Interdisziplinäre Zusammenarbeit und inklusive Frühförderung - Liane Simon - E-Book

Interdisziplinäre Zusammenarbeit und inklusive Frühförderung E-Book

Liane Simon

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Beschreibung

Das Buch widmet sich zwei zentralen Querschnittsthemen in der Frühförderung: der Zusammenarbeit der beteiligten Berufsgruppen und den Herausforderungen, die sich durch das Inklusionsparadigma ergeben. Im ersten Teil wird gezeigt, wie die Anwendung der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) als gemeinsame Sprache für alle Fachleute und die Familien den Verständigungsprozess unterstützen kann. Der zweite Teil erörtert, wie mit der Familienorientierung im Grundverständnis der interdisziplinären Frühförderung die Voraussetzung von Inklusion schon angelegt ist. Der Inklusionsgedanke bestätigt und stärkt das Grundkonzept der interdisziplinären Frühförderung, weil er auf der Familienebene die Grundlage für die Teilhabe an einer inklusiven Gesellschaft schafft.

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Interdisziplinäre Frühförderung

 

Herausgegeben von

Andreas Seidel und Hans Weiß

 

Die Autorin, der Autor

Prof. Dr. Liane Simon ist Professorin für Transdisziplinäre Frühförderung an der MSH Medical School Hamburg. Prof. Dr. med. Jürgen Kühl, ehem. Vorsitzender und stellvertr. Vorsitzender Vereinigung für Interdisziplinäre Frühförderung, VIFF e. V., ehem. Vorstandsmitglied European Association on Early Intervention, EURLYAID

Liane Simon, Jürgen Kühl

Interdisziplinäre Zusammenarbeit und inklusive Frühförderung

Verlag W. Kohlhammer

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1. Auflage 2023

 

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

 

Print:

ISBN 978-3-17-034430-3

 

E-Book-Formate:

pdf:         ISBN 978-3-17-034431-0

epub:      ISBN 978-3-17-034432-7

Inhaltsverzeichnis

Vorwort der Herausgeber

Teil I:     Interdisziplinäre Zusammenarbeit

Interdisziplinäre Zusammenarbeit

Liane Simon

1              Einführung

2              Probleme der interdisziplinären Zusammenarbeit

3              Argumente für interdisziplinäre Zusammenarbeit

4              Grundlegende Gedanken zur interdisziplinären Zusammenarbeit

5              Einflussfaktoren auf interdisziplinäre Zusammenarbeit

6              Einbezug der Eltern und Erziehungsberechtigten

7              Voraussetzungen für gute interdisziplinäre Zusammenarbeit in der Frühförderung

8              Methodisches Vorgehen

9              ICF als gemeinsame Sprache

10           Fazit und Ausblick

Literatur

Anhang

Teil II:    Inklusion – Konzeptionelle Öffnung der Interdisziplinären Frühförderung?

Inklusion – Konzeptionelle Öffnung der Interdisziplinären Frühförderung?

Jürgen Kühl

Einführung

1              Verortung von Inklusion für die Interdisziplinäre Frühförderung

2              Konzeptionelle Vorläufer von Inklusion

3              Verständnis von Inklusion

4              Inklusion im gesellschaftlichen Diskurs

5              Beziehung zwischen Partizipation und Inklusion

6              Konsequenzen der Umsetzung von Inklusion für Kinder mit Beeinträchtigung ihrer Entwicklung

7              Frühförderung vor der konzeptionellen Einbeziehung der Inklusion

8              Inklusion: Allgemeine Herausforderungen für die Interdisziplinäre Frühförderung

9              Inklusion und kulturelle Entwicklung: Konzeptionelle Herausforderungen für die Interdisziplinäre Frühförderung

10            Ansätze zu professionellem inklusivem Handeln im Sinne von Partizipation und Inklusion

11            Auswirkungen inklusiver Arbeit auf Institutionen der Frühförderung

12            Bedeutung von Netzwerkarbeit für Inklusion

13            Herausforderungen in der Zusammenarbeit zwischen der Interdisziplinären Frühförderung und Krippen bzw. Kindergärten

