Interaktionsorientierte Didaktik der Frühpädagogik - Regine Schelle - E-Book

Interaktionsorientierte Didaktik der Frühpädagogik E-Book

Regine Schelle

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Beschreibung

Seit die Kindertageseinrichtung als Bildungsort gesehen wird, stehen die Fachkräfte vor neuen Herausforderungen: Sie sollen Bildungsprozesse von Kindern begleiten, individuell unterstützen und diese Prozesse beobachten, reflektieren und dokumentieren. Diese Aufgaben betreffen im Kern didaktische Fragen. Neben den Grundlagen des didaktischen Handelns und den Besonderheiten frühkindlichen Lernens beleuchten die Autorinnen die Interaktion als Kernprinzip der Didaktik in der Frühpädagogik. Dabei sehen sie die Interaktion als Basis einer wertschätzenden und respektvollen Beziehung zwischen Fachkräften und Kindern und als Schlüssel, um Lern- und Bildungsprozesse bewusst anzuregen. Auf diese Weise wird gezeigt, wie Interaktionen in der Praxis Bildung alltagsintegriert ermöglichen und fördern können. Darüber hinaus wird herausgearbeitet, wie Fachkräfte die dafür notwendigen beruflichen Kompetenzen erwerben können.

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Inhalt

Cover

Titelei

1 Einleitung

2 Bildung und Lernen in der frühen Kindheit

2.1 Ausgangspunkt und Ziel: Bildung in der frühen Kindheit

2.1.1 Was ist Bildung?

2.1.2 Bildung in der Kindertageseinrichtung

2.2 Wie lernen junge Kinder?

2.2.1 Psychologische Lerntheorien

2.2.2 Frühpädagogische Perspektiven auf Lernen

2.2.3 Besonderheiten des frühkindlichen Lernens

3 Didaktik der Frühpädagogik – ein Überblick

3.1 Was meint Didaktik?

3.2 Pädagogische Konzepte der Frühpädagogik

3.3 Didaktische Konzepte der Frühpädagogik

3.4 Prinzipien einer Didaktik der Frühpädagogik

3.5 Didaktische Praktiken in der Frühpädagogik

4 Interaktion als didaktisches Kernprinzip

4.1 Interaktion und Kommunikation – Definition und Relevanz für kindliche Entwicklung

4.1.1 Anthropologische Grundannahmen zu Interaktionen

4.1.2 Interaktionsforschung zu Eltern und Kindern

4.1.3 Interaktionsforschung in Kindertageseinrichtungen

4.2 Interaktion als Schlüssel der Didaktik

4.3 Lernförderliche Interaktionsformen

5 Skizzierung eines interaktionsorientierten Konzepts frühpädagogischer Didaktik

5.1 Theoretische Hintergründe – Anschluss an didaktische Modelle

5.2 Verlauf einer interaktionsorientierten Didaktik

5.3 Prinzipien einer interaktionsorientierten Didaktik

5.4 Gegenstand einer interaktionsorientierten Didaktik

5.5 Spannungsfelder einer interaktionsorientierten Didaktik

5.6 Didaktisches Handeln als professionelles Handeln

6 Didaktische Kompetenzen erwerben – Voraussetzungen in Aus- und Weiterbildung sowie in der pädagogischen Praxis

6.1 Kompetenzorientierung in der beruflichen Aus- und Weiterbildung frühpädagogischer Fachkräfte

6.2 Der Kompetenzerwerb

6.2.1 Kompetenzorientierte Didaktik in Aus- und Weiterbildung

6.2.2 Kompetenzerwerb in der Praxis

6.3 Anbahnung didaktischer Kompetenzen in den unterschiedlichen frühpädagogischen Ausbildungsgängen sowie im Rahmen von Weiterbildung

6.3.1 Die Ausbildung zum*r Erzieher*in

6.3.2 Berufsfachschulische Ausbildungen sowie das Studium der Kindheitspädagogik

6.3.3 Kompetenzanbahnung im Rahmen von Weiterbildung

6.4 Kompetenzen für eine interaktionsorientierte Didaktik

7 Fazit und Ausblick

Literaturverzeichnis

Die Autorinnen

Dr. Regine Schelle ist Diplom-Sozialpädagogin und arbeitet als wissenschaftliche Referentin am Deutschen Jugendinstitut in München in der Abteilung Kinder und Kinderbetreuung.Dr. Tina Friederich ist Diplom-Wirtschaftspädagogin und Professorin für Pädagogik an der Katholischen Stiftungshochschule München.

Regine Schelle/Tina Friederich

Interaktionsorientierte Didaktik der Frühpädagogik

Konzepte und Prinzipien

Verlag W. Kohlhammer

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1. Auflage 2023

Alle Rechte vorbehalten© W. Kohlhammer GmbH, StuttgartGesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:ISBN 978-3-17-037210-8

E-Book-Formate:pdf: ISBN 978-3-17-037211-5epub: ISBN 978-3-17-037212-2

1 Einleitung

Seit rund zwanzig Jahren sieht sich das Arbeitsfeld der Kindertagesbetreuung damit konfrontiert, das zu beschreiben, was Bildung in diesen frühen Jahren meint und wie sie umgesetzt werden kann. Zwar wurde bereits 1990 bei Inkrafttreten des Achten Sozialgesetzbuches (SGB VIII) auch der Bildungsauftrag neben dem Erziehungs- sowie Betreuungsauftrag in § 22 SGB VIII als Grundsatz für die Förderung von Kindern in Tageseinrichtungen festgelegt. Doch erst der sogenannte »PISA-Schock« zu Beginn der 2000er Jahre, bei der eine internationale Vergleichsstudie schulischer Leistungen der OECD Deutschland ein nur mittelmäßiges Abschneiden bescheinigte, gab den Impuls dazu, sich damit verstärkt auseinanderzusetzen, wie ein solcher Bildungsauftrag in den Kindertageseinrichtungen ausgestaltet sein sollte. Im Zuge dieser Entwicklung wurde die Kindertageseinrichtung zunehmend auch in der breiten Öffentlichkeit als außerschulischer Bildungsort wahrgenommen (Otto & Rauschenbach 2004; Münchmeier, Otto & Rabe-Kleeberg 2002). In den Bundesländern wurden die Rahmenpläne für frühe Bildung in Kitas entwickelt, Bildung in Kindertageseinrichtungen wurde, wenn auch unterschiedlich, konzipiert (Liegle 2010; Schäfer 2011; Fthenakis 2003; Laewen 2002).

