Irgendwo im Norden - Hilke Siedenburg - E-Book

Irgendwo im Norden E-Book

Hilke Siedenburg

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Beschreibung

Geboren als Sohn eines Kätners, eines abhängigen Bauern, verfolgt Broder Hansen hartnäckig Ziele, die er sich selbst gesetzt hat. Er will frei sein in seinen Entscheidungen.

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Inhalt

Broders Kindheit und Jugend

Broder wird erwachsen

Die „Freiheit“

Broder gründet eine Familie

Die neue Generation

Der Krieg

Die Übergabe der „Freiheit“

Stammbaum

Vorwort

Broder Hansen ist ein wirklich gelebtes Schicksal.

Wie das so ist bei Menschen, die so lange vor uns gelebt haben, gibt es noch Daten von ihm, aber auch Erzählungen. Wenn man Glück hat, findet man außerdem Anmerkungen in Gemeindeblättern oder anderen offiziellen Quellen.

Er scheint ein außergewöhnlicher Mensch gewesen zu sein.

Broder Hansen wächst im 19. Jahrhundert in der Region auf, in der Dänen und Deutsche sich ständig begegnen, immer wieder neue Grenzen gezogen und Schlachten geschlagen werden.

Er ist der Sohn eines Kätners, eines abhängigen Bauern, und schon früh beschließt er, einmal selbst einen Hof zu besitzen. Er will frei sein in seinen Entscheidungen.

Sein unerschütterlicher Glaube, sein fester Wille und die eingesetzten Kräfte begleiten ihn auf dem Weg, der ihn oft auf harte Proben stellt.

Bei seinen vielen Nachkommen tauchen immer wieder identische Geschichten über ihn auf, manchmal mit kleinen Abweichungen, wie das so ist, wenn etwas von Mund zu Mund weiter gegeben wird.

Alles das hat seinen Platz in diesem Roman gefunden, eingesponnen in die damalige Zeit und Gegend, in der er gelebt hat.

Broders Kindheit und Jugend

Kennt ihr das Land zwischen den Meeren? Dieses Land, das sich immer mal wieder dem Wind beugen muss, mal von Osten, mal von Westen, das im Winter zugeschüttet werden kann von Schneegestöbern, die die wirbelnde Luft hin und her schleudern, die sich in die Hausecken ducken, die Türen vernageln und die Wege unkenntlich machen? Kennt ihr das Land, in dem es die beißende Kälte gibt, die durch die Ritzen kneift, alles entdeckt, was sich nicht gut genug schützt und die Menschen zwingt, genau wie die wilden Tiere Vorräte anzulegen, damit auch eine Zeit der Abgeschiedenheit nicht zu einer Zeit der großen Not werden muss?

Früher gab es diese Zeit noch öfter, öfter als jetzt und vor knapp 200 Jahren, im Februar, war es mal wieder so weit. Hier beginnt unsere Geschichte.

Es war ein Tag, an dem man nur das Haus verließ, wenn es nicht anders ging, an dem man in das Innere der kleinen Kate, in dem alles begann, hineingepresst wurde zusammen mit wirbelnden Schneeflocken und eiskalten Luftstößen und so schnell es nur ging, die Tür wieder schloss.

Diesmal mühten sich gleich zwei Frauen, in die Wärme zu kommen, beide dringend erwartet in dem abgeschiedenen Haus. Beide konnte man erst richtig erkennen, als sie sich aus Lagen von steifgefrorener Kleidung geschält hatten, die ihnen sofort abgenommen wurde, um sie um den warmen Herd herum zum Trocknen zu drapieren. Else, die eine, sollte für kurze Zeit die Pflichten der Hausfrau übernehmen, die alltäglichen Aufgaben, ohne die jeder im Haus sich hilflos fühlte und alle sich nicht mehr auf ihre eigentlichen Aufgaben konzentrieren konnten. Die andere war Anna. Sie kannte sich aus bei allen Griffen, die notwendig sind, um ein Kind im Mutterleib zu drehen und zu wenden, ihm eine Möglichkeit zu geben, gesund das Licht der Welt zu erblicken, obwohl - selten wirklich nur selten - half all ihre Kunst nicht und ein Leben war beendet, bevor es begann. Sie kannte Kräuter und andere Pflanzen, die ihre Großmutter schon kannte. Sie wusste mit all diesem Wissen eine Ruhe auszustrahlen, die in einer solchen Situation, in der ein neuer Mensch sich auf den Weg machte, in eine für ihn neue Welt, hilfreich und beruhigend war. Hier im Haus gab es Erfahrungen auf dem Gebiet. Schon vier Kinder hockten zusammengedrückt neben der Feuerstelle, nahmen die besondere Lage wahr und versuchten, alles richtig zu machen. Die Große, sieben Jahre alt, hatte die anderen um sich geschart, wiegte den kleinsten Bruder auf ihrem Schoß und hielt die beiden anderen dicht bei sich zu ihren Füßen. Sonst war sie diejenige, die schon so manche Aufgabe der Mutter übernahm, aber nun war sie froh, dass Else da war und natürlich auch Anna.

