12,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 12,99 €
Der neue Roman der Bestseller-Autorin Gayle Forman nach NUR EIN TAG … UND EIN GANZES JAHR und MANCHMAL MUSST DU EINFACH LEBEN Es ist wahre Freundschaft – aber es gibt ein großes Geheimnis Ich bedaure, Euch mitzuteilen, dass ich meinem Leben ein Ende setzen musste. Dieser Entschluss hat mich schon eine lange Zeit begleitet, und ich habe ihn allein getroffen. Es ist nicht Eure Schuld. Meg Cody und Meg waren unzertrennlich – beste Freundinnen für immer. Sie wussten alles voneinander. Jedenfalls dachte Cody das. Bis sie die E-Mail bekommt und mit einem Mal nichts mehr so ist wie vorher. Wer war Meg wirklich? Cody begibt sich auf die Suche nach Antworten und findet, was sie nicht erwartet – Freundschaft und Liebe. Ein einfühlsames und bewegendes Buch über den Mut, den es braucht, um nach einem schrecklichen Verlust weiterzuleben und an die Liebe zu glauben. Als ihre beste Freundin Meg sich in einem Motelzimmer umbringt, ist Cody völlig geschockt. Sie und Meg haben sich immer alles anvertraut – wieso hat sie nichts geahnt? Aber als sie zu Megs College in Tacoma, nahe Seattle, fährt, um deren Sachen zusammenzupacken, entdeckt sie, dass es vieles gibt, von dem Meg ihr nie erzählt hat. Cody wusste nichts von ihren Mitbewohnern, von Ben, dem geheimnisvollen Typen mit der Gitarre und dem spöttischen Grinsen. Und sie wusste nichts von der verschlüsselten Datei, die sie nicht öffnen kann – und die, als sie es doch schafft, plötzlich alles, was sie über den Tod ihrer Freundin zu wissen glaubt, in Frage stellt.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 362
Gayle Forman
Irgendwas von dir
Roman
Aus dem Amerikanischen von Stefanie Schäfer
FISCHER E-Books
Für Suzy Gonzales
Am Tag nach Megs Tod erhielt ich folgenden Brief:
Ich bedaure, Euch mitzuteilen, dass ich meinem Leben ein Ende setzen musste. Dieser Entschluss hat mich schon eine lange Zeit begleitet, und ich habe ihn allein getroffen. Ich weiß, dass ich Euch damit Schmerz zufüge, und das tut mir leid, aber Ihr müsst wissen, dass ich meinen eigenen Schmerz nicht länger ertragen konnte. Das hat nichts mit Euch zu tun und ist ausschließlich meine Sache. Ihr könnt nichts dafür. Es ist nicht Eure Schuld.
Meg
Sie hatte diesen Brief an ihre Eltern, an mich und an die Polizei von Tacoma gemailt, zusammen mit der Nachricht, in welchem Motel sie sich befand, in welchem Zimmer sie lag, welches Gift sie genommen hatte und wie mit ihrer Leiche zu verfahren sei. Auf dem Bett im Motelzimmer lagen eine weitere Nachricht – die Bitte an das Zimmermädchen, die Polizei von Tacoma zu informieren und ihre Leiche nicht anzurühren – und fünfzig Dollar Trinkgeld.
Sie hatte es so eingerichtet, dass die E-Mails zeitversetzt abgeschickt wurden, so dass sie längst tot war, als wir sie erhielten.
Natürlich erfuhr ich das alles erst hinterher. Deshalb hielt ich ihre Mail auch erst für einen Witz, als ich sie auf dem Bildschirm des Computers in der Stadtbibliothek las. Oder irgendeinen anderen Blödsinn. Ich versuchte, Meg zu erreichen, und als sie sich nicht meldete, rief ich ihre Eltern an.
Ich fragte sie: »Habt ihr Megs E-Mail bekommen?«
»Welche E-Mail?«
Es gibt Gedenkgottesdienste. Es gibt Totenwachen. Und dann gibt es auch noch Gebetskreise. Schwierig, das alles auseinanderzuhalten. Bei Totenwachen hält man eine Kerze in der Hand, aber das tut man manchmal auch in Gebetskreisen. Bei Gedenkgottesdiensten reden die Leute, aber was gibt es da zu sagen?
Es ist schon schlimm genug, dass sie sterben musste. Und das mit Vorsatz. Aber mich dem Ganzen hier auszusetzen ist so extrem schlimm – dafür könnte ich sie umbringen.
»Bist du fertig, Cody?«, ruft Tricia.
Es ist ein später Donnerstagnachmittag und wir gehen zur fünften Trauerfeier innerhalb eines Monats. Zu einer Totenwache mit Kerzen. Glaube ich.
Ich komme aus meinem Zimmer. Meine Mutter schließt gerade den Reißverschluss ihres schwarzen Kleides, das sie sich nach Megs Tod bei der Kleiderkammer besorgt hat. Es ist ihr Beerdigungskleid. Aber wenn das alles hier mal vorbei ist, bin ich sicher, wird sie es bestimmt als kleines Schwarzes zum Ausgehen tragen. Sie sieht sexy darin aus. Die Trauer steht ihr gut; das hat sie mit vielen Leuten in unserer Stadt gemeinsam.
»Warum bist du noch nicht angezogen?«, fragt sie.
»Meine guten Sachen sind alle schmutzig.«
»Was für gute Sachen?«
»Die, die halbwegs nach Beerdigung aussehen.«
»Aber schmutzig ist für dich doch sonst auch kein Argument.«
Wir starren einander an. Als ich acht war, verkündete Tricia, ich sei jetzt alt genug, um selbst meine Wäsche zu waschen. Ich hasse Wäsche waschen. Wohin das führt, kann man sich denken.
»Ich kapier nicht, warum wir schon wieder zu so einer Feier müssen«, maule ich.
»Weil die Leute hier die Sache verarbeiten müssen.«
»Teig wird verarbeitet. Die Leute sollen sich ein anderes Drama suchen, um sich daran hochzuziehen.«
Unsere Stadt hat fünfzehnhundertvierundsiebzig Einwohner, so steht es auf dem ausgeblichenen Schild am Ortseingang. »Fünfzehnhundertdreiundsiebzig«, bemerkte Meg, als sie im letzten Herbst dank eines Vollstipendiums ans College ging. »Fünfzehnhundertzweiundsiebzig, wenn du nach Seattle kommst und wir uns zusammen eine Wohnung suchen«, hatte sie hinzugefügt.
Jetzt bleibt es bei fünfzehnhundertdreiundsiebzig und zwar, wie ich annehme, bis jemand geboren wird oder stirbt. Die meisten Leute gehen nicht von hier weg. Sogar als Tammy Henthoff und Matt Parner ihre jeweiligen Ehepartner verließen und gemeinsam durchbrannten – das war der heißeste Klatsch vor der Sache mit Meg –, kamen sie nicht weiter als bis zu einem Trailerpark am Stadtrand.
