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Beschreibung

Der Band bietet einen ersten systematischen Ansatz, um kollektive Fragen und Phänomene in der bislang eher disziplinär-fragmentierten Lagerforschung zu diskutieren, ohne dabei die empirische Pluralität und Heterogenität von Lagersystemen in ihrem jeweiligen historischen, geographischen und politischen Kontext zu vernachlässigen. Drei theoretisch orientierte und zwölf an globalen Fallstudien argumentierende Beiträge von Wissenschaftler:innen unterschiedlicher Disziplinen arbeiten die Potenziale und Grenzen sozialtheoretischer Ansätze zur Institution Lager heraus. Sie legen den Fokus auf übergreifende Lagerphänomene wie Ordnungsregime zwischen Zwang, Schutz und Erziehung, Temporalität und Liminalität, Materialität und Raum sowie Subjektivität und Handlungsmacht.

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Cover for EPUB

Annett Bochmann, Felicitas Fischer von Weikersthal (Hg.)

Institution Lager

Theorien, globale Fallstudien und Komparabilität

Campus VerlagFrankfurt/New York

Über das Buch

Der Band bietet einen ersten systematischen Ansatz, um kollektive Fragen und Phänomene in der bislang eher disziplinär-fragmentierten Lagerforschung zu diskutieren, ohne dabei die empirische Pluralität und Heterogenität von Lagersystemen in ihrem jeweiligen historischen, geographischen und politischen Kontext zu vernachlässigen. Drei theoretisch orientierte und zwölf an globalen Fallstudien argumentierende Beiträge von Wissenschaftler:innen unterschiedlicher Disziplinen arbeiten die Potenziale und Grenzen sozialtheoretischer Ansätze zur Institution Lager heraus. Sie legen den Fokus auf übergreifende Lagerphänomene wie Ordnungsregime zwischen Zwang, Schutz und Erziehung, Temporalität und Liminalität, Materialität und Raum sowie Subjektivität und Handlungsmacht.

Vita

Annett Bochmann, Dr. phil., lehrt Soziologie an der Universität Siegen. Felicitas Fischer von Weikersthal, Dr. phil., lehrt Osteuropäische Geschichte an der Universität Heidelberg.

Übersicht

Cover

Titel

Über das Buch

Vita

Inhalt

Impressum

Inhalt

Annett Bochmann & Felicitas Fischer von Weikersthal: Vergleichende Perspektiven auf die Institution Lager und ihre Ordnungen

Von den Funktionen und Typisierungen der Institution Lager zu den Phänomenen selbst

Überblick über die einzelnen Beiträge

Theorie und Komparabilitäten

Zwangs-/Schutz-/Erziehungsregime für Kollektive

Temporalität/Provisorium/Liminalität

Materialität/Raum/Architektur

Subjektivität/Körper/Handlungsmacht

Literatur

I.

Theorie und Komparabilitäten

Annett Bochmann: Ambivalenz der Ausnahme und Normalität. Sozialtheoretische Ansätze zur Institution Lager

Sozialtheorien zu Lagerinstitutionen und ihre Grenzen

Totalitarismus und Lager

Das Lager als Ausnahmezustand

Das Lager als »totale Institution«, Disziplinaranstalt und Panoptikum

Das Goffmanʼsche Unterleben im Lager

Die Biopolitik des Lagers

Das Lager als Heterotopie

Die Liminalität des Lagers

Die Macht lokaler Lagerordnungen und Mikrostrukturen

Die Produktion der Ausnahme und Normalität

Literatur

Reinhard Bernbeck: Komparatistische Analyse von Lagern. Potenziale und Dilemmata aus archäologischer Sicht

Lager vergleichen?

Der Raum der Lager als prozessuales Produkt

Espace conçu und espace vécu am Beispiel des Lagers Tempelhof

Espace Conçu: Geplanter Raum

Espace vécu: Gelebter Raum

Leiden im Lager: Singularität, Archäologie und Geschichte

Literatur und Quellen

Tobias Breuckmann: Geflüchtetenlager im Kontext von Regierungstechnologien. Perspektiven einer geografischen Macht- und Skalentheorie

Machttechniken und ihr Zusammenspiel: Regierungstechnologien analysieren

Raumtheoretische Anschlüsse an Foucaultʼsche Machttheorien

Regierungstechnologien räumlich fassen: Netzwerke und Scales

Fazit

Literatur

II.

Zwangs-/Schutz-/Erziehungsregime

Marc Buggeln: Nationalsozialistische Konzentrationslager und Gulag. »Vernichtung durch Arbeit«? Produktivität und Sterblichkeit in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern und im stalinistischen Gulag

Zwangsarbeit in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern

Zwangsarbeit im stalinistischen Gulag

Sterblichkeit im Konzentrationslager und im Gulag

»Vernichtung durch Arbeit«?

Lagerhierarchien nach Formen der Zwangsarbeit

Fazit: Terrorarbeit und Sterblichkeit in beiden Lagersystemen

Literatur

Jochen Lingelbach: Lager für europäische Geflüchtete im kolonialen Afrika. Soziale Ordnungen zwischen Selbstorganisation, kolonial-rassistischer Gesellschaft und internationalen Organisationen (1941–1951)

Koloniale Lagergeschichte und europäische DP-Lager in Afrika

Polnische Flüchtlingslager im kolonialen Ost- und Zentralafrika

Griechische Geflüchtete im ägyptischen Moses Wells

El Shatt – Ägyptisches Aushängeschild für UNRRA und jugoslawische Partisan:innen

Lager als Schnittpunkte divergierender Ordnungen

Literatur und Quellen

Darren Byler: Fabriklagersysteme in China. Infrastrukturelle Macht, »Umerziehung- und Arbeitsregime« in Industrieparks in Nordwestchina

Die Geschichte der Industrieparkinfrastruktur im heutigen China

Infrastrukturelle Macht

Industrieparks zur »Umerziehung« als Wirtschaftsträger

Die Bedeutung von Industrieparks für die »Umerziehung«

Schlussfolgerungen

Literatur und Quellen

III.

Temporalität/Provisorium/Liminalität

Jonas Kreienbaum: Koloniale Konzentrationslager. »Flüchtlings-« oder »Konzentrationslager«? Die ambivalenten Wurzeln der ersten Konzentrationslager im Südafrikanischen Krieg (1899–1902)

Vielseitige Institutionen – die Funktionen der südafrikanischen Lager

Der Lageralltag zwischen Zwang und Fürsorge

Ambivalente Koloniallager global

Fazit

Literatur und Quellen

Elisabeth Pönisch: »Judenhäuser« und Lagerstrukturen. Die Ordnung der »Judenhäuser« ‒ Identitäten im verstetigten Übergang

Das »Judenhaus« als Zwangsgemeinschaft mit lagerähnlichen Strukturen

Liminalität als andauernder Übergang

Das »Judenhaus« als liminaler Raum

Liminale Räume des verstetigten Übergangs

»Alles ungewiß, täglich wechselnd« – Eine auf Dauer gestellte Ungewissheit

Konflikthafte Identitätskonstruktionen im verstetigten Übergang

Schlussbemerkungen

Literatur und Quellen

Daniel Bultmann: Todes- und Umerziehungslager in Kambodscha. Der Vietnamese im Khmer – Statuspassagen in den Lagern der Kommunistischen Partei Kampucheas (1975–1979)

Entstehung, Struktur und Funktion des Lagersystems

Die Unsichtbarkeit und die Phase der Separation

Das Leben im Lager: Die Phase der Liminalität und die Sichtbarmachung der »Vietnamesen im Khmer«

Liminalität I: Identitätslose Zwischenwesen im Außen der Ordnung

Liminalität II: Einschreibung der moralischen Andersheit und des Vietnameseseins über Folter

Die Phase der Aggregation – oder auf Dauer gestellte Liminalität?

Schluss

Literatur und Quellen

IV.

Materialität/Raum/Architektur

Mirjam Sprau: Sowjetische Zwangsarbeitslager. Die stalinistische Heterotopie Kolyma

Forschungsstand

Abweichungs- und Kompensationsheterotopie

Ein- und Ausschlüsse: Lager und Raum

Heterochronie

Entstalinisierung: das Ende der Heterotopie

Literatur und Quellen

Heike Delitz: Umsiedlungslager in Algerien und Peru/Ecuador. Umsiedlung als militärische und missionarische Kolonialisierung

Militärische Kolonisierung: Umsiedlungs- und Umgruppierungslager in Algerien

Der traditionelle architektonische Modus der kollektiven Existenz

Die Umsiedlungslager

Missionarische Kolonisierung: Umsiedlungen in amazonischen Gesellschaften

Der traditionelle architektonische Modus der kollektiven Existenz (Achuar)

Umgruppierung und Ansiedlung

Fazit: Zwangsweise und »freiwillige« An- und Umsiedlung, architektonische Transformation und Regruppierung

Literatur und Quellen

Laura Adam: Erstaufnahmelager in Deutschland. Der heterotopische Raum zwischen Ausnahme und Normierung

Theoretischer Zugang zum Raum der Erstaufnahmelager

Die EA zwischen Ausnahme und Normierung

Der heterotopische Raum der EA

Die Aushandlung des Lagerregimes

Forschungsmethode und Datengenerierung

Analyseergebnisse

Die EA als Disziplinaranstalt

Differentielle Inklusion als Machttechnik

Die Aushandlung migrantischer Subjektpositionen

Die Handlungsmacht migrantischer Akteur:innen

Fazit

Literatur

V.

Subjektivität/Körper/Handlungsmacht

Christoph Jahr: Internierungslager in vergleichender Perspektive. »A surprisingly happy camp« oder »a totalitarian state«? Ein Internierungslager des Ersten Weltkriegs im Spiegel von John Davidson Ketchums Ruhleben. A Prison Camp Society

Das »Engländerlager« Ruhleben – eine biografische Skizze

Zwischen Inklusion und Exklusion: die Lagergesellschaft

J. D. Ketchum – eine biografische Skizze

Ketchums Erzählperspektive

Ketchums Ruhleben

Kontrolle und reziproke Kommunikation

Übersetzungsfehler und ihre Konsequenzen

Die Polizei der Internierten

Die Lagerselbstverwaltung

Evaluierung und Kritik

Ausblick

Literatur und Quellen

Felicitas Fischer von Weikersthal: Zwangs- und Isolationslager in der frühen Sowjetunion. Handlungsräume und -grenzen des Subjektes in einer »totalen Institution«

Die SLON als Bindeglied zwischen Bürgerkriegs-KZ und Gulag

Die »totale Institution« im Verständnis der kontrollierenden Instanz

Kollaboration, Kooperation und die Durchlässigkeit der Ausschlussgrenzen

Kulturproduktion in den Lagern

Gruppenidentität als Ermächtigungsfaktor

Fazit: Zwischen Widerstand, Anpassung und Kooperation

Literatur und Quellen

Julia Manek: Migrations- und Haftlager in Mexiko. Straflosigkeit statt Ausnahme

Estaciones migratorias – Stand der Forschung

Lager und Ausnahmezustand bei Agamben

Theorie trifft Empirie: Ausnahmezustand jenseits des Prinzips?

