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London 1895 – Im kältesten Januar des Jahrhunderts wird auf der obersten Plattform des Watkins Tower in Wembley die nackte Leiche eines Mannes gefunden. Er wurde mit Handschellen an einen Stahlträger gekettet und ist erfroren. Als der Bruder des Opfers in einer Knabenschule in Blackheath einer spontanen Selbstverbrennung zum Opfer fällt und ein weiterer Verwandter bei einem Flugversuch ums Leben kommt, wird Inspector Swanson klar, dass jemand im Begriff ist, eine ganze Familie auszulöschen. Da der Killer mit mathematischer Präzision vorzugehen scheint, müssen Swanson und sein Team mit weiteren Morden rechnen …
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Seitenzahl: 281
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Inspector Swanson und die Mathematik des Mordens
Ein Kriminalroman aus dem Jahre 1895
Inhalt
Cover
Titel
Inhaltsverzeichnis
Vorbemerkung
Erster Teil
Zweiter Teil
Dritter Teil
Vierter Teil
Fünfter Teil
Sechster Teil
Epilog
Personen
Danksagung
Impressum
Für meine zeitweiligen Kolleginnen Veronika R. und Gabi A., die besser rechnen als morden können. Und für meinen Freund Sascha Gutzeit, bei dem es genau umgekehrt ist.
»Vice may triumph for a time, crime may flaunt its victories in the face of honest toilers, but in the end the law will follow the wrong-doer to a bitter fate, and dishonor and punishment will be the portion of those who sin.« Allan Pinkerton
Und schliefst du ein, ich würde bei dir wachen. Und schlief ich ein, ich würde von dir träumen. R. C. M.
Vorbemerkung
Kapitel 1
New York, 13. Dezember 1894
Das Echo seiner eigenen Schritte hallte auf dem feuchten Kopfsteinpflaster überlaut wider und wurde zwischen den hoch aufragenden Häuserfronten hin und her geworfen, als der Mann im dunkelgrauen Mantel von der Hester Street in die finstere, verdreckte Gasse unweit der South Street Piers trat.
Hier roch es nach Fisch, Abfall und Urin. Nach Fäulnis und Verwesung stinkender Unrat lag in jeder Gosse. Zudem war es stockfinster. Man sah kaum, wohin man seinen Fuß setzte. Nur eine einzelne Gaslaterne verbreitete ihr schwaches, gelbliches Licht.
Das hier war keine Gegend, in der man sich nach Einbruch der Dunkelheit noch gerne aufhielt. Das Hurenviertel grenzte unmittelbar daran, und die Absteigen, in denen sich die irischen Einwanderer bis zur Besinnungslosigkeit betranken, ehe sie mit den Fäusten aufeinander losgingen oder unbescholtene Bürger bepöbelten, lagen gleich um die Ecke.
Zu allem Überfluss regnete es auch noch, ab und zu vermischt mit einigen Flocken Schnees.
Heute Vormittag hatte er ein Telegramm von William Pinkerton erhalten, das ihn anwies, sich um neun Uhr hier mit ihm zu treffen. Und obgleich er Pinkerton nie persönlich begegnet und ihm bei dem Gedanken keineswegs wohl gewesen war, hatte er sich dennoch gefügt. Einem Mann von Pinkertons Ruhm und Reputation widersetzte man sich nicht; schon gar nicht, wenn man handfeste Ergebnisse erzielen wollte.
Irgendwo in der Ferne bellte ein Hund. Und von Weitem drang der Klang einer irischen Fiedel an seine Ohren. Wenn der Wind aus einer bestimmten Richtung wehte, war die Musik lauter zu hören.
Mit steif gefrorenen Fingern knöpfte er seinen grauen Wollmantel auf und zog im schwachen Schein der flackernden Laterne seine Taschenuhr aus der Westentasche.
Beinahe halb zehn.
Wo zum Teufel blieb der Kerl bloß?
Ihn fror, und er begann, in der Dunkelheit der Gasse auf und ab zu gehen, um seine in der feuchten Kälte zunehmend steifer werdenden Glieder in Bewegung zu halten. Der Boden war voller Pfützen, auf denen sich am Rand allmählich eine dünne Eisschicht zu bilden begann. Die Nacht würde eisig und ungemütlich werden.
Zehn Minuten später war er nach einem weiteren Blick auf die Uhr drauf und dran, zur Hauptstraße zurückzugehen und ein Cab nach Hause zu nehmen, als er hinter sich Schritte vernahm und sich umwandte.
Eine Gestalt kam vom Ostende der Gasse langsam auf ihn zu. Sie hielt einen zusammengerollten Regenschirm in der rechten Hand.
Er trat ein paar Schritte auf die Gestalt zu, dann blieb er stehen. »Sind Sie das, William?«, fragte er vorsichtig.