»Muss ich wirklich mit?«, frage ich überflüssigerweise. Tricia ist meine Mutter, aber sie ist als solche keine Autorität für mich. Ich weiß, dass ich hingehen muss, und ich weiß, warum. Wegen Joe und Sue.
Sie sind Megs Eltern. Beziehungsweise, sie waren es. Ich stolpere dauernd über das Tempus. Hört man auf, Eltern zu sein, wenn die Kinder gestorben sind? Wenn sie mit Vorsatz gestorben sind?
Joe und Sue sind am Boden zerstört und haben so dunkle Ringe unter den Augen, dass sie vermutlich nie wieder weggehen werden. Ihretwegen krame ich mein am wenigsten stinkendes Kleid heraus und ziehe es an. Ich bereite mich darauf vor, zu singen. Wieder.
Amazing Grace. O Gnade Gottes – dass ich nicht lache!
Im Geiste habe ich ein Dutzend Nachrufe für Meg geschrieben und mir vorgestellt, was ich alles über sie sagen könnte. Etwa, dass wir uns gleich in der ersten Vorschulwoche kennengelernt hatten und sie gleich ein Bild von uns beiden malte. Darunter schrieb sie unsere Namen und dazu zwei Worte, die ich nicht verstand, weil ich im Gegensatz zu Meg noch nicht lesen und schreiben konnte. »Da steht ›Beste Freundinnen‹«, erklärte sie. Und wie alles, was sich Meg wünschte oder vorhersagte, wurde es wahr. Ich könnte erzählen, dass ich das Bild immer noch habe. Ich bewahre es in einer Metallwerkzeugkiste auf, die alle meine Lieblingssachen enthält. Das Blatt Papier ist schon ganz verknittert vom Alter und vom häufigen Ansehen.
Ich könnte auch erzählen, dass Meg Dinge über andere Leute wusste, die ihnen vielleicht nicht einmal selbst klar waren. So wusste sie genau, wie oft jemand hintereinander nieste – offenbar liegt dem ein Muster zugrunde. Ich nieste immer dreimal, Scottie und Sue niesten viermal, Joe nieste zweimal und Meg fünfmal. Außerdem erinnerte sich Meg ganz genau daran, was man jedes Jahr beim Schulfotografen oder an Halloween angehabt hatte. Sie war wie das Archiv meiner Geschichte und zugleich deren Schöpferin, denn fast jedes Halloween verbrachte ich mit ihr zusammen und zwar in einem Kostüm, das sie sich ausgedacht hatte.
Ich könnte auch von Megs Begeisterung für Songs über Glühwürmchen erzählen. Es begann in der neunten Klasse, als sie eine alte Vinyl-Single von einer Band namens Heavens to Betsy auftrieb. Sie schleppte mich in ihr Zimmer und spielte mir die verkratzte Scheibe auf dem alten Plattenspieler vor, den sie auf einem Kirchenbasar für einen Dollar erstanden und mit Hilfe von YouTube-Videos selbst repariert hatte. And you will never know how it feels to light up the sky. You will never know how it feels to be a firefly, sang Corin Tucker mit einer Stimme, die so stark und verletzlich zugleich war, dass sie fast unmenschlich klang.
Nach dieser Heavens-to-Betsy-Entdeckung begab sich Meg auf eine Mission. Sie nahm sich vor, jeden guten Glühwürmchensong zu finden, der jemals geschrieben worden war. Typisch Meg – schon nach ein paar Wochen hatte sie eine umfangreiche Liste zusammen. »Hast du überhaupt schon mal ein Glühwürmchen gesehen?«, fragte ich sie, als sie an ihrer Playlist arbeitete.
Ich wusste, dass sie noch keins gesehen hatte. Meg war noch nie jenseits der Rockys gewesen, ebenso wenig wie ich. »Ich hab Zeit«, hatte sie gesagt und die Arme ausgebreitet, als ob sie zeigen wollte, wie viel Leben dort draußen war und nur auf sie wartete.
Joe und Sue hatten mich gebeten, bei dem ersten Gottesdienst zu sprechen, dem großen, der eigentlich in der katholischen Kirche hätte stattfinden sollen, die die Garcias seit Jahren regelmäßig besuchten, der aber nicht dort stattfand, weil Father Grady, obwohl ein Freund der Familie, ein Prinzipienreiter war. Er erklärte den Garcias, Meg hätte eine Todsünde begangen und daher käme ihre Seele nicht in den Himmel und ihre Leiche nicht auf den katholischen Friedhof.
Letzteres war zu diesem Zeitpunkt sowieso nur rein theoretisch. Es dauerte sehr lange, bis die Behörden ihre Leiche endlich freigaben. Offenbar war das Gift, das sie genommen hatte, selten, was keinen, der Meg gekannt hatte, überraschte. Sie trug niemals Kleidung von einer der großen Ketten und hörte immer nur Musik von Bands, die außer ihr keiner kannte. Natürlich hatte sie irgendein obskures Gift aufgetrieben, um sich damit umzubringen.
Daher war der Sarg, über dem alle bei dem ersten großen Gottesdienst weinten, leer, und es gab kein Begräbnis. Ich hörte zufällig Megs Onkel Xavier zu seiner Freundin sagen, es wäre vielleicht besser, wenn es überhaupt keines gäbe. Niemand wüsste, was man auf den Grabstein schreiben solle. »Alles würde wie ein Vorwurf klingen«, meinte er.
Ich versuchte, einen Nachruf für diesen Gottesdienst zu schreiben. Ich gab mir wirklich Mühe. Als Inspiration suchte ich die CD mit den Glühwürmchen-Songs heraus, die Meg gebrannt hatte. Das dritte Stück war Fireflies von Bishop Allen. Keine Ahnung, ob ich mir den Text je zuvor richtig angehört hatte, doch als ich es jetzt tat, traf er mich wie ein Schlag von ihr aus dem Jenseits: It says you can still forgive her. And she will forgive you back.
Nein, ich weiß nicht, ob ihr je werde vergeben können. Und ich weiß nicht, ob sie mir vergeben hat.
Ich sagte Joe und Sue, es täte mir leid, aber ich könne keine Rede halten, weil ich nicht wüsste, was ich sagen sollte.
Es war das erste Mal, dass ich sie anlog.
Die heutige Trauerfeier wird im Rotary Club abgehalten, es ist also kein offizieller Gottesdienst, obwohl der Sprecher anscheinend eine Art Pfarrer ist. Keine Ahnung, wo die alle herkommen, diese Redner, die Meg gar nicht richtig gekannt haben. Anschließend lädt mich Sue zu einer weiteren Zusammenkunft in ihr Haus ein.