Anna verschwand in die Kammer und verbreitete schon bei ihrem Eintreten die Ruhe und Sicherheit, die Gebärende brauchen, um für das, was kommen würde hinreichend gewappnet zu sein. Auch wenn man schon von dem Schmerz weiß, der einen beginnt zu umfassen, gibt eine solche Anna das Gefühl, es durchstehen zu können. Sie brauchte nur wenige kundige Griffe, um die Lage des Kindes zu erkennen. Die Kontraktionen, die die Schwangere ergriffen, der Schweiß auf der Stirn der werdenden Mutter, all das half der Kundigen die Lage zu erfassen. Heißes Wasser wurde gefordert, Tücher bereit gehalten. Es blieb diesmal kaum Zeit, um weitere Maßnahmen zu ergreifen, bevor das kleine neue Menschlein, so wie es sein soll, sich mit dem Köpfchen zuerst auf den Weg in ein Leben außerhalb des Mutterleibes machte. Der kräftige Schrei, nein sogar zwei, die diesem neuen Leben entwichen, waren bis ans Herdfeuer zu hören. Sie führten dazu, dass alle dort Versammelten wieder freier atmen konnten. Nun konnte das Leben wieder beginnen, einen normaleren Gang zu gehen.

Noch musste die Mutter gewaschen, das Bett wieder hergerichtet und das, was da neu in diesem Haushalt angekommen war, ordentlich verpackt werden. Erst danach wurde es dem Vater erlaubt, das Zimmer zu betreten. Er strich seiner erschöpften Frau vorsichtig durch die Haare, als befürchte er, etwas zu zerstören. Einen Moment hielt er inne. Gerade als er schon wieder hinausgehen wollte, um jetzt auch den Kindern einen Blick zu lassen auf die Mutter und das neue Geschwisterchen, nahm er etwas Besonderes wahr. Er sah doppelt. Er sah zwei eingepackte Bündel. In jedem Arm seiner Frau lag eines.

Zwei!

Die Stimme der Hebamme erreichte ihn wie durch einen Schleier. „Es sind zwei, ein Mädchen und ein Junge“, und bei „Mädchen“ und „Junge“ deutete sie auf die jeweilige Seite der Mutter.

Wie benommen taumelte er aus dem Zimmer und ließ zu, dass auch die anderen, die Kinder, einen Blick auf dieses unerwartete Ereignis werfen konnten.

Während man die Erschöpfte einem Schlaf überließ, der Erholung bringen sollte nach allem, was gerade geschehen war, versammelte sich der Rest der Menschen hier in diesem kleinen Haus am Tisch neben dem Herdfeuer. Der Vater schlug die abgegriffene Bibel auf und alle dankten und lobten Gott für das, was gerade diesen Verlauf genommen hatte.

Das Mädchen erhielt den Namen Martha.

Der Junge erhielt den Namen Broder, Broder Hansen.

Das Leben ist rau und man erkannte schnell, dass die kleine Martha es schwer hatte, im Leben anzukommen. Das Saugen an der Brust der Mutter alleine schon überstieg ihre Kräfte, das Stimmchen meldete sich immer kläglicher und es dauerte weniger als eine Woche bis sie den Kampf aufgab. Es blieb Broder.

Kennt ihr den Frühling in diesem Land, der sich ankündigt durch die zaghafte Sonne.

Sie schiebt sich über den Horizont.

Sie sprengt die kleinen Schneeflocken wie Luftbläschen.

Sie lässt sie feucht und sogar wässerig werden.

Sie sorgt dafür, dass die kleinen Rinnsale sich einen Weg bahnen, sich vereinen, und kleine Flüsschen in den ausgefahrenen Spuren bilden.

Gräben werden gefüllt und dem Land die weiße Decke weggezogen.

Dem Boden wird zugemutet viel Wasser aufzunehmen, Mengen, die der Boden gar nicht schlucken kann.