»Selbstverständlich bin ich es«, entgegnete die Gestalt belustigt. »Wen hatten Sie erwartet, Jim, einen wahnsinnigen Killer?« Der Mann lachte leise. »Oder sehe ich vielleicht aus wie eine dieser hässlichen Hafendirnen von der Lower East Street?«
»Es wurde aber auch Zeit. Ich fürchtete schon, Sie würden überhaupt nicht mehr kommen.« Er atmete erleichtert aus. »Was in drei Teufels Namen haben Sie denn so Wichtiges und vor allem dermaßen Geheimnisvolles für mich, dass es Ihnen unmöglich war, im Büro darüber zu sprechen?«
»Das werden Sie gleich begreifen, glauben Sie mir,
Jim.«
»Haben sich neue Hinweise ergeben? Haben Sie Informationen über Adelaide?«
»Ja, die habe ich tatsächlich«, sagte er. »Ich habe sogar all die Informationen, die Sie sich erhofften, sonst wäre ich wohl kaum persönlich zu Ihnen gekommen.«
»William, bitte spannen Sie mich nicht auf die Folter. Sie wissen, wie wichtig mir die Sache ist. Ich hatte erst neulich eine schreckliche Auseinandersetzung mit meinen Eltern deswegen. Sie wollen nicht mehr über die Angelegenheit sprechen. Also reden Sie, Mann.«
»Das tue ich, Jim. Das tue ich ja.« Er blieb vor ihm stehen und legte ihm behutsam die rechte Hand auf die Schulter. »Machen Sie sich auf eine Überraschung gefasst. Würden Sie mir den Gefallen tun und kurz den Schirm halten?«
»Aber sicher.« Er nahm ihn und stützte sich mit beiden Händen darauf. »Also gut, William, schießen Sie los.«
»Oh, ich beabsichtige gewiss nicht zu schießen, mein Lieber«, entgegnete William freundlich. »Viel zu laut um diese Zeit. Man würde ja in Teufels Küche kommen.« Er griff in die Innentasche seines weiten Mantels und zog etwas heraus, das im fahlen Licht der Lampe kurz aufblitzte wie ein Silberdollar.
Die Klinge des Messers glitt so plötzlich und so mühelos durch die Haut seines Halses, dass ihm kaum genug Zeit blieb, das Gefühl von Schmerz zu registrieren, das die durchtrennten Nervenbahnen seiner drei Hautschichten ans Gehirn schickten, ehe er in die Knie ging und ihm allmählich die Sinne schwanden.
Epidermis … Dermis … Subcutis … Carotis …
Eben noch hatte er in der feuchten Dunkelheit der Gasse gestanden, die vom oberen Teil der Hester Street in östlicher Richtung zum Pier verlief, und hatte auf erhellende Nachrichten aus Übersee gewartet; nun wurde er unvermittelt selbst ein Teil dieser Dunkelheit.
Das Letzte, was er spürte, ehe das Leben in mehreren, kräftig pulsierenden feuchtwarmen Schwallen seinen Körper verließ, war der Druck des glatten Pflastersteins, der hart und kalt gegen sein offenes rechtes Auge drückte. Das Letzte, was er sah, war der glänzende Wasserfilm auf diesem Stein, während das Letzte, was er hörte, das Bellen eines Hundes ganz in der Nähe war. Und das Letzte, was er dachte, war, dass all das nicht wirklich passiert sein konnte. Es sei denn, er hatte sich mächtig verrechnet.
Was der Mann, der sich William Pinkerton genannt hatte, danach mit seinem Körper anstellte, bevor er ihn
ein Stück weit die Gasse hinunterschleifte, um ihn anschließend wie einen ausgeweideten Tierkadaver achtlos in ein Kellerloch zu werfen, bemerkte er Gott sei Dank nicht mehr.
Am Hafen fand er ohne Schwierigkeiten das Schiff, das er suchte.
Es war die Campania, ein mächtiges, äußerst luxuriös ausgestattetes Schiff, das unter englischer Flagge fuhr und über zwei Fünfzylinderdampfmaschinen verfügte, den größten und kräftigsten ihrer Bauart, die bei voller Fahrt nahezu dreißigtausend PS Leistung brachten. Das Schiff war an die einhundertneunzig Meter lang, gut zwanzig Meter breit und konnte fast zweitausend Passagiere aufnehmen. Die Campania war eines der modernsten der Flotte und machte ganze zweiundzwanzig Knoten Fahrt, bei guter Sicht und ruhiger See noch ein, zwei Knoten mehr, und hatte, wie ihm der Angestellte im Büro der Cunard-Line voller Stolz mitgeteilt hatte, bereits zwei Mal das Blaue Band für die schnellste Atlantiküberquerung gewonnen. Seine Überfahrt nach Portsmouth würde also nicht mal ganz eine Woche dauern.
Als er an Bord ging, sah er Gepäckträger mit Koffern und Kisten hantieren; all das Hab und Gut der Reisenden, das es im Bauch des Schiffes zu verladen galt.
Ein Steward stand am oberen Ende der Gangway, die für die erste Klasse reserviert war, und begrüßte die Passagiere mit einem freundlichen Lächeln.
»Dr. Orphant«, sagte er, stellte seinen Koffer ab und hielt dem Mann sein Ticket für die Schiffspassage hin. »Dr. James Orphant.«
»Willkommen an Bord, Dr. Orphant, Sir. Die Cunard Line wünscht Ihnen eine vergnügliche Überfahrt.«
»Prächtig, danke.« Er lächelte zufrieden und ließ sich dann von einem weiteren Steward seine Kabine zeigen. Sie lag Backbord im Heck des Schiffes, war geschmackvoll eingerichtet, hatte holzgetäfelte Wände, und die Bullaugen gewährten freien Blick auf den Hafen, der jetzt bei Nacht im beruhigenden Licht der Tavernen und Fischerhäuser dalag. Das Licht der Boote, die an den Kais ankerten, glitzerte auf dem schwarzen Wasser wie tausend Sterne.
Dr. Orphant blieb in seiner Kabine, bis das dumpfe Dröhnen und Stampfen der Dampfmaschinen die Abfahrt ankündigte. Dann warf er sich seinen Mantel über und begab sich aufs Achterdeck, wo er im Pulk mit einigen Dutzend anderen Passagieren die Ausfahrt aus dem Hafen betrachtete. Mit jeder Meile, die das Schiff zurücklegte, begann er sich wohler und weniger beklommen zu fühlen. Und als die Campania schließlich auf das offene Meer hinausfuhr, löste sich seine Anspannung vollends auf und wich einem Gefühl von Neugier und Vorfreude.