Ich habe so viel Zeit bei Meg verbracht, dass ich früher Sues Stimmung am Geruch im Haus ablesen konnte, sobald ich zur Tür hereinkam. Butter bedeutete Backen, was hieß, dass sie melancholisch war und Aufmunterung brauchte. Würzig bedeutete, dass sie glücklich war und scharfe mexikanische Gerichte für Joe kochte, obwohl sie selbst Magenschmerzen davon bekam. Popcorn bedeutete, dass sie im Bett lag, mit heruntergelassenen Rollläden, und gar nichts kochte, so dass Meg und Scottie sich selbst überlassen waren, was ein Büfett aus Mikrowellen-Snacks bedeutete. An solchen Tagen scherzte Joe, was für ein Glück wir Kinder doch hätten, uns derart mit Junkfood vollstopfen zu können, während er hinaufging und nach Sue sah. Wir spielten alle mit, aber nach dem zweiten oder dritten Mikrowellen-Würstchen im Schlafrock war uns zum Kotzen zumute.
Ich kenne die Garcias so gut, dass ich bei meinem Anruf an jenem Samstagmorgen, nachdem ich die E-Mail erhalten hatte, genau wusste, dass Sue noch im Bett lag, obwohl es schon elf Uhr war. Sie schlief dann zwar nicht mehr; sie sagte, dass sie es nie mehr wieder hingekriegt hätte auszuschlafen, seit ihre Kinder nicht mehr früh wach wurden. Joe hatte schon Kaffee aufgesetzt und die Morgenzeitung auf dem Küchentisch ausgebreitet. Scottie schaute Trickfilme im Fernsehen. Dieses Beständige gehörte zu den vielen Dingen, die ich an Megs Zuhause liebte. Es war so anders als bei mir, wo Tricia normalerweise frühestens gegen Mittag erwachte. Und an manchen Tagen fand man sie dann womöglich in der Küche, wo sie Schüsseln mit Frühstücksflocken füllte, an anderen Tagen fand man sie gar nicht.
Doch jetzt herrscht eine ganz andere Art von Konstanz im Haus der Garcias, eine wesentlich weniger verlockende. Dennoch lehne ich Sues Einladung nicht ab, so gerne ich es auch täte.
Vor dem Haus parken weniger Autos als zu Anfang, als noch die ganze Stadt vorbeikam, um ihr Beileid auszusprechen und Speisen in ofenfesten Glasschüsseln vorbeizubringen. Die Berge von Essen und die dazugehörige mitfühlende Anteilnahme waren ziemlich schwer zu ertragen gewesen angesichts der Tatsache, dass ansonsten in der ganzen Stadt böser Tratsch die Runde machte. »Hat mich nicht gewundert. Das Mädchen war schon immer ganz schön merkwürdig«, hörte ich die Leute im Circle K flüstern. Meg und ich wussten beide, dass manche so über sie redeten – in unserer Stadt war sie wie eine Rose, die in der Wüste blühte, und das verwirrte die Menschen –, doch nach ihrem Tod fühlte sich das nicht länger wie ein Kompliment an.
Und sie tratschten nicht nur über Meg. In Tricias Bar hörte ich, wie die Leute auch über Sue herzogen. »Ich als Mutter wüsste genau, wenn meine Tochter selbstmordgefährdet wäre«, behauptete ausgerechnet die Mutter von Carrie Tarkington, die mit der halben Schule geschlafen hatte. Ich hätte sie am liebsten gefragt, ob sie in ihrer Allwissenheit auch darüber Bescheid wusste. Doch dann erwiderte ihre Freundin: »Sue? Machst du Witze? Sogar an guten Tagen schwebt die doch in einer Seifenblase«, und ihre Grausamkeit traf mich wie ein Schlag in die Magengrube. »Wie würdet ihr euch fühlen, wenn ihr gerade euer Kind verloren hättet, ihr blöden Kühe?«, giftete ich. Tricia musste mich nach Hause begleiten.
Nach der heutigen Trauerfeier muss Tricia arbeiten, deswegen lässt sie mich bei den Garcias raus. Ich gehe einfach rein, ohne zu klingeln. Joe und Sue umarmen mich fest und ein wenig länger, als angenehm wäre. Ich weiß, dass es tröstlich für sie sein muss, mich hier zu haben, aber trotzdem spüre ich Sues unausgesprochene Fragen, wenn sie mich ansieht, und ich weiß, dass sie alle auf die eine hinauslaufen: Hast du es gewusst?
Ich weiß nicht, was schlimmer wäre. Wenn ich es gewusst und ihnen nichts gesagt hätte, oder die Wahrheit, nämlich, dass ich nicht einmal etwas geahnt habe. Keinen blassen Schimmer hatte. Und das, obwohl Meg meine beste Freundin war und ich ihr alles von mir erzählt habe, was es zu erzählen gab, und ich angenommen hatte, dass es bei ihr genauso war.
Dieser Entschluss hat mich schon eine lange Zeit begleitet, hat sie in ihrer E-Mail geschrieben. Lange Zeit? Wie lang ist das? Wochen? Monate? Jahre? Ich habe Meg seit dem Kindergarten gekannt. Seitdem waren wir beste Freundinnen, ja, fast so etwas wie Schwestern. Wie lange ist dieser Entschluss in ihr gereift, ohne dass sie mir etwas gesagt hat? Und vor allem, warum hat sie mir nichts gesagt?
Nachdem wir ungefähr zehn Minuten lang in traurigem und höflichem Schweigen herumgesessen haben, kommt Scottie, Megs zehn Jahre alter Bruder mit ihrem – oder jetzt seinem – Hund Samson an der Leine zu mir herüber. »Rausgehen?«, fragt er mich und zugleich den Hund.
Ich nicke und stehe auf. Scottie scheint der Einzige zu sein, der noch ansatzweise er selbst geblieben ist, was vielleicht an seiner Jugend liegt, obwohl er gar nicht mehr so jung ist und er und Meg sehr eng miteinander waren. Wenn Sue sich mit einem ihrer Zustände zurückzog und Joe ebenfalls verschwand, um sich um sie zu kümmern, war Meg diejenige, die Scottie bemutterte.
Es ist zwar schon Ende April, aber das Wetter schert sich nicht darum. Ein starker, schneidend kalter Wind kommt auf. Wir gehen in Richtung des großen, brachliegenden Feldes, auf dem alle ihre Hunde scheißen lassen, und Scottie lässt Samson von der Leine. Das Tier springt begeistert los, glücklich in seiner Ahnungslosigkeit.
»Und, wie schlägst du dich, Runtmeyer?« Es hört sich unecht an, seinen alten Spitznamen zu benutzen, und außerdem weiß ich genau, wie es ihm geht. Aber da Meg nicht länger die Mutterglucke spielt und Sue und Joe sich in ihrer Trauer verloren haben, muss ihn wenigstens mal jemand fragen.
»Ich bin schon auf Level sechs bei Fiend Finder«, antwortet er achselzuckend. »Ich kann jetzt alles spielen, was ich will.«
»Netter Nebeneffekt.« Ich schlage mir die Hand vor den Mund. Mein bitterer Galgenhumor ist nicht für die Öffentlichkeit bestimmt.
Doch Scottie stößt ein raues Lachen aus, das gar nicht seinem Alter entspricht. »Ja, stimmt.« Er bleibt stehen und beobachtet, wie Samson am Hintern eines Collies schnüffelt.
