Lillis Weg - Hilke Siedenburg - E-Book

Lillis Weg E-Book

Hilke Siedenburg

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Beschreibung

"Lillis Weg" beschreibt eine über 95 Jahre wirklich gelebte Geschichte, die man sich für sich selbst nicht vorstellen mag. Lilli ist in einem Kinderheim aufgewachsen, war als junges Mädchen während des zweiten Weltkrieges im Gefängnis und danach im Konzentrationslager Ravensbrück. Von dort und später über die innerdeutsche Grenze floh sie. Sie erlebte Partnerschaften, in denen sie erniedrigt und misshandelt wurde. Trotz allem war und blieb sie ein liebevoller und hilfsbereiter Mensch.

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Inhalt

Wer war das?

Das Leben beginnt

Das Kinderheim

Ein neuer Schritt ins Leben

Willkür

Warum war sie hier?

Ravensbrück

Die Flucht

Angekommen?

Anna

Zuerst zur Grenze

Weiter nach Flensburg

Richtung Nordsee

Herr K.

Und danach?

Der Seemann

Lilli wird Mutter

Inès

Die Zeitungsausträgerin

Die Pflegerin

Freundschaften

Die Kinderfamilie

Abschied von der Kinderfamilie

Die Zeugen Jehovas

Nachwort

Danke für das Buch

Lilli, die treue Seele, die viele Jahre lang Bestandteil unseres Lebens war, ist gestorben. 1925-2021, 96 Jahre ist sie alt geworden, ein herzensguter Mensch.

Die letzten Jahre ihres Lebens hat sie im Seniorenheim gelebt, nachdem ein eigenständiges Leben im Betreuten Wohnen, der Stufe davor, nicht mehr möglich war.

Jedes Jahr zu Weihnachten und zu ihrem Geburtstag haben wir sie besucht, nachdem ihr die Aufgaben bei uns immer mehr zu schaffen machten, und das Rentenalter erreicht war. Wir haben ihr zusammengeschrumpftes Leben wahrgenommen, ihre Freude darüber, dass wir sie nicht vergessen hatten. Es gab nicht viele Besucher, und in der Coronazeit fielen auch diese wenigen Abwechslungen noch weg. Als Ersatz konnte es nur einen schriftlichen Gruß und ein kleines Geschenk geben.

So wanderte auch mein Buch „Dino und Sternchen“ zu ihr, eine Geschichte von einer Freundschaft. Angefüllt auch mit vielen Bildern. Ich hatte es für meine Enkel geschrieben, die mich mit ihnen wichtigen Wörtern versorgten, die dann zu Geschichten, einer Geschichte umgewandelt wurden.

Ihre Augen - eigentlich nur ihr eines Auge - taugten nicht mehr zum Lesen, aber vielleicht - so war meine Hoffnung - gab es jemanden, der ihr daraus vorlesen haben könnte.

Vor einem Monat bekam ich von jemandem die Nachricht, dass Lilli wohl nicht mehr lange zu leben habe… falls man sie noch mal besuchen wolle

Ich machte mich an einem der nächsten Tage auf den Weg zu ihr.

So richtig glücklich schien man im Heim nicht zu sein, als ich um einen Besuch bei ihr bat. Erst nach hartnäckigem Bemühen fand man einen Weg für mich, direkt außen herum am Haus entlang, durch einen Zaun von dem kleinen Gartenstück getrennt, das den Menschen in ihren ebenerdigen Zimmern ein Gefühl von Natur vor ihren Fenstern vermittelte. Eine kleine Pforte gab den Weg frei in dieses Terrain und eine geöffnete Terrassentür führte direkt in das Zimmer, in dem Lilli ihr letztes Zuhause hatte.

Sie lag im Bett, eine Pflegerin beugte sich über sie und rief ihr ins Ohr, dass sie Besuch habe. Ein unverständliches Grummeln war die Reaktion, und dann ließ sie uns alleine.

Was macht man, wenn man einen Sterbenden besucht, selbst mit einer Maske ausgestattet, die das halbe Gesicht bedeckt, mit keinerlei Ahnung, wie viel dieser Mensch noch wahrnimmt und wie er noch reagieren kann?

Ich begann damit, mich vorzustellen, immer wieder Namen einzubauen, die ihr zumindest früher geläufig waren, ihr etwas bedeuteten. Ich erzählte ihr von dem, was wir gemeinsam erlebt hatten, wie sie uns geholfen hat und unserem Dank für ihre Unterstützung für uns.

Wie viel Zeit verging?

Ich hatte kein Gefühl dafür, fand es aber zu kurz für einen Besuch, der wahrscheinlich der letzte sein würde.

Da sah ich auf dem Nachttisch mein Buch liegen.

„Dino und Sternchen“

Welche Bedeutung hatte es für sie bekommen?