Ich vergaß zu erwähnen, dass es die Tage, die Wochen sind, in denen sich die kleinen und größeren Tiere wieder heraustrauen aus ihren wohligen Behausungen, in denen sie geschlafen oder geruht haben, um mit ihren Kräften gut zu haushalten.

Auch die Vögel sind wichtig. Die, die auch im Winter sichtbar waren, Mut machten, jetzt lauter wurden und versuchten Partner zu finden und die, die sich nach langer Reise aus dem Süden zurück meldeten.

In diese Tage, in diese Wochen hinein wuchs Broder. Er meldete sich, wenn er Hunger hatte, er war zufrieden, wenn ihn die Mutter oder die große Schwester auf dem Rücken mitschleppten.

In die Geräusche der Natur und die Gerüche von Haustieren tauchte er ein. Sie umgaben ihn wie eine Schutzhülle.

Als kurz nach seiner Geburt einer seiner Brüder an einer Lungenentzündung starb, lebte Broder noch wie in einem Kokon.

Es war das zweite Kind in dieser Familie, das man mit nur wenigen Wochen Abstand hergeben musste. Es wurde Gott anempfohlen und auf dem Kirchhof von Medelby, dem nächstgelegenen größeren Ort, wie zuvor schon seine kleine Schwester beigesetzt.

Der Alltag verlangte schnell wieder den normalen Einsatz, es blieb nicht viel Zeit zum Trauern.

Der Vater bestellte das Stück Feld, das ihnen zur Verfügung stand. Reparaturen, die im Winter an Haus und Geräten nicht geschafft worden waren, füllten nun die Zeit, und auf den Feldern des Herrn, dem sie als Kätner verpflichtet waren, mussten Dienste geleistet werden. Die Mutter versorgte die Kuh, die zwei Schafe und das Schwein. Die Kinder wurden gebraucht, um die Eier zusammenzutragen, die die Hühner nicht nur in die Nester legten, die man für sie angelegt hatte. Ihre kleinen Finger lernten rasch, zart aber zugleich fest zuzugreifen, um jedes der kostbaren Eier sicher in den Korb zu legen, den die große Schwester bewachte. Die Mutter brauchte Hilfe im Haushalt, beim Stampfen der Butter, beim Zubereiten der einfachen Mahlzeiten, Käse wurde auch hergestellt. Im Hausgarten bereitete man alles vor, damit man ausreichend Gemüse für die Familie zur Verfügung hatte. Die beiden Bienenstöcke wurden am Ende des Gartens aufgestellt, weit genug entfernt vom Haus, um die neugierigen Kinder vom Insektengewimmel fern zu halten und zugleich den kleinen fleißigen Wesen Zugang zu ausreichenden Nahrungsquellen zu verschaffen.

Während des Tages gab es keine Zeit zum Rasten. Die zog für einen Moment abends ein, wenn man alle versorgt hatte, die Bibel aufgeschlagen wurde und man sich unter der Obhut von Gott wusste - in seinen Händen - was auch immer er für Pläne hatte. Danach wurde das Flickzeug herausgesucht, es wurde gesponnen oder gewebt und die blakende Lampe sorgte für ein spärliches Licht in dem Raum, der durch seine kleinen Fenster auch bei gutem Wetter und Sonnenschein nur spärliches Licht eindringen ließ.

Der Sommer.

Man konnte dabei zusehen, wie das Getreide sich erhob, wie das Gemüse erkennbar wurde. Man musste darauf achten, dass nicht andere Pflanzen - das Unkraut - besser gediehen als das Gemüse, für das die Beete vorbereitet waren.

Die Kuh und die Schafe weideten hinter dem Haus und zweimal am Tag zog die Mutter mit dem Melkschemel los, um ihnen die kostbare Milch abzuverlangen.

Irgendjemand kümmerte sich immer um Broder. Man schleppte ihn mit sich, man fütterte ihn, er war mitten drin. Noch war er zu klein zum Krabbeln, aber man konnte schon erkennen, wie interessiert er an allem war. Seine blauen Augen wanderten hin und her und seine Hände versuchten alles zu greifen, was in seine Nähe kam. Alles wanderte in den Mund, wurde beschmeckt und befühlt.