Perspektiven aus den estaciones migratorias

Empirische Einblicke in das Haftsystem

Agamben herausfordern: vom Standpunkt der estaciones migratorias

Literatur

Kurzhinweise zu den Autor:innen

Vergleichende Perspektiven auf die Institution Lager und ihre Ordnungen

Annett Bochmann & Felicitas Fischer von Weikersthal

Lager sind Teil einer transnationalen Institutionengeschichte und prägen nicht nur die Politik des 20. Jahrhunderts, wie Zygmunt Bauman betonte,1 sondern ebenso die Politik der Gegenwart und Zukunft. Lager sind ein politisches Instrument, dessen sich Diktaturen wie Demokratien gleichermaßen zur Bestrafung, Umerziehung, vorbeugenden Isolierung und/oder sozialen Kontrolle bedienen. Sie werden als soziales Phänomen beschrieben, welches das Wesen des modernen Staates offenbart.2 In den öffentlichen sowie wissenschaftlichen Diskursen ist in den letzten Jahren das Lagersystem für Geflüchtete omnipräsent und dominierend.3 Die Etablierung dieser Institution gilt als eine politische Lösung, um die zunehmende Mobilität von Personen über Staatsgrenzen hinweg zu stoppen, zu kontrollieren und zu regulieren. Oberflächlich betrachtet scheint es sich um eine aus der Not geborene und als kurzfristiges Provisorium dienende Form der Massenunterkunft zu handeln, die in nur geringem Zusammenhang mit historischen Varianten des Lagers steht. Und in der Tat zielt der Sammelband nicht darauf ab, einen diachronen Vergleich zu erstellen, eine Genese des Lagers zu erzählen, geschweige denn eine Linearität von den ersten kolonialen Konzentrationslagern und Wehrdörfern über die Konzentrationslager des Nationalsozialismus hin zu heutigen Lagern für Geflüchtete zu postulieren.4 Es gab und gibt weder das eine Lagersystem noch die eine Lagerordnung.

Dennoch sind Macht, Herrschaft, Gewalt und Entmenschlichung der Institution inhärent, deren Ausprägungen stellen in ihren jeweiligen Kontexten jedoch stets eine Eigenart dar. Zudem zeigt der Blick in die Empirie, dass sich trotz grundlegender Heterogenität weitere, gemeinsame Phänomene diskutieren lassen. Wissenschaftler:innen unterschiedlicher Disziplinen, die sich mit Lagersystemen befassen, umkreisen analoge Fragestellungen und Themen: etwa Temporalität (Liminalität, Provisorium, Vorläufigkeit) und Materialität (Raum, Architektur, Im-/Mobilität, Dinglichkeit) sowie die Verflechtungen des Lagers mit seiner politischen, wirtschaftlichen und sozialen Umwelt. Ebenso wird das Verhältnis zwischen strikter Ordnung bei gleichzeitiger Unordnung, also die Frage nach der Verfasstheit von Governance, oder das Subjekt und seine Handlungsfähigkeit bzw. -macht in der Institution disziplin- und kontextübergreifend diskutiert. Diese Analogien lassen trotz unterschiedlicher Funktionen der jeweiligen Lager und der verschiedenen Dimensionen von Gewalterfahrungen Rückschlüsse auf die Institution Lager in ihrer Bedeutung und Stellung innerhalb der Gesellschaft zu.

Der vorliegende Band zielt daher darauf ab, übergreifende Fragen und Phänomene in der bislang eher fragmentierten Lagerforschung zu diskutieren, gleichzeitig aber die empirische Pluralität und Heterogenität von Lagersystemen und Lagerordnungen im Blick zu behalten. Um diesem Anspruch gerecht zu werden, wird ein sehr breiter zeitlicher (Ende des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart) sowie geografischer Rahmen (globaler Süden/Norden) abgedeckt. Statt das nationalsozialistische Lager, das in seiner scheinbaren Eindeutigkeit ohnehin nicht existierte,5 als Fokus und Endpunkt zu verstehen, nimmt dieser Sammelband repressive, disziplinierende und in einem geringeren Maße auch integrative Lager in den Blick, um die Institution selbst, aber auch die Verfasstheit der jeweiligen das Lager umgebenden Gesellschaften besser zu verstehen.

Ziel des Bandes ist es, die unterschiedlichen, an dem Thema forschenden Disziplinen zusammen und in einen fruchtbaren Austausch über historisch, geografisch und politisch plurale Fälle zu bringen.6 Dies erfolgt zum einen über die Auseinandersetzung mit Phänomenen und Komplexitäten, die disziplinübergreifend in der Lagerforschung diskutiert werden. Zum anderen dienen sozialtheoretische Ansätze zur Institution Lager der Vertiefung des interdisziplinären Austauschs. Gleichwohl präsentieren die am Sammelband beteiligten Historiker:innen, Soziolog:innen, Archäolog:innen, Geograf:innen, Politikwissenschaftler:innen und Anthropolog:innen jeweils ihren eigenen Blick auf die unterschiedlichsten Lagertypen der Moderne,7 unabhängig davon, ob Lager im kolonialen Kontext, die Lager der beiden großen Diktaturen des 20. Jahrhunderts, die Todes- und Umerziehungslager in Kambodscha, die global verstreuten Flüchtlings- und Migrationslager oder auch die Fabriklagersysteme im heutigen China fokussiert werden. So unterschiedlich die einzelnen Zugänge und die empirischen Grundlagen sind, so zeigen sich doch interessante Analogien, die über die jeweilige Funktion oder den Lagertypus hinausweisen. Diese werden wir im folgenden Abschnitt erläutern. Wir verfolgen dabei einen neuen Ansatz, der nicht die Funktionen und Typisierungen von Lagern favorisiert, sondern Lagerphänomene und ihre Vielschichtigkeit differenziert in den Blick nimmt.

Von den Funktionen und Typisierungen der Institution Lager zu den Phänomenen selbst

Bislang waren es die Funktionen der Lager und deren Auswirkungen auf die Menschen in den Lagern, die im Fokus derjenigen standen, die eine zeit- und kontextübergreifende Zusammenschau der Institution Lager anstrebten. Hannah Arendt, deren Typologisierung vor dem direkten Hintergrund der nationalsozialistischen und stalinistischen Lager entstand, unterschied so zwischen Hades, Fegefeuer und Hölle.8 Als Hölle klassifiziert Arendt solche Lager, in »welchen das Leben nach dem Gesichtspunkt der größtmöglichen Quälerei systematisch durchorganisiert war«.9 Die Hölle stellt somit in ihrer Typologie die demütigendste Form der Lager dar, die sich in den vom nationalsozialistischen Regime etablierten Konzentrations- und Vernichtungslagern manifestiert hat. Im Fegefeuer wird die Vernachlässigung der Menschen in Lagern mit »chaotischem Arbeitszwang« kombiniert. Neben der Isolation der Menschen ist das Fegefeuer durch Ausbeutung und Zwangsarbeit gekennzeichnet. Arendt verweist auf die Zwangsarbeitslager der Sowjetunion als Beispiel für diesen zweiten Typus. Hades hingegen beschreibt sie als eine milde Form des »vernachlässigenden Aus-dem-Wege-Räumens für lästig und überflüssig gewordene Menschen«.10 Hierunter fallen Lagerinstitutionen, die dazu dienen, menschliche »Elemente« auszusondern: Geflüchtete, staatenlose Personen oder Kriegsüberlebende.11

Arendt begründet ihre Idealtypisierung von Lagern in erster Linie mit der Funktion der Institution als Experimentierfeld totaler Herrschaftsausübung sowie als Mittel für die Aufrechterhaltung totalitärer Regime. Indem sie die Funktion auch als ein »Aus-dem-Wege-Räumen« versteht, bleibt Arendt jedoch allgemein genug, um beispielsweise Flüchtlingslager sowie generell Lager außerhalb totalitärer Kontexte in ihre Analyse zu integrieren. Laut Arendt haben Lagerinstitutionen jeder Couleur die Gemeinsamkeit, dass die »Menschenmassen«, die in ihnen eingeschlossen sind, so behandelt werden, als würden sie nicht länger existieren, als ständen sie außerhalb des gesellschaftlichen Interesses, ja, als seien sie gar bereits tot.12

Ein ähnliches Verständnis der Funktion von Lagern und der sozialen Stellung derjenigen, die gezwungen sind dort zu leben, legen auch Joël Kotek und Pierre Rigoulot ihrer Typologisierung zugrunde. Anknüpfend an Arendts Typologie erweitern sie diese durch Gehenna, das sie von Arendts Hölle abgegrenzt wissen wollen. Gehenna verstehen die beiden als die schlimmste Form der nationalsozialistischen Konzentrationslager, die Vernichtungslager, die allein dem industrialisierten Massenmord insbesondere an der jüdischen Bevölkerung Europas dienten, ohne eine lagerähnliche Infrastruktur aufzuweisen.13 Kotek und Rigoulot identifizieren primär sechs gesellschaftliche Funktionen des Lagers im 20. Jahrhundert: (1) präventive Isolation, (2) Bestrafung und Umerziehung, (3) Terrorisieren der Zivilbevölkerung, (4) Ausbeutung, (5) Umgestaltung der Gesellschaft und (6) Vernichtung.14

Disziplinierung, Versuche zur Formung des Gesellschaftskörpers und soziale Kontrolle lassen sich auch in jenen Lagern finden, die weniger ausgrenzen als einbinden sollen. Mehrere Autor:innen plädieren deswegen dafür, auch inklusionistische Lager in eine Geschichte der Institution Lager einzubinden.15 Fraglos spiegelt sich auch in diesen Lagern der Dreiklang von Lager, Gewalt und Integration, wie von Christoph Jahr und Jens Thiel beschrieben.16 Für den ersten Anstoß zu einer verstärkt interdisziplinären Analyse der Institution Lager erschien uns angesichts der ohnehin heterogenen Landschaft eine Beschränkung auf eher repressive Lagersysteme angebracht.

Eine Typologisierung anhand der Funktion von Lagern – so wichtig und einleuchtend sie auch ist – verwischt unserer Ansicht nach grundlegende Analogien, die, wie zahlreiche Einzelstudien belegen, typenübergreifend existieren. So lassen die hier versammelten Fallbeispiele Ähnlichkeiten und Parallelen, aber auch Differenzen hinsichtlich Temporalität, Architektur, Raum und Materialität, Handlungsmacht und -möglichkeiten, hinsichtlich Governance ganz allgemein sowie im Hinblick auf Verflechtungen der Lager mit ihrer Umwelt erkennen.