14            Erforderliche Fachlichkeit für inklusiv arbeitende Krippen und Kindergärten

15            Grundlagen der Interdisziplinären Frühförderung im Studium der Frühpädagogik

16            Inklusion: Konsequenzen für die Ausbildung aller in der Frühförderung tätigen Fachkräfte

17            Schlussbetrachtung

Nachwort als »Linguistischer Epilog«

Literatur

Vorwort der Herausgeber

 

 

Wissenschaftliche Erkenntnisse der letzten beiden Jahrzehnte zeigen auf, wie bedeutend die ersten Lebensmonate für ein Kind und seine weiteren Entwicklungschancen sind. Kinder »sind oft schon ab der Pränatalzeit einem ›Hemmungszirkel‹ interagierender und kumulierender psychosozialer und biologischer Faktoren ausgesetzt. Ihm ist rechtzeitig – d. h. oftmals frühestmöglich – ein interdisziplinärer ›Förderzirkel‹ entgegenzusetzen, der aus nachgehenden Frühen Hilfen, z. B. Familien-Gesundheitsfachkräften, und Interdisziplinären Frühförderstellen besteht. Eng verzahnt können beide Systeme inklusive und integrative Hilfe und Förderung anbieten« (Weiß, 2022, S. 116). Kinder, die unter erschwerten Bedingungen aufwachsen (z. B. Kinder aus Familien mit einem niedrigen sozioökonomischen Status und/oder anderen Risikofaktoren) haben die Möglichkeit, dass sie und ihre Familien Unterstützungsleistungen von Fachkräften in Anspruch nehmen können.

Die Frühförderung ist ein bundesweites Hilfesystem, das bereits seit fünf Jahrzehnten Kinder und ihre Familien in ihrer Entwicklung möglichst früh unterstützt. Dabei hat sich die Frühförderung in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich verändert und verändern müssen.

Interdisziplinarität scheint wie selbstverständlich zur Frühförderung zu gehören. An vielen Orten ist das bereits eine seit vielen Jahren, oftmals von Beginn der Frühförderung an gelebte Praxis. Die Vereinigung für Interdisziplinäre Frühförderung (VIFF) mit ihrem Bundes- sowie den Landesverbänden hat das Thema Interdisziplinarität kontinuierlich öffentlich gemacht und dazu beigetragen, dass sich interdisziplinäre Zusammenarbeit auch in der Frühförderpraxis immer weiter entwickeln konnte. In dem im Jahr 2001 eingeführten Sozialgesetzbuch IX (SGB IX) und der darauf aufbauenden Frühförderungsverordnung (FrühV) wurde mit der »Komplexleistung« ein interdisziplinärer Standard in der Frühförderung gesetzlich festgelegt. Als Komplexleistung, die medizinisch-therapeutische, (heil-)pädagogische und psychosoziale Leistungen im Verbund umfasst, kann Frühförderung für Kind und Familie individuell ausgestaltete interdisziplinäre Angebote verschiedener Art »aus einer Hand« beinhalten.

Heute bieten über 1000 Frühförderstellen sowie die Sozialpädiatrischen Zentren Leistungen der Frühförderung an. Dabei ist die Ausgestaltung in den einzelnen Bundesländern (immer noch) sehr unterschiedlich, und für viele Kinder beginnt die Frühförderung meist erst mit dem fünften oder sechsten Lebensjahr, also eher spät als früh. Die Antrags- und Bewilligungspraxis ist dabei oft von den Erfahrungen, dem Wissensstand und den Einstellungen beteiligter Fachkräfte abhängig.