Colleen schrie.
Kapitel 2
New Scotland Yard,
London, 29. Dezember 1894
»Was haben Sie für mich, Penwood«, fragte Chief Inspector Donald Swanson, als er an diesem Morgen um halb sieben seinen Dienst im Yard antrat. Er erwartete nicht viel von seinen Untergebenen. Eine ordentlich bis zum Kragen zugeknöpfte Uniform, dass sie sich bei der Begrüßung das Salutieren und das Hackenzusammenschlagen abgewöhnten, das ihnen von Commissioner Charles Warren vor all den Jahren eingebläut worden war, und dass sie gute Laune hatten.
»Guten Morgen, Sir!« Sergeant Penwood schlug die Hacken zusammen und hakte sich die obersten drei Knöpfe seiner Uniform zu. »Wenn Sie mögen, hab ich einen schönen heißen Tee für Sie, Sir.« Zumindest was die gute Laune betraf, war Penwoods Verhalten vorbildlich. »Habe eben welchen aufgegossen.« Und er machte Anstalten, hinaus in die Teeküche zu eilen.
»Penwood?«
Der Sergeant war bereits auf dem Flur, als er umkehrte und den Kopf wieder ins Büro streckte. »Sir?«
»Tee wäre großartig«, sagte Swanson in mildem Tonfall. »Und dann erzählen Sie mir, was gestern Abend los war.« Er lächelte.
Derweil Penwood in der Teeküche lautstark mit dem Geschirr herumhantierte und die Tassen klirrten und klapperten, ging Swanson die liegen gebliebenen Papiere auf seinem Schreibtisch durch.
Das Schreiben eines verrückten Lehrers aus Blackheath, der eine absurde Theorie entwickelt hatte, nach der es ihm möglich sei, das Versteck eines Kriminellen allein anhand der Orte zu bestimmen, an denen er seine Verbrechen verübt hatte; einen Bericht der Forensischen Abteilung, in dem es hieß, es sei Sergeant Charles Stedman gelungen, bei dem Versuch, den Marsh-Test auf Arsen zu verbessern, eine neue Art von Sprengstoff zu entdecken; den Antrag in dreifacher Ausfertigung von Sergeant Collins aus derselben Abteilung auf zwei frische Schweinehälf‑ ten.
Und die üblichen Verhaftungen: Ein Taschendieb, der den Fehler gemacht hatte, einen Copper zu bestehlen, der ein Bierlokal überwachte. Ein Straßenhändler, der versucht hatte, echte Goldringe aus Kupfer zu verkaufen. Ein Ladendieb. Zwei Dirnen, die einen Gentleman mittleren Alters in einem Hauseingang am Leicester Square zur Herausgabe seiner Geldbörse überredet hatten, derweil dessen Gattin in einem Geschäft Besorgungen machte. Und die Gattin des Gentlemans mittleren Alters, den die zwei Dirnen in einem Hauseingang am Leicester Square zur Herausgabe seiner Geldbörse überredet hatten. Und …
Swanson musste den Absatz zwei Mal lesen.
Augenscheinlich war die Frau des Gentlemans mittleren Alters früher als erwartet von ihren Besorgungen zurückgekehrt und hatte ihren unkeuschen Ehemann dabei erwischt, wie er mit beiden Händen unter den ausladenden Röcken nach etwas Abwechslung suchte, und hatte daraufhin mit ihrem Schirm auf den armen Kerl eingedroschen. Erst nachdem einige Passanten beherzt eingeschritten waren, hatte die entrüstete Frau widerwillig von ihm abgelassen. Der Gentleman mittleren Alters war daraufhin mit schweren Kopfverletzungen ins Krankenhaus und die drei Damen auf die nächste Wache gebracht worden.
Swanson schmunzelte. Und er fragte sich nicht zum ersten Mal, weshalb die Menschen dermaßen besitzergreifend waren? Wie viele waren schon aus Liebe getötet, wie viele Männer und Frauen aus Liebe zu Mördern geworden und hatten dafür mit dem Strick des Henkers bezahlt? Musste denn ein einmal gegebenes Ehegelöbnis tatsächlich bis zum Jüngsten Tag eingehalten werden?
Bei ihm und Annie war es so, dessen war er sich sicher, denn ihre Liebe war in all den Jahren nicht schwächer, sondern eher noch stärker geworden. Und die Kinder hatten sie noch mehr zusammengeschweißt. Würde Annie sich jedoch eines Tages von ihm abwenden, weil er kaum zu Hause war, und sich in einen anderen Mann verlieben, er würde es verstehen. Er bezweifelte, dass es ihm leichtfiele, doch er würde sie nicht gegen ihren Willen an sich binden.
Swanson stand auf, trat ans Fenster und blickte nach draußen in die Dunkelheit des anbrechenden Tages, wo die große Stadt bereits zu vollem Leben erwacht war.
Am Embankment schoben sich die Fuhrwerke langsam und beschwerlich durch den tiefen, über Nacht gefallenen Schnee, während die Straßenkehrer und die Kollegen in Uniform versuchten, der Lage Herr zu werden. Vor der Westminster Bridge begann sich der Verkehr bereits zu stauen.