Auf Basis des aktuellen Forschungsstandes, unserer eigenen Forschungsarbeiten zum Gulag17 und zu Flüchtlingslagern18 sowie der hier versammelten empirisch fundierten Artikel lassen sich Aspekte herausarbeiten, die – im Vergleich zu Funktion und Typisierung – die Institution Lager in ihrer inneren Verfasstheit und gesellschaftlichen Bedeutung präziser und differenzierter beschreiben:

Zwang-/Schutz-/Erziehungsregime für Kollektive

Temporalität/Provisorium/Liminalität

Materialität/Raum/Architektur

Subjektivität/Körper/Handlungsmacht

Nach diesen Phänomenen, die wir im Folgenden erläutern möchten, ist auch der hier vorliegende Sammelband aufgebaut.19

Die Institution Lager isoliert in der Regel Kollektive vom Rest der Gesellschaft und nicht Personen, die aufgrund individueller Vergehen gegen Rechtsnormen verstoßen haben oder auf eine andere Weise nach Ansicht der Herrschenden den Gesellschaftskörper gefährden. Dadurch wird gleichzeitig ein Lagerkollektiv konstruiert und sichtbar, das es zuvor so nicht gegeben hat. Der Grund für die Zwangsunterbringung in einem Lager liegt stets in Verbindung zu einer solchen Kollektivzuschreibung. Diese erfolgt anhand bestimmter Zugehörigkeiten – zum Beispiel Ethnie, Nation, Religion, politische oder sexuelle Einstellung – und markiert die so Ausgesonderten oftmals als das Andere, wenn nicht gar als feindliche Gruppe.20 Eine externe, zumeist staatlich betriebene Zuschreibung der Insass:innen bzw. Bewohner:innen21 als Kollektive mit bestimmten Merkmalen bildet die Grundlage für die Isolierung. Das identifizierte Kollektiv soll kontrolliert sowie an seiner Mobilität und an seiner Interaktion mit dem Rest der Gesellschaft gehindert werden. Die rechtliche Stellung der so ausgesonderten Kollektive in der Gesellschaft ist in der Regel nicht eindeutig geklärt. Ausnahmeregelungen stellen die Lagerinsass:innen an den Rand, wenn nicht sogar außerhalb der Gesellschaft, was in vielen Fällen durch eine Geheimhaltung der Lager noch zusätzlich unterstrichen wird. Damit werden die Lagerinsass:innen in einem Zustand der Rechtsuneindeutigkeit zurückgelassen, was unterschiedliche Grade der Entmündigung und Rechtsunsicherheit evoziert.

Die Aufsätze von Jonas Kreienbaum, Jochen Lingelbach und Heike Delitz befassen sich jeweils mit Lagern in kolonialen Zusammenhängen, wobei sie unterschiedliche zeitliche Rahmen setzen. Im Mittelpunkt von Jonas Kreienbaums Analyse stehen die Konzentrationslager in Südafrika zur Zeit des zweiten südafrikanischen Krieges, in denen kriegsmüde Buren um die Wende vom 19. ins 20. Jahrhundert Schutz erfahren sollten. Jochen Lingelbach nimmt hingegen die Lager für europäische Geflüchtete im kolonialen Afrika während und nach dem Zweiten Weltkrieg in den Blick. Er beschreibt sie einerseits in Zusammenhang einer rassistisch orientierten kolonialen Herrschaft und andererseits im Kontext eines sich herausbildenden internationalen Flüchtlingsregimes. Heike Delitz wiederum kontrastiert die militärischen Umsiedlungslager in Algerien mit missionarischen Formen kolonialer Umsiedlungsregime und damit die Institution Lager mit einer Form kolonialer Einflussnahme, die ohne eine Lagerisierung der indigenen Bevölkerung operierte, aber dennoch ein ähnliches Ziel verfolgte – und erreichte.

Während Kreienbaum und Delitz sich somit Fälle anschauen, in denen das koloniale Regime Teile der indigenen Bevölkerung absondert und kolonialen Vorstellungen anzupassen versucht, löst sich im Beispiel Lingelbachs die Differenz zwischen Kolonisierer:innen und Lagerinsass:innen auf. Nicht die indigene Bevölkerung wird lagerisiert, sondern »weiße« Flüchtlinge des Zweiten Weltkrieges werden von der Kolonialgesellschaft abgesondert. Die Flüchtlinge fügten sich trotz ihres »Weißseins« nach dem Verständnis der Kolonist:innen gleichwohl nicht in das rassistische Gefüge kolonialer Herrschaft ein, sondern sie gefährdeten es sogar.

Auch in anderen Fallbeispielen sind die »Anderen«, das heißt diejenigen, die es abzusondern gilt, klar durch ethnische, wenn nicht sogar rassistisch konstruierte Zugehörigkeiten definiert. Eine solchermaßen begründete Aussonderung betrifft nicht nur die Bewohner:innen der »Judenhäuser«, die unter den Nationalsozialist:innen eine erste Begrenzung und Abgrenzung der als jüdisch definierten Bevölkerung darstellten und die Elisabeth Pönisch als liminale Räume mit lagerähnlichen Strukturen verstanden wissen will. Sowohl die Internierungslager im Ersten Weltkrieg, die Christoph Jahr mit seinem Beitrag zum Lager in Ruhleben in den Blick nimmt, als auch die Fabriklager und Fabriken mit Zwangs- und Überwachungsmechanismen für Uigur:innen im heutigen China, die in dem Beitrag von Darren Byler beschrieben werden, und zuletzt auch die Lager im Kontext von Fluchtmigration (Laura Adam für Deutschland, Julia Manek für Mexiko und Tobias Breuckmann für Europa) folgen bis zu einem bestimmten Grad einer rassistisch motivierten Logik. Im ersten der drei Fälle wird das auszuschließende Kollektiv durch dessen Zugehörigkeit zu einer feindlichen Kriegspartei bestimmt: britische Staatsbürger:innen sowie Bürger:innen der »weißen« Dominions (Australien, Neuseeland, Südafrika und Kanada), die sich bei Kriegsausbruch im Deutschen Reich aufhielten. Im zweiten Fall werden die als anders definierten, weil sich ethnisch und zu großen Teilen auch aufgrund ihrer Religion vom Gros der Bevölkerung unterscheidenden Uigur:innen zur angeblichen »Umerziehung« lagerisiert und konzentriert. Im dritten Fall sind es migrantische Subjekte, Geflüchtete und/oder Staatenlose, die als Anomalie zu Staatsbürger:innen konstruiert und in Rechtsuneindeutigkeit gehalten werden. Auch bei den von Marc Buggeln in den Blick genommenen Konzentrationslagern der Nationalsozialist:innen findet sich diese Technik der kollektiven Aussonderung. Neben der jüdischen Bevölkerung wurden weitere als anders und potenziell gefährlich beschriebene Kollektive konstruiert. Sinti und Roma oder Homosexuelle fanden sich in den Lagern wieder, politische Gegner:innen ebenso wie Kriegsgefangene und ins Reich verschleppte Ausländer:innen.

Das abzusondernde Kollektiv kann folglich durchaus auch weniger klar umrissen werden. Die Zugehörigkeit zu einem oder mehreren Ausschluss- bzw. Einschlusskriterien kann die Lagerisierung bestimmen. Sowohl in den sowjetischen Zwangs- und »Besserungsarbeitslagern«, die allgemein unter dem Begriff Gulag bekannt sind und welche in den Beiträgen von Marc Buggeln, Mirjam Sprau und Felicitas Fischer von Weikersthal behandelt werden, als auch in den von Daniel Bultmann beschriebenen Lagern der Roten Khmer stand der entworfene »innere Feind« im Mittelpunkt der Ausgrenzungsmechanismen. Gerade im Fall der sowjetischen Lager konnte ein politisch beschriebenes othering jedoch auch mit ethnischen Kategorien überlappen.

Diese ausgegrenzten Kollektive unterliegen einem oftmals staatlich intendierten Zwangs- und Kontrollregime. Dieses Regime kann gleichzeitig Mechanismen der »Umerziehung« und/oder des Schutzes beinhalten, wie es beispielsweise in Form humanitärer Hilfeleistungen praktiziert wird. Dass mitunter auch verschiedene Motivlagen zusammenfließen und nicht klar zwischen Lagern, die primär einem Zwangsregime unterliegen, und solchen, die in einer humanitären Notlage entstanden sind, unterschieden werden kann, zeigen Jonas Kreienbaum und Jochen Lingelbach. Kreienbaum argumentiert, dass die ersten Konzentrationslager in Südafrika auf eine Vielfalt an Motiven – Zwang, Kontrolle und Strafe, Schutz und humanitäre Hilfe – zurückzuführen sind und sich somit nur schwer in eine Genealogie hin zu den Konzentrationslagern der Nationalsozialist:innen einordnen lassen.

Auch Marc Buggeln bricht in gewisser Weise das Narrativ vom »End- und Referenzpunkt« der nationalsozialistischen Konzentrationslager auf, indem er die in der Forschung und durch Arendt und Sofsky vorgenommene Differenzierung von nationalsozialistischen und sowjetischen Lagern anhand der Funktion der von den Häftlingen geleisteten Zwangsarbeit hinterfragt. In beiden Lagern erkennt er ein Wechselspiel aus einer zeitlich und auf einzelne Häftlingskategorien begrenzten bewussten »Vernichtung durch Arbeit« und einer Priorisierung wirtschaftlicher Überlegungen. Das Zusammenspiel von Zwang, Kontrolle, Arbeit und industriellem Profit bestimmt auch das Regime in den Lagern und Fabrikarbeitseinrichtungen für Uigur:innen in China. Was der Staat als »Umerziehung« und »Staatsschutz« kennzeichnet, erscheint in erster Linie als ethnisch-rassifizierter Zugriff auf billige Arbeitskräfte. Sowohl im heutigen China wie auch im nationalsozialistischen Deutschland und der stalinistischen Sowjetunion präsentieren die Lager folglich eine enge Verzahnung eines Straf- und Abgrenzungsregimes mit wirtschaftlichen Interessen hin zu mehr oder weniger stark ausgeprägten »lagerindustriellen Komplexen«.22

Ferner zeichnen sich Lager durch spezifische Temporalitäten aus. In der Regel ist das Lager als eine zeitlich begrenzte Lösung intendiert, was sich auch in seiner Materialität – durch Zelte bzw. andere temporäre Bauarten, Holzbaracken – oder eine notdürftige Hygieneversorgung niederschlägt. Gleichzeitig ist für die meisten Lager jedoch charakteristisch, dass sie sich schnell von einem Provisorium zu einer Dauereinrichtung entwickeln, was einerseits die Lebensumstände massiv beeinflusst, andererseits den Lagerinsass:innen Räume der Selbstorganisation eröffnet. Auch wenn nicht alle Strukturen neu erfunden werden, so werden in der Institution Lager häufig auch aufgrund von Provisorium und Rechtsuneindeutigkeit andere, eigene Strukturen, Regeln und Ordnungen etabliert und durchgesetzt als in ihrer Umgebung üblich. Das Lagerkollektiv wird dadurch unfreiwillig in einen liminalen Zustand versetzt, indem die betroffenen Personen und Gruppen aus der vorherigen Sozialordnung herausgelöst und in einen mehrdeutigen, transformativen Raum versetzt werden.