Nach dem Ratifizieren der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) im Jahr 2008 wurden in Deutschland zahlreiche Änderungen mit dem Bundesteilhabegesetz (BTHG, ab 2017) in den Sozialgesetzbüchern implementiert. Bereits 2011 fand in Berlin das VIFF-Symposium unter dem Motto »Spannungsfeld Frühförderung: exklusiv – kooperativ – inklusiv« statt. Hier wurde erstmals auf nationaler Ebene im Rahmen eines Frühförderkongresses das Thema Inklusion und Frühförderung ausführlich und kritisch diskutiert. Denn bis dahin war die Frühförderung meist als individuelle Eingliederungshilfe eine eher exklusive Maßnahme für Kinder und deren Familien. Die Inklusion hat die Interdisziplinäre Frühförderung vor neue Herausforderungen gestellt und zur Weiterentwicklung angeregt. Mit dem BTHG wurde beispielsweise das offene Beratungsangebot in der Frühförderung als ein niedrigschwelliger Zugang für alle Familien geschaffen, die ein Entwicklungsproblem bei ihrem Kind vermuten. Erste Pilotprojekte in Deutschland zeigen, dass Inklusive Interdisziplinäre Frühförderung in der Lage sein kann, den neuen gesellschaftlichen Herausforderungen vor Ort (im Sozialraum) erfolgreich begegnen zu können. Trotzdem gilt: Der geforderte Paradigmenwechsel beim Thema (drohende) Behinderung in der UN-BRK und dem BTHG mit einer klaren Teilhabe- und Kontextorientierung ist auch heute in Deutschland noch nicht hinreichend vollzogen.

Mit der Verabschiedung des Kinder- und Jugend-Stärkungsgesetz (KJSG, 2021) wurde festgelegt, dass mit einer Übergangszeit bis 2028 die Jugendhilfe die Leistungen der Eingliederungshilfe bei der Frühförderung übernehmen wird. Das ist sicherlich die nächste neue und große Herausforderung, aber auch Chance für die Frühförderung. Die Frühförderung muss auch diese neue Aufgabe annehmen, Ausgestaltungsmöglichkeiten aufzeigen und diese mit den Kolleg*innen der Kinder- und Jugendhilfe diskutieren.

Dieser Band widmet sich daher schwerpunktmäßig zwei zentralen Querschnittsthemen in der Frühförderung: der Zusammenarbeit der Fachkräfte aus den beteiligten Berufsgruppen und den Herausforderungen, die sich durch das Inklusionsparadigma ergeben. Das Buch zeigt im ersten Teil, wie die Anwendung der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) als gemeinsame Sprache für alle Fachleute und die Familien den Verständigungsprozess aller Beteiligten unterstützen kann. Der zweite Teil erörtert, wie mit der Familienorientierung im Grundverständnis der Interdisziplinären Frühförderung die Voraussetzung von Inklusion schon angelegt ist. Der Inklusionsgedanke bestätigt und stärkt das Grundkonzept der Interdisziplinären Frühförderung, weil und insofern sie auf der Familienebene die Grundlage für die Teilhabe an einer inklusiven Gesellschaft schafft.

Als Autor*innen konnten wir hierfür Frau Prof. Dr. Liane Simon sowie Herrn Prof. i. R. Dr. Jürgen Kühl gewinnen, die nicht nur als ausgewiesene Fachleute in der Frühförderung (Early Childhood Intervention) national und international zu diesen Themen bekannt und anerkannt sind, sondern auch in Deutschland diese Inhalte wesentlich mitgestaltet und geprägt haben.

Andreas Seidel

Hans Weiß

Teil I:

Interdisziplinäre Zusammenarbeit

Interdisziplinäre Zusammenarbeit

Liane Simon

1         Einführung

Im ersten Teil dieses Bandes geht es um die interdisziplinäre Zusammenarbeit in den Arbeitsbereichen der Frühförderung. »Interdisziplinarität« ist ein Grundbegriff in der Frühförderung und stellt ein zentrales Arbeitsprinzip dar, das in Frühförderstellen die Handlungen der Fachleute leiten soll (vgl. Thurmair & Naggl, 2007, S. 29f.). Seit 2001 ist dieses Arbeitsprinzip auch gesetzlich verankert: Frühförderstellen in Deutschland sollen die Komplexleistung Frühförderung interdisziplinär anbieten. So steht es im Sozialgesetzbuch neun (SGB IX, § 46):

»[…] (3) Leistungen nach Absatz 1 werden in Verbindung mit heilpädagogischen Leistungen nach § 79 als Komplexleistung erbracht. Die Komplexleistung umfasst auch Leistungen zur Sicherung der Interdisziplinarität …« (Internetquelle: Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz).