Auf dem Weg nach Hause zerrt Samson an der Leine, weil er weiß, dass es gleich Futter gibt. Scottie fragt mich: »Weißt du, was ich nicht kapiere?«
Ich gehe davon aus, dass wir immer noch über Computerspiele reden, deswegen bin ich nicht auf das vorbereitet, was er als Nächstes sagt.
»Ich kapiere nicht, warum sie mir die E-Mail nicht geschickt hat.«
»Hast du denn überhaupt eine E-Mail-Adresse?«, frage ich. Als wäre das der Grund gewesen.
Er verdreht die Augen. »Ich bin zehn, nicht zwei. Ich habe schon seit der dritten Klasse eine. Meg hat mir ständig alles Mögliche gemailt.«
»Na ja, vielleicht … Vielleicht wollte sie dich schonen.«
Für einen Moment scheinen seine Augen fast genauso tief in den Höhlen zu liegen wie die seiner Eltern. »Klar, sie hat mich echt geschont.«
Als wir zurückkommen, gehen die Gäste gerade. Ich erwische Sue dabei, wie sie einen Thunfischauflauf in den Müll schmeißt. Sie wirft mir einen schuldbewussten Blick zu. Als ich sie zum Abschied umarmen will, hält sie mich auf. »Kannst du noch ein bisschen bleiben?«, fragt sie mit ihrer ruhigen Stimme, die so anders klingt als die lebhafte von Meg. Megs Stimme, die jeden zu allem bringen konnte, jederzeit.
»Natürlich.«
Sie deutet zum Wohnzimmer, wo Joe auf dem Sofa sitzt, in die Luft starrt und Samson ignoriert, der zu seinen Füßen um das erwartete Abendessen bettelt. In der fahlen Dämmerung sehe ich Joe an. Meg kam nach ihm, dunkler, mexikanischer Typ. Er wirkt, als wäre er im letzten Monat um tausend Jahre gealtert.
»Cody«, sagt er. Ein Wort. Aber es reicht, um mich zum Weinen zu bringen.
»Hi, Joe.«
»Sue möchte mit dir reden. Wir beide.«
Mir schlägt das Herz bis zum Hals, denn ich nehme an, dass sie mich nun doch fragen werden, ob ich irgendetwas gewusst habe. Ich musste bei der Polizei einige nebensächliche Fragen beantworten, gleich als alles passiert war, aber diese hatten eher damit zu tun, wie sich Meg das Gift beschafft haben könnte. Davon hatte ich keine Ahnung, nur dass Meg sich alles irgendwie beschaffen konnte, wenn sie es sich einmal in den Kopf gesetzt hatte.
Nach Megs Tod recherchierte ich im Netz, an welchen Zeichen man erkannte, ob jemand selbstmordgefährdet war. Meg hatte mir keine ihrer Lieblingssachen geschenkt. Sie hatte nicht davon gesprochen, sich selbst töten zu wollen. Ich meine, sie sagte solche Dinge wie »Wenn uns Ms. Dobson noch einmal einen unangekündigten Test schreiben lässt, erschieße ich mich«, aber zählt das?
Sue setzt sich neben Joe auf das abgewetzte Sofa. Sie sehen einander kurz an, doch dann ist es, als schmerze sie das zu sehr. Sie wenden sich mir zu. Als sei ich unbeteiligt.
»Das Semester in Cascades endet nächsten Monat«, sagen sie.
Ich nicke. Die University of the Cascades ist das renommierte private College, für das Meg ein Stipendium erhalten hatte. Eigentlich war der Plan gewesen, dass wir beide nach der Highschool zusammen nach Seattle gehen würden. Darüber hatten wir seit der achten Klasse geredet. Wir wollten beide an die University of Washington, uns in den ersten zwei Jahren ein Zimmer im Studentenwohnheim teilen und uns dann auf Dauer eine eigene Wohnung suchen. Doch dann hatte Meg erstaunlicherweise ein volles Stipendium an der Cascades erhalten, mit einem viel besseren Angebot als das der Universität von Washington. Ich hatte zwar auch einen Studienplatz an der Washingtoner Universität bekommen, aber ohne irgendein Stipendium, und Tricia hatte ziemlich deutlich gemacht, dass sie mich nicht würde unterstützen können. »Ich bin gerade erst meine Schulden los.« Am Ende verzichtete ich also auf den Platz an der Uni und beschloss, zu Hause zu bleiben. Mein Plan war, zwei Jahre auf das städtische College zu gehen und dann nach Seattle überzusiedeln, um in Megs Nähe zu sein.
Joe und Sue sitzen still da. Ich beobachte, wie Sue an ihren Fingernägeln knibbelt. Ihre Nagelhaut ist rot und wund. Endlich blickt sie auf. »Die Leute am College waren sehr freundlich. Sie haben angeboten, die Sachen in ihrem Zimmer zusammenzupacken und uns zuzuschicken, aber ich kann die Vorstellung nicht ertragen, dass Fremde ihre Sachen anfassen.«
»Und was ist mit ihren Mitbewohnerinnen?« Das Cascades ist ein sehr kleines College und hat kaum Studentenzimmer auf dem Campus. Meg wohnt – wohnte – in einem Haus außerhalb, in einer Wohngemeinschaft.
»Offenbar haben sie einfach ihr Zimmer abgeschlossen und es so gelassen, wie es war. Die Miete ist bis zum Semesterende bezahlt, aber jetzt sollten wir das Zimmer doch ausräumen und ihre Sachen …« Ihr bricht die Stimme.
»Nach Hause holen«, beendet Joe den Satz für sie.
Ich brauche einen Moment, bis ich kapiere, was sie wollen, worum sie mich bitten. Und zuerst bin ich erleichtert, weil es bedeutet, nicht zugeben zu müssen, dass ich keine Ahnung hatte, was Meg umtrieb. Dass ich das eine Mal in ihrem Leben, wo sie mich gebraucht hätte, versagt habe. Doch dann ballt sich ihre Bitte zu einem bleischweren Knoten in meinem Magen zusammen. Was nicht heißen soll, dass ich es nicht tun werde. Das werde ich. Natürlich werde ich das.
»Ihr wollt, dass ich ihre Sachen zusammenpacke?«, frage ich.
Sie nicken. Ich nicke ebenfalls. Es ist das Mindeste, was ich tun kann.
»Erst, wenn du Semesterferien hast, natürlich«, sagt Sue.
Offiziell beginnen sie nächsten Monat. Inoffiziell haben sie schon an dem Tag begonnen, an dem ich Megs E-Mail erhalten habe. Meine Noten sind jetzt mangelhaft. Oder ungenügend. Die Unterscheidung ist nicht wirklich relevant.
»Und wenn du dir von der Arbeit freinehmen kannst«, sagt Joe.
Er sagt es voller Respekt, so als hätte ich einen wichtigen Job. Dabei gehe ich nur putzen. Die Leute, für die ich arbeite, wissen über Meg Bescheid, so wie alle hier in der Stadt. Alle waren sehr rücksichtsvoll und meinten, ich könne mir so viel Zeit nehmen, wie ich bräuchte. Doch freie Zeit, um über Meg nachzudenken, ist nicht das, was ich jetzt brauche.