Wer hatte es da auf den Nachttisch gelegt?

Wer hatte ihr vorgelesen?

Kannte sie es schon gut?

Ich nahm das Buch, setzte mich neben das Bett, dicht, ganz dicht an ihr Kopfteil, beugte mich schräg zu ihr, so dass ich noch den Text und sie die Bilder sehen konnte, schlug das Buch auf und begann damit, es ihr vorzulesen.

Seite für Seite, begleitet von den Bildern.

Eine halbe Stunde wagte ich nicht, meine Position zu verändern, traute mich nicht, das Buch anders zu halten, um nicht aus dem Rhythmus, dem Tritt zu geraten, trug es am Schluss zurück auf den Nachttisch, streichelte das faltige Gesicht ohne Zähne und nur einem offenen Auge und verabschiedete mich.

Ich wandte mich zum Gehen um und vernahm ihre vollkommen klare Stimme: „Danke für das Buch!“

Es brannte sich ein als letzter Gruß für mich.

„Danke für das Buch“ nach einem Besuch ohne Worte von ihr, noch nicht einmal einer Ahnung, ob sie Worte noch formen konnte.

„Danke für das Buch“

Wenige Tage später, kurz vor einem weiteren geplanten Besuch bei ihr, erreichte mich die Nachricht von ihrem Tod.

Ein Zeuge Jehovas informierte mich, bot an, mir Daten und Zeit von einer Gedenkansprache der Zeugen (sie gehörte seit ca. 25 Jahren zu der Gemeinschaft) sowie den Beerdigungstermin zu übermitteln.

Ich war dankbar dafür.

Jetzt in der Coronazeit fand die Ansprache per Zoom statt. Viele kleine Karos auf dem Bildschirm zeigten die Beteiligung an, ein Herr ließ das Leben von Lilli Revue passieren, liebevoll aufgelistet, immer wieder eingeflochten ihre Zugehörigkeit zu den Zeugen.

Ihr Leben zerlegt in viele Einzelteile, zerstückelt, und die meisten dieser Teile hätte ich nie, nie in meinem Leben haben wollen….

Einen Beerdigungstermin hat es nicht gegeben. Das Ordnungsamt beschloss, dass es eine anonyme Beerdigung sein würde.

Wer war das?

Lilli, war ein Mensch, ein guter Mensch.

War sie reich, schön, klug oder sonst irgendwie besonders?

Nein, das war sie nicht. Sie war unscheinbar, drängelte sich nicht in den Vordergrund, und versuchte, weder Mensch noch Tier irgendwie weh zu tun.

Das versuchen zum Glück auch viele andere.

Darum steht sie auch stellvertretend für viele andere.

Vieles allerdings in ihrem Leben gab wenig Hoffnung dafür, dass sie liebevoll auf andere zu- oder mit anderen umgehen würde, es gab zu viele Erfahrungen in ihrem Leben, die dem entgegenstanden.

Gleichzeitig aber waren es Menschen, die ihr in verzweifelten Situationen unter die Arme griffen, die den Glauben an das Gute im Menschen immer wieder aufflackern ließen, die ihr und vielen anderen dazu verhalfen, Vertrauen zu anderen aufbauen zu können.

Das Leben beginnt

Eigentlich fängt immer alles gleich an.

Eine Samenzelle- eine besonders fixe, nein die schnellste- und eine Eizelle beschließen, gemeinsame Sache zu machen.

Gemeinsam machen sie sich daran, einen Menschen zu formen, ihn mit Gliedmaßen auszustaffieren, alles das in den Körper einzubauen, was so ein neues kleines Wesen auf seinem Lebensweg begleiten und hilfreich sein soll.

Immer läuft es nach dem gleichen Muster ab, wenn ein Mensch entsteht. Mal gelingt es besser, mal wird einiges nicht so, wie es eigentlich vorgesehen ist.

Dann gilt es von Anfang an zu unterstützen, zu fördern, das zu ersetzen, was gleich von Anfang an Unterstützung brauchte.

Aber Lillis Körper hatte sich viel Mühe gegeben, gut brauchbar und einsatzfähig zu sein. Er war gut gerüstet für das, was kommen sollte.

Aber für alles, was nach der Geburt kam, war er nicht mehr zuständig.

Die Familie

Lilli war darauf angewiesen, dass andere etwas über ihre Familie wussten. Für sie war jede einzelne Einzelheit wie eine kostbare Perle, aufgefädelt, um ihr die Zugehörigkeit zu all den Menschen zu geben, die vor ihr da waren, die eigentlich zu ihr gehörten.

Sie erfuhr viel später erst von einem strengen Großvater, einem, der einen Namen zu verteidigen hatte.