Interdisziplinäre Frühförderstellen bieten heilpädagogische in Verbindung mit medizinischen Leistungen an. Dabei umfassen die heilpädagogischen Leistungen gemäß § 79(2) SGB IX auch medizinisch-therapeutische, psychologische, sonderpädagogische und psychosoziale Leistungen. Das sind Leistungen, die von jeweils verschieden ausgebildeten Fachleuten erbracht werden. Die Angebote interdisziplinärer Frühförderstellen sollen also multiprofessionell erbracht werden. Konkretisiert wird das in der Gesetzesbegründung zu § 6a, FrühV:

»[…] Als interdisziplinäre Leistung beinhaltet die Komplexleistung Frühförderung auch den Austausch der beteiligten Fachrichtungen in Form von Teambesprechungen, die Dokumentation von Daten und Befunden, die Abstimmung und den Austausch mit anderen, das Kind betreuenden Institutionen und gegebenenfalls Fortbildung und Supervision. Diese zusätzlichen Leistungen sichern den Austausch der beteiligten Fachrichtungen und damit den interdisziplinären Charakter der Komplexleistung Frühförderung …« (Drs 18/9522, S. 360f.).

Die Leistungen der interdisziplinären Frühförderung sind demnach nur dann eine Komplexleistung, wenn es gemeinsame Teambesprechungen gibt, gemeinsame Dokumentationen erbracht werden und sich die Fachleute untereinander abstimmen bzw. austauschen. Diese explizite Forderung nach interdisziplinärer Zusammenarbeit in der Frühförderung wird auch von den verschiedenen Fachvertreterinnen und -vertretern in der Frühförderung tätigen Berufsgruppen als notwendiges Prinzip gesehen. Die jeweiligen Angebote, die erforderlich sind, um den Kindern mit ihren vielfältigen Bedürfnissen, Problemen und Ressourcen gerecht zu werden, müssen vorgehalten und passend eingesetzt werden. Darüber hinaus sollen sich die Fachleute austauschen, ergänzen, unterstützen und miteinander arbeiten. Das sind hohe Ansprüche an alle beteiligten Personen, auch hinsichtlich ihrer fachlichen und persönlichen Kompetenzen. Das Ziel ist die bestmögliche Förderung des Kindes. Durch interdisziplinäre Zusammenarbeit soll die Frühförderung von Kindern mit Behinderungen oder drohenden Behinderungen verbessert werden.

Dabei bleiben dennoch die genauen Anforderungen an eine Zusammenarbeit unklar. Benannt wurden bisher gemeinsame Teambesprechungen und Dokumentationen. Aber was steckt dahinter? Wie sollen diese Besprechungen und Dokumentationen ausgestaltet sein? Wenn es Teambesprechungen geben soll, wer gehört dann zum Team? Ist es das Team einer Institution oder gibt es ein Team, das aus Vertreterinnen und Vertretern unterschiedlicher Institutionen besteht, weil das Kind in verschiedenen Institutionen betreut und behandelt wird? Welche Grundprinzipien, welche Standards, welche strukturellen Bedingungen gibt es für die interdisziplinäre Zusammenarbeit in der Frühförderung?

Bisher könnte jede Frühförderstelle behaupten, interdisziplinär zu arbeiten. Einigen gelingt das allein schon durch die Anstellung von Fachkräften verschiedener Berufsgruppen. Jedoch gibt es bis heute auch unidisziplinär organisierte Frühförderstellen in Deutschland, in denen beispielsweise nur heilpädagogisch ausgebildete Fachkräfte arbeiten. Auch diese könnten allerdings behaupten, interdisziplinär tätig zu sein, indem sie sich beispielsweise mit den niedergelassenen Therapeutinnen und Therapeuten, Ärztinnen und Ärzten, die das Kind behandeln, abstimmen.