»Ich kann jederzeit fahren«, erwidere ich. »Gleich morgen, wenn ihr wollt.«
»Sie hatte nicht besonders viel. Du kannst das Auto nehmen«, sagt Joe. Joe und Sue teilen sich ein Auto, und ihre Tagesplanung gleicht einer NASA-Expedition ins Weltall: Sue muss Joe zur Arbeit, Scottie zur Schule und dann selbst zur Arbeit fahren. Nachmittags muss sie dann alle wieder der Reihe nach einsammeln. An den Wochenenden ist es auch nicht besser, wenn sie die Einkäufe und all die Erledigungen machen müssen, für die sie unter der Woche keine Zeit haben. Ich besitze kein Auto. Selten, sehr selten, erlaubt mir Tricia, ihres zu benutzen.
»Ich kann genauso gut mit dem Bus fahren. Wenn sie ja nicht so viel hat.«
Joe und Sue wirken erleichtert. Joe sagt: »Wir bezahlen natürlich die Busfahrt, und wenn es zu viele Kartons sind, kannst du sie auch mit UPS schicken.«
»Und du brauchst auch nicht alles mit zurückzubringen.« Sue zögert. »Nur das Wichtigste.«
Ich nicke. Sie sehen so dankbar aus, dass ich wegschauen muss. Das ist doch ein Klacks: eine Dreitagestour. Einen Tag hin, einen Tag packen, einen Tag zurück. Meg an meiner Stelle hätte das längst von sich aus angeboten, ohne dass man sie erst hätte fragen müssen.
Ab und zu lese ich irgendeinen hoffnungsvollen Artikel über die Gentrifizierung Tacomas und dass die Stadt demnächst Seattle Konkurrenz machen könne. Doch als mein Bus in das verlassene Zentrum einbiegt, wirkt es irgendwie eher verzweifelt, als hätte man es mit aller Macht versucht, aber total versagt. Wie bei manchen von Tricias Freundinnen in der Bar, fünfzigjährige Frauen, die trotz Miniröcken, Plateauschuhen und Make-up ihr wahres Alter nicht verheimlichen können. Schaf verkleidet als Lamm, sagen die Typen in unserer Stadt dazu.
Als Meg ans College ging, versprach ich ihr, sie einmal im Monat zu besuchen, aber letztendlich war ich nur ein Mal bei ihr, letztes Jahr im Oktober. Ich hatte mir eine Fahrkarte nach Tacoma gekauft, doch als der Bus in Seattle Station machte, erwartete mich Meg schon dort am Busbahnhof. Sie hatte den ganzen Tag verplant: Sie wollte, dass wir über den Capitol Hill spazierten, in einem kleinen Restaurant in Chinatown essen gingen und das Konzert einer Band in Belltown besuchten – all die Dinge, die wir uns vorgenommen hatten, gemeinsam zu unternehmen, sobald wir in Seattle zusammengezogen wären. Sie war total begeistert von ihrem Plan. Ich wusste nicht genau, ob es eine Art Verkaufsmasche oder ein Trostpreis war.
Egal wie, es wurde ein Reinfall. Das Wetter war regnerisch und kalt, während es zu Hause klar und kalt gewesen war. Noch ein Grund, nicht nach Seattle zu ziehen, sagte ich mir. Außerdem war keiner der Orte, die wir besuchten – die Secondhandläden, die Comicläden und Cafés –, so cool, wie ich sie mir vorgestellt hatte. Das sagte ich jedenfalls zu Meg.
»Tut mir leid«, sagte sie, nicht sarkastisch, sondern aufrichtig bedauernd, als wären Seattles Unzulänglichkeiten ihr Fehler.
Dabei hatte ich sie angelogen. Seattle war toll. Trotz des miesen Wetters hätte ich es phantastisch gefunden, dort zu leben. Aber ich bin sicher, dass ich es genauso phantastisch gefunden hätte in New York, Tahiti oder an einer Million anderen Orte zu leben, an die ich niemals kommen werde.
Wir hatten eigentlich vor, abends zum Konzert einer Band zu gehen, von der Meg ein paar Leute kannte, aber ich wollte nicht und behauptete, müde zu sein. Wir kehrten in ihre WG in Tacoma zurück. Eigentlich sollte ich noch fast den ganzen nächsten Tag bleiben, aber ich sagte ihr, dass ich Halsschmerzen hätte, und fuhr frühzeitig nach Hause.
Meg lud mich ein, wiederzukommen, aber ich hatte immer Gründe, warum es nicht ging: Ich hatte zu viel zu tun, die Fahrt war zu teuer. Beides stimmte, aber es war nicht die Wahrheit.
Ich muss zweimal umsteigen, um von der Innenstadt raus zum Cascade-College zu kommen, einem kleinen, baumbestandenen Unikomplex direkt am Wasser. Joe hatte mir aufgetragen, dort erst ins Verwaltungsgebäude zu gehen und die nötigen Papiere und den Schlüssel abzuholen. Obwohl Meg nicht auf dem Campus gewohnt hat, verwaltet die Universität alle Studentenwohnungen. Als ich erkläre, wer ich bin, wissen die Angestellten sofort, weshalb ich hier bin, weil sie mich auf diese ganz bestimmte Art und Weise ansehen. Ich hasse diesen Blick, den ich inzwischen so gut kenne: eingeübtes Mitleid.
»Unser herzliches Beileid«, sagt die zuständige Frau. Sie ist dick und trägt irgendwie wallende Kleidung, die sie noch dicker aussehen lässt. »Wir haben wöchentliche Gesprächskreise für alle eingerichtet, die von Megans Tod betroffen sind. Wenn Sie gern an einem teilnehmen möchten – das nächste Treffen findet schon ganz bald statt.«
Megan? Niemand außer ihren Großeltern hat sie so genannt.
Sie überreicht mir einige Unterlagen; die Farbkopie eines Fotos von einer lächelnden Meg, das ich nicht wiedererkenne. Darüber steht Lebenslinie, mit kleinen Herzen anstelle von i-Punkten. »Am Montagnachmittag.«
»Tut mir leid, aber dann bin ich schon wieder weg.«
»Ach, schade.« Sie hält einen Moment inne. »Die Treffen haben Megans Kommilitonen sehr geholfen. Alle waren ziemlich geschockt.«
Geschockt ist nicht das richtige Wort dafür. Geschockt war ich, als ich endlich von Tricia erfuhr, wer mein Vater war, und herausfand, dass er bis zu meinem neunten Lebensjahr keine dreißig Kilometer von uns entfernt gewohnt hatte. Was mit Meg geschehen ist, ist etwas ganz anderes. Es ist so, als würde man eines Morgens aufwachen und feststellen, dass man plötzlich auf dem Mars lebt.
»Ich bleibe nur für eine Nacht«, sage ich der Frau.