Damit rückte unweigerlich die Frage nach einer Didaktik in den Vordergrund, denn das Unterstützen und Anregen von Lernprozessen als Voraussetzung für Bildung ist ein ureigener Gegenstand der Didaktik, unabhängig vom Alter der Lernenden. Didaktisches Handeln kann als praktische Umsetzung dessen verstanden werden, was an Zielen, Leitorientierungen und Bildungsinhalten in Bildungskonzepten festgehalten wird.

Trotz dieser Entwicklungen scheint Didaktik aber von vielen Fachkräften nicht als eine eigene Aufgabe verstanden zu werden. Boll (2020) befragte pädagogische Fachkräfte in Kindertageseinrichtungen. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass Didaktik durch die Fachkräfte lediglich als unvermitteltes Lehren, z. B. in gezielter Beschäftigung oder Angeboten, wahrgenommen wird und im Sprachgebrauch der Fachkräfte kaum vorkommt. Die Ergebnisse spiegeln eine große Unsicherheit der Fachkräfte mit dem Begriff der »Didaktik« und auch fehlendes Wissen im Umgang damit wider. Lediglich die Angebotsplanung und die damit verbundene Methodenlehre wird als Didaktik verstanden. Didaktik ist etwas, das die Fachkräfte »mal gemacht« haben, etwas Exklusives. In der Praxis kann eine Unsicherheit im didaktischen Handeln beobachtet werden und eine deutlich eingeschränkte Wahrnehmung von Didaktik als gezielte Vermittlungstätigkeit. Auch weitere Studien weisen darauf hin, dass wenig didaktisches Fachwissen bei Fachkräften in Kindertageseinrichtungen vorhanden ist (z. B. Wieduwilt et al. 2019), Interaktionen zwischen Fachkräften und Kindern sind meist emotional unterstützend, aber selten lernförderlich (z. B. Wadepohl & Mackowiak 2016; Wertfein, Wirts & Wildgruber 2015; König 2009).

Betrachtet man diesen Diskurs in seiner Gesamtheit, so stellt sich die Frage, wie diese Entwicklung zu erklären ist. Vermutungen können dazu angestellt werden: Auf der einen Seite dient die Abgrenzung zur Didaktik im frühpädagogischen Bereich auch der Abgrenzung zum schulischen Lernen und ist in dieser Funktion auch vor dem Hintergrund der Professionalisierung der Fachkräfte wichtig. Was zeichnet pädagogische Fachkräfte in Kindertageseinrichtungen aus? Wie unterscheiden sie sich in ihrem pädagogischen Handeln etwa von Lehrkräften? Die Frage nach einer Didaktik in der Frühpädagogik steht im Verdacht, diese Grenzen womöglich zu verwischen und so die »Verschulung« der Kindertageseinrichtung voranzutreiben. Dieser Verdacht ist aufgrund der in den letzten Jahren zu beobachtenden Standardisierungsprozesse in der Kinder- und Jugendhilfe und aufbauend auf internationalen Bestrebungen, Daten zu Leistungen auch im frühkindlichen Bereich (»Baby-PISA«) z. B. durch die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) zu erheben und zu vergleichen, sicherlich nicht unbegründet (Kasüschke & Frank 2021).

Neben diesen stark professionspolitisch gefärbten Motiven, Didaktik in der Kindertageseinrichtung abzulehnen, zeigt sich auf der anderen Seite aber auch ein Desiderat in der Wissenschaft und Disziplin der Pädagogik der frühen Kindheit. So beschäftigt sich die Allgemeine Didaktik als Wissenschaft kaum mit der frühen Bildung, also mit dem Lernen von Kindern vor dem Schuleintritt. Grundlegende Modelle, auf die zurückgegriffen werden kann, fehlen entsprechend (Hopf 2020). Das wäre aber dringend notwendig, um eine eigenständige Didaktik zu entwickeln, die sich andererseits als Teil der Allgemeinen Didaktik verstehen kann. Dies kann auch dazu beitragen, die oben genannten professionspolitischen Bedenken der Didaktik gegenüber zu überwinden. Kasüschke (2018) konstatiert, dass der Begriff der Didaktik zu lange allein auf das schulische Lernen angewendet wurde, ohne den Begriff in die Diskurse in der frühen Bildung zu integrieren. Im Diskurs und in Forschungsprojekten wurde oft ein eigenes Verständnis von Bildung und Lernen in der Kindertageseinrichtung entwickelt, das aber nicht expliziert wurde, und Aussagen zur Didaktik getroffen, aber der Begriff nicht genutzt.

Die Pädagogik der frühen Kindheit ist also gefordert, den Bildungskonzepten in der frühen Kindheit einen didaktischen Rahmen zur Seite zu stellen, der Anschluss an allgemeine didaktische Diskurse, Modelle oder Konzepte herstellt und gleichzeitig die Spezifizität des Lernens und der Bildung in Kindertageseinrichtungen in den Mittelpunkt rückt und als somit nicht verhandelbar darlegt. Damit rückt das frühpädagogische Handeln, also die Arbeit mit Kindern im Alter von 0 Jahren bis zur Einschulung, bezogen auf die Zielsetzungen einer Didaktik in den Vordergrund.

Für dieses Buch verwenden wir sehr bewusst den Begriff der Frühpädagogik (synonym Pädagogik der frühen Kindheit) und nicht Begriffe wie Elementarpädagogik, Kindergartenpädagogik oder Vorschulerziehung. Aus unserer Sicht beinhaltet der Begriff der Frühpädagogik ein umfassenderes Aufgabenfeld und bezieht sich auf alle pädagogischen Fragen, die Kinder von 0 Jahren bis zum Schuleintritt betreffen. Damit wird der Blick nicht allein auf bildungsrelevante Fragestellungen gelenkt. So soll deutlich werden: didaktisches Handeln ist ein Teil, ein Aspekt der pädagogischen Arbeit in Kindertageseinrichtungen, die noch wesentliche andere Aufgaben beinhaltet (z. B. Erziehung und Betreuung, gruppenpädagogische Aspekte, soziale Inklusion, die Zusammenarbeit mit Eltern, die Sozialraumarbeit etc.). Das Buch blickt also sehr bewusst auf einen Ausschnitt der pädagogischen Arbeit, den es gilt, näher zu beleuchten.