Die spezifischen Zeitordnungen, die Lagerinstitutionen hervorbringen, verweisen auf zwei Phänomene, die in mehreren Artikeln des Bandes besprochen werden: zum einen auf den dadurch geschaffenen liminalen Raum, der über die symbolische und räumliche Separation verschärft wird und zum anderen auf die häufig anzutreffende Rechtsuneindeutigkeit. Die Schaffung des liminalen Raums wird insbesondere im Beitrag von Daniel Bultmann deutlich. Er beschreibt drei Statuspassagen, die alle Insass:innen der Lager der Roten Khmer durchlaufen mussten, durch die sie zunächst abgesondert, dann über ein erzwungenes Geständnis als Feind überhaupt erst produziert und schließlich entweder in einen Abschluss durch Tod oder in eine Verstetigung der Liminalität überführt wurden. Eine andauernde und zeitlich unbestimmte Liminalität wird auch im Beitrag von Elisabeth Pönisch zu den so genannten »Judenhäusern« reflektiert. Diese Einrichtungen sind weniger als klassische Lager zu verstehen, doch weisen sie lagerähnliche Temporalitäten und eben auch die Rechtsuneindeutigkeiten auf. Die Rechtsuneindeutigkeit von Lagerinsass:innen steht dem auf Dauer gestellten Interimsraum bzw. Provisorium gegenüber, beides verstärkt sich gegenseitig, wie Jonas Kreienbaum in seinem Beitrag hinsichtlich der kolonialen Lager verdeutlicht. Aspekte der Liminalität und Rechtsuneindeutigkeit werden ebenso in den Beiträgen von Laura Adam und Julia Manek im Kontext der Migrations- und Aufnahmelager sowie von Heike Delitz im Kontext von Umsiedlungslagern diskutiert.

Eng mit der Temporalität der Lagerinstitutionen verbunden ist die Frage nach ihren Materialitäten: die Ausprägung ihrer räumlichen Ein- und Ausgrenzungstechnologien sowie das Einwirken von Raum und Materialität auf die Erfahrungswelt der Lagerinsass:innen. Die Grenzen bzw. der Grad der Öffnung bzw. Schließung können bei einzelnen Lagertypen durchlässiger sein, als dies bei anderen »totalen Institutionen« der Fall ist. Auch wenn Lager sich häufig der totalen Ausschließung verschreiben und eine restriktive Zu- und Ausgangspolitik betreiben, lösen beispielsweise Zwangsarbeitseinsätze oder eine notwendige Selbstversorgung die umfassende Isolation auf. Trotz räumlicher Begrenzung und Gebundenheit kann daher eine Auseinandersetzung mit der Umgebung stattfinden, was letztendlich aber ein Bewusstwerden der – temporären – Exklusion auf Seiten der Lagerinsass:innen weiter verstärken kann.

Gleichzeitig beeinflussen die Anordnung der Lagerinfrastruktur, Zugangsbeschränkungen oder Räume, die unter verstärkter Bewachung stehen oder eine entmenschlichende, erniedrigende Gewalterfahrung begünstigen, das Leben in den Lagern. Der Beitrag von Heike Delitz zeigt die signifikante Rolle der architektonischen Lagerpolitiken und ihre räumlichen Restrukturierungen auf, die auch ohne Überwachung, Stacheldraht und militärische Gewalt funktionieren. Die Topografie der Lager und ihre infrastrukturellen Bedingungen verunmöglichen darüber hinaus den Zugang zu Rechten, wie Julia Manek in Bezug auf die Migrations- und Haftlager in Mexiko betont. Gleichzeitig identifiziert Manek mit Hilfe von Interviews die Überlappung von Zonen und Emotionen, etwa bei Räumen, in denen Angst oder Kälte vorherrschend sind. Die Bedeutsamkeit der Verknüpfung von Machtverhältnissen und materiellen sowie räumlichen Arrangements in Lagern diskutiert auch Tobias Breuckmann in Bezug auf Geflüchtetenlager. Die Machttechniken sind im Lagerraum verortet und (re)stabilisieren sich in sozialräumlichen Beziehungen. Der Raum muss dabei jedoch nicht unbedingt fixierte Grenzen von Lagerzonen aufweisen, worüber eine eindeutige Trennung vom Rest der Gesellschaft definiert wird. Mirjam Sprau zeigt, wie eine ganze Region als Lagerraum und lokale Variante eines Repressionssystems wahrgenommen wurde und auch die naturräumlichen Bedingungen das Lagerleben prägten. Mit der Lefebvreʼschen Raumtheorie hinterfragt wiederum Reiner Bernbeck nicht nur die Annahme, dass das Lagerleben über Machthabende, sondern auch über die Lagerarchitektur total vorgeschrieben werden kann. Der Lagerraum und seine Architektur stehen permanent unter Spannungen, die über die gelebten Praktiken der Menschen vor Ort Veränderungen provozieren.

Ähnlich wie Gefängnisse und Psychiatrien präsentieren Lager soziale Gebilde mit charakteristisch ausgeprägten (teilweise stark umkämpften) Bürokratien, Hierarchien, Machtverhältnissen und unterschiedlich präsenten Akteur:innen. Dabei bestimmen nicht nur Bewacher:innen die Rahmenbedingungen des Zusammenlebens und die Machtverteilung. Auch Lagerinsass:innen sind an der Aushandlung der Machtverhältnisse beteiligt und in die Ausbildung eigener Hierarchien eingebunden, indem beispielsweise Repräsentant:innen wie Barackenälteste, Kapos oder auch Fürsprecher:innen entweder ernannt oder gewählt werden. Gleichzeitig bilden sich auch ungesteuerte Hierarchien und Machtverhältnisse unter den Lagerinsass:innen entlang auch außerhalb des Lagers existierender Parameter wie Geld, physische Stärke, Bildung oder gesellschaftliche Stellung oder entlang rassistischer, geschlechtlicher, sozialer und weiterer intersektionaler Kategorien heraus. Die Menschen treten mit ihren eigenen Biografien, mit ihrem Wissen, ihren Fähigkeiten und Kenntnissen in das Lager ein. Dadurch gestalten sie das dortige Leben in unterschiedlichem Ausmaß mit. Darüber hinaus prägen die Interaktionen zwischen den Repräsentant:innen der Institution und den Insass:innen selbst die Machtverhältnisse. Zwar erschafft das Lagerregime einen scheinbaren Kollektivkörper, doch löst sich dieser im Lagerleben auf bzw. wird durch die Interaktion der Insass:innen untereinander und mit den Aufseher:innen neu definiert.

Mit dem Fokus auf Interaktionen und sozialen Praktiken klingt in einigen der hier versammelten Fallbeispiele zum Teil implizit, zum Teil aber auch explizit eine Abkehr von der häufig in der Forschung und in der öffentlichen Wahrnehmung dominanten Entsubjektivierung der Lagerinsass:innen in einer eigenen, von der umgebenden Gesellschaft differenten sozialen Struktur an. Die Reproduktion der Entsubjektivierung der Lagerinsass:innen in der Forschung wurde insbesondere durch die externe Kollektivkonstruktion der Ausschließung ermöglicht, welche die lokalen und interaktiven Geschehnisse im Lager, aber auch die einzelnen Biografien der Lagerinsass:innen vernebelt. Obgleich die Lager eindeutig als Orte der Dehumanisierung beschrieben werden müssen, lassen sich Momente der Handlungsmacht und -fähigkeit erkennen, in denen spezifische Gruppen oder auch Einzelpersonen ihr Leben in der Institution mitbestimmen, in Aushandlungsprozesse mit Bewacher:innen treten oder auch neue Hierarchien entlang sozialer, ethnischer oder geschlechtlicher Differenzrahmen etablieren.

In den Erstaufnahmelagern in Deutschland treten uns etwa Migrant:innen als Akteur:innen im Prozess der Ordnungsbildung und -transformation entgegen, als Subjekte, die eigene Strategien und Praktiken der – gleichwohl begrenzten – Ermächtigung entwickeln. Analoges arbeitet Felicitas Fischer von Weikersthal für die sowjetischen Zwangsarbeitslager der 1920er Jahre heraus. Insbesondere im Spannungsfeld sich widerstreitender Lagerfunktionen – Isolation, Zwangsarbeit, Umerziehung – und in bestimmten sozialen Zusammenhängen ging dort die Handlungsfähigkeit über widerständiges Verhalten hinaus und konnte Anpassung, Mitarbeit, Selbsterhalt und in Einzelfällen Selbstverwirklichung gleichermaßen beinhalten. Julia Manek verweist mit Blick auf die mexikanischen estaciones migratorias zudem auf unsichtbare Formen des Widerstands wie Selbstverletzung oder auch den Rückzug auf das eigene Selbst, den sie als »stille Trauer« beschreibt. Eine Interaktion und Handlungsfähigkeit entlang gleichwohl asymmetrischer Machtverteilungen findet sich zudem in den Beiträgen von Christoph Jahr, Reinhard Bernbeck oder auch Tobias Breuckmann wieder. Mit solchen empirisch unterfütterten Erkenntnissen wird sowohl die Konstruktion des »nackten Lebens« bei Giorgio Agamben herausgefordert als auch die binäre Unterteilung der Lagergesellschaften in Bewacher:innen und Bewachte. Der Beitrag von Annett Bochmann bietet in diesem Zusammenhang eine theoretische Ergänzung zu den bisher rezipierten Lagertheorien, welche das interaktive und situative Geschehen, den praktischen Vollzug sowie die lokalen Ordnungen vor Ort stärker in den Fokus rückt.

Ein systematischer Vergleich anhand der benannten Dimensionen benötigt noch weitere Spezifizierungen und Ausdifferenzierungen. Doch verdeutlichen unsere Überlegungen, wie die Institution Lager zeit-, raum- und kulturübergreifend vergleichend in den Blick genommen werden kann, und, dass mit Hilfe des Vergleichs die einzelnen Fallbeispiele besser verstanden und gefasst werden können. Neben den von uns vorgestellten Dimensionen liefern zusätzlich sozialtheoretische Ansätze einen Rahmen möglicher Vergleiche. Kentnisse über die Theorien und Konzepte von Autor:innen wie Hannah Arendt, Giorgio Agamben, Michel Foucault, Erving Goffman, Victor Turner und Arnold van Gennep erscheinen uns als ein geeigneter Ausgangspunkt für einen interdisziplinären Dialog. Die einzelnen Beiträge in unserem Sammelband gehen daher über die Darstellung der empirischen Befunde hinaus und setzen sich kritisch mit einzelnen Ansätzen der genannten Autor:innen auseinander. Die theoretischen Rahmungen dienen dazu, die empirische Komplexität und Pluralität zu reduzieren, zu abstrahieren und damit für einen Vergleich fruchtbar zu machen.