»Ach, schade«, wiederholt sie.
»Ja, schade.«
Sie gibt mir einen Schlüsselbund, erklärt mir, wie ich zu dem Haus komme, und fügt hinzu, ich solle anrufen, wenn ich irgendetwas bräuchte. Bevor sie mir ihre Karte geben oder, noch schlimmer, mich umarmen kann, bin ich auf der Straße.
Als ich an die Tür des alten Hauses klopfe, in dem Meg gewohnt hat, öffnet niemand, also schließe ich auf und gehe einfach rein. Drinnen riecht es nach Bier, Pizza und Wasserpfeifenbrühe, und noch nach etwas anderem, dem Ammoniakgestank eines schmutzigen Katzenklos. Irgendwo läuft Musik von irgendeiner Jam-Band, Phish oder Widespread Panic, jedenfalls die Art von schlechtem Hippie-Sound, der Meg wahrscheinlich wieder mal dazu gebracht hätte, sich erschießen zu wollen. Dann merke ich plötzlich, was mir da durch den Kopf geht, und denke, dass sie das ja eigentlich auch getan hat, sich selbst erschießen.
»Wer bist du denn?« Ein großes, unglaublich hübsches Mädchen steht vor mir. Sie trägt ein gebatiktes T-Shirt mit Peace-Zeichen und sieht mich abschätzig an.
»Ich bin Cody. Reynolds. Ich bin wegen Meg hier. Wegen ihrer Sachen.«
Sie erstarrt. Als hätte Meg, ihre Erwähnung, ihre Existenz, alles verhärtet, was weich an ihr gewesen ist. Ich kann das Mädchen auf den ersten Blick nicht leiden. Als sie sich als Tree vorstellt, wünschte ich, Meg wäre da, so dass wir uns diesen verstohlenen Blick zuwerfen könnten, den wir im Laufe der Jahre entwickelt haben, um uns über unsere gemeinsame Verachtung zu verständigen. Tree?
»Wohnst du hier?«, frage ich. Nach ihrer Ankunft hatte Meg mir lange E-Mails geschrieben, in denen sie von ihren Seminaren, ihren Professoren, ihrem Studentenjob und manchmal auch in ihrer großartig witzigen Art von ihren Mitbewohnern berichtet hatte. Ja, sie hatte sogar Kohlekarikaturen gezeichnet, eingescannt und mitgeschickt. Normalerweise hätte mich all das begeistert und ihre Arroganz mich amüsiert, denn so war es immer gewesen: Meg und ich gegen den Rest der Welt. Bei uns zu Hause nannte man uns die Unzertrennlichen. Doch als ich die E-Mails las, hatte ich das Gefühl, dass sie absichtlich die Fehler ihrer Mitbewohner hervorhob, damit ich mich besser fühlen sollte, wodurch ich mich aber nur noch schlechter fühlte. Jedenfalls kann ich mich nicht an ein Mädchen namens Tree erinnern.
»Ich bin eine Freundin von Rich«, erwidert mir der zickige Hippie-Baum. Ahh, Kiffer-Richard, wie Meg ihn genannt hat. Ich habe ihn kennengelernt, als ich das letzte Mal hier gewesen bin.
»Ich leg dann mal lieber los«, sage ich.
»Tu das«, erwidert Tree. Nach einem Monat, in dem alle anderen mich mit Samthandschuhen angefasst haben, schockiert mich diese offene Feindseligkeit.
Ich erwarte fast, dass draußen vor Megs Zimmertür zum Gedenken Kerzen und Blumen stehen, wie man sie jetzt überall bei uns in der Stadt findet. Wann immer ich das sehe, überkommt mich das Bedürfnis, die Blüten abzureißen oder die Kerzen umzuwerfen.
Aber da steht nichts. Stattdessen klebt ein Albumcover an der Tür. Feel the darkness von Poison Idea. Ein Typ hält sich einen Revolver an den Kopf. So sieht also die Vorstellung ihrer Mitbewohner von Gedenken aus?
Schwer atmend schließe ich die Tür auf und drücke die Klinke runter. Auch hier drinnen ist es nicht so, wie ich es erwartet habe. Meg war notorisch unordentlich. In ihrem Zimmer zu Hause stapelten sich überall Bücher und CDs, lagen Zeichnungen und halbfertige Projekte herum: eine Lampe, die sie zu reparieren versuchte, ein Superachtfilm, den sie schneiden wollte. Sue hatte gesagt, ihre Mitbewohner hätten einfach die Tür abgeschlossen und Megs Zimmer so gelassen, wie es war, aber es sieht so aus, als sei schon jemand vor mir hier gewesen. Das Bett ist gemacht, und die meisten ihrer Sachen sind bereits ordentlich gefaltet. Unter dem Bett liegen Umzugskisten, die nur noch aufgeklappt werden müssen.
Ich werde höchstens zwei Stunden brauchen, um meine Aufgabe zu erledigen. Wenn ich das gewusst hätte, hätte ich das Auto der Garcias genommen und wäre an einem Tag hin und zurück gefahren.
Sue und Joe haben mir Geld für ein Motel angeboten, aber ich habe es nicht angenommen. Ich weiß, wie wenig sie haben und dass sie jeden Cent, den sie erübrigen konnten, in Megs Ausbildung investierten. Auch mit vollem Stipendium entstanden etliche zusätzliche Kosten für sie, und Megs Tod hat wieder ganz andere Ausgaben mit sich gebracht. Ich hatte gesagt, ich würde in ihrem Zimmer schlafen, aber jetzt, wo ich hier bin, werde ich dauernd an das letzte Mal – das einzige Mal – erinnert, als ich hier übernachtet habe.
Meg und ich hatten, seit wir klein waren, ohne Probleme Betten, Schlafsofas und Schlafsäcke geteilt, aber in der Nacht meines Besuchs lag ich hellwach neben einer fest schlafenden Meg. Sie schnarchte leise, und ich trat sie andauernd, als wäre es ihr Schnarchen, das mich wachhielt. Als wir am Sonntagmorgen aufstanden, hatte etwas Gemeines und Hartes in meinem Bauch Wurzeln geschlagen, und ich spürte, dass ich auf Streit aus war. Dabei war Streiten das letzte, was ich mit Meg tun wollte. Sie hatte mir nichts getan. Sie war meine beste Freundin. Deswegen war ich früher abgereist. Und nicht weil ich Halsschmerzen hatte.
Ich gehe wieder runter. Die Musik hat sich verändert. Statt Phish läuft jetzt etwas Rockigeres, The Black Keys, glaube ich. Schon besser, wenn auch eine merkwürdige Wendung. Eine Gruppe von Leuten sitzt auf einer lila Velourcouch und teilt sich eine Pizza und einen Zwölferpack Bier. Tree ist auch dabei, also gehe ich grußlos an ihnen vorbei und ignoriere den Duft der Pizza, der mir Magenknurren verursacht, weil ich heute noch nichts gegessen habe außer einem kleinen Keksriegel im Bus.