Dazu will das vorliegende Buch einen Beitrag leisten und zum einen notwendiges Fachwissen gebündelt darstellen, zum anderen auch die Entwicklung eines didaktischen Konzepts vorantreiben, das die Interaktion zwischen pädagogischen Fachkräften und Kindern als Kern pädagogischen Handelns ins Zentrum stellt.

Im zweiten Kapitel wird dazu zunächst analysiert, wie Bildung und Lernen in der frühen Kindheit verstanden werden können, welche Aspekte wichtig sind und wie junge Kinder lernen. Diese Basis für alle didaktischen Überlegungen wird dann in Kapitel 3 mit einer Zusammenstellung von grundlegendem Wissen zu Didaktik ergänzt. Didaktische Modelle, Prinzipien, pädagogische Konzepte sowie didaktische Konzepte der Frühpädagogik werden dargelegt und dabei darauf verwiesen, auf welchem großen »Schatz« an Wissen die Disziplin bereits aufbauen kann. In Kapitel 4 wird der erste Schritt einer konzeptionellen Entwicklung einer Didaktik der Frühpädagogik getan: Die Interaktion wird als Kernprinzip herausgestellt und begründet. Lernförderliche Interaktionsformen werden vorgestellt. In Kapitel 5 folgt dann der zweite, schon konkrete Schritt in Richtung einer interaktionsorientierten Didaktik als Konzept: einzelne Aspekte dazu, wie der Verlauf, die Prinzipien oder etwa der Gegenstand, werden herausgearbeitet und »übersetzt«. So entsteht eine erste Kontur einer interaktionsorientierten Didaktik. Welche Konsequenzen eine solche für die Kompetenzen der pädagogischen Fachkräfte hat und wie diese erworben werden können, wird in Kapitel 6 skizziert. Mit den Schlussfolgerungen werden in Kapitel 7 bedeutsame Aspekte und Gedanken nochmal zusammengefasst.

2 Bildung und Lernen in der frühen Kindheit

2.1 Ausgangspunkt und Ziel: Bildung in der frühen Kindheit

Kinder lernen bereits vor ihrer Geburt im Mutterleib, das zeigen Untersuchungen mit Säuglingen, die sich nach der Geburt an bestimmte Klangmuster erinnern können, die sie bereits vorgeburtlich gehört haben (Pauen 2017). Aber handelt es sich hierbei schon um Bildung? Welche Voraussetzungen braucht Bildung und welche Lernprozesse führen zu Bildung? Und wie kann Bildung in Kindertageseinrichtungen unterstützt werden? Um diesen Fragen auf den Grund zu gehen, ist in einem ersten Schritt zunächst zu klären, was der Begriff Bildung meint und wie dieser mit dem Lernen zusammenhängt.

2.1.1 Was ist Bildung?

Für die Pädagogik ist der Begriff der Bildung zentral und doch ist er nicht einheitlich definiert. Der Begriff wird – das stellte Dieter Lenzen schon Ende der 1990er Jahre fest – inflationär verwendet und sagt damit oft nichts mehr aus oder meint alles Mögliche (Lenzen 1997). Die Schärfe des Bildungsbegriffs nimmt also mit seiner zunehmenden Popularität und Verwendung ab (Drieschner 2017).

In seiner ursprünglichen Wortbedeutung meint Bildung so viel wie Ebenbild, Nachbild und Nachahmung (Zirfas 2018). Damit verweist der Begriff in seiner Bedeutung aus dem 14. Jahrhundert auf ein Bildungsverständnis, bei dem es Ziel war, einem Vorbild nachzueifern oder auch sich Gott anzunähern. Im Laufe der Jahrhunderte und vor allem durch die Etablierung der Disziplin der Pädagogik an den Universitäten wurde das Konzept von Bildung weiterentwickelt. Im Zuge dessen entstanden verschiedene Vorstellungen von Bildung, die andere Schwerpunkte und Ziele als auch Bildungsinhalte setzen – natürlich abhängig von Zeitgeist und gesellschaftlichen Entwicklungen. Der bildungstheoretische Diskurs ist vielfältig und bezieht sich auf oft sehr unterschiedliche theoretische Zugänge. Drei Beispiele veranschaulichen diese Unterschiede auch im historischen Verlauf:

Wilhelm von Humboldt (1767 – 1835)

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Im 18. Jahrhundert formuliert Wilhelm von Humboldt ein Verständnis von Bildung, das bis heute die pädagogischen Diskussionen größtenteils prägt. Er trennt Bildung vom religiösen Fundament und stellt das Individuum mit seiner Entwicklung in den Mittelpunkt. Bildung bezieht sich in diesem Sinne vor allem auf die innere Entwicklung der gesamten Person (Koller 2017). Für Humboldt ist eine allgemeine, umfassende Bildung des Individuums anzustreben, die die drei Grundkategorien Individualität, Universalität und Totalität beinhaltet. Mit Individualität ist gemeint, dass jeder Mensch als Individuum betrachtet werden muss und sich nur durch Bildung individuell entwickeln kann. Universalität bezieht sich darauf, dass eine Entfaltung des Individuums erst über viele verschiedene Bildungsinhalte gelingen kann, während die Totalität eine ganzheitliche individuelle Entwicklung beschreiben will. Bildung ist damit für Humboldt ein lebenslanger, nicht abschließbarer Prozess, der auch immer in Kontakt mit anderen und schließlich in einer Rückbindung an sich selbst abläuft (Zirfas 2018).

Wolfgang Klafki (1927 – 2016)

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Wolfgang Klafki verstand anknüpfend an klassische Bildungstheorien wie z. B. Humboldt Bildung als Allgemeinbildung und setzt an der »Vernachlässigung der gesellschaftlichen Dimension von Bildungsprozessen« (Koller 2014, S. 105) an. Bildung hat nach Klafki die Aufgabe, das Individuum in die Lage zu versetzen, die herrschenden Gesellschaftsverhältnisse kritisch zu reflektieren und damit verändern zu können. Dazu sind drei Aspekte erforderlich: »Bildung muss in diesem Sinne zentral als Selbstbestimmungs- und Mitbestimmungsfähigkeit des einzelnen und als Solidaritätsfähigkeit verstanden werden« (Klafki 1985, S. 17). Dieser Bildungsanspruch richtet sich nach Klafki an alle, daher machte er auch konkrete Vorschläge, wie dieses Ziel erreicht werden kann: durch eine möglichst lange, gemeinsame schulische Allgemeinbildung, die die zentralen gesellschaftlichen Probleme aufgreifen soll und nicht nur kognitive Prozesse anregen, sondern auch »die Förderung von Argumentations- und Kritikfähigkeit, von Empathie sowie moralischer Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit« (Krüger 2019, S. 85) umfasst. Die Allgemeinbildung soll über die Beschäftigung mit Schlüsselproblemen erreicht werden, mit denen sich die Lernenden auseinandersetzen sollen, ergänzt durch die Möglichkeit, persönlichen Interessen und Fähigkeiten nachzugehen (Koller 2014). Dieses Konzept der kategorialen Bildung hat zum Ziel, die materiale (was soll gelernt werden?) und die formale (wie soll gelernt werden?) Seite von Bildung ineinander zu integrieren.