Was genau ist also unter »interdisziplinärer Zusammenarbeit« zu verstehen? Die Vorstellungen darüber bleiben hier oft unklar. Einen Konsens bezüglich der Organisation und Struktur, des Ablaufs und der Ziele interdisziplinärer Zusammenarbeit gibt es bisher nicht. Bei der Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation (BAR) gab es nach Inkrafttreten des SGB IX eine Arbeitsgruppe zum Thema »Ausgestaltung der Komplexleistung«, die eine genauere Beschreibung versucht hat:

»Die Frühförderstelle ist eine lebensweltorientierte, familien- und wohnortnahe Einrichtung, in der die unterschiedlichen Berufsgruppen nach einem abgestimmten Konzept interdisziplinär zusammenarbeiten […]. Als unabdingbare Anforderung an die Leistungserbringung sind z. B. die Durchführung interdisziplinärer Team- und Fallbesprechungen aufgenommen …. Es werden mindestens drei festangestellte Fachkräfte aus dem pädagogischen und aus dem medizinisch-therapeutischen Bereich festgelegt […]. Die nicht in der Einrichtung festangestellten Fachkräfte werden über Kooperationsverträge in das Team eingebunden und bei Bedarf an Team- und Fallbesprechungen beteiligt. In den Kooperationsverträgen ist die Art der interdisziplinären Zusammenarbeit zu regeln« (Bundesarbeitgemeinschaft für Rehabilitation, 2013).

Hier wurde der Versuch gemacht, interdisziplinäre Zusammenarbeit konkreter zu beschreiben. Doch eine interdisziplinäre Arbeitsweise ist weder Leistungsträgern noch Leistungserbringern konkret einheitlich vertraut. Als Leistungsträger werden diejenigen Behörden, Körperschaften oder Anstalten bezeichnet, die dafür verantwortlich sind, dass die Leistung »Frühförderung« wie gesetzlich vorgeschrieben erbracht wird. Leistungserbringer führen die Frühförderung durch. Wie sie das tun und wie viel Geld sie dafür bekommen, verhandeln sie mit den Leistungsträgern. Die BAR schreibt nur wenig darüber, besonders die Beschreibung von Aufgaben und Zielen der Zusammenarbeit wird ausgelassen, als würde es ausreichen, wenn die verschiedenen Fachleute voneinander wüssten und schon einmal miteinander gesprochen hätten.

Wenn Fachleute verschiedener Disziplinen zwar parallel, aber ohne gemeinsame Abstimmung, ohne Besprechungen mit dem Kind und seiner Familie arbeiten, dann handelt es sich um ein multidisziplinäres Vorgehen. Interdisziplinäre Zusammenarbeit bedeutet, dass es einen Austausch der Fachleute aus verschiedenen Disziplinen gibt; dieser bedingt formalisierte Besprechungen. Dafür gibt es bisher keine Standards; weder aus Sicht der Leistungserbringer noch aus Sicht der Leistungsträger wurden Aufgaben und Ziele bisher formuliert.

So ist zu vermuten, dass es Leistungsträgern bisher nicht vermittelt werden konnte, warum sie finanzielle Bedingungen herstellen sollten, in denen ausreichend Zeit für den sektionalen und intersektionalen fachlichen Austausch der Fachdisziplinenvertreterinnen und -vertreter zur Verfügung stehen würde. Das wäre zwingend notwendig, um z. B. auch die niedergelassenen Kinderärztinnen und Kinderärzte oder Therapeutinnen und Therapeuten in Team- und Fallbesprechungen einer Frühförderstelle einzubinden. Eher das Gegenteil scheint allerdings der Fall zu sein (vgl. Albers & Neuhäuser, 2006; Thurmair & Naggl, 2007). Derzeit beklagen Frühförderstellen bundesweit die Reduktion der sogenannten »indirekten Leistungen«, zu denen meistens auch der interdisziplinäre Austausch gezählt wird. Dabei wäre ein interdisziplinärer Austausch immer eine direkte individuelle Leistung für ein Kind, denn Teams setzen sich je Kind unterschiedlich zusammen. Die fehlenden Standards interdisziplinärer Zusammenarbeit könnten aber auch dazu führen, dass bei Leistungsträgern der Eindruck entsteht, Leistungserbringer von Frühförderung würden einfach pauschal mehr Zeit für den gemeinsamen Austausch fordern, ohne Nachweise erbringen zu können, was genau dadurch besser werden könnte.