Der Herbst verwandelte sein Weltbild. Während draußen alles darauf wartete, als Ernte eingefahren zu werden, fing er an, durch seine Fortbewegungsmöglichkeiten auch solche Orte zu erkunden, die vorher außerhalb seines Bereiches lagen. Wenn sich die Mutter auf die Bank neben der Haustür setzte, um die Kartoffeln zu schälen oder das Gemüse zu putzen, dann pulte er das Gras aus den Ritzen des Pflasters, kaute darauf herum, spuckte es wieder aus oder schluckte es hinunter. Er griff der Katze ins Fell, sein kleiner Finger wollte in die Nase oder Augenhöhlen von ihr, und spätestens dann trollte sich das Tier, und er musste sich etwas anderem zuwenden. Er wuchs hinein in eine Welt, in der Mensch und Tier einander brauchten, aufeinander angewiesen waren, und der Tod als etwas gesehen wurde, was von Gott gegeben war wie bei der Zwillingsschwester oder dem kleinen Bruder oder wie es überall in der Natur geschah, wenn der Tod zugleich das Überleben eines anderen bedeutete. So wurde zu Beginn der aufkommenden kalten Zeit das Schwein geschlachtet, das man ein ganzes Jahr genau zu dem Zweck gefüttert und gut behandelt hatte. Das geschah auf dem Hof. Man hatte Hilfe von Menschen, die zur weit verstreuten Familie gehörten. Auch Nachbarn kamen zu dem Termin, denn jeder half jedem, und jeder bekam sein Stück von dem zerteilten Tier. Die Kinder saßen am Rand des Geschehens, nahmen das Quieken des verängstigten Tieres wahr, seine Todesschreie, sahen, wie das tote Tier mit gekonnten Schnitten ausgeblutet wurde, geöffnet und später zerlegt. So war das, es gehörte zum Leben dazu, dass auch gestorben wurde.

Das Leben ging weiter, die Aufgaben, die man den Kindern übergab, wurden wichtiger für das gemeinschaftliche Leben und Broder wurde integriert. Nach Martha und ihm wurden zwei weitere Kinder geboren, ein Mädchen und ein Junge. Broder war nicht mehr der Kleinste und mussten die Privilegien des Jüngsten abgeben.

Doch irgendwann, er mag etwa 5 Jahre alt gewesen sein, gab es einen Besuch, der sein Leben ab dann in eine ganz andere Richtung beeinflusste.

Der Mann, der durch die Tür trat, war schlaksig und sehr jung. Nicht dass er wohlhabend aussah, aber seine Kleidung war anders, ungewohnt und für die Feldarbeit eindeutig nicht zu gebrauchen. Der Stoff der Hose war grob aber machte durch seinen anderen Schnitt den Eindruck, hier einen besonderen Menschen vor sich zu haben. Seine Jacke schloss sich dem an und besonders beeindruckend war das Hemd, das weiß aus dem schmalen v-förmigen Ausschnitt lugte. Ein steif gestärkter Kragen umschloss hoch den Hals und durch einen Schlips wurde er genau in dieser Position gehalten. Ein Oberlippenbärtchen gab dem Jungengesicht einen ernstzunehmenden Zug und der Hut in Melonenform krönte das ganze Ensemble.

Man bot ihm einen Stuhl und ein Getränk, war etwas verlegen, weil man es nicht gewohnt war, mit Menschen, die nicht auf ihrem Stand waren umzugehen. Mutter und Vater nahmen eher auf den Stuhlkanten Platz, fast so als müssten sie die Gelegenheit haben, jederzeit aufspringen und flüchten zu können. Die Kinder, kaum sichtbar, drückten sich auf der Ofenbank in eine dunkle Ecke.

Er stellte sich vor als der Lehrer, der die seit einiger Zeit verwaiste Schulstelle in Jardelund neu beleben sollte, jetzt auf Dänisch wie vom regierenden Staat verlangt.