Draußen ist es neblig. Ich laufe ein Stück, bis ich eine Reihe von Schnellrestaurants erreiche. Ich betrete eines, bestelle einen Kaffee, und als mir die Kellnerin einen giftigen Blick zuwirft, bestelle ich noch ein rund um die Uhr erhältliches Frühstück für zwei Dollar neunundneunzig dazu. Ich überlege, ob mich das dazu berechtigt, hier die Nacht über zu kampieren.
Nach ein paar Stunden und nachdem sie mir vier- oder fünfmal die Tasse mit Kaffee nachgefüllt hat, lässt mich die Kellnerin weitgehend in Ruhe. Ich hole mein Buch heraus und bedaure jetzt, keinen spannenden Thriller mitgenommen zu haben. Aber Mrs. Banks, die Bibliothekarin, hat mich seit einiger Zeit ganz süchtig nach den europäischen Autoren gemacht. Sie macht all diese Phasen mit mir zusammen durch. Das hat sie seit meinem zwölften Lebensjahr getan, als sie mich in Tricias Bar, wo ich ab und zu abhängen musste, wenn Tricia arbeitete, einen Roman von Jackie Collins lesen sah. Mrs. Banks fragte mich, was ich sonst noch gerne las, und ich ratterte ein Paar Titel herunter, größtenteils Taschenbücher, die mir Tricia aus dem Pausenraum mitgebracht hatte. »Du bist ja eine richtige Leseratte«, sagte Mrs. Banks, und dann lud sie mich ein, in der nächsten Woche in die Bibliothek zu kommen. Als ich kam, ließ sie mich einen Mitgliedsausweis unterschreiben und gab mir Jane Eyre und Stolz und Vorurteil mit. »Wenn du durch bist, sag mir, ob sie dir gefallen haben, und ich suche dir was anderes raus.«
Ich las die Romane in drei Tagen. Mir gefiel Jane Eyre besser, obwohl ich Mr. Rochester hasste und wünschte, er wäre im Feuer gestorben. Mrs. Banks hatte darüber gelächelt und mir dann Überredung und Sturmhöhe mitgegeben. Auch diese beiden Bücher verschlang ich in wenigen Tagen. Von da an ging ich mindestens einmal pro Woche in die Bibliothek und sah nach, welche Bücher sie für mich hatte. Ich fand es erstaunlich, dass unsere winzige Filiale ein so unerschöpfliches Reservoir an Romanen zu haben schien, und erst Jahre später erfuhr ich, dass Mrs. Banks extra für mich Bücher per Fernleihe bestellte, von denen sie glaubte, dass sie mir gefallen würden.
Aber heute Abend fallen mir bei dem kontemplativen Milan Kundera, den sie mir gegeben hat, die Augen zu. Jedes Mal, wenn ich einnicke, kommt die Kellnerin, als hätte sie einen speziellen Sensor, vorbei, um meine Kaffeetasse nachzufüllen, auch wenn ich seit dem letzten Mal keinen Schluck getrunken habe.
Ich halte bis fünf Uhr morgens durch, zahle meine Rechnung und hinterlasse ein großes Trinkgeld, weil ich nicht sicher bin, ob die Kellnerin unhöflich war, indem sie mich nicht schlafen ließ, oder ob sie nur dafür gesorgt hatte, dass ich nicht rausgeworfen wurde. Ich wandere über das Universitätsgelände, bis um sieben Uhr die Bibliothek öffnet, suche mir eine ruhige Ecke und schlafe noch ein paar Stunden.
Als ich zu Megs Haus zurückkehre, sitzen ein Junge und ein Mädchen draußen auf der Veranda und trinken Kaffee.
»Hey«, sagt der Typ. »Du bist Cody, oder?«
»Ja.«
»Richard«, sagt er.
»Richtig. Wir haben uns ja schon mal kennengelernt«, sage ich. Er scheint sich nicht an mich zu erinnern. Wahrscheinlich ist er zu stoned gewesen.
»Ich bin Alice«, stellt sich das Mädchen vor. Ich erinnere mich daran, dass Meg eine neue Mitbewohnerin erwähnt hat, die im Wintersemester einziehen und das Zimmer eines anderen Mädchens übernehmen würde, das nach einem Semester wieder wegging.
»Wo bist du gewesen?«, fragt Richard.
»Ich habe in einem Motel übernachtet«, lüge ich.
»Hoffentlich nicht im Starline!«, ruft Alice entsetzt.
»Was?« Ich brauche einen Moment, bis mir einfällt, dass das Starline das Motel ist. Megs Motel. »Nein, irgendeine andere Absteige.«
»Möchtest du eine Tasse Kaffee?«, fragt Alice.
Durch den ganzen Kaffee von gestern Abend ist mein Magen übersäuert, und obwohl ich völlig übermüdet und erschöpft bin, kann ich keinen Tropfen mehr trinken. Ich schüttle den Kopf.
»Willst du was rauchen?«, fragt Kiffer-Richard.
»Richard!«, Alice schlägt ihm auf den Arm. »Cody muss noch Megs ganze Sachen zusammenräumen. Ich glaube nicht, dass sie dabei bekifft sein will.«
»Ich glaube, dass sie dabei lieber bekifft sein will«, erwidert Richard.
»Danke, ich möchte nichts«, sage ich. Aber die Sonne kämpft sich durch den dünnen Hochnebel und erleuchtet alles so hell, dass ich mich benommen fühle.
»Setz dich und iss was«, sagt Alice. »Ich übe mich gerade im Brotbacken, und eben ist eines fertig geworden.«
»Es ist nicht so backsteinartig wie die anderen«, verspricht Richard.
»Es ist lecker.« Alice hält kurz inne. »Wenn du jede Menge Butter und Honig draufschmierst.«
Ich will das Brot nicht. Ich wollte diese Leute schon beim letzten Mal nicht kennenlernen, und jetzt will ich es erst recht nicht. Aber Alice ist schon weg und kommt mit dem Brot zurück, ehe ich mich versehe. Die Konsistenz ist ziemlich dick und zäh, aber Alice hat recht: Mit Butter und Honig schmeckt es einigermaßen.
Ich esse eine Scheibe und wische mir die Krümel vom Schoß. »So, dann leg ich mal lieber los.« Ich gehe zur Tür. »Obwohl irgendjemand schon das meiste erledigt hat. Wisst ihr, wer ihre Sachen so zusammengeräumt hat?«
Richard und Alice sehen sich an. »Nein. Ihr Zimmer ist noch in genau dem Zustand, in dem sie es hinterlassen hat«, erwidert Alice. »Sie hat ihre Sachen selbst zusammengepackt.«
»Gründlich bis zuletzt«, fügt Richard hinzu, sieht mich an und verzieht das Gesicht. »Tut mir leid.«
»Muss es nicht. Das erspart mir Arbeit«, erwidere ich und klinge dabei ganz lässig, als nähme mir das eine Last von den Schultern.