Trotz der komparatistischen Schritte, die wir hier vornehmen, möchten wir abschließend noch einmal betonen, dass die eine Lagerordnung, die Lagertypologisierungen teilweise suggerieren, nicht existiert. Die hier versammelten Aufsätze zeigen sehr deutlich die Heterogenität der sozialen Institution Lager auf. Zudem werden die teils fließenden Grenzen zu anderen Regimen des Zwangs an den Beispielen der »Judenhäuser«, der chinesischen Fabriksysteme oder der Umsiedlungssiedlungen in Peru und Ecuador offensichtlich. Unser Ziel ist es aufzuzeigen, dass es für die Lagerforschung erfolgversprechend ist, disziplinübergreifend in den Dialog zu treten und anhand spezifischer Lagerphänomene umfassende Differenzen und Analogien herauszuarbeiten und auch lagerähnliche Strukturen zur Machtausübung über Kollektive in den Blick zu nehmen. Solcherart phänomenorientierte Komparabilitäten bieten das Potenzial, den Forschungsgegenstand Institution Lager noch besser zu verstehen.

Überblick über die einzelnen Beiträge

Die Zusammenschau der Einzelfallstudien in diesem Sammelband kann keineswegs dem Anspruch auf Vollständigkeit gerecht werden. Gleichwohl war es uns ein Anliegen, die besprochenen Einzelfälle sowohl hinsichtlich der Chronologie, der jeweiligen Funktion der Lager, der Geografie als auch der politischen Umgebung möglichst breit und weit zu streuen. Alle Autor:innen legen sehr unterschiedliche Schwerpunkte und dennoch werden die von uns bereits diskutierten Dimensionen und Phänomene sichtbar, ohne dass wir dies vorgegeben hätten. Abschließend möchten wir kurz den Aufbau des Sammelbandes und die einzelnen Beiträge im Sammelband mit ihren Hauptargumenten vorstellen.

Theorie und Komparabilitäten

Der Sammelband beginnt mit drei theoretisch bzw. komparativ orientierten Beiträgen, die Möglichkeiten des Vergleichs in Bezug auf die Institution Lager reflektieren. Die Soziologin Annett Bochmann bietet einen zusammenfassenden Überblick zu unterschiedlichen sozialtheoretischen Ansätzen der Institution Lager. Diskutiert werden Potenziale und Grenzen derjenigen theoretischen Konzepte, die in der Lagerforschung rezipiert werden. Während die Konzepte von Hannah Arendt, Giorgio Agamben, Michel Foucault und anderen insbesondere helfen, Machtstrukturen, Herrschaftsmechanismen und den Ausschluss der in Lagern festgehaltenen Menschen analytisch zu fassen, so greifen sie – so Bochmann – für ein Verständnis der lokalen Praktiken, Aushandlungsprozesse und Interaktionen im Kontext der Institution zu kurz. Diese lokalen Aushandlungsprozesse werden in empirischen Studien zu Lagern jedoch in den Blick genommen. Bochmann schlägt daher vor, diese Diskrepanz zwischen den bisherigen theoretischen Ansätzen und den Ergebnissen der empirischen Studien mittels einer prozessualen, praxeologischen Soziologie zu überwinden.

Auch der Archäologe Reinhard Bernbeck adressiert die Notwendigkeit, Handlungspotentiale und agency in den Blick zu nehmen und zeigt die Potenziale der Lefebvreʼschen Raumtheorie am Beispiel der archäologischen Hinterlassenschaften des Lagers Tempelhof für derartige, auch komparative Analysen auf. Gleichwohl stoßen nach Bernbeck solchermaßen wissenschaftlich-komparatistische Ansätze an Grenzen, seien Lager doch nicht nur Orte des sozialen Handelns, sondern vor allem Orte des Leidens.

Der Geograf Tobias Breuckmann erweitert in seinem Beitrag zu Geflüchtetenlagern in Europa Foucaults Analytik der Macht durch raumtheoretische Ansätze, denen zufolge der Raum und dessen Materialität Machtverhältnisse und Machttechniken mitbeeinflussen. Im weiteren Verlauf diskutiert Breuckmann die Potentiale von Scale- und Netzwerktheorien für eine solche raumtheoretische Analyse der Institution Lager und argumentiert, dass erst hierdurch erklärt werden kann, wie sich lokale Praktiken zu umfassenderen Handlungssystemen des Migrationsregimes vernetzen, wie der Raum das Mit- (und Gegen-)einander der involvierten Akteur:innen beeinflusst.

Die im Folgenden vorgestellten, empirisch orientierten Beiträge des Bandes sind thematisch analog zu den von uns identifizierten Vergleichsdimensionen geordnet und je nach Schwerpunktsetzung auf die Abschnitte Zwangs-/Schutz-/Erziehungsregime für Kollektive, Temporalität/Provisorium/Liminalität, Materialität/Raum/Architektur und Subjektivität/Körper/Handlungsmacht verteilt.

Zwangs-/Schutz-/Erziehungsregime für Kollektive

Der Beitrag des Historikers Marc Buggeln nimmt nationalsozialistische Konzentrationslager und den stalinistischen Gulag vergleichend in den Blick. Er fokussiert dabei die Arbeitssysteme dieser Lagerinstitutionen und fragt nach dem Verhältnis von Produktivität und Sterblichkeit. Der Autor diskutiert die Grenzen der Analysen von Hannah Arendt und Wolfgang Sofsky hinsichtlich der Definition von Zwangs- und Terrorarbeit. Im Gegensatz zu Arendt und Sofsky betont Buggeln die ökonomische Bedeutung der Zwangs- und Terrorarbeit für die Verantwortlichen und regt einen Vergleich von Sklaverei und den Zwangsarbeitssystemen der beiden großen Diktaturen des 20. Jahrhunderts an.

Anschließend diskutiert der Historiker Jochen Lingelbach die wenig bekannten Lager für europäische Geflüchtete im kolonialen Afrika im Zeitraum von 1942 bis 1950, deren Lagerordnung nicht nur von militärischen Logiken und Diaspora-Netzwerken, sondern auch von kolonialen Kontexten und dem sich gerade erst entwickelnden UN-Flüchtlingsregime geprägt war. Auf Grundlage seiner empirischen Ergebnisse schlägt er für den Vergleich von Lagern eine auf drei Ordnungslogiken basierende Matrix vor: Selbstorganisation, hierarchisierende Zuschreibungen gegenüber dem lagerisierten Kollektiv und schließlich bürokratisch-humanitäre Rationalitäten.

Die Umerziehungslager im heutigen China sowie die mit diesen Lagern in enger Beziehung stehenden »Industrieparks zur Umerziehung« stellt der amerikanische Anthropologe Darren Byler vor. Er beschreibt sie als Element einer industriellen Infrastruktur, die weitestgehend entlang ethnischer Zugehörigkeiten funktioniert und Überwachungs-, Umerziehungs- und Arbeitsregime vereint. Byler betont insbesondere die Rolle einer hoch technisierten, infrastrukturellen Macht bei der Erschaffung einer letztendlich unfreien und ethnisch-rassifizierten Unterschicht an Arbeiter:innen. Er zeigt die fließenden Übergänge zwischen einer infrastrukturellen Überwachung der Arbeitskraft und einer tatsächlichen Lagerisierung auf.

Temporalität/Provisorium/Liminalität

Mit seinem Aufsatz über die kolonialen Konzentrationslager in Südafrika (1899–1902) plädiert der Historiker Jonas Kreienbaum für eine Auflösung der Trennung zwischen einer Interpretation der Lager als Zwangs- oder als Schutzinstitution. Er zeigt die ambivalente Motivlage hinter der Einrichtung dieser Lager auf und konzipiert sie daher als eine Kombination aus Flüchtlings- und Konzentrationslagern, in denen das Massensterben ein Resultat von Desinteresse war. In Abgrenzung zu Befunden, die, inspiriert von der Forschung zu NS-Konzentrationslagern, Lager als Orte »absoluter Macht« verstehen, beschreibt Kreienbaum sein Fallbeispiel als eindeutiges Provisorium, in dem Terror und Gewalt eine untergeordnete Rolle spielten.

Die Soziologin Elisabeth Pönisch betrachtet in ihrem Beitrag sogenannte »Judenhäuser«. Sie erörtert, inwiefern das Konzept der Liminalität von Victor Turner für diese Zwangsgemeinschaften mit lagerähnlichen Strukturen im Besonderen, aber auch für die Institution Lager im Allgemeinen fruchtbar gemacht werden kann. Über Turner hinausgehend legt sie dar, dass sich die Menschen, die in die »Judenhäuser« gezwungen wurden, gegen den Statusübergang wehrten. Sie zeigt, dass alte Identitätskonstruktionen Gültigkeit behielten, sich gleichzeitig Routinen aber äußerst schnell verflüchtigten und sich neue Ordnungen herausbildeten.

Auch der Soziologe Daniel Bultmann nutzt die Ritualtheorien Arnold van Genneps und Victor Turners, um die Todes- und Umerziehungslager der Kommunistischen Partei in Kambodscha im Zeitraum von 1975 bis 1979 als liminale Räume zu beschreiben. Bultmann identifiziert die Gewalt in den Lagern der Roten Khmer als Teil eines Übergangsritus, durch den Personen aus der eigenen Gesellschaft separiert und über eine Phase der Liminalität, in der massive Folterpraktiken zur Anwendung kommen, in den Status des Feindes überführt werden. Anders als in den von van Gennep und Turner beschriebenen Statuspassagen bleibt die abschließende Phase der Aggregation ebenso uneindeutig wie die Abgrenzung zwischen Insass:innen und Lagerpersonal. Gerade die verschwimmenden Grenzen zwischen Feind und Freund sieht Bultmann als ursächlich für die Brutalität der Folter im Lager an.