Die folgenden Fragen sollen deshalb für das weitere Vorgehen handlungsleitend sein:

1.  Verbessert der interdisziplinäre Austausch die Frühförderung eines Kindes?

2.  Was macht eine gute interdisziplinäre Zusammenarbeit aus?

3.  Welche Methoden können für die interdisziplinäre Zusammenarbeit genutzt werden?

Diesen Fragen soll nun weiter nachgegangen werden. Es sollen Argumente gesucht werden, die für oder auch gegen eine interdisziplinäre Zusammenarbeit genutzt werden können. Denn bisher wird zwar interdisziplinäre Zusammenarbeit aus fachlicher und rechtlicher Sicht gefordert, es bleibt aber unklar warum.

2         Probleme der interdisziplinären Zusammenarbeit

Oft genug scheint es ausreichend zu sein, dass verschiedene Fachleute mit dem gleichen Kind arbeiten, ohne sich auszutauschen. Zumal die Ansätze der verschiedenen Berufsgruppen derart unterschiedlich sein können, dass eine Einigung über das gemeinsam abgestimmte Vorgehen zumindest lange dauern könnte. Bevor also Fachleute in endlosen Abstimmungsdiskussionen ihre kostbare Zeit vertun und darum ringen, wer Recht hat oder das letzte Wort behält, könnte es auch gelingen, dass die Familien das Wissen der verschiedenen Fachleute sammeln und bei Bedarf an die jeweils anderen weitergeben. Die Eltern selbst sind auch diejenigen, die sich meistens die einzelnen Fachleute selbstständig ausgesucht haben. Wenn sie die Wissenshoheit übernähmen, dann könnte man folgende Dinge sicherstellen:

a)  Entscheidungshoheit über die Weitergabe von persönlichen Daten:

      Das Wissen über die jeweils geplanten Maßnahmen setzt sich aus einer Koppelung von Fachwissen und sehr persönlichen Daten zusammen. Darüber, wer was mit wem über sie austauscht, sollten Familien stets selbst bestimmen dürfen. Wenn die Eltern als Vertreterinnen und Vertreter ihres Kindes, welches Frühförderung bekommt, das Fachwissen sammeln und bei Bedarf weitergeben würden, dann könnte diese »Wissenshoheit« auch dazu beitragen, ihre Autonomie und Selbstständigkeit zu fördern.

b)  Förderung der Autonomie und Selbstständigkeit:

      Die Förderung der Autonomie und Selbstständigkeit von Familien mit einem Kind, das Beeinträchtigungen hat und bei dem in Wechselwirkung mit der Umwelt deshalb eine Behinderung vorliegt oder eine solche droht, ist unbedingt auch eine Aufgabe der Frühförderung. Familien sollen in ihrer Fähigkeit unterstützt werden, selbstständig zu handeln und ihre eigenen Interessen zu vertreten. Sollte ein interdisziplinäres Team sich untereinander verständigen, ohne die jeweilige Familie in diesen Verständigungsprozess einzubeziehen, dann droht die Gefahr der – wenngleich möglicherweise auch fürsorglich gemeinten – Bevormundung. Interdisziplinäre Zusammenarbeit als Teil der Komplexleistung Frühförderung befindet sich damit im Spannungsfeld der kooperativen Prozessgestaltung sowohl in der gemeinsamen Gestaltung zwischen Fachleuten und den Eltern als auch in der interdisziplinären Prozessgestaltung.

c)  Kostenreduktion:

      Interdisziplinäre Zusammenarbeit ist stets auch mit Kosten verbunden. Wenn mehrere Fachleute miteinander oder mit den Eltern eines Kindes mit einer (drohenden) Behinderung sprechen, dann ist das Arbeitszeit, die Geld kostet. In einem Tätigkeitsfeld, das die beiden Systeme »Gesundheit« und »Soziales« miteinander verbindet, fließt Geld momentan in Deutschland eher nur für Leistungen, die »am Patienten/Klienten/Adressaten«, also »am Kind« erbracht werden. Ein gemeinsames Gespräch ist dabei keine regelhafte Abrechnungsposition für Fachleute der medizinisch-therapeutischen Berufe, doch ohne Austausch gibt es keine interdisziplinäre Zusammenarbeit. Wie eben schon beschrieben, wird das Abstimmungsgespräch auch für pädagogisch-psychologische Fachleute in der Frühförderung unzureichend finanziert, seitdem immer mehr Bundesländer die Leistungen der interdisziplinären Frühförderung in direkte und indirekte Leistungen aufteilen und die interdisziplinären Fachgespräche den indirekten Leistungen zuordnen bei gleichzeitiger Reduktion der Zeitanteile dieser indirekten Leistungen. Ohne finanzielle Abrechnungsmöglichkeiten sind nur wenige Fachleute dazu bereit, sich nach der Arbeit, also in der Freizeit und damit unbezahlt, noch untereinander abzustimmen. Dann wäre es ja auch genau genommen eher ein Hobby. Es ist aber eine gesetzliche Vorschrift und damit ein Sachzwang. Interdisziplinäre Zusammenarbeit muss ausreichend finanziert werden, sonst kann sie nicht gewährleistet werden.

Deshalb muss nun die Frage folgen: Was spricht für die interdisziplinäre Zusammenarbeit und wie kann die Autonomie und Selbstbestimmung der Familie gleichzeitig Berücksichtigung finden und gefördert werden?

3         Argumente für interdisziplinäre Zusammenarbeit

Die folgenden Punkte sprechen für eine interdisziplinäre Zusammenarbeit:

a)  Gesetzliche Vorgaben zur interdisziplinären Zusammenarbeit,

b)  eine mögliche theoretische Begründung der Nützlichkeit von interdisziplinärer Zusammenarbeit,

c)  der Zusammenhang von interdisziplinärer Zusammenarbeit und der Förderung von Partizipation sowie

d)  das Prinzip der Multiperspektivität.

Diese Punkte sollen nun ausführlicher dargelegt werden.

a)          Gesetzliche Vorgaben

Interdisziplinäre Zusammenarbeit in der Frühförderung ist gesetzlich vorgeschrieben. Nachdem über viele Jahre die Systeme der gesetzlichen Krankenkassen, der Jugendhilfe und der Sozialhilfe sorgfältig getrennt waren, wurde 2001 mit der Einführung des Sozialgesetzbuches neun (SGB IX) die Rechtslage in Deutschland derart verändert, dass nun alle medizinisch-therapeutischen und pädagogisch-psychologischen Leistungen der Frühförderung als Komplexleistung, also interdisziplinär und aufeinander abgestimmt, erfolgen sollen. Diese Veränderung soll eine Verbesserung darstellen, und zwar für die Kinder, die behindert werden oder von einer Behinderung bedroht sind. Allerdings brachte sie auch erhebliche Veränderungen bei der Koordinierung der sogenannten Leistungsträger und Leistungserbringer mit sich (vgl. Internetquelle: BMAS: Institut für Sozialforschung und Gesellschaftskritik, Abschlussbericht, 2012). Mit dem Kinder- und Jugendstärkungsgesetz (KJSG) sollen zukünftig alle Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe im SGB VIII inklusiv ausgestaltet werden, dazu gehört auch die Integration der bestehenden Regelungen im SGB IX/BTHG, also der niedrigschwellige Zugang zu den offenen Beratungsangeboten der Frühförderung, die Interdisziplinären Leistungen, zu denen auch Leistungselemente des SGB V gehören, sowie die gemeinsame familien- und partizipationsorientierte Förder- und Behandlungsplanung. Das stellt die Interdisziplinäre Frühförderung vor neue Herausforderungen. Die Komplexleistung Frühförderung beinhaltet und bedingt dennoch weiterhin die interdisziplinäre Zusammenarbeit.

b)          Theoretische Begründung der Nützlichkeit

Interdisziplinarität ist kein neuer Begriff in der Frühförderung. Er war schon weit vor der Einführung des SGB IX als Arbeitsprinzip in der Frühförderung etabliert und wurde meist systemtheoretisch begründet. Eine Grundannahme (nicht nur) aus systemtheoretischer Sicht ist, dass kindliche Entwicklung sich nicht isoliert vom Umfeld des Kindes vollzieht, sondern stets auch durch äußere Bedingungen beeinflusst wird. Jedes Kind hat Beziehungen zu verschiedenen Personen und Gruppen in verschiedenen Situationen. Es fühlt sich verschiedenen Gruppen (Systemen) zugehörig und/oder wird darin als zugehörig erlebt. Zu diesen sozialen Systemen eines Kindes können beispielsweise die Kernfamilie, die Nachbarschaft, der Kindergarten, die Freunde usw. gehören. Diese bedingen und beeinflussen sich gegenseitig.