Es dauert ungefähr drei Stunden, ihre restlichen Sachen zusammenzupacken. Löchrige T-Shirts und alte Unterwäsche sortiere ich aus, denn wer braucht das schon? Auch die Stapel von Musikmagazinen, die ich in einer Ecke finde, werfe ich weg. Aber ich weiß nicht, was ich mit Megs Bettwäsche machen soll, die noch nach ihr riecht. Ich habe keine Ahnung, ob ihr Geruch bei Sue dasselbe auslöst wie bei mir, nämlich dass ich mich so plastisch an sie erinnere, als wäre sie tatsächlich noch da – ich denke daran, wie ich bei ihr übernachtet habe, wie wir tanzen waren, bis drei Uhr morgens gequatscht haben und es uns am nächsten Tag dreckig ging, weil wir kaum geschlafen hatten, wir uns aber trotzdem gut fühlten, weil diese Gespräche wie Bluttransfusionen wirkten, Momente der Echtheit und Hoffnung waren, wie Lichtblitze am dunklen Himmel des Kleinstadtlebens.
Ich bin versucht, an der Bettwäsche zu riechen. Wenn ich das tue, wird es vielleicht helfen, alles auszulöschen. Aber man kann die Luft nicht ewig anhalten. Irgendwann muss ich ihren Geruch wieder ausatmen, und dann ist es, wie wenn man morgens aufwacht und in der Sekunde vergessen hat, was man geträumt hat.
Die UPS-Filiale liegt in der Innenstadt, und ich muss ein Taxi nehmen, die Kisten hinkarren, sie verschicken, zurückkommen, um die Taschen zu holen und den letzten Bus um sieben Uhr zu kriegen. Unten sitzen Alice und Kiffer-Richard noch immer rum. Ich frage mich, ob die Studenten an diesem angeblich so renommierten College überhaupt jemals studieren.
»Ich bin fast fertig«, sage ich zu ihnen. »Ich muss nur noch die Kisten zumachen, und dann bin ich weg.«
»Wir fangen die Katzen für dich ein, bevor du gehst«, bietet Kiffer-Richard an.
»Die Katzen?«
»Megs zwei kleine Kätzchen«, erklärt Alice und sieht mich mit schiefgeneigtem Kopf an. »Hat sie dir nichts von ihnen erzählt?«
Ich versuche, mir meine Überraschung nicht anmerken zu lassen. Auch nicht meine Verletztheit. »Ich weiß nichts von irgendwelchen Katzen«, entgegne ich.
»Sie hat vor ein paar Monaten die beiden streunenden Katzenbabys gefunden, vollkommen abgemagert und krank.«
»Widerliches Zeug ist denen aus den Augen gelaufen«, fügt Kiffer-Richard hinzu.
»Ja, sie hatten irgendeine Art von Augeninfektion. Und noch viele andere Krankheiten. Meg hat sie aufgenommen. Sie hat einen Haufen Geld in der Tierklinik für irgendwelche Behandlungen ausgegeben und hat sie wieder gesund gepflegt. Sie hat diese Katzen geliebt.« Sie schüttelt den Kopf. »Das hat mich am meisten überrascht. Dass sie all diese Anstrengungen für diese Kätzchen auf sich genommen hat und dann, du weißt schon …«
»Tja, Meg war manchmal sehr eigen«, antworte ich. Meine Verbitterung ist so stark, ich bin mir sicher, dass sie sie riechen können. »Ich kann mit den Katzen nichts anfangen.«
»Aber irgendjemand muss sich um sie kümmern!«, erwidert Alice. »Bis jetzt hat sich das ganze Haus um sie gekümmert, aber wir dürfen eigentlich keine Tiere halten, und außerdem fahren wir alle den Sommer über weg, und keiner von uns kann sie mitnehmen.«
Ich zucke mit den Schultern. »Euch fällt sicher noch was ein.«
»Hast du die Katzen irgendwo gesehen?« Alice geht an die Tür, macht lockende Geräusche, und bald darauf springen zwei winzige Fellbälle ins Wohnzimmer. »Das ist Peter«, stellt sie vor und zeigt auf den größtenteils grauen Kater mit einem schwarzen Fleck auf der Nase. »Der andere ist Paul.«
Ich bin Peter, du bist Paul, ich bin fleißig, du bist faul! Megs Onkel hatte uns den Reim beigebracht, und wir hatten ihn unendlich oft wiederholt.
Alice legt mir ein Kätzchen in die Arme, wo es sofort anfängt, mit den Pfoten zu treten, wie es kleine Katzen tun, wenn sie Milch trinken wollen. Aber es gibt bald auf und schläft ein, ein kleiner Ball an meiner Brust. Ich spüre ein leichtes Kribbeln in meinem Inneren, ein Echo aus einer anderen Zeit, als da drin noch nicht alles eingefroren war.
Die Katze fängt an zu schnurren, und ich stecke in der Klemme. »Gibt es hier so was wie ein Tierheim?«
»Es gibt eines, aber die haben da Dutzende von Katzen, und sie behalten sie nur für drei Tage, bevor sie sie, du weißt schon.« Alice tut so, als hielte sie sich ein Messer an die Kehle.
Peter oder vielleicht auch Paul schnurrt immer noch in meinen Armen. Ich kann sie nicht mit nach Hause nehmen. Tricia würde ausrasten. Sie würde sie gar nicht erst reinlassen, und draußen würden sie von Kojoten gefressen oder sofort erfrieren. Ich könnte fragen, ob Sue und Joe sie wollen, aber ich habe gesehen, wie Samson hinter Katzen her ist.
»In Seattle gibt es ein paar Tierheime, wo die Tiere nicht umgebracht werden«, sagt Kiffer-Richard. »Ich hab mal irgendwas über eine Tierbefreiungsfront gesehen.«
Ich seufze. »Na schön. Auf dem Heimweg mach ich einen Zwischenstopp in Seattle und geb die Katzen ab.«
Kiffer-Richard lacht. »Das ist doch keine Reinigung. Du kannst sie nicht einfach abgeben. Du musst einen Termin machen für so was wie ’ne Aufnahme oder so.«
»Wann hast du denn schon mal was zur Reinigung gebracht?«, fragt ihn Alice.
Peter/Paul maunzt in meinen Armen. Alice schaut mich an. »Wie lange dauert deine Heimfahrt?«
»Sieben Stunden und ich muss noch die Kartons aufgeben.«
Sie sieht erst mich und dann Kiffer-Richard an. »Es ist jetzt drei. Vielleicht solltest du rauf nach Seattle, die Katzen ins Tierheim bringen und dann morgen früh nach Hause fahren.«
»Kannst du nicht die Katzen ins Tierheim bringen?«, frage ich sie. »Du scheinst dich doch gut auszukennen.«
»Nein, ich muss noch ein Referat über Feminismus fertig machen.«
»Und wenn du damit fertig bist?«
Sie zögert einen Moment. »Nein. Diese Katzen haben Meg gehört, und sie hat sehr an ihnen gehangen. Ich finde es nicht richtig, sie ins Tierheim zu bringen.«