Materialität/Raum/Architektur

Die Historikerin Mirjam Sprau nutzt das Konzept der Heterotopie von Michel Foucault, um die Vielschichtigkeit der Beziehungen von Lager und Region am Beispiel der stalinistischen Zwangsarbeitslager in der Region Kolyma in Sibirien nachzuzeichnen. Sie argumentiert, dass die Lager in diesem Fall Ausdruck und Mittel binnenkolonialer Ansätze waren, der Raum mittels der Lager erschlossen und wirtschaftlich ausgebeutet werden sollte. Indem die ganze Region zum Haftraum erklärt wurde, geriet sie unter die Kontrolle des Staatsschutzes, was zu einer Entmachtung der üblichen lokalen sowjetischen Organisationsstrukturen führte. Um diese Besonderheit zu fassen, überträgt Sprau Erving Goffmans Modell der »totalen Institution« auf die gesamte Region.

Die Umsiedlungslager in Algerien beschreibt die Soziologin Heike Delitz als Bestandteil einer kolonialen Transformation von Gesellschaft und Subjekt. Ein besonderes Augenmerk richtet sie dabei in Anlehnung an Claude Lévi-Strauss, Pierre Bourdieu und Philippe Descola auf die Funktion der Architektur und die Regruppierung der Kollektive. Beides unterstützte nicht nur die Kontrolle über Menschen und Raum, sondern diente sowohl einer Neuausrichtung von Raum und Zeit als auch der Umdeutung der Beziehungen der Geschlechter und Generationen, sozialer Hierarchien, Identitäten und Besitzverhältnisse ganz im Sinne der kolonialen Machthaber. Anhand einer Kontrastierung mit Umsiedlungssiedlungen in Peru und Ecuador zeigt Delitz auf, dass diese kolonialen Architekturpolitiken auch ohne Lagerisierung Wirkmacht entfalten konnten. Gleichzeitig betont sie einmal mehr die Heterogenität der Institution Lager, indem sie darauf verweist, dass die Umsiedlungslager in Algerien weder dem Ausschluss dienten noch temporär angedacht waren.

Die Erstaufnahmelager in Deutschland stehen bei der Politikwissenschaftlerin Laura Adam im Mittelpunkt der Analyse. Aus der Perspektive eines heterotopischen Raumverständnisses und einer räumlichen Machtanalyse identifiziert sie diejenigen Machttechniken, die einer Eingliederung der Migrant:innen in die Ordnungskategorien des Staates dienen sollen. Dabei versteht und beschreibt sie die Bewohner:innen der Erstaufnahmelager ausdrücklich als Mitgestalter:innen des heterotopischen Raums.

Subjektivität/Körper/Handlungsmacht

Der Historiker Christoph Jahr nimmt eine Studie von John Davidson Ketchum zu einem Internierungslager im Ersten Weltkrieg in Ruhleben zum Ausgangspunkt, um die Interaktion, Strukturierung und Machtarithmetik einer weitestgehend sich selbst überlassenen Lagergesellschaft zu skizzieren. Gerade die Analyse der Organisationsprinzipien der Selbstverwaltung in Ruhleben liefern Jahr Ansatzpunkte für den Vergleich mit anderen Lagersystemen. Auch wenn sich Funktion und Gewaltausprägung in Ruhleben und den Lagern der totalitären Regime fundamental unterschieden, sind es strukturelle Ähnlichkeiten, die dazu dienen können, bislang kaum beachtete Phänomene wie das der »Funktionshäftlinge« in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern besser zu verstehen. Gleichwohl diskutiert und hinterfragt er aber die Anwendbarkeit von Großtheorien in Bezug auf die Institution Lager, die letztendlich der Heterogenität derselben nicht gerecht werden.

Die Ambivalenz zwischen staatlicher Intention zur Funktion der Lager und situativer Dynamik in den Zwangs- und Isolationslagern in der frühen Sowjetunion analysiert die Historikerin Felicitas Fischer von Weikersthal. Obwohl diese Lager von ihren Gründern als »totale Institution« par excellence konzipiert wurden, durchbrachen parallele und sich zum Teil widersprechende Aufgaben – Isolation, Ausbeutung und »Umerziehung« – eine strikte Absonderung und Unterdrückung der Lagerinsass:innen. Dies, aber auch neue oder aus der Zeit vor der Lagerisierung stammende soziale Rollen und Hierarchien eröffneten Handlungsräume, die weit über das hinausgehen, was Erving Goffman als »Unterwelten« der »totalen Institution« beschreibt.

Die Geografin Julia Manek kritisiert zentrale Annahmen der Agamben’schen Konzeption des Lagers und ihre Widersprüche am Beispiel der mexikanischen Haftmigrationslager, den estaciones migratorias. Die Menschen in den Lagern würden trotz äußerst schwieriger Haftbedingungen ihrer Autonomie und Handlungsfähigkeit nicht beraubt, vielmehr bleiben widerständige Subjektivierungen erhalten beziehungsweise werden erst durch die Haft hervorgerufen. In diesem Zusammenhang diskutiert die Autorin die Bedeutung von Rassismus als Mittel biopolitischer Lagerherrschaft. Unterschiede im Regime werden gerade entlang rassistischer Kriterien – aber auch entlang der Kriterien Geschlecht und Sexualität – hergestellt.

Abschließend möchten wir uns ganz herzlich bei den Autorinnen und Autoren für ihre Bereitschaft bedanken, uns ihre Beiträge zur Verfügung zu stellen und sich an unseren mehrstufigen Reviewverfahren und teilweise sehr intensiven Korrekturprozessen zu beteiligen. Alle Autor:innen partizipierten an internen Reviewprozessen, in dem ausnahmslos konstruktive Kritik zu den einzelnen Artikeln gegeben wurde, aber auch angenommen und entsprechende Änderungen vorgenommen wurden. Dieser gewinnbringende, wissenschaftliche und intensive Austausch ist insbesondere vor dem Hintergrund der Interdisziplinarität nicht selbstverständlich. Von dieser engagierten Übersetzungs- und Zusammenarbeit haben wir enorm profitiert. Ein Resultat dessen ist der Sammelband und hoffentlich viele weitere Inspirationen, welche nicht nur die Camp Studies voranbringen.

Zu großem Dank verpflichtet sind wir unseren studentischen Hilfskräften Celia Hsü, Elisa Zielmann, Hannah Wolf, Elias Hansen und Simon Schulz für deren sorgfältige Durchsicht der einzelnen Artikel und des Gesamtmanuskripts. Paula Simon und Celia Hsü möchten wir für die Mithilfe an der Übersetzung des Beitrags von Darren Byler danken. Zudem gilt unser Dank Prof. Dr. Joël Glasmann, der uns in unserem Vorhaben unterstützt hat, sowie Catharina Heppner für die sorgfältige Betreuung der Publikation.

Literatur

Agamben, Giorgio (2002), Homo Sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Berlin.

Anderl, Gabriele/Erker, Linda/Reinprecht, Christoph (Hg.) (2022), Internment refugee camps. Historical and contemporary perspectives, Bielefeld.

Arendt, Hannah (1955), Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, Hamburg.

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Bochmann, Annett (2019), »The power of local micro structures in the context of refugee camp«, in: Journal of Refugee Studies, Jg. 32, H. 1, S. 63–85.

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Bochmann, Annett (2023), »Institution Lager«, in: Martin Endreß/Benjamin Rampp (Hg.), Politische Soziologie, Glashütte, im Erscheinen.

Fischer von Weikersthal, Felicitas (2011), Die »inhaftierte« Presse. Das Pressewesen sowjetischer Zwangsarbeitslager, 1923–1937, Wiesbaden [= Forschungen zur Osteuropäischen Geschichte, Bd. 77].

Fischer von Weikersthal, Felicitas (2014), »Der Gulag und die Kriegsvorbereitung der Sowjetunion«, in: Kerstin von Lingen/Klaus Gestwa (Hg.), Zwangsarbeit als Kriegsressource in Europa und Asien, Paderborn, S. 157–170.

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Greiner, Bettina/Kramer, Alan (Hg.) (2013), Welt der Lager. Zur »Erfolgsgeschichte« einer Institution, Hamburg.

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Jahr, Christoph/Thiel, Jens (Hg.) (2013), Lager vor Auschwitz. Gewalt und Integration im 20. Jahrhundert, Berlin.

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Wachsmann, Nikolaus (2015), KL. Die Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, München.

I.Theorie und Komparabilitäten

Ambivalenz der Ausnahme und Normalität. Sozialtheoretische Ansätze zur Institution Lager

Annett Bochmann

Lager – Orte, an denen Menschen gezwungen werden zu leben – sind global und historisch betrachtet keine Ausnahme. Die Institution Lager ist ein vom Regierungssystem unabhängiges, weit verbreitetes und durchaus etabliertes Politikinstrument, mit dessen Hilfe spezifische Menschengruppen isoliert und zu kontrolliert werden.23 Ungeachtet dieser Tatsache betrachtet die Sozialtheorie Lager als Anomalien, mit der Begründung, dass in diesen Institutionen Ereignisse stattfänden, die sich außerhalb des Rechts und außerhalb gewöhnlicher sozialer Normen befänden.

Der Ausnahmecharakter ist auch der Ausgangspunkt der meisten Historiker:innen und Philosoph:innen, die den Ursprung der Institution Lager in den ersten Konzentrationslagern um 1900 während der kubanischen Unabhängigkeitskriege gegen Spanien24 oder dem zweiten südafrikanischen Krieg verorten.25 Mit diesen von den Spaniern und Briten eingerichteten Institutionen der Zwangsumsiedlung an der imperialen Peripherie wird der Zeitpunkt des ersten Aufkommens von Lagernarrativen identifiziert.26 In diesem Zeitraum wurden auch in der ehemaligen Kolonie Deutsch-Südwestafrika im Kontext des Völkermordes an den Herero und Nama Konzentrationslager errichtet.27 Jedoch wurden bereits vor 1800 Gefangenenlager und Reservationssysteme für die indigene amerikanische Bevölkerung28 geschaffen, welche im Kontext der Lagerforschung kaum rezipiert und eingeordnet werden. Nicht nur die kolonialen Konzentrationslager in Südamerika und Afrika, sondern auch das System der Reservate in Nordamerika dienten der massenhaften Internierung »feindlicher« Bevölkerungsgruppen. Teilweise von diesen ersten Lagersystemen inspiriert29, wurde mit den Konzentrations- und Vernichtungslagern im Nationalsozialismus sowie den Lagern im Gulag-System der Sowjetunion ein systematisches Netzwerk von Lagerinstitutionen errichtet.30 Gegenwärtig sind Flüchtlingslager die global verbreitetste, wenn auch nicht alleinige Form von Lagern auf der Welt. Die Etablierung dieser Lager ist eine politische Antwort auf Flucht und Migration über Staatsgrenzen hinweg. Lager erscheinen aktuell als Instrumentarium der internationalen Politik, um globale Mobilitäten von Menschen zu stoppen, zu kontrollieren und zu regulieren.31

Dieser kurze Rekurs soll zeigen, dass das Lager als ein global und historisch verbreitetes Instrument und eine Technologie politischer Herrschaft zu verstehen ist, der sich Diktaturen als auch Demokratien bedienen. Lager sind Teil einer transnationalen Institutionengeschichte und prägen nicht nur die Politik des 20. Jahrhunderts, wie von Zygmunt Bauman akzentuiert,32 sondern ebenso die internationale Politik der Gegenwart. Lagerinstitutionen existieren von der Vergangenheit bis zur Gegenwart in verschiedensten Formen, von »Maschinen des Terrors«33 bis hin zu wenig abgegrenzten Siedlungen.34 Ein Anomaliecharakter, eine Ausnahme, lässt sich vor diesem Hintergrund kaum attestieren, selbst wenn die Etablierung eines Lagers zunächst als temporär und vorläufig betrachtet wird. Die Ausnahme kann nur auf die Behandlung der Menschengruppen bezogen werden, die gezwungen werden, in ihr zu sein, im Kontrast zur Behandlung der Menschengruppen, die in der Welt außerhalb des Lagers leben.

