers Röcke hochschob und sie an den Knöpfen seines Hosenschlitzes riss.

Dann strauchelte das Mädchen plötzlich, krallte sich im Fallen mit beiden Händen in seinen Bart und riss Walter mit sich. Die Welt schien Kopf zu stehen. Er spürte noch, wie sie sich im Kreis drehten, und dann durchzuckte ihn ein dumpfer Schmerz, als er hart mit dem Oberschenkel auf Stein schlug. Irgendetwas rollte klappernd an ihm vorbei.

Totenstille.

Panik erfasste Walter. Was, wenn die Kleine sich den Hals gebrochen hatte. »Esther, Süße?«, fragte er zögerlich. »Geht es dir gut, mein Liebling?«

Keine Antwort.

Hastig suchte er seine Taschen nach Zündhölzern ab und fand die kleine Metalldose schließlich. Flackernd züngelte das kleine Flämmchen auf. Und jetzt wusste er auch, worauf sie gestürzt waren. Es war der Steinhaufen bei der Mauer. Einige Steine waren heruntergerollt.

Er bewegte das Zündholz wie ein Signalfeuer hin und her. Esther lag zusammengekrümmt neben ihm, die Augen weit offen.

Im ersten Moment dachte er, sie sei tot. Dann sah er sie blinzeln.

»Gott sei Dank, du lebst«, sagte er.

»Was ist passiert?«, fragte sie lachend.

»Die Nonne ist jetzt ein gefallenes Mädchen.« Das Zündholz verlosch. Im Dunkeln half er Esther auf und riss ein zweites Hölzchen an.

»Oh, schau mal, Walter, da liegt eine Puppe.«

Er hielt die Flamme näher an das Loch, das sich durch ihren Sturz im Steinhaufen aufgetan hatte. Er sah ein hellblaues, fleckiges Hemdchen mit vergilbten Spitzenbesätzen. Dann einen kleinen weißen Schädel. Doch am schlimmsten waren die winzigen Finger der Hand, die aus dem Loch ragten. An einigen Stellen haftete, eingetrocknet und braun geworden, noch das Fleisch an den Knochen. »Das …«, sagte er. »Das ist keine Puppe.«

Esther schrie.

Erster Teil

Ein Gentleman erhält Post

» Vielleicht gibt es auf dem Jahrmarkt des Lebens

keine besseren Satiren als Briefe. «

William Makepeace Thackeray (1811–1863)

KAPITEL 1

6 Camden Villas, Kennington, London

Die zwanglose Einladung zum Tee hatte sich für Donald Swanson als die offizielle Verlobungsfeier der Nachbars­tochter entpuppt. Außer Swanson wusste offenbar halb London darüber Bescheid. Die Millers hatten sogar eine Anzeige in einigen Zeitungen veröffentlicht. Sie gehörten ganz augenscheinlich zur besseren Gesellschaft.

Mary Ann Miller, die Mutter der Braut, war eine schlanke, auf den ersten Blick etwas abweisend wirkende Frau Anfang Vierzig. Allerdings hatte sie ihn und Annie wie alte Freunde willkommen geheißen und sich alle Mühe gegeben, Swanson mit den meisten Gästen bekannt zu machen. Trotzdem wurde er das Gefühl nicht los, auf dieser Gesellschaft fehl am Platze zu sein. Während Annie offenbar auf Du und Du mit der gesamten Nachbarschaft stand, kannte Swanson die meisten nur vom Sehen. Allein mit Ernest Miller, dem Hausherrn, hatte er zuvor einmal einige Worte gewechselt, doch über ein ‚Guten Tag‘ oder ‚Das Wetter scheint sich diese Woche zu halten‘ waren ihre Gespräche nie hinausgekommen. Dennoch schienen alle hocherfreut, ihn zu Gast zu haben. Swanson stellte den Umschlag mit der Glückwunschkarte – in die Annie heimlich zwei Pfund gelegt hatte, was sie ihm erst gestand, als sie bereits geläutet hatten – zu den übrigen Geschenken des Verlobungspaares auf den extra dafür angerichteten Tisch und nahm sich vor, nicht mehr daran zu denken.

Nach dem Tee war man zu Champagner übergegangen.