Hans-Christoph Koller (*1956)

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In aktuellen Debatten wird häufig auf den Bildungsbegriff von Hans-Christoph Koller zurückgegriffen, der ebenfalls an Humboldt anschließt (Zirfas 2018). Koller versteht Bildung als einen Prozess, aus dem das Individuum »verändert hervorgeht«, was das »gesamte Verhältnis des Subjekts zur Welt, zu anderen und zu sich selbst betrifft« (Koller 2012, S. 9). Somit kann Bildung einerseits als ein Prozess beschrieben werden, der durch Krisen in Gang gesetzt wird, andererseits aber auch als einen Vorgang, der empirisch erfassbar ist, weil er Veränderungsprozesse darstellt. Bildung wird als Transformation des Individuums verstanden, die durch Auseinandersetzung mit neuen, widersprüchlichen oder paradoxen Themen und Inhalten angestoßen wird (Zirfas 2018).

Allein diese drei Definitionen von Bildung zeigen: Bildung ist ein Begriff, der sehr unterschiedlich verwendet wird, und obwohl er für die Pädagogik – neben Erziehung, Lernen und Sozialisation – zentral ist, findet sich keine allgemeingültige Definition.

Doch lassen sich in den neueren bildungstheoretischen Reflexionen gewisse Gemeinsamkeiten erkennen (Drieschner 2017), die angelehnt an Zirfas (2011, S. 13) im Kern wie folgt zusammengefasst werden können: »Bildung meint einen differenzierten, intensiven und reflektierten Umgang mit sich und der Welt, der zur Ausformung eines selbstbestimmten kultivierten Lebensstils führt.« Um es noch genauer zu beschreiben:

1.

Bildung ist Ergebnis einer Auseinandersetzung zwischen einem Individuum mit der objektiven Welt, also eine Verschränkung von Individualität und Kultur, von Selbst und Welt. Bildungsprozesse können als Auseinandersetzungen mit der Welt, in der wir leben, beschrieben werden: mit den Bedingungen, mit den Erwartungen, mit den Normen und Werten sowie mit den kulturellen Errungenschaften.

2.

Bildung ist eine Leistung des Subjekts und ist damit ein Selbstformungsprozess. Bildung geschieht selbsttätig und ist daher keine Leistung des bzw. der Pädagog*in, sie ist immer eine Leistung des Subjekts. Bildung ist also nicht pädagogisches Handeln, sie ist allenfalls Ziel des pädagogischen Handelns.

3.

Bildung zielt darauf ab, das Subjekt zur Selbstbestimmung zu befähigen. Ziel ist die Teilhabe an gesellschaftlichen Prozessen sowie eine aktive Gestaltung der Umgebung und die Partizipation. Mit Drieschner (2017, S. 94) kann man hier ergänzen, dass sich so ein immer »differenzierterer, individuellerer Welt- und Selbstbezug im Denken, Fühlen und Handeln« ausbildet.

Bildung ist demnach viel mehr als das Erlangen einer Qualifikation und auch nicht an die Institution Schule gebunden. Vielmehr handelt es sich um einen lebenslangen Prozess, der sich in allen Interaktionen und Lebenswelten ereignen kann und keineswegs in nur dafür vorgesehenen Institutionen (Drieschner 2017).

Bildung ist in unserer Wissensgesellschaft ein entscheidender Wert geworden. Sie wird nicht mehr nur durch Zertifikate bestätigt und ist Grundlage für materielle Sicherheit, sondern sie soll vieles anderes einlösen, das wir uns in einer freien, demokratischen Gesellschaft wünschen: Bildung soll Lebenschancen eröffnen und ist entscheidende Voraussetzung für die Entfaltung der Persönlichkeit sowie dafür, individuelle Wege zu gehen und unabhängige Entscheidungen treffen zu können. Darüber hinaus ist Bildung Schlüssel für die Teilhabe an und Gerechtigkeit in der Gesellschaft. Angesichts dieser hohen Bedeutung ist es folgerichtig, dass Bildung ein erklärtes Menschen- und Kinderrecht ist (Thiersch 2006; Zirfas 2011).

Versteht man Bildung in diesem Sinne, dann ist unausweichlich, dass auch für die pädagogische Arbeit in Kindertageseinrichtungen das Ziel sein muss, kindliche Bildungsprozesse zu unterstützen und zu begleiten.

2.1.2 Bildung in der Kindertageseinrichtung

Kindertageseinrichtungen haben nach dem § 22 Absatz 3 SGB VIII einen gesetzlich verankerten Auftrag, der formuliert, dass »Erziehung, Bildung und Betreuung« in den Institutionen entsprechend umgesetzt werden müssen (Roßbach & Spieß 2019). Lange Zeit noch nach dem Inkrafttreten des Gesetzes im Jahr 1992 war unklar, was dieser Auftrag umfasst und besonders auch, was mit Bildung in der Kindertageseinrichtung konkret gemeint ist. Erst die viel diskutierten internationalen Vergleichsstudien der schulischen Leistungen Jugendlicher und Grundschüler*innen (wie PISA oder TIMMS)1 hatten zur Folge, dass die Kindertageseinrichtung als non-formaler Bildungsort »entdeckt« und sich damit auseinandergesetzt wurde, was den Bildungsauftrag umfasst (Otto & Rauschenbach 2004; Münchmeier, Otto & Rabe-Kleeberg 2002; Laewen 2013).