Penwood kam mit dem Tee herein, die dicken Brillengläser beschlagen. Er stellte den dampfenden Becher auf die Fensterbank, nahm blinzelnd seine Brille ab und putzte sie mit dem Zipfel seiner Uniformjacke. »Hier, Sir. Lassen Sie ihn sich schmecken.«
»Danke«, sagte Swanson. »Dürfte der kälteste Winter sein, den wir jemals hatten. Oder was denken Sie, Clarence?«
»Weiß nicht, Sir.« Penwood trat verlegen von einem Bein auf das andere. Die ungewohnte Vertraulichkeit sei‑ nes Vorgesetzten schien den Sergeant etwas aus der Fassung gebracht zu haben. »Wird wohl so sein, wenn Sie es sagen.«
Swanson stieß sich mit beiden Händen vom Fenstersims ab und wandte sich zu Penwood um. »Kommen Sie, gehen wir die Berichte der letzten zwölf Stunden durch«, sagte er. »Irgendetwas Besonderes?«
Der Sergeant wurde schlagartig blass. »Auswendig, Sir?«
»Weil gerade Weihnachten war, dürfen Sie Ihren Block benutzen.«
»Danke, Sir«, entgegnete Penwood erleichtert. Dann schien ihm einzufallen, dass ihm das gar nichts nützen würde. »Die Berichte sind in meiner Ablage. Ich hole sie rasch.« Und er eilte zur Tür hinaus.
Swanson nahm den Becher mit beiden Händen von der Fensterbank und nippte an seinem Tee, derweil er wartete. Sein Büro war eiskalt, trotz des Feuers, das im Kamin prasselte, und er war froh, seine kalten Finger an dem heißen Becher wärmen zu können.
Das Weihnachtsfest lag lediglich ein paar Tage zurück, doch ihm kam es bereits wie eine Ewigkeit vor. Er hatte die wenigen freien Tage, die er im Kreise seiner Familie in Kennington verbracht hatte, über die Maßen genossen. Annie hatte für sie alle ein Festessen zubereitet, und die Kinder hatten anschließend mit glänzenden Augen und fiebriger Aufregung ihre Geschenke ausgepackt, die er für sie unter den Weihnachtsbaum gelegt hatte. Ankleidepuppen aus Karton für die Mädchen. Toffee für die Jungs und etwas Geld. Annie hatte ihm eine Weste gestrickt. Er trug sie auch jetzt. Wie all ihre Handarbeiten war sie ein Meisterwerk. Er selbst hatte ihr ein Buch und ein Bügeleisen geschenkt. Das violette Kleid, das sie in Warrens Geschäft in der Kennington High Street immer so bewundert hatte, wenn sie sonntags gemeinsam daran vorbeispaziert waren, war jenseits seiner finanziellen Möglichkeiten gewesen. Er schämte sich ein wenig dafür.
Penwood kehrte mit den Akten unter dem Arm ins Büro zurück. »Hab alles hier, Sir. Womit wollen Sie anfangen?«
»Am besten mit dem Anfang«, sagte Swanson und versuchte, das schlechte Gefühl abzuschütteln, das ihn bei dem Gedanken an Annies unerfüllte Wünsche beschlichen hatte. »Scheint mir das Vernünftigste zu sein.«
»Die entlaufenen Katzen auch, Sir?«
»Ich glaube, die können wir zunächst vernachlässigen. Die kann Walter Dew übernehmen. Er liebt Katzen und alles Entlaufene. Also, was haben wir?«
Penwood leckte seinen Daumen an und blätterte den Aktenordner auf. »Da wäre als Erstes der Einbruch ins Charing Cross Hospital. Der oder die Täter kamen durch ein Fenster auf der Rückseite der Krankenhausapothe‑ ke.«
»Ist bereits bekannt, was gestohlen wurde?«
»Daran arbeiten wir noch«, entgegnete Penwood, nahm seine Brille ab und setzte sie gleich wieder auf. Ein sicheres Zeichen dafür, dass er keinerlei Ahnung hatte, dachte Swanson. Genauso hatte er selbst reagiert, als er ein Sergeant gewesen war, nur dass er dafür seinen Bowler benutzt hatte.
»Sie haben jemanden hingeschickt, der das Inventar überprüft, nehme ich an.«
»Selbstverständlich. Detective Constable Japp arbeitet daran. Er überwacht die Aufräumarbeiten.«
»Die Täter haben die Apotheke demnach verwüstet?«
»Das kann man wohl sagen. Da ist kein Stein auf dem anderen geblieben.«
»Warum haben sie das getan? Was meinen Sie, Clarence?«
»Vielleicht haben sie nicht gleich das gefunden, wonach sie suchten.«
»Oder?«
»Oder, Sir?«
»Oder sie wollten es uns absichtlich schwer machen«, sagte Swanson und rieb sich nachdenklich das Kinn. »Im Chaos ist das, was fehlt, viel schwerer zu finden, denken Sie nicht auch?«
»Könnte stimmen, Sir.«
»Sehen Sie zu, dass man an der Sache dranbleibt. Ich möchte wissen, was gefehlt hat, wenn die Aufräumarbeiten beendet sind.«
»Ich sorge dafür, Sir.«
»Wer ist eigentlich dieser Japp?«, fragte Swanson. »Ich habe noch nie von ihm gehört.«
»Ist uns letzten Monat vom Revier Bow Street zugeteilt worden. Hat die Polizeischule in Hendon mit Auszeichnung verlassen. Ein richtiger Überflieger. Weiß mehr über Spurensicherung als Chief Superintendent Wallace.«
»Was kein Wunder ist«, bemerkte Swanson. »Alles, was Chief Superintendent Wallace über die Spurensicherung weiß, ist, dass es sie gibt.«
»Wie dem auch sei, Sir – Constable Japp ist an der Sache dran.«
»Wenn er weiß, was die Täter mitgenommen haben, erwarte ich seinen Bericht – umgehend.«
»Selbstredend, Sir.« Penwood nahm abermals seine Brille ab und setzte sie gleich darauf wieder auf. Wahrlich kein gutes Zeichen.