Er hatte einen etwas schwierigen Stand, denn er war Däne und diese Gegend hier war besiedelt von Menschen, die sich deutsch fühlten. Nun wollte und sollte er seine Schüler und ihr Zuhause kennenlernen und auf die Ernsthaftigkeit dieser Angelegenheit hinweisen. Er musste auch von dem Gesetz sprechen, das von dem dänischen Staat erlassen wurde, und das bestimmte, dass in allen Schulen des Landes Dänisch gesprochen werden musste. Er wusste, dass er nicht unbedingt wohlwollend bei den Kätnern aufgenommen wurde. Die Herren dieser Abhängigen hatten Hauslehrer für ihre Kinder und waren nicht unbedingt interessiert an diesem Angebot. Die Kätner selbst brauchten die Kinder als Unterstützung ihrer eigenen Aufgaben, und nun sollte zu alldem auch noch die Sprache gelehrt werden, die die Menschen nicht als die ihre empfanden. Nein, so richtig willkommen war dieser Lehrer nicht. Zwar sahen Mutter und Vater den Sinn ein, das Schreiben, Lesen und womöglich auch das Rechnen zu lernen, denn auch sie hatten Grundkenntnisse erlernen dürfen, aber mehr als nötig, um die Bibel lesen zu können und mit dem spärlich vorhandenen Geld umzugehen, fanden sie überflüssig. In ihr Leben gehörte, dass die Mädchen später Anstellungen in Haushalten fanden, die sich so eine Hilfe leisten konnten und die Jungen, die die Hofstelle nicht als Erben übernehmen konnten, hatten bisher immer als Knechte unterkommen können. Einige waren auch nach Amerika ausgewandert, das Land, das in ihren Köpfen Möglichkeiten eröffnete, aus diesem trostlosen Leben auszuscheren. Nun also kam der Lehrer und versuchte ihnen zu erklären, dass sich auch andere Möglichkeiten als nur Knecht oder Dienstmagd vor ihnen auftun könnten - besser bezahlte - wenn ihre Kinder an seinem Unterricht teilnehmen würden. Nicht nur weil der Staat immer mehr auf Bildung drängte, sah man sich genötigt, ernsthaft darüber nachzudenken. Ein Lehrer war genau wie der Pastor im Dorf eine Respektsperson. Die Möglichkeit, an Tagen, an denen viele Hände gebraucht wurden, als Fehltage einzubauen, musste man dem wichtigen Herrn ja nicht gleich darlegen.

Der wichtige Herr war auf das Wohlwollen der Eltern seiner Schüler angewiesen. Er hatte eine kleine Wohnung neben dem Klassenzimmer im Schulhaus zugewiesen bekommen. Ein kleiner Garten für Gemüse konnte von ihm beackert werden, eine minimale Geldzuwendung stand zur Verfügung, und ansonsten brachten die Kinder das Feuerholz mit zur Schule, mit dem das Klassenzimmer und die Stube des Lehrers gewärmt wurden. Es war Sitte, dass er reihum zum Essen eingeladen wurde, um einigermaßen durchs Leben zu kommen.

Dass aber nun Dänisch in der Schule nicht nur gesprochen werden sollte, sondern auch in dieser Sprache der Lehrstoff vermittelt wurde, ließ diese Einrichtung noch mehr als Zwang von oben erscheinen, als ein weiteres Zeichen dafür, dass man sich wie ein Fremdkörper fühlte. Doch man hatte gelernt, sich der Obrigkeit zu beugen.

Und so marschierten die drei älteren Geschwister von Broder in der Zeit um Ostern herum los, um die drei Kilometer lange Strecke nun fast täglich hin und zurück zu laufen. Die große Schwester war auch hier in der Verantwortung, die Zeit nicht vergessen zu lassen, wenn es darum ging, dass sich die Jungen gegenseitig schupsten, mit ihren blanken Füßen durch die Pfützen jagten und jede Ablenkung auf der Strecke willkommen hießen. Auf dem Hof dauerte es lange, bis auffiel, dass man nicht wusste, wo Broder steckte. Es kam vor, dass er sich auf dem im Augenblick schon erheblich geleerten Heuboden verkroch, die Zeit verträumte und erst durch laute Rufe zurück in die Realität fand. Auch in der Nähe der Schafe hatte man ihn schon gefunden, oft auf dem Boden im Gras liegend und jede einzelne Pflanze genau untersuchend. Seit einiger Zeit suchte er auch die Nähe der Bienenstöcke, beobachtete das Leben dort, erkannte, dass die Tiere unterschiedliche Aufgaben ausführten, mit Pollenpaketen an den Beinen von einem langen Flug zurückkehrten oder auch, dass andere die Ankommenden zu erwarten schienen. Nie wurde er gestochen.

Weil alle genug anderes zu tun hatten, ging man davon aus, dass er einen neuen Ort für interessante Beobachtungen entdeckt hatte und erwartete, dass die Geschwister ihn nach der Schule aufstöbern würden.

Doch diesmal war der Kleine den großen Geschwistern gefolgt, in gebührendem Abstand, um nicht gleich aufzufallen und zurück geschickt zu werden. Er geduldete sich, wenn die Brüder so gar nicht weiter kommen wollten, und wurde etwas schneller, wenn seine Schwester drängelte und forderte. Doch kurz vor der Schule passierte es, die Schwester drehte sich um, die Strecke bot kein Gebüsch an, hinter dem er sich hätte verstecken können und es war klar, nun reichte die Zeit nicht mehr, um ihn nach Hause zu bringen, bevor der Unterricht begann. Er musste mit.

Sie nahm ihn fest an die Hand und versuchte sich vorzustellen, was sie gleich erwarten würde.