Drei unterschiedliche Diskurse zur Ausgestaltung des Bildungsauftrags in Kitas fasst Reyer (2015) zusammen:

·

Einzig gesetzlich legitimierter Bildungsauftrag ist der sozialintegrative (sozialpädagogische) Bildungs-‍, Erziehungs- und Betreuungsauftrag der Kindertageseinrichtungen. Dieser Bildungsauftrag ist ein doppelter, weil er nicht nur die Unterstützung der Erziehungs- und Bildungsprozesse der Kinder beinhaltet, sondern auch die Entlastung der Eltern bei der Vereinbarkeit von Beruf und Familie. »Sozialintegration bedeutet, den Kindern und ihren Familien bei der Erfüllung der Aufgaben zu helfen, die ihnen vom Sozialsystem gestellt sind; die ältere Formel hieß Familienergänzung.« (Reyer 2015, S. 7 f.) Zwei Ziele zeichnen sich ab: zum einen die Betreuung und Sozialerziehung des Kindes, zum anderen die Freistellung familialer Betreuungspersonen für den Arbeitsmarkt. Die Sozialerziehung des Kindes, also seine Primärsozialisation, ist Teil eines ganzheitlichen Bildungsbegriffs (vgl. ebd., S. 8). Wie die Ansprüche der Eltern gegenüber denen der Kinder zu verhandeln sind, muss dabei geklärt werden. Die Ausübung des Erziehungs- und Bildungsauftrags ist in diesem Verständnis von den Vorstellungen der Eltern abhängig, die eine Einrichtung wählen, die ihnen mit ihrer Konzeption und Umsetzung der Bildungspläne entspricht (Reyer 2015).

·

Die Forderung nach einem eigenständigen Bildungsauftrag der Kindertageseinrichtung richtet sich gegen einen solchen sozialintegrativen Blick und will einen allgemeinen Bildungsauftrag des Elementarbereichs geltend machen. Frühe Bildung weist, unabhängig davon, ob Familien eine Entlastung brauchen oder nicht, einen eigenen Mehrwert gegenüber der Erziehung und Bildung allein in der Familie auf. Eine deutliche Abgrenzung gegenüber der Schule wird dabei gefordert. Aufgrund der Bedeutung von Selbstbildung und Interaktion, die in ganzheitliche Bildungsprozesse münden, und dem Spiel als spezifische Form des Lernens wird nicht danach gestrebt, Kindertageseinrichtungen in das Bildungswesen zu integrieren (Reyer 2015).

·

Bestrebungen, den Elementarbereich auch gesetzlich aus dem sozialintegrativen Funktionszusammenhang zu lösen, können als ein systemintegrativer Bildungsauftrag zusammengefasst werden. Das würde den Wechsel von Zuständigkeiten bedeuten, nämlich von der sozialministeriellen zur bildungsministeriellen Zuständigkeit und damit einer strukturellen Eingliederung der Kindertageseinrichtungen in das Bildungswesen. Eine Erhöhung der Chancengerechtigkeit und der Verbesserung des Bildungserfolges im nachfolgenden Bildungssystem werden bei dieser Argumentation hervorgehoben (Reyer 2015).

Ein eigenständiger Bildungsauftrag scheint vielversprechend zu sein, allerdings darf nicht vergessen werden, dass die Kinder in Kindertageseinrichtungen noch sehr jung sind. Die Kinder sind eng mit ihren Familien verbunden, sie sind ihre wichtigsten Bindungs- und Bildungspersonen und haben großen Einfluss auf deren Entwicklung. Studien zeigen, dass die Familie einen nachhaltigeren Einfluss auf die Bildungsprozesse der Kinder haben als die Institutionen (vgl. Tietze et al. 2013; NICHD 2006). Vor diesem Hintergrund erscheint ein Zusammenspiel zwischen Kindertageseinrichtung und Familie zielführend, um die Bildungsprozesse des Kindes in der Kindertageseinrichtung passgenau zu unterstützen. Liegle (2004) schlägt einen integrierenden Bildungsbegriff vor, der eine Verschränkung von Erziehung, Bildung und Betreuung umfasst und in den jeweiligen Einrichtungen abhängig von den dort anwesenden Familien und Kindern ausdifferenziert werden muss. Auch der Aktionsrat Bildung beschreibt frühe Bildung als mehrdimensionales Konstrukt, das in einem Zusammenspiel aus dem Erwerb basaler Kompetenzen (Bildung) in angemessenen Rahmenbedingungen (Betreuung) unter Hinzunahme unterstützender Maßnahmen (Erziehung) besteht. Alle drei Aufgaben erhalten ein eigenständiges Gewicht und sind von gleicher Bedeutung (Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft e. V. 2012).

Ein Ergebnis der oben erwähnten intensiven Auseinandersetzungen in der Fachöffentlichkeit und in der Bundes- und Länderpolitik mit dem Bildungsauftrag sind die seit 2004 veröffentlichten »Bildungspläne«2 für die Kindertageseinrichtungen. Im Jahr 2004 hat die Kultus- und Jugendministerkonferenz einen Beschluss zu einem »Gemeinsamen Rahmen für die frühe Bildung in Kindertageseinrichtungen« vorgelegt, der die Entwicklung von Bildungsplänen für den Elementarbereich vorsah. Dies stellte einen Paradigmenwechsel dar, da erstmals eine »Verständigung über die Grundsätze der Bildungsarbeit« (Röhner 2020, S. 689) in Kindertageseinrichtungen erfolgte sowie eine Konkretisierung zum Bildungsbegriff, zum Bildungsauftrag und zu Bildungsbereichen vorgenommen wurde. Heute liegen für alle 16 Bundesländer Bildungspläne vor, die deutlich machen sollen, was unter Bildung in Kindertageseinrichtungen verstanden wird und welche Bereiche mit welchen Methoden gefördert werden sollen (ebd.). In den Bildungsplänen werden einige Merkmale der Ausgestaltung frühkindlicher Bildungsangebote erkennbar: Dazu gehören die Orientierung der Bildungsarbeit an der Lebenswelt und Vielfalt der Kinder, die Ganzheitlichkeit sowie die Beteiligung von Kindern an den ihr Leben betreffenden Entscheidungen (Partizipation). Ausgangspunkt für Bildungsangebote sollen zudem die Interessen und Fragen der Kinder sein, die über Beobachtung und Dokumentation in Erfahrung gebracht werden, und die Gestaltung anregender Räumlichkeiten und Außengeländen (Röhner 2020). Zusammenfassend können die folgenden Bildungsbereiche, die im gemeinsamen Rahmen der Kultus- und Jugendministerkonferenz formuliert sind, als grundlegend für die Bildungsarbeit in Kindertageseinrichtungen betrachtet werden:

·

Sprache, Schrift, Kommunikation

·

Personale und soziale Entwicklung, Werteerziehung/religiöse Bildung

·

Mathematik, Naturwissenschaft, (Informations-)‌Technik

·

Musische Bildung/Umgang mit Medien

·

Körper, Bewegung, Gesundheit

·

Natur und kulturelle Umwelten(vgl. JMK/KMK 2004)

Beschäftigt man sich damit, wie Bildung konkret in der Frühpädagogik konzipiert werden kann, dann zeigt sich, dass insbesondere die selbstbildenden Kräfte der Kinder und damit die Idee, dass Bildung ein Selbstformungsprozess ist, hervorgehoben wird. Eine solche Fokussierung kann auch als Ausdruck eines sich wandelnden Bilds von jungen Kindern in den letzten Jahrzehnten verstanden werden: Nicht mehr nur der*die Erwachsene, der*die einen Wissensvorsprung und mehr Erfahrung hat, bringt dem Kind etwas bei, sondern das Kind setzt sich aktiv mit der Welt auseinander und erklärt sich diese durch die eigenen Erfahrungen selbst. Forschungen bestätigen ein solches Bild eines sich selbstbildenden Kindes, das deutend und gestaltend die eigenen Lern- und Entwicklungsprozesse steuert. Ergebnisse aus der Säuglings- und Hirnforschung beispielsweise zeigen, dass Kinder – entgegen vorheriger Annahmen – in den ersten Jahren ihres Lebens nicht allein biologischen Reifungsprozessen unterlegen sind, die weitgehend unabhängig von äußeren Einflüssen vonstattengehen. Von Geburt an verfügen Kinder über wichtige Kompetenzen, um sich mittels Interaktion mit ihrer Umwelt auseinanderzusetzen (Pauen & Vonderlin 2007).

Im Mittelpunkt steht also das Kind als Individuum und Subjekt, das sich aus eigenem Antrieb bildet, um Lebenskompetenzen zu erwerben, wie z. B. die Sprache. Bildung ist ohne die Selbsttätigkeit des Kindes nicht möglich, sie ist Voraussetzung für Bildung (Drieschner 2010). Schäfer (2006) begründet die Bedeutsamkeit von Selbstbildungsprozessen bei jungen Kindern damit, dass diese in diesem Alter »Kulturneulinge« sind, d. h., sie können noch nicht auf so viele Erfahrungen mit der Welt zurückgreifen wie Schulkinder und müssen daher erst »mentale Repräsentationen und Deutungen von Welt« (Drieschner 2010, S. 189) aufbauen. Das meiste, was die Kinder erleben, ist für sie neu, daher müssen sie eine Auswahl treffen an Aspekten, die sie verstehen wollen, und das tun sie anhand ihres Interesses. Viele traditionelle Konzepte in der Pädagogik der frühen Kindheit basieren auf der Idee einer solchen kindlichen Selbstbildung, auch wenn diese die Bedeutung der erwachsenen Bezugsperson dafür hervorheben (Hopf 2020). Auch in den Bildungsplänen der Bundesländer wird – mit unterschiedlichem Schwerpunkt – das Kind als aktiver Akteur seines eigenen Bildungswegs beschrieben. Dabei darf eine solche Vorstellung nicht darüber hinwegtäuschen, dass kein Kind kompetenter sein kann als das Umfeld, das von den Erwachsenen bereitgestellt wird (Pramling Samuelsson & Asplund Carlsson 2007). Inwiefern sich Kinder also selbstbilden können, hängt in besonderem Maße von förderlichen oder hemmenden Umweltbedingungen ab (Pauen 2012). Kinder benötigen förderliche Beziehungen und Interaktionen und auch eine herausfordernde Lernumgebung, damit sie ihren Antrieb, ihr Interesse und ihre Selbstbildungskräfte entfalten können.

Trotz des zumeist geteilten Verständnisses, dass Kinder in der Lage sind, ihre Bildungsprozesse eigentätig voranzutreiben, unterscheiden sich die Vorstellungen davon, wie die Bildung junger Kinder bestmöglich anzuregen ist. Das ist insbesondere auch davon abhängig, welche Faktoren für das Lernen von jungen Kindern als entscheidend wahrgenommen werden (Drieschner 2010; Gold & Dubowy 2013; Schelle 2011). Dabei sind nicht alle Lernprozesse als Bildungsprozesse zu verstehen, sondern nur jene, die dazu beitragen, dass der bzw. die Einzelne die eigenen Handlungsmöglichkeiten, aber auch die Möglichkeiten des Fühlens und Denkens erweitert. Damit erhöht sich die Wahrscheinlichkeit für die bzw. den Einzelne*n, dass er bzw. sie selbstwirksam handeln und so die Umwelt im Rahmen der eigenen Möglichkeiten aktiv gestalten kann. Auch wenn nicht alle Lernprozesse nach diesem Verständnis zu Bildung führen, so sind sie dennoch die Voraussetzung für Bildung.

2.2 Wie lernen junge Kinder?

»Lernen ist ein Prozess, bei dem es zu überdauernden Änderungen im Verhaltenspotenzial einer Person als Folge von Erfahrungen kommt« (Ehm, Lonnemann & Hasselhorn 2017, S. 13). Lernen betrifft dabei ganz unterschiedliche Bereiche (motorischer, sprachlicher, sozialer Bereich etc.), kommt auf unterschiedliche Weise zustande (beiläufig oder bewusst etc.) und ist von unterschiedlicher Dauer (einmalige Erfahrung oder langwieriger Prozess). Dabei unterscheiden sich auch gleichaltrige Kinder in ihrem Lernerfolg und Lernaktivität, auch in manchen Bereichen kann das Lernen leichter oder schwerer fallen. Das Lernen verändert sich über die Altersspanne hinweg, ist also als zeitlich dynamisch zu begreifen (Ehm, Lonnemann & Hasselhorn 2017). Lernen ist neben der Reifung ein Motor der Entwicklung des Menschen (Fröhlich-Gildhoff, Mischo & Castello 2016). Dabei spielt neben den biologischen Faktoren, die in jedem Menschen angelegt sind, die Umwelt eine entscheidende Rolle: Abhängig davon, welche Erfahrungs- und Lernpotentiale die Umwelt bietet, werden Lernprozesse aktiviert. Entscheidend sind die Selbstgestaltungskräfte des Individuums, die zu seiner Entwicklung beitragen. (Gold & Dubowy 2010; Kärtner 2019). Wie solche Lernprozesse konkret ablaufen, wovon sie abhängen und wie sie beeinflusst werden können, versuchen psychologische Lerntheorien zu erklären, die im Folgenden für einen Überblick kurz skizziert werden.