»Lassen wir die Krankenhausgeschichte vorerst ruhen«, meinte Swanson. »Was haben wir noch?«
Penwood schlug einen zweiten Ordner auf. »Die Sache mit den drei Fahrradfahrern, Sir.«
»Klingt wie eine Geschichte von Conan Doyle. Was hat es damit auf sich?«
»Eine junge Dame sprach sie unabhängig voneinander an und bot ihnen eine Wette an.«
»Ich bin sehr gespannt.«
»Sie bot ihnen ein Geschäft an«, erklärte Penwood. »Sie wettete am Piccadilly Circus mit ihnen um ein Pfund, dass sie es nicht schaffen würden, binnen einer Stunde schneller am Osttor des Hyde Park zu sein als sie zu Fuß. Sollten sie es doch schaffen, würde sie ihnen das Doppelte auszahlen. Natürlich nahmen alle drei die Wette an. Hätte ich auch, Sir. Ist ja ein Kinderspiel.« Er senkte den Blick. »Eigentlich.«
»Lassen Sie mich raten, Clarence«, sagte Swanson. »Die Dame nahm das Geld und verschwand auf Nimmerwiedersehen, habe ich recht?«
Der Sergeant errötete leicht. »Im Nachhinein ist man immer schlauer, nicht wahr, Sir?«
Swanson kam ein schlimmer Verdacht. »Waren Sie einer der drei Radfahrer?«
»Nein, Sir, natürlich nicht.« Er stieß ein verlegenes Lachen aus. »Ich hatte ja Dienst und musste zum Yard. Aber Sergeant Wilson, der mit mir unterwegs war …« Penwoods Stimme wurde zum säuselnden Windhauch. »Er hatte bereits Feierabend.«
»Das erklärt es natürlich.«
Penwood nickte übertrieben. »Habe ich auch zu ihm gesagt.« Doch Swanson sah einen Hauch von Schadenfreude auf Sergeant Clarence Penwoods Gesicht. Vermutlich war das Gefühl von Genugtuung die Entschädigung dafür, dass Wilson ständig Penwoods Brille versteckte. Und ohne die, das wusste jeder im Yard, war der Mann blind wie ein Maulwurf ohne Arme.
»Ist das alles?« Swanson hoffte es beinahe.
»Nein, Sir, nicht ganz. Es gab da diese andere unangenehme Geschichte.«
»Welche?«
»Ein junges verwöhntes Gör ist offenbar mit einem reichen Gentleman durchgebrannt. Das glaubt zumindest der Vater, ein Mann namens Pinner. Er war vor zwei Stunden hier, nachdem man ihm auf der Rosslyn-Hill-Wache in Hampstead geraten hatte, noch einige Tage abzuwarten, ehe er sich ernstlich Sorgen machen solle. Die Mädchen heutzutage sind ja entsetzlich unberechenbar geworden. Stimmts nicht, Sir?«
»Haben Sie eine Vermisstenanzeige aufgenommen?« Swanson ließ sich in den Stuhl hinter seinem Schreibtisch sinken. Er fühlte sich bereits jetzt, als habe er einen ganzen Tag harter Arbeit hinter sich gebracht. Er wurde eben nicht jünger.
»Blieb mir nichts anderes übrig, Sir«, entgegnete Penwood und zog die Stirne kraus. »Hat mir ordentlich die Hölle heiß gemacht deswegen.«
»Wie lange ist das Mädchen denn schon verschwunden?«
»Seit gestern Abend, Sir.«
»Irgendwelche verdächtigen Umstände?«
»Ja, nun, sie hatte eine Verabredung mit einem Gentleman. Soviel ich sagen kann, holte er die junge Frau zu Hause ab, um mit ihr ins Theater zu gehen.« Er machte eine dramatische Pause. »Nur brachte er sie anschließend nicht wieder heim.«
»Reiche Familie?«
»Stinkreich, wenn Sie mich fragen, Sir.«
»Ist der Name des Verehrers der Familie bekannt?«
Penwood blätterte hektisch in seinen Unterlagen. Dann schien er gefunden zu haben, wonach er suchte. »Ja, Sir. So ist es.«
Swanson wartete. »Und?«
»Sir?«
»Der Name des Mannes.«
»Ach so, Sir. Es tut mir leid, er steht nicht da.«
»Hat der Vater des Mädchens ihn nicht erwähnt?«
»Das weiß ich nicht. Ich habe nur notiert, dass der Gentleman der Familie bekannt ist. Entweder habe ich mir den Namen nicht aufgeschrieben, was ich mir kaum vorstellen kann, oder Mr Pinner hielt es nicht für angebracht, den Mann zu kompromittieren.«
Höchstwahrscheinlich Letzteres, dachte Swanson bei sich. »Wie dem auch sei. Wenn die Familie den Gentleman kennt, wird sich das Ganze innerhalb der nächsten Tage aufklären.« Über Swansons Gesicht huschte der Anflug eines Lächelns. »Sie taucht vor Ablauf der Woche wieder auf, würde ich wetten«, sagte er dann. »Noch was?«
»Darf ich offen sprechen, Sir?«
»Ich bitte darum.«
»Ich hätte gerne eine Woche Urlaub, um mit meiner Frau in die Schweiz zu fahren. Victoria wünscht es sich schon seit Jahren, und wir haben es nie geschafft.«
»Und ich wäre gern in der Lage, meiner Frau ein violettes Kleid zu kaufen, von dem sie seit Monaten schwärmt«, entgegnete Swanson. »Manche Träume lassen sich einfach niemals erfüllen, Clarence. Bleiben wir realistisch – schnappen wir ein paar Verbrecher.«
Kapitel 3
»Da ist ein Mann, der Sie sprechen möchte, Sir«, sagte Sergeant Wilson am späten Nachmittag. »Behauptet, er käme in einer wichtigen Angelegenheit. Ist wohl Ausländer«, fügte er etwas leiser hinzu.