Der folgende Artikel legt dar, welche und wie Sozialtheorien in der empirischen Lagerforschung genutzt werden, um verschiedene Aspekte von Lagersystemen und ‑konstellationen zu beleuchten. Die in der Forschungslandschaft zu unterschiedlichen Lagersystemen typischerweise angewandten Sozialtheorien ‒ die ich im Folgenden als Lagertheorien bezeichne ‒ tendieren dazu, den Ausnahmecharakter und die Macht von Lagerstrukturen, die durch einen dominanten Souverän auferlegt worden sind, zu fokussieren.35 Dadurch geraten bestimmte Aspekte aus dem Blick, wie etwa die »Notwendigkeiten« der Lagerinsass:innen, das Lagerleben (erträglich) zu gestalten, sowie die Eigendynamiken des Lagerlebens selbst. Damit blenden diese Lagertheorien den Umgang, die Macht, die Bearbeitung, den Widerstand und Kampf von Lagerinsass:innen und dem Lagerpersonal gegenüber auferlegten Strukturen aus. Gleichwohl kann diese binäre Unterscheidung zwischen Beherrschten und Herrschenden in der Praxis diffus sein.36

Wissenschaftler:innen, die aktuell zu unterschiedlichen Lagerkonstellationen forschen, arbeiten in ihren empirischen Studien genau diese Aspekte heraus.37 Diese Differenzen zwischen Theorie und Empirie machen es notwendig, die etablierten Lagertheorien um eine prozessuale, praxeologische Soziologie zu ergänzen. Diese Perspektive ermöglicht es, die lokalen und interaktiven Lagerordnungen in den Blick zu nehmen.

Im ersten Teil des Artikels skizziere ich die grundlegenden Ideen der Lagertheorien und zeige, was diese Konzeptionen in Bezug auf die empirische Lagerforschung leisten, wie sie unser Verständnis von Lagerinstitutionen prägen und wo ihre Grenzen liegen. In der Lagerforschung wird immer wieder auf Hannah Arendts Überlegungen zu Konzentrationslagern und totalitären Regimen verwiesen. Giorgio Agambens Arbeiten zum Ausnahmezustand werden breit und interdisziplinär (sehr kritisch) rezipiert. Zu den in Studien zu Lagern typischerweise angewandten Sozialtheorien zählen des Weiteren die »totale Institution« und die Disziplinarinstitution, wie sie von Erving Goffman (in Asyle) und Michel Foucault (in Überwachen und Strafen) beschrieben werden. Ebenso trägt das Konzept der Heterotopie, Biopolitik und Gouvernementalität von Foucault zu unserem Verständnis von Lagerinstitutionen bei. Weniger, aber zunehmend sichtbar in der Lagerforschung erscheint das Konzept der Liminalität (in den rites de passage) von Arnold van Gennep, das von Victor Turner weiterentwickelt wurde. Abschließend rekapituliere ich die markierten Leerstellen dieser theoretischen Ansätze und zeige, wie diese konzeptuell über eine prozessuale Soziologie überwunden werden können.

Ein zentraler Aspekt dabei ist, dass Möglichkeiten, vor allem aber auch »Notwendigkeiten« der Lagerbevölkerung und anderer lokal präsenter Akteur:innen bestehen, an den Lagerregimen interaktiv mitzuwirken. Das Lagerkollektiv ist differenziert zu betrachten. Die Macht des interaktiven Geschehens, lokaler Ordnungen und Mikrostrukturen, die ich auf Basis meiner Forschung zu Flüchtlingslagern im Globalen Süden konzipiert habe, verdeutlicht dies.38 Am Ende fasse ich die wichtigsten Erkenntnisse, die wir über die etablierten Lagertheorien erhalten, zusammen und diskutiere das Konzept eines kritischen Lagerregimes. Es besitzt das Potenzial, die machtvollen, lokalen und interaktiven Ordnungen und Mikrostrukturen empirisch und theoretisch in die Betrachtung der Institution Lager einzuschließen.

Sozialtheorien zu Lagerinstitutionen und ihre Grenzen

Totalitarismus und Lager

Arendts Überlegungen zu Lagern und ihre Idealtypologie zu Konzentrationslagern wird in der Lagerforschung vielfach genutzt und rezipiert.39 Sie setzt die Funktion von Lagern mit politischen Systemen in Zusammenhang. In ihrem Werk Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft40 diskutiert Arendt unter anderem die Rolle von Lagern in totalitären Regimen, insbesondere dem Nationalsozialismus und Stalinismus. Laut der Theoretikerin sind diese totalitären Regime daran interessiert, über jeden Bereich des menschlichen Lebens zu herrschen. Lager dienen den Regimen als Laboratorien, um zu demonstrieren, dass der fundamentale Glauben des Totalitarismus, dass alles kontrolliert und möglich ist, bewiesen werden kann.41 Um die Macht des Regimes zu demonstrieren, wurden diese Labore für Experimente aller Art genutzt.42 Ferner nimmt Arendt an, dass Lager die strikteste Form der für die Aufrechterhaltung totalitärer Regime und Gesetze errichteten Institutionen darstellen. Allen Typen von Konzentrationslagern ist nach Arendt jedoch gemein, dass ihre Insass:innen »so behandelt werden, als ob sie nicht mehr existierten, als ob das, was mit ihnen geschah, niemanden mehr interessierte, als ob sie schon tot wären«.43

Die Theoretikerin differenziert dabei zwischen drei verschiedenen Idealtypen von Lagern, die sich stufenweise über den Grad von Demütigungen abgrenzen. In drei aufeinanderfolgenden Schritten werden die Insass:innen allmählich zu »lebenden Leichen«44: Im Hades wird die juristische Person aus dem Individuum eliminiert und die Existenz der Insass:innen außerhalb der Legalität gestellt. Im Fegefeuer wird zusätzlich die moralische Person zerstört und die Unterscheidung zwischen Leben oder Tod irrelevant, wodurch die Rolle der Opfer abgeschafft und die menschliche Solidarität aufgegeben wird. In der Hölle schließlich wird die einzigartige Identität des Menschen zerstört und die Insass:innen werden zu nackten Wesen. Diese allmähliche Herabstufung der Häftlinge zu lebenden Leichen, der Terror und die Qualen im Lager offenbaren die Vorstellung, dass in totalitären Regimen nicht nur alles erlaubt, sondern auch alles möglich ist.45

Ferner beschreibt Arendt in ihren Analysen den Charakter der nihilistischen Verallgemeinerung von Insass:innen, die ebenso von Goffman und Turner beschrieben worden ist.46 Vor allem hebt sie jedoch die staatliche Produktion der nicht-juristischen Person in allen Arten von Lagern hervor, welche die Zerstörung von Individuen »erfolgreich« etabliert.47 Zudem verweist Arendt auf einen weiteren zentralen Punkt der Lager, nämlich die Kollektivbehandlung und das »Prinzip der verdichteten und segmentierten Masse«.48

In Anlehnung an Arendt kann die Institution Lager somit als Raum jenseits des Gesetzes betrachtet werden. Lager nehmen den Häftlingen alles Menschliche und zielen darauf ab, alles »Überflüssige« abzuschaffen.49 Der (umstrittene) politische Theoretiker und Nationalsozialist Carl Schmitt, auf den sich Arendt sowie Agamben beziehen, begründete diese Aussetzung des Rechts mit dem Ausnahmezustand.50 Die Ausrufung eines Ausnahmezustands würde die Regierungen dazu legitimieren, die verfassungsmäßigen Rechte zu beschneiden, um die soziale Ordnung zu sichern oder aufrechtzuerhalten. Der Ausnahmezustand erlaubt es den Behörden, die bestehende Rechtsordnung zeitweise auszusetzen und neue Gesetze zu erlassen, ohne an diese gebunden zu sein.51

Darüber hinaus lernen wir von Arendt, dass machtlose Situationen selbst in absoluten totalen Institutionen schwer vorstellbar sind, nicht zuletzt, weil das Zustandekommen von Macht von der Kooperation zwischen den Kontrollierten und Herrschenden abhängt.52 Auf diesen wichtigen Aspekt verweist die Theoretikerin bereits, ich greife ihn am Ende des Artikels noch einmal auf.

Das Lager als Ausnahmezustand

Mit Agamben, der in der Lagerforschung nicht nur von Historiker:innen und Soziolog:innen kritisch rezipiert wird,53 verbleibt der theoretische Schwerpunkt auf der Macht der staatlichen Herrschaft und Souveränität, die das Lager als einen Ausnahmezustand erschafft. Er knüpft an Arendts Gedanken zu Konzentrationslagern als menschenvernichtende Räume an, bezieht sich aber auch auf Foucault und sein Konzept der Biopolitik, das er in Arendts Analyse totalitärer Regime vermisst, sowie auf Schmitts Konzept des Ausnahmezustands. Agamben folgt daher den Überlegungen von Arendt, Schmitt und Foucault und argumentiert, dass das Lager im Allgemeinen das Musterbeispiel für biopolitische Prozesse der modernen Welt darstellt.54

Analog zu Schmitt charakterisiert Agamben das Lager als state of exception, der durch Nationalstaaten dauerhaft realisiert und somit zur Regel wird. Er argumentiert, dass Lager exemplarische Zonen der Ununterscheidbarkeit darstellen, da innerhalb dieser Orte der Unterschied zwischen Norm und Ausnahme unscharf wird.55 Der Staat als Souverän entscheidet über die Aufnahme von Menschen in die politische Gemeinschaft durch den Ausschluss von Menschen oder durch Orte wie Lager, an denen ein Rechtsstatus verweigert wird. Dies hat zur Folge, dass Individuen im Ausnahmezustand Gegenstand verschiedener Formen von Gewalt werden können, ohne dass es rechtliche Konsequenzen gibt.56 Agamben zufolge ist in den Lagern aufgrund des state of exception alles möglich. Er versucht, das moderne Lager und seine Räumlichkeit als einen permanenten Ausnahmeraum zu theoretisieren, in dem die Menschen auf das nackte, bloße Leben reduziert und ihrer Subjektivität beraubt sind. Das Lager betrachtet er als eine Technologie der staatlichen Macht; einen Raum, der diejenigen, deren Leben lebenswert ist, von denen trennt, die verlassen und ausgeschlossen werden müssen; einen Raum, in dem das Leben der Bewohner:innen allein durch den Ausschluss in die Rechtsordnung einbezogen und so tatsächlich politisiert wird.57