2.2.1 Psychologische Lerntheorien

Vier große Theoriesysteme können als Klassiker der psychologischen Lerntheorien bezeichnet werden: der Behaviorismus, die sozial-kognitive Theorie des Lernens, der Kognitivismus und der Konstruktivismus (Reinmann 2013).

Behaviorismus – Lernen als Reiz-Reaktion

Über weite Strecken des 20. Jahrhunderts wurde der psychologische Lernbegriff vom Behaviorismus geprägt (Göhlich, Wulf & Zirfas 2014). Grundlage des Behaviorismus ist die Annahme, dass das Gehirn ein Organ ist, das auf Reize von außen mit angeborenen oder erlernten Verhaltensweisen reagiert. Lernen wird also durch eine Reiz-Reaktions-Kette ausgelöst: Auf bestimmte Reize folgen bestimmte Reaktionen. Innerpsychische oder kognitive Prozesse (»black box«) sind dabei nicht von Interesse, da sie als von außen nicht beobachtbar gelten. Als Kern des Behaviorismus können zwei Prinzipien betrachtet werden: das klassische Konditionieren und das operante Konditionieren (Ehm, Lonnemann & Hasselhorn 2017). Bei der klassischen Konditionierung wird ein an sich neutraler Reiz mit einem Reiz gekoppelt, der eine Reaktion auslöst, sodass dann der erste Reiz später auch allein eine solche Reaktion auslöst (z. B. weißer Arztkittel steht in Zusammenhang mit Schmerz). Beim operanten Konditionieren wird ein spontanes Verhalten mit einem angenehmen Reiz (positiv) oder durch Entfernung eines unangenehmen Reizes (negativ) verstärkt und auf diese Weise geformt (Reinmann 2013). Bei unerwünschten Verhaltensweisen wird z. B. dem Kind die Aufmerksamkeit entzogen, bei erwünschtem wird ihm besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Auf diese Weise passen Kinder ihr Verhalten an, um möglichst viel positive Aufmerksamkeit zu erhalten (Siegler et al. 2016).

Sozial-kognitive Theorie des Beobachtungslernens

Als ein zentrales Lernprinzip führt der kanadische Psychologe Bandura das Konzept des Modell-Lernens (Lernen durch Beobachtung und am Modell) ein. Denn die recht simplen Mechanismen der Konditionierung können den Erwerb komplexer Verhaltensweisen, z. B. der Sprache, nicht ausreichend erklären (Ehm, Lonnemann & Hasselhorn 2017). In seiner sozial-kognitiven Lerntheorie geht Bandura davon aus, dass Kinder durch Beobachtung und Nachahmung lernen und sich diese Prozesse in drei Teilprozesse gliedern lassen: Beobachtung, Speicherung und Reproduktion des Verhaltens. Dabei nehmen Kinder auch stellvertretende Verstärkung (z. B. durch die Bilder in einem Film) für eine bestimmte Verhaltensweise wahr und reagieren entsprechend in ihrem eigenen Verhalten darauf (Siegler et al. 2016, S. 324). Hervorgehoben wird dabei, dass neben den kognitiven Voraussetzungen, die das Kind mitbringt (Aufmerksamkeit, Entschlüsselung des Beobachteten, Erinnerung des Gesehenen und Wiederabruf), um die Umwelt zu verstehen, die Reaktionen der Umwelt ebenfalls auf das Kind einwirken und rückgespiegelt werden. Diese Wechselwirkungen haben sowohl Einfluss auf das Kind als auch die Umwelt. Banduras Theorie weist damit dem Kind einen aktiven Part an seiner Entwicklung zu und verweist auf den interaktionalen Charakter der Erfahrungen mit anderen Personen. Abhängig vom Verhalten der Personen entwickelt das Kind unterschiedliche Vorstellungen von sich selbst und seiner Umwelt (Siegler et al. 2016, S. 140). Dabei geht es auch um die Weitergabe relevanten Wissens und Fertigkeiten der jeweiligen Kultur. Die Theorie des sozial-kognitiven Lernens grenzt sich entscheidend vom Behaviorismus ab, da sie nicht nur den Reizen, sondern auch deren kognitiver Verarbeitung einen Einfluss auf das Lernen einräumt und sich Lernen nicht nur in einer Verhaltensänderung, sondern auch in inneren kognitiven Prozessen ausdrückt (Ehm, Lonneman & Hasselhorn 2017).

Den behavioristischen Lerntheorien, auch der Theorie des sozial-kognitiven Lernens, kann vorgeworfen werden, dass sie für nicht erwartbares Verhalten keine ausreichende Erklärung liefern. »Das schöpferische Tun des Menschen bleibt aus behavioristischer Sicht unerklärlich.« (Göhlich, Wulf & Zirfas 2014, S. 10) So kann man bei diesem Verständnis von Lernen das Zutrauen in die Kompetenz des bzw. der Lernenden vermissen und auch das Vertrauen in den inneren Antrieb, das Interesse und die Motivation des bzw. der Lernenden (Göhlich, Wulf & Zirfas 2014). Entsprechend dieser Kritik wurden die theoretischen Zugänge zum Lernen weiterentwickelt. Der Kognitivismus, aber insbesondere der Konstruktivismus suchen eine erweiterte Erklärung.

