Irländer - Kiana Maarten - E-Book

Irländer E-Book

Kiana Maarten

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Beschreibung

Der dritte Band der Irlandsaga spielt vor dem historischen Hintergrund des England-Irland Konflikts. Irland wird im 19. Jahrhundert von der englischen Krone beherrscht und fordert Jacks Familienglück und Nationalstolz heraus. Ein opulentes Epos voller Leidenschaft, Liebe und Revolutionen, die der politischen Lage sowie der Hungersnot geschuldet sind. Die Home Rule League, eine politische Partei, die für ein freies Irland kämpf und in der Jack als Lord von Groagh Park eine immer wichtigere Rolle spielt, bietet ihm die Möglichkeit, die Missstände in seiner Grafschaft Kilkenny zu beenden. Doch aufgrund einer Verschwörung und einer ungewollten Trennung von Mary Anne ist Jack dazu verdammt, mit seinem älteren Freund Sir John Graham in London für seine Reputation zu kämpfen. Fünf skrupellose Verschwörer wurden von keinem Geringeren als Lord McDonough, Jacks korruptem Großvater, dazu angestiftet, ihn durch falsche Beweise an den Galgen zu liefern. Im Juni 1882 folgt Mary Anne Jacks Ruf nach London, um sich mit ihm gemeinsam aus den Klauen seiner Feinde zu befreien und für ihre gemeinsame Zukunft zu kämpfen - beide erleben reichlich Unerwartetes, und ein unheilvoller Anschlag auf ihr Leben zwingt sie dazu, sich auf das gefährliche Pflaster der dunklen Straßen Londons zu begeben. Der Link zu dem Video der Irlandsaga von Kiana Maarten kann gerne kopiert werden. Viel Freude dabei! https://www.youtube.com/watch?v=FRpNlh49WHU

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Inhaltsverzeichnis

ERSTER TEIL: LONDON, AUGUST 1881

DIE ERÖRTERUNG EINES PLANS

ZWEITER TEIL: EINE ENTSCHEIDUNG MIT KONSEQUENZEN

DRITTER TEIL: KARITATIVER UNGEHORSAM

IN DER GRAFSCHAFT SURREY

EINE ZERBROCHENE MING VASE

VIERTER TEIL: DER ETWAS ANDERE ZUWACHS

DAS ATTENTAT

FÜNFTER TEIL: DAS AUGE EINES FREUNDES IST EIN GUTER SPIEGEL

EINE MUMIE AUF DEM BILLARDTISCH

DER TEUFEL KAM AUF DEM PFERD

SECHSTER TEIL: … UND DOCH NICHT ZU HAUSE

AUFBRUCHSTIMMUNG

ANMERKUNG DER AUTORIN

DANKSAGUNG

ERSTER TEIL

***

LONDON, AUGUST 1881

Die Augen der Zwillinge waren blau wie bei jedem Neugeborenen, ihre Haare beinahe so schwarz wie die ihres Vaters. Jack hatte seine Kinder noch nicht zu Gesicht bekommen, auch wenn Mary Anne ihm in ihren Briefen ihre Vorzüge pries, wie es jede stolze Mutter tat. Ihre Kinder waren eigentlich noch zu klein, als dass man bestimmte Charaktermerkmale hätte benennen können, Mary Anne bezog ihre Interpretation ausschließlich auf ihre hübschen Gesichter. Das kleinere Mädchen nannten sie traditionell nach Jacks Mutter Anelle, der erstgeborene Sohn bekam den Namen seines Großvaters. Da Jack bekanntlich nicht viel von seinem Vater hielt, wurde der Knabe auf die Namen von Mary Annes Familienoberhaupt und Jacks verstorbenem Bruder getauft: Geoffrey Darragh Brandon. Der zukünftige Lord von Groagh Park und ihr ganzer Stolz.

Wenn man Mary Anne allerdings gesagt hätte, dass sie wenige Wochen nach ihrer Niederkunft ohne ihre Zwillinge nach London aufbrechen würde, hätte sie mit dem größten Unverständnis reagiert. Doch genau so war es gekommen. Die Situation in London forderte ein großes Opfer von ihr. Jack hatte sie in seinem letzten Brief aufgefordert, zu ihm zu kommen. Er musste die Zeilen an sie in Eile geschrieben haben, das verriet seine ungewöhnlich krakelige Handschrift. Es stand nichts Konkretes in dem Brief, nur so viel, dass Sir John für seinen Plan ihre Hilfe benötigte. Mary Anne war sich sicher, dass Jack dafür einen plausiblen Grund haben musste. Und nach dreimonatiger Trennung, die ihr trotz der Verantwortung für das Anwesen und die Kinder wie Jahre vorgekommen war, sehnte sich jede Faser ihres Körpers nach ihm.