Die Familie hatte honorige Männer hervorgebracht. Nicht, dass direkt seine Familie im Fokus der Aufmerksamkeit gestanden hätte, aber der Name verpflichtete, und man konnte nachweisen, um wie viele Ecken man mit denen verwandt war, die die Öffentlichkeit kannte. Die Tochter war vorgesehen für einen ebenbürtigen Partner. So und nicht anders sollte es in dieser Familie laufen.

Doch nicht immer richten sich Menschen nach dem, was für sie vorgesehen ist, und schon gar nicht lassen sich Gefühle immer so im Zaum halten, dass die Pläne anderer nicht durchkreuzt werden.

Hier war es ein ungarischer Musiker, der das Herz der Tochter entflammte und auch bereit war, sie zu ehelichen, zudem auch die Tochter liebend gern auf ihren besonderen Namen verzichten wollte, wenn sie denn diesen Mann heiraten dürfe.

Ihr Vater sah das anders. Doch das Paar gab nicht auf. Sie versuchten mit einer Schwangerschaft seine harte Haltung zu ändern, doch auch dadurch ließ sich der Vater nicht erbarmen.

Er war verankert in der Moral seiner Zeit. Er war der Bestimmer in der Familie, musste nicht nur dafür sorgen, dass sie gut versorgt wurde sondern auch dafür, dass geltende Regeln eingehalten wurden. Seine Tochter hatte dagegen verstoßen.

Jeder würde das erkennen.

Es war mit das Schlimmste, was ein Familienoberhaupt treffen konnte, eine Schmach.

Sich schon vor der Ehe mit einem Mann einlassen!

Keinem Mann war sie mehr vermittelbar, naja, oder weit unter Wert oder Stand.

Sie war jetzt auf dem Niveau einer Nutte, Hure, Ausgestoßenen, nicht mehr an den Mann zu bringen. So dachte er und so dachten viele in der Zeit.

Es galt eine Lösung zu finden, um den angerichteten Schaden möglichst gering zu halten.

„Engelmacherinnen“, durch Mundpropaganda vermittelt, irgendwo in Gebäuden auf Hinterhöfen ihrem illegalen Gewerbe nachgehend, waren heimliche Täterinnen, um das entstehende Leben möglichst schnell wieder zu vernichten, und die dabei zugleich auch eine Frau so manches Mal mit töteten, weil sie den Eingriff nicht überlebte.

Diesen Weg schloss selbst der verzweifelte Vater für seine Tochter aus.

Es gab ja noch die Häuser, in denen die Mädchen die Zeit der Schwangerschaft über lebten, sich versteckten, nicht sichtbar waren mit ihren fülliger werdenden Körpern. Wo offizielle Helferinnen bei der Geburt unterstützten und alle Vorbereitungen getroffen wurden, um anschließend Mutter und Kind zu trennen.

Und dann fanden einige der besser Situierten noch private Lösungen, entfernte Verwandte etwa, bei denen die gefallene Tochter für eine angemessene Bezahlung Kost und Logis bekam.

Man bot zudem Hilfe im Haushalt an.

Das hatte für beide Seiten Vorteile, für die eine Seite Entlastung, für die andere mehr Geschicklichkeit und Wissen in der Küche und im Haus. Das konnte nie schaden.

Und dann war etwas noch sehr wichtig!

Verschwiegenheit!

Nie mehr wollte man anschließend mit dieser desolaten Situation konfrontiert werden.

Also Verschwiegenheit, und zur Sicherheit auch noch einen Platz möglichst weit weg von zu Hause.

Für Lillis Mutter wurde eine entfernte Verwandtschaft in Berlin gefunden. Berlin war groß und anonym und so wurde Lilli in Berlin geboren. In Berlin Charlottenburg.

Sie wurde Anfang Februar im Jahr 1925 geboren.

Ihre Mutter hatte sich durch all das hindurch gequält, was normalerweise mit einer Geburt verbunden ist, Schmerzen, lange Zeit mit Schmerzen, Erschöpfung. Doch das, was am Ende für all das entschädigt, allem die Schwere nimmt, das Wunder der Natur spüren und in den Armen halten lässt, das bekam sie nicht. Nur die Stimme, diesen Schrei nach Leben, von dem Neugeborenen konnte sie wahrnehmen. Mehr gestand man ihr nicht zu, damit sie sich gar nicht erst an das Kind binden würde.

Nur drei Tage nachdem Lilli das frostkalte Licht der Welt erblickt hatte, packte man das kleine Mädchen warm ein und verfrachtete es nach Schlesien, weit nach Osten, weit weg von ihrem Heimatort und auch dem Geburtsort. Den Namen Lilli bekam sie mit auf die Reise.

Viel, viel später als sie längst erwachsen war, hat sie etwas von dieser Geschichte erfahren.