»Miss Heather hat sich einen ausgesprochen adretten jungen Mann auserkoren, findest du nicht auch«, sagte Annie Swanson eben halblaut zu ihrem Mann. Sie hielten sich im Wohnzimmer der Millers auf, das Mary Ann Miller hartnäckig ihren Salon nannte. Außer Swanson und seiner Frau waren noch zehn oder zwölf andere Personen anwesend. »Mr Henry Armitage ist sehr adrett«, fuhr Annie fort. »Steif und ein bisschen langweilig.«

Swanson stellte das halbvolle Glas Champagner, das er seit einer Viertelstunde in den Händen hielt, auf einem klobigen, kleinen Tischchen bei der Tür zum Hausflur ab. »Ich wusste gar nicht, dass du zum Tratschen neigst, meine Liebste.«

»Aber gar nicht, Don.« Mit einer Spur Entrüstung im Blick, sah sie ihn an.

»Adrett, aber langweilig«, wiederholte Swanson.

»Das ist kein Tratsch. Das ist eine rein sachliche Feststellung. Schau ihn dir an. Schlank, großgewachsen, ein beeindruckender Schnurbart. Er ist adrett. Das willst du doch wohl nicht bestreiten?«

»Keineswegs.«

»Und er arbeitet in einer kleinen Kanzlei als Schreiber. Kommt abends heim, zieht seine Pantoffeln an und hat den lieben langen Tag nichts anderes als Paragraphen und Aktennummern gesehen. Wie aufregend kann das sein?« Sie blickte ihn herausfordernd an. »Mit einem Wort: Er ist langweilig.«

Das sind drei Wörter, Liebes, dachte Swanson bei sich. Er sagte: »Langweiler haben es nicht unbedingt am schlechtesten getroffen.«

»Nun, natürlich nicht, Don – aber ihre Frauen haben es auf lange Sicht. Daran besteht kein Zweifel.«

Donald Swanson war der Einladung der Millers zur offiziellen Verlobungsfeier ihrer Tochter bloß gefolgt, weil Annie gemeint hatte, sie müssten gehen. Immerhin seien sie vis-à-vis ihre direkten Nachbarn, und gesellschaftlich gehöre es sich so. Schließlich stelle er als Chief Inspector etwas dar, beim Yard. Und überhaupt sei es für die Millers eine Ehre, einen solch berühmten Mann unter ihren Gästen willkommen heißen zu können.

Es hätte keinen Sinn gehabt, Annie zu erklären, dass er alles andere war als berühmt und dass es gewisse Kreise im Yard gab, die sogar bezweifelten, dass er überhaupt etwas darstellte – doch er hatte sich gefügt. Denn es gab wenig, was Annie im Laufe ihrer langen, glücklichen Ehe je von ihm gefordert hatte. Eigentlich fielen ihm nur zwei Dinge ein: nämlich, dass er die stinkenden Zigarren, die er so liebte, nicht in ihrer oder der Kinder Gegenwart rauchte, und, dass er immer ehrlich zu ihr war. Seine unorthodoxen Arbeitszeiten, sein Schweigen über die Arbeit, die Angst einer Polizistengattin, jeden Tag die Nachricht erhalten zu können, ihr Mann sei in Ausübung seiner Pflicht einen ehrenvollen Tod gestorben … All das ertrug Annie seit Jahr und Tag mit einer stoischen Gelassenheit, für die er selbst nur Hochachtung übrig hatte. Sie im Gegenzug zu dieser Feierlichkeit zu begleiten, ein wenig Konversation zu machen und über die liebste Freizeitbeschäftigung aller Polizisten zu plaudern – die Gartenarbeit – war dagegen ein weitaus kleineres Übel.

Zu Swansons Überraschung war die Verlobungsfeier wesentlich anregender, als er es sich vorgestellt hatte. Mochte Henry Armitage, der angehende Bräutigam, selbst auch noch so langweilig sein – der Mann hatte abseits der floskelreichen Gespräche über die anstehende Hochzeit kaum einen Satz gesprochen – von einigen seiner Gäste konnte man das gewiss nicht sagen.

Swanson hatte Gelegenheit gehabt, sich mit Hermann Ringelblum zu unterhalten, einem deutschen Schriftgelehrten, der ein ausgezeichnetes Englisch sprach und in Berlin indische Geschichte lehrte. Da Ringelblum ein freundschaftliches Verhältnis zu Hans Gross unterhielt, dem bekannten österreichischen Kriminologen, nahm es kaum Wunder, dass man auch auf Swansons Arbeit zu sprechen gekommen war.

»Wie es der Zufall will, las ich heute Morgen in der Daily Mail einen interessanten Bericht über den Fund einer skelettierten Kinderleiche vorgestern irgendwo in der Nähe von Baron’s Court«, sagte Ringelblum, paffte an seiner Zigarre und fuhr sich mit der Hand über sein dünnes Haar, während er mit hängenden Lidern den Rauchschwaden dabei zusah, wie sie zur Zimmerdecke aufstiegen. »Haben Sie mit dem Fall zu tun?«

»Soviel ich weiß, liegt die Sache noch bei der örtlichen Polizei«, entgegnete Swanson, der das Wenige, was er überhaupt darüber wusste, heute Morgen im Vorbeigehen auf dem Flur von Walter Dew gehört hatte. »Zwei Spaziergänger stießen wohl darauf. Wenn Sie es in der Zeitung gelesen haben, Professor, sind Sie sicher besser informiert, als ich.«

»In der Zeitung schrieben sie, es habe sich um die Leiche eines Säuglings gehandelt. Er war wohl unter einem Haufen Steine und Erde versteckt, die jemand an einer Mauer aufgeschichtet hatte – angeblich vor vielen Jahren schon, hieß es in der Mail.«

»Wie gesagt – Sie sind besser informiert als ich.«

»Ich frage mich«, murmelte Ringelblum in gelangweiltem Ton zwischen zwei Zügen an seiner Zigarre, »was das für Leute sind, die des nachts auf einem verlassenen Friedhof spazieren gehen. Was denken Sie?«

»Menschen, die ihre Ruhe haben wollen?«

»Hm.« Sekundenlanges Schweigen. »Oder zwielichtige Subjekte, die eine Leiche loswerden wollen. Welcher Ort wäre dafür besser geeignet als ein Friedhof?«

»Nur, dass in dem Fall eine Leiche gefunden wurde«, sagte Swanson.

Ein Rauchkringel stieg langsam zur Decke und löste sich auf. »Ablenkung«.

»Ablenkung?« Swanson fragte sich, ob Ringelblum ernsthaft an das glaubte, was er sagte. »Sie meinen, jemand könnte die Leiche dorthin gebracht haben, um dann so zu tun, als habe er sie entdeckt?«

Der Professor für indische Geschichte strich in aller Seelenruhe die Asche von seiner Zigarre an der Untertasse ab, die auf dem Beistelltisch neben seinem Sessel stand, lehnte sich wieder zurück und schloss die Augen. Dann faltete er, die Zigarre noch zwischen den Fingern, die Hände auf der Brust und fragte: »Ist das so abwegig?«

»Es wäre einfacher gewesen, ein Loch in einem frischen Grab auszuheben und den Säugling hineinzulegen.«

»Schon möglich.«

»Sagten Sie nicht außerdem, die Steine seien schon vor Jahren aufgeschichtet worden.«

Wieder folgte ein langes Schweigen. Als Swanson schon nicht mehr mit einer Antwort rechnete, legte Ringelblum die Zigarre auf die Untertasse und meinte mit altersmüder Stimme: »Der Steinhaufen war aufgebrochen. Vor Ewigkeiten aufgeschichtet, aber aufgebrochen. Vor Ewigkeiten …«

»Aufgebrochen? Was genau meinen Sie damit?«

»Das … ja das ist das Rätsel.«

Erst Minuten später hatte Swanson gemerkt, dass der Professor längst eingeschlafen war.

Und er war einem jungen Zeichner und Maler namens Howard Carter vorgestellt worden, dessen Hauptbeschäftigung darin bestand, in Ägypten Ausgrabungen zu begleiten und Reliefs und Grabinschriften zu kopieren.

»Haben Sie selbst auch schon was ausgegraben, junger Mann?«, fragte Swanson.