Kognitivismus – Lernen als Informationsverarbeitung

Seit Beginn der 1980er Jahre verbreitete sich die Idee des Kognitivismus in der Theorie- und Forschungslandschaft (Reinmann 2013). Der Kognitivismus stellt die Informationsverarbeitung, also die Art und Weise, wie Menschen Probleme lösen, in den Mittelpunkt. Lernen beruht auf einem Informationsfluss zwischen drei unterschiedlichen Speicherkomponenten im menschlichen Gehirn: dem sensorischen Register (in dem die Reize aus der Umwelt für sehr kurze Zeit bereitgehalten werden), dem Kurzzeit- bzw. Arbeitsgedächtnis (in dem die Reize verarbeitet werden, wenn ihnen Aufmerksamkeit geschenkt wird) sowie dem Langzeitgedächtnis (das einen permanenten Speicher von Informationen darstellt). Entscheidend für das Lernen sind die Verarbeitungsprozesse im Kurzzeitgedächtnis: Dort werden Informationen nicht nur festgehalten, sondern auch mit den Informationen im Langzeitgedächtnis abgeglichen und geordnet. Dabei weist dieses Gedächtnis eine Architektur auf, in der unterschiedliche Wissensarten auch unterschiedlich abgespeichert werden und miteinander verknüpft sind. Lernen bedeutet dann eine Veränderung dieses Wissensnetzwerkes und entsteht durch die Integration neuer Informationen darin (Ehm, Lonnemann & Hasselhorn 2017). Lernen ist also eine Wechselwirkung zwischen dem externen Angebot (z. B. ein Lerngegenstand) und der inneren Struktur des Lernenden. Dafür ist die intrinsische Motivation Voraussetzung, nicht wie beim Behaviorismus die extrinsische (Göhlich, Wulf & Zirfas 2014). Kritisch anzumerken bleibt, dass die Informationsverarbeitung bei den kognitivistischen Lerntheorien stark allein in eine Richtung gedacht (vom Reiz ins Gedächtnis) wird. Offen bleibt dabei die Frage, wie das Wissen, über das wir schon verfügen, die Aufmerksamkeit auf bestimmte Reize lenkt, sozusagen »vorsortiert«, und entsprechend die Aufnahme und Verarbeitung von Reizen beeinflusst. Wie sich ein solches Wechselspiel zwischen vorhandenem Wissen und neuen Erfahrungen und Informationen gestaltet, das fokussieren die konstruktivistischen Lerntheorien (Ehm, Lonnemann & Hasselhorn 2017).

Konstruktivismus – Lernen als Konstruktion von Wissen

Lernen als Konstruktion meint, dass Informationen nicht passiv aufgenommen und abgespeichert werden, sondern diese Informationen aktiv ausgewählt und verarbeitet werden (Ehm, Lonnemann & Hasselhorn 2017). Kern dieser Lerntheorien ist der Gedanke, dass jedes Subjekt eine eigene Vorstellung von Wirklichkeit und ein eigenes Bild von der Welt hat, die es umgibt. Jede*r formt aus dem eigenen Bild der Welt eine innere Struktur, in die er oder sie neue Erfahrungen oder Reize stets »einsortiert« und entsprechend bewertet. Durch dieses innere Abgleichen und Interpretieren konstruiert jede Person etwas Neues, wenn sie lernt. Eine Erkenntnis, ein Lernergebnis ist daher eine Konstruktionsleistung des bzw. der Einzelnen. Die eigene innere Struktur organisiert dabei jede*r selbst, auch wenn wir stets in Austausch mit der Umwelt stehen. Ereignisse in der Umwelt können Auslöser für Veränderungen und Lernen sein. Aber wie sich Veränderungen tatsächlich bei Einzelnen auswirken, hängt von der eigenen inneren Struktur ab (König 2009; Reich 2014; 2019).

Wissen kann in diesem Sinne nicht vom Lehrenden einfach transferiert werden. Damit ist Lernen kein Informationsverarbeitungsprozess, sondern ein Konstruktionsprozess, der das subjektive Konstruieren von Wissensstrukturen umfasst. Die Reize von außen sind nicht per se Informationen, sondern werden ausschließlich vom psycho-physischen System, also von der lernenden Person selbst, als eine solche wahrgenommen und so zu einer relevanten Information für die eigene innere Struktur gemacht (Göhlich, Wulf & Zirfas 2014).

Als ein Wegbereiter des Konstruktivismus kann die Theorie der kognitiven Entwicklung von Jean Piaget betrachtet werden (Reich 2014; 2019). Mittlerweile gibt es unterschiedliche Denkrichtungen konstruktivistischer Theorien, wie z. B. den radikalen Konstruktivismus, den systemtheoretischen oder den entwicklungspsychologischen Konstruktivismus. Auf diesen Ansätzen bauen die Selbstbildungsansätze der Frühpädagogik auf. Es gib aber auch einen Ansatz des Konstruktivismus, der sich davon nochmals abhebt: den Sozialkonstruktivismus, aus dem heraus die Ko-Konstruktion als Erklärung, wie Kinder lernen, folgt (Drieschner 2010).

Jean Piaget – Theorie der kognitiven Entwicklung

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Als Wegbereiter des Konstruktivismus kann der Ansatz von Jean Piaget verstanden werden. Piaget beschreibt, dass Lernende nach und nach verschiedene Entwicklungsstufen durch aktive Auseinandersetzung mit der Umwelt (Assimilation) sowie mittels situativer Anpassung an jeweilige Umweltbedingungen (Akkomodation) durchlaufen müssen. Der Konstruktivismus greift die Erkenntnis Piagets auf, dass Lernen immer subjektiv konstruiert wird (vgl. Piaget in Reich 2008, S. 72). Piaget legte eine breit angelegte Entwicklungstheorie vor, die sich über verschiedene Altersstufen erstreckt und unterschiedliche Entwicklungsbereiche abdeckt. Damit ist sie auch heute noch eine der zentralen Entwicklungstheorien beinhaltet, die wichtige Erkenntnisse über das Lernen von Kindern. Piaget versteht Kinder als Forschende und geht davon aus, dass sie aufgrund ihrer Erfahrungen selbst Wissen konstruieren. Dabei benennt er drei wesentliche Prozesse, die zu diesen Konstruktionen führen: das Hypothesenbilden, das Experimentieren und das Schlussfolgern. Dabei nimmt er an, dass Kinder vieles von sich selbst aus lernen und keine Anleitung von anderen Personen benötigen (z. B. etwas immer wieder fallen lassen und damit Rückschlüsse auf das Verhalten von Objekten ziehen). Aus zahlreichen Beobachtungen seines Sohnes und anderer Kinder gelangte Piaget zu dem Schluss, dass Kinder aus eigenem Interesse lernen und dass es hierzu keiner Belohnung bedarf. Zudem ging er auch davon aus, dass Kinder über ihre Erkenntnisse nachdenken und diese auf neue Situationen anwenden können.

Damit kann konstatiert werden, dass Entwicklung bei Piaget ein Zusammenspiel von Anlage und Umwelt erfordert und durch Lernen vorangetrieben wird. Unter der Voraussetzung eines reifenden Gehirns und eines reifenden Körpers spielt nicht nur die Erziehung der Eltern oder in Institutionen eine Rolle, sondern alle Erfahrungen, die das Kind macht. Dabei werden ständig neue Erfahrungen mit bereits gemachten abgeglichen und so innere Konzepte weiterentwickelt (Siegler et al. 2016, S. 120 f.)