Swanson drehte das Blatt Papier um, das vor ihm lag, und balancierte seinen Bleistift wie einen kleinen Exerzierstab in der Hand. »Nun, und was will er?«
»Keine Ahnung, Sir.« Wilson schüttelte den Kopf. »Penwood sagt, er will bloß mit dem leitenden Beamten sprechen. Den uniformierten Constable hat er nicht mal eines Blickes gewürdigt.«
»Tatsächlich?« Swanson hob die Augenbrauen. »Wie sieht er aus?«
»Ziemlich wichtig, Sir. Wie ein aufgeplusterter Kanarienvogel, wenn Sie mich fragen.«
»Hat er seinen Namen genannt?«
»Morrison«, antwortete Wilson. »Muss irgendwas mit Amerika zu tun haben. Spricht, als steckten ihm noch die Kippers vom Frühstück im Hals.«
»Also schön, Sergeant.« Der Chief Inspector warf den Bleistift zwischen die Papiere auf seinem Schreibtisch und stand auf. »Führen Sie den Mann herein.«
Morrison war ein großer, kräftig gebauter Mann mit dunklen Haaren und auf eine bemerkenswert unenglische Weise attraktiv. Glatt rasiert, kantiges Kinn, mächtiger Hut. Er trug einen knöchellangen grauen Wintermantel und hatte um den Hals einen pompösen bunten Schal gewickelt. Er trat in Begleitung der Sergeants Penwood und Phelps ins Büro und kam ohne Umschweife zur Sache.
»Guten Tag. Ich bin Ed Morrison«, sagte er, als würde allein die Nennung seines Namens alles erklären. »Sind Sie der ranghöchste Beamte hier?«
»Nein«, entgegnete Swanson. »Das ist Sir Edward Bradford, der Commissioner von Scotland Yard.«
»Nun, dann würde ich gerne ihn sprechen.« Der Mann wandte sich zum Gehen.
»Das wird nicht möglich sein. Da könnten Sie ebenso gut um eine Audienz bei ihrer Majestät der Königin von England ersuchen.«
Morrison blieb an der Tür stehen. »Wer ist der Ranghöchste, mit dem ich hier reden kann?«
»Das bin ich, Sir, Chief Inspector Donald Sutherland Swanson. Und ich bin durchaus bereit, mir Ihr Anliegen anzuhören, sofern Sie ein gewisses Maß an Höflichkeit nicht vermissen lassen.«
»Bitte entschuldigen Sie, Chief Inspector.« Morrison wurde gut einen Zentimeter kleiner. »Es war nicht meine Absicht, unhöflich zu sein. Es ist nur so, dass ich es gewohnt bin, offen, klar und freiheraus zu sprechen.«
»Schon gut.« Swanson deutete auf den Stuhl vor dem Schreibtisch. Ein kurzes Lächeln kräuselte seinen Schnurrbart. »Bitte setzen Sie sich.«
»Danke.« Morrison knöpfte seinen Mantel auf, nahm Platz und schlug die Beine übereinander. Ein Pistolenholster an seiner Hüfte wurde sichtbar. Darin steckte ein Colt.
»Worum handelt es sich, Mr Morrison?«, fragte Swanson, der das oftmals seltsame Verhalten verzweifelter Angehöriger gewohnt war. Doch Mr Morrison sah nicht verzweifelt aus; eher so, als befände er sich in stetiger Alarmbereitschaft oder auf der Flucht. »Was ist von solcher Dringlichkeit, dass Sie gleich die ganze Metropolitan Police dafür aufscheuchen müssen?«
»Ich verfolge einen Verbrecher, Sir.«
»Demnach sind Sie Polizist«, stellte Swanson fest. »Und Amerikaner, wie ich Ihrem Akzent entnehme.«
»Pinkerton’s National Detective Agency.« Er reichte Swanson seine Karte.
Swanson bemerkte einen goldenen Ring am kleinen Finger der linken Hand: ein Auge mit einem eingravierten Schriftzug darunter, eingerahmt von einem Dreieck.
»Das ist ein sehr schöner Ring, Mr Morrison. Hat er eine besondere Bedeutung?«
»Ah, ja.« Morrison hob die Hand von seinem Schoß und spielte mit dem Ring an seinem Finger. »Jeder unserer Agenten trägt ihn, Sir.« Er deutete auf die eingravierten Worte. »Unser Motto: Wir schlafen nie.«
»Nun, ob Sie es glauben oder nicht, Mr Morrison, wir kommen vor lauter Arbeit auch kaum dazu«, sagte Swanson. »Bitte kommen Sie zur Sache: Wen verfolgen Sie, und was können wir dabei für Sie tun?«
»Der Mann, den wir suchen, ist ein Arzt namens Dr. James Benson Orphant. Er verließ New York vor nicht ganz einem Monat.« Er griff in die Innentasche seines Mantels und zog eine Fotografie und ein gefaltetes Blatt Papier hervor und reichte es über den Tisch. »Wir haben eine Personenbeschreibung zusammengestellt. Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie sie an alle Polizeistationen in London weiterleiten könnten.«
Swanson nahm beides. Das Foto zeigte einen schmalgesichtigen, nicht unsympathisch aussehenden Gentleman um die vierzig mit beginnender Glatze und einem imposanten Schnurrbart. Er sah nicht wie ein kaltblütiger Mörder aus. Aber das taten sie selten. Er hatte Mörder beiderlei Geschlechts gekannt, denen er sein Leben anvertraut hätte, wäre er ihnen unter anderen Umständen begegnet.