Luhmann beschreibt soziale Systeme als Konstrukte, die entstehen und sich aufrechterhalten durch Kommunikation, indem die Systemmitglieder sich selbst als System verstehen oder auch von anderen als ein solches erkannt werden (vgl. Luhmann, 1984, S. 31). Ein System entsteht also, indem es einen Unterschied gibt zwischen System und Nicht-System (Umwelt). Das System Familie entsteht beispielsweise, indem sich Menschen in Familienmitglieder und Nicht-Familienmitglieder einteilen lassen. Dies gilt auch für alle anderen »sozialen Systeme«.

Systeme ändern sich im Laufe der Zeit, neue entstehen (z. B. Beginn des Kindergartens), alte fallen weg (z. B. Umzug in eine andere Stadt). Innerhalb der Systeme gibt es weitere Subsysteme, wie z. B. Geschwister und Eltern oder verschiedene Kindergartengruppen. Soziale Systeme stellen immer dann ein System dar, wenn sie sich selbst als »wir« definieren und von außen auch so wahrgenommen werden.

Innerhalb sozialer Systeme gibt es Regeln, die aufgestellt und eingehalten bzw. kontrolliert werden. Es gibt gemeinsame »Wirklichkeiten«, die aufeinander abgestimmt werden. Alle sozialen Systeme versuchen dabei, sich selbst stabil zu halten, und sind nicht unbegrenzt von außen beeinflussbar. Die Regeln und »Wirklichkeiten« der einzelnen Systeme müssen nicht gleich oder auch nur ähnlich sein. Alle Fachleute der Frühförderung sind in der Lage, Beispiele aufzuzählen, in denen gerade die Gegebenheiten unterschiedlicher Regeln verschiedener Systeme ein Teil ihres Arbeitsalltags sind, indem sich bei einem Kind die Eltern nicht einig sind oder die Großeltern versuchen, ihre Ideen gegenüber Kindern und Enkeln durchzusetzen, oder die Erzieherinnen und Erzieher aus dem Kindergarten sich nicht mit den Eltern verstehen oder die Nachbarschaft den Lebensalltag der Familie kritisiert usw. Sie stellen es aber auch fest, wenn sie innerhalb kürzester Zeit und mehrmals am Tag von einer Familie zur nächsten wechseln. Nicht nur die Regeln des Zusammenlebens sind unterschiedlich. Familien konstruieren ihre Wirklichkeiten. Dies geschieht, indem Erlebnisse interpretiert und mit einer eigenen Bedeutung versehen werden. Das kann z. B. in Bezug auf die Behinderung eines Familienmitgliedes geschehen: In einer Familie werden Beeinträchtigungen eines Kindes als Zufall angesehen, eine andere interpretiert sie als »Strafe«, eine weitere Familie fragt sich, aus welcher Familie »das denn komme«, wer also Schuld daran sei usw.

Oftmals ist die Frühförderung mobil organisiert, schon die verschiedenen Lebenswelten der Kinder machen deutlich: Verschiedene Systeme haben nicht nur verschiedene Wirklichkeiten, sondern auch unterschiedliche Regeln und Normen. Das wird bereits in ganz kleinen Details sichtbar: In einem Haushalt ist es sehr wichtig, die Schuhe auszuziehen, im nächsten, möglichst nichts schmutzig zu machen, wieder in einem anderen ist es besonders wichtig, pünktlich zu sein usw. Die Bedeutungen der Regeln für die Systemmitglieder sind einem Außenstehenden nicht unbedingt ersichtlich. Für die Kinder, die Frühförderung bekommen, gehören sie zum Alltag und sind Teil ihrer Wirklichkeit. Darauf soll Frühförderung eingehen.