Agamben stellt des Weiteren fest, dass in der modernen Politik die traditionelle altgriechische Trennung zwischen dem natürlichen Leben (zoé) und dem politischen Leben (bios), welche die politische Ordnung seit Jahrhunderten aufrechterhalten hat, aufgehoben wird und biopolitische Körper produziert werden. Lager sind für ihn daher die totalen biopolitischen Räume, in denen sich der permanente Ausnahmezustand materialisiert. Infolgedessen befinden sich die Lagerinsass:innen in einer Zone der Ununterscheidbarkeit zwischen richtig und falsch, Ausnahme und Regel oder zoé und bios.58 So kann das Lager als »die verborgene Matrix und der neue Nomos des politischen Raums, in dem wir immer noch leben, betrachtet werden.«59

Während Foucaults Biomacht den normalen Zustand der Gesellschaft beschreibt, wählt Agamben die Betrachtung des Ausnahmezustands am Beispiel des Lagers. Dennoch folgt Agamben den Überlegungen Foucaults, indem er Lagerstrukturen als Musterbeispiele für das Gesellschaftsleben allgemein beschreibt.60 Im Anschluss an Agamben argumentieren einige Autor:innen, dass das Lager eine hypermoderne Differenzierung der Gesellschaft kennzeichnet, die nicht länger durch das, was Emil Durkheim als »organische Solidarität« bezeichnet, zusammengehalten werden kann.61 Sie vertreten die Ansicht, dass das, was sie als die Logik des Lagers verstehen, auf die normale Gesellschaft übertragbar sei. Auf diesem Wege bleibt das Lager keine Anomalie, durch die die normale Ordnung der Dinge besser verstanden werden kann,62 sondern wird zur normalen Ordnung der Dinge.63

Agamben unterscheidet in seinen Arbeiten kaum zwischen verschiedenen Arten von Lagern mit ihren spezifischen, historischen Kontexten und Topografien, sondern vergleicht Konzentrationslager mit spanischen Flüchtlingslagern, den zones dʼattente französischer internationaler Flughäfen oder Guantanamo Bay. Er argumentiert, dass sie alle die gleiche Grundstruktur und eine Gemeinsamkeit haben: die Aussetzung des Rechts aufgrund des permanenten, staatlich initiierten Ausnahmezustands. Für die unterlassene Differenzierung und die daraus resultierende Relativierung des genozidalen Massenmordes in einigen Typen der nationalsozialistischen Konzentrationslager ist Agamben häufig kritisiert worden.64 Der Historiker Stone weist bspw. darauf hin, dass es verschiedene Typen von Konzentrationslagern gibt, die nicht ausschließlich unter Diktaturen entstanden sind.65 Obwohl Stone anerkennt, dass Lager ein Produkt der Moderne sind, betont er, dass sie unterschiedliche historische Kontexte und spezifische institutionelle Praktiken beinhalten, die berücksichtigt werden müssen. Kritisch diskutiert wird ebenso die Fokussierung Agambens auf den Staat.66 Das Lager ist ein Ordnungsraum, der von multiplen Prozessen, widersprüchlichen Praktiken, sozialen sowie politischen Konflikten und Kämpfen durchzogen ist. Ein Lager unterliegt permanenter Spannung und normativer Anfechtung. Die Durchsetzung der Norm und ihrer Ausnahme kann nicht als rein staatlicher Akt begriffen werden. Wenn, Agamben folgend, Souveränität die Fähigkeit bedeutet, die Ausnahme zu deklarieren, dann müssen wir verstehen, welche Akteure, Beziehungen und Praktiken zur Aufhebung der Rechtsordnung beitragen.67

Das Lager als »totale Institution«, Disziplinaranstalt und Panoptikum

Foucault und Goffman bieten über die Analyse von geschlossenen Institutionen eine andere (teilweise aber auch ergänzende) Perspektive auf Lager. Die Konzeption von Goffmans »totaler Institution« teilt einige Eigenschaften mit der Disziplinarinstitution, die von Foucault beschrieben wird.68 Die Internierung in diese Institution kann als liminaler Abschnitt charakterisiert werden, denn die Insass:innen verlieren ihren alten, normalen Status und erlangen durch die Institution einen neuen.69 Dieser neue Status zielt darauf ab, passende Mitglieder der Institution hervorzubringen, die später zu passenden Mitgliedern der Gesellschaft werden, in welche sie eingegliedert werden sollen. Sowohl Foucault als auch Goffman heben hervor, dass es nicht die Krankheit oder das Verbrechen ist, die eine:n Patient:in oder Gefangene:n charakterisieren, vielmehr ist es die Institution selbst, die die Insass:innen als verrückt, anormal und kriminell hervorbringt. Dies ist ein zentraler Aspekt, der auf die Institution Lager und ihre Bevölkerung übertragbar ist.70

Die Konzepte der »totalen Institution« und der Disziplinarinstitution beziehen sich auf die allumfassende Inanspruchnahme durch eine geschlossene Institution und die Struktur ihrer Mitglieder, denen es nicht erlaubt ist, die Institutionen, zum Beispiel psychiatrische Kliniken, Gefängnisse und ebenso Lagerinstitutionen, zu verlassen. Analog zu Foucault beschreibt Goffman vier Hauptmerkmale einer »totalen Institution«:

Alle Bereiche des Lebens finden an einem Ort und unter einer einzigen Autorität statt.71 Diesen Ort stellt er einer »westlichen« Vorstellung von der strikten Aufteilung von Arbeit, Freizeit und Schlaf gegenüber.

Die täglichen Aktivitäten werden zusammen mit anderen Mitgliedern ausgeführt, die identisch behandelt werden und gezwungen sind, dieselben Dinge zu tun. Dies verweist auf die gleichmachenden Prozesse unter den Insass:innen, die bereits erwähnt wurden.72

Alle Tagesabschnitte und alle Aktivitäten werden im Detail geplant und von oben angeordnet, basierend auf einem System expliziter, formaler Entscheidungen des Personals bzw. der Leitung der Institution.

Die erzwungenen Aktivitäten sind Teil eines rationalen Plans, der darauf abzielt, die offiziellen Zielsetzungen der Institution zu erreichen.73

Neben vielen weiteren Merkmalen drückt sich die »totale Institution« in der Restriktion, Regulation und Kontrolle der Mobilität der Insass:innen und der sozialen Kommunikationskanäle außerhalb der Institutionen aus. Ebenfalls relevante Eigenschaften sind ein hoher Grad an Bürokratie, die unfreiwillige Anwesenheit der Insass:innen, Kontrolle und Überwachung sowie die strikte Trennung und – eine beabsichtigte – soziale Distanz zwischen dem Personal und den Insass:innen.

Analog zu Goffman analysiert auch Foucault Formen der Gefangenschaft, legt seinen Hauptfokus jedoch auf die diskursiven Formierungsbedingungen moderner Gefängnisse als Ausdruck neuer Formen von Macht – die Mikrophysik der Macht.74 Diese Form der Macht ist nicht mehr länger direkt gegen den Körper gerichtet, sondern gegen das Subjekt und seine Seele. Nach Foucault ist dieser »humanistische« Strafvollzug kein Schritt in Richtung einer humanisierten Gesellschaft, sondern korrespondiert mit dem Kalkül neuer Formen von Macht, um die Kosten und Folgen abweichenden Verhaltens zu minimieren. Foucault stellt eine neue Qualität sozialer Machtbeziehungen fest, die durch die sorgfältige Beobachtung von Details und Kontrolle kleinster und einzelner Lebensaspekte gekennzeichnet ist. Das, so Foucault, ist, was modernen Humanismus definiert. Dieser wird über Institutionen wie Gefängnisse genauso wie durch Militär, Medizin, Bildung oder eben auch Lagerinstitutionen praktiziert und durchgesetzt.

Auch wenn Foucault sich nicht explizit auf Lager bezieht, betrachtet er verschiedene Verfahren in Bezug auf Disziplin und Kontrolle, die sich in Lagersystemen wiederfinden. Er identifiziert diese Vorgänge und Phänomene jedoch bereits in der Vormoderne, wenn er die strikte Durchsetzung von Quarantäneregeln in Lazaretten bei Pestepidemien analysiert. Dabei stellt er fest, dass eine Gruppe von Menschen – ein Kollektiv – gezwungen wurde, in einem temporären Raum zu bleiben, in dem andere Regeln herrschten als in der Umgebung und gewöhnlichen Ordnung.75Diese Aspekte sind für das Verständnis von Lagerinstitutionen hochrelevant.

Eine Antwort auf die Ausnahmesituation wiederum sind Bürokratisierungs- und Regulierungsmechanismen: »Not the collective festival, but strict divisions, not law transgressed but the penetration of regulation into even the smallest details of everyday life through the mediation of the complete hierarchy that assured the capillary functioning of power«.76 Das heißt, strenge Aufteilungen und das Eindringen von Regulierungen in selbst die kleinsten Details des Alltags sichern das kapillare Funktionieren der Macht.77

Weitere Disziplinierungsverfahren und -techniken, die Foucault auf Grundlage seiner Forschungen zu Gefängnissen erörtert, sind die geregelte Verteilung von Körpern in räumlichen Arrangements;78 die Kontrolle von Aktivitäten und deren zeitliche Regelung;79 die Kombination von Zeit, Raumanordnung, Körper- und Objektkontrolle sowie deren vollständige Nutzung zur Kontrolle von Aktivitäten;80 die permanente Sichtbarkeit, die das ordnungsgemäße Funktionieren der Macht durch das Panoptikum sicherstellt und der investigative Blick.81 Die architektonische Gestalt des Panoptikums veranschaulicht die disziplinare Macht.82 Das Panoptikum schafft eine Form von Macht, die von den Körpern, die es einnimmt und erschafft, normalisiert wird. Diese Form von Macht zielt darauf ab, das Widerstandspotenzial zu minimieren und die Anpassung der Körper an die normale Gesellschaft zu optimieren. Disziplinarinstitutionen unterdrücken unerwünschtes Verhalten und modulieren gleichzeitig erwünschtes Verhalten – paradoxerweise hinreichend, um Körper zeitgleich zu reparieren, zu produzieren und zu heilen. Diese Mechanismen sind insbesondere im Kontext der Flüchtlingslagerforschung ausgearbeitet worden.83