»Und Sie denken, er ist hier in London?« Sergeant Phelps lehnte am Fenstersims, die Hände in den Hosentaschen.
Morrison nickte. »Wir gehen zumindest davon aus, ja.«
Swanson, der hinter seinem Schreibtisch saß und die Personenbeschreibung und das Foto des gesuchten Mannes betrachtet hatte, blickte auf. »Was genau werfen Sie ihm vor?«
»Mord, Chief Inspector«, sagte Morrison. »In mindestens zwei Fällen.«
»Wen soll er getötet haben?«
»Seine eigenen Eltern. Einen hochbetagten Geschäftsmann und dessen Frau auf Coney Island.« Morrison kniff die Lippen zu dünnen Strichen zusammen und atmete hörbar ein. »Und möglicherweise einen unserer eigenen Agenten. Der Mann ist seit seinem letzten Treffen mit Orphant verschwunden. Wir gehen vom Schlimmsten aus«, setzte er hinzu. Er stand auf. »Wir wissen, dass Orphant in New York einen Dampfer der White Star Line nach Belfast bestieg. Von dort nahm er eine Schiffspassage nach Portsmouth. Ich wurde von Mr Pinkerton persönlich beauftragt, ihm nachzureisen und seine Fährte aufzunehmen.«
Phelps runzelte die Stirn und blickte in die Runde. »Wer zum Teufel ist Mr Pinkerton?«
»William Allan Pinkerton. Der Sohn des Gründers der Agentur«, erklärte Morrison. »Er ist in den Staaten ein berühmter Mann, Sergeant. Jedes Kind kennt ihn.«
»Wer ist dieser Dr. Orphant?«, fragte Swanson, dem die Pinkerton-Detektei wohlbekannt war.
»Ein New Yorker Chirurg.«
»Eigentlich Sache der dortigen Polizei. Warum schickte man Sie und nicht einen Kriminalbeamten?«
»Wir kennen Orphant einfach am besten. Wir hatten für ihn einige Nachforschungen bezüglich seiner Familie angestellt. Er stammt aus Ihrem Land, Chief Inspector.«
»Und nun ist er hierhin unterwegs?«
»Mitnichten. Er ist längst eingetroffen. Das ist ja das Problem. Wir befürchten, er wird auch hier vor Mord nicht zurückschrecken.«
»Wie lautet das Motiv?«
»Würden wir es kennen, wären wir ein gutes Stück schlauer, Chief Inspector. Ich werde selbstredend weiterhin Nachforschungen diesbezüglich anstellen. Alles, was ich augenblicklich dazu sagen kann, ist, dass Orphant sicher nicht grundlos hier in London ist. Unglücklicherweise muss ich mich erst einmal an Ihre Stadt gewöhnen. Es ist alles so klein und putzig und verwinkelt. Verteufelt schwer, sich da zu orientieren.«
»Was macht Sie so sicher, ihn in der Hauptstadt zu finden? Er könnte doch überall in England sein.«
»Wie gesagt, ich verfolgte seine Spur. Nachdem Orphant das Schiff verlassen hatte, bestieg er einen Zug nach London. Es gelang mir, seine Spur bis zu einem kleinen Hotel in Paddington zu verfolgen, wo er kurzzeitig abgestiegen war. Dort verlor sie sich.«
»Ich weiß nicht, wie wir Ihnen da helfen könnten«, sagte Swanson. »Für gewöhnlich arbeiten wir nicht mit Zivilisten zusammen.«
»Nun, bei uns in den Staaten ist es nichts Ungewöhnliches. Wir arbeiten sehr eng mit der Polizei zusammen. Wir sind zwar schneller und effizienter, aber wir kommen nicht an alle Informationen heran, die einer Behörde wie der Ihren zur Verfügung stehen. Daher benötige ich bei den Ermittlungen Ihre Hilfe.«
»Das kann ich mir denken«, meinte Swanson. »Haben Sie eine bestimmte Vorstellung davon, wie diese Hilfe aussehen soll, Mr Morrison?«
»Wie gesagt«, begann er, »ich kenne mich in London nicht besonders aus. Und mir sind, was die Meldeämter angeht, die Hände gebunden. Es ist mir sehr daran gelegen, Dr. Orphant zu finden, ehe er abermals jemanden um die Ecke bringt, wenn Sie verstehen, was ich damit meine.«
»Ich verstehe sehr wohl, Mr Morrison«, sagte Swanson. »Also gut. Machen Sie eine Liste mit den Dingen, bei denen wir Ihnen zuarbeiten können. Ich werde einen Beamten dafür abstellen.«
»Aber Sir!«, riefen Penwood und Wilson wie aus einem Munde.
»Danke. Ich weiß das sehr zu schätzen, Chief Inspector«, sagte Morrison.
»Allerdings erwarte ich im Gegenzug einige Zugeständnisse von Ihnen.« Er erhob sich und ging um den Schreibtisch herum.
»Zugeständnisse?«
»Ja. Sie halten sich an die Gesetze unseres Landes, solange Sie hier unser Gast sind.«
»Selbstverständlich. Das tue ich immer.«
»Gut. Und Sie legen Ihren Colt ab.«
»Meinen Colt? Das ist unmöglich.«
»Ich muss darauf bestehen«, sagte Swanson mit Nachdruck in der Stimme. Er streckte die Hand aus, die Handfläche nach oben.
»Ein Scherz, nehme ich an.« Morrison runzelte ungläubig die Stirn. »Das ist, als würden Sie mich bitten, mein geliebtes Hausweibchen abzulegen.«
»Gewiss nicht, Mr Morrison.« Swanson hielt noch immer die Hand ausgestreckt. »Und wir nennen sie Frauen hier bei uns.«
Morrison hüstelte pikiert.
»Wie Ihnen sicherlich bekannt ist, tragen wir in diesem Land keine Waffen.«
»Was ist mit Ihren Dienstwaffen?«
Swanson angelte sich seinen Schlagstock von dem Haken an der Wand. »Das hier ist unsere Dienstwaffe, Mr Morrison.« Seinen eigenen kleinen Tranter Revolver, das Geschenk einer Dame, deren Juwelen er einst wiederbeschafft hatte, verschwieg er.
»Ein winziger Baseballschläger für Kinder? Machen Sie sich nicht lächerlich. Wie wollen Sie damit einen flüchtigen Verbrecher zur Strecke bringen?«
»Wir bringen niemanden zur Strecke, Mr Morrison. Wir sind der Yard, wir verhaften unsere Verbrecher. Und nun den Colt.«
Swanson sah, welchen inneren Kampf Morrison mit sich ausfocht. Schließlich gewann die Vernunft vermutlich doch die Oberhand, und er legte die schwere Waffe in Swansons ausgestreckte Hand. Der legte sie auf einen Stapel unerledigter Post auf dem Schreibtisch.
»Wo können wir Sie erreichen, wenn wir Informationen für Sie haben?«
»Das ist einfach. Ich habe mir ein möbliertes Zimmer gemietet in …« Er kramte in Gedanken nach der Adresse. Dann zog er einen Zettel hervor, warf einen raschen Blick darauf und sagte: »In Fitzrovia.« So, wie Morrison es aussprach, klang es wie ein obskures, weit entferntes Königreich. »Ich schreibe Ihnen die Adresse auf.«
Swanson reichte ihm Zettel und Bleistift. Morrison kritzelte die Adresse darauf und gab ihm das Blatt zurück. »Wenn wir etwas in Erfahrung gebracht haben, melden wir uns bei Ihnen.«
»Danke, Mr Swanson, Sir.« Morrison deutete ein Nicken an. »Und ich gebe Ihnen mein Wort, keine Unannehmlichkeiten zu machen.«
»Davon ging ich stillschweigend aus.« Swanson reichte ihm die Hand. »Sergeant Penwood wird Sie hinausbegleiten.«
Der Sergeant stand da, wie zur Salzsäule erstarrt, und rührte sich nicht.
Swanson räusperte sich. »Clarence?«
»Sir?«
»Bitte begleiten Sie Mr Morrison nach unten.«
Und wie ein Schlafwandler schwebte Sergeant Penwood hinter dem Pinkertonmann zur Tür hinaus, unentwegt seinen Kopf schüttelnd.
»Dieser Morrison ist nicht mal ein richtiger Polizist, Sir«, sagte Penwood, dessen Brille vor lauter Entrüstung beschlug. »Ich verstehe nicht, weshalb wir überhaupt mit ihm zusammenarbeiten. Alles, was recht ist, aber er führt sich auf, als sei er der Innenminister höchstpersönlich.«
»Ich weiß.« Swanson hob beruhigend beide Hände. »Ich weiß.«
»Ich mag diesen Mann nicht«, verkündete der Sergeant. »Ich mag ihn einfach nicht.«
»Sie sollen ihm nur ein wenig zuarbeiten, Clarence«, sagte Swanson. »Niemand verlangt von Ihnen, dass Sie ihn heiraten.«
»Jedenfalls noch nicht gleich – so kurz nach dem Kennenlernen«, setzte Wilson mit einem gehässigen Grinsen hinzu.
Penwood errötete. Er nahm seine Brille ab und setzte sie gleich wieder auf. »Außerdem hatte er eine Pistole.« Der Sergeant machte ein Gesicht, als sei das etwas ähnlich Unverzeihliches, wie einen vorsätzlichen Mord zu begehen.
»Andere Länder, andere Sitten«, meinte Phelps schulterzuckend. Er stieß sich vom Fenstersims ab und stützte sich mit einem Arm auf die Schreibtischkante. »Wahrscheinlich wegen der vielen Indianer.«
»Ein Skandal ist das.« Penwood war nach wie vor entrüstet. »Was bilden diese Amerikaner sich ein? Denken, sie könnten mit ihren Waffen in unserem schönen friedlichen Land herumlaufen, als seien sie Buffalo Bill persönlich.«
»Das Polizeisystem in Übersee ist anders als unseres«, sagte Swanson, der seine Zusage mehr vor sich selbst als vor seinen Sergeants zu rechtfertigen versuchte. Er zog die oberste Schublade seines Schreibtisches auf und legte den Colt hinein. »Wir werden Mr Morrison jede Unterstützung zuteilwerden lassen, die er benötigt. Ich werde mich derweil nach ihm erkundigen und seine Zulassung überprüfen.«
»Danke, Sir.« Penwood stieß einen tiefen Seufzer der Erleichterung aus. »Ich dachte schon, ich sei der Einzige im Raum, der nicht völlig den Verstand verloren hat.«
»Im Gegenteil, Clarence«, grinste Wilson und stieß ihn mit dem Ellenbogen an.
Swanson wandte sich an Wilson. »Sie telegraphieren nach New York und finden bei den Kollegen dort heraus, ob dieser Morrison tatsächlich der ist, der er vorgibt zu sein. Und Sie, Phelps, schicken ein Telegramm an die Pinkerton-Agentur in Monte Carlo.«
»In Monte Carlo, Sir? Warum ausgerechnet Monte Carlo. Der Mann kommt doch aus Amerika. Ich begreife nicht. Was hat Monte Carlo damit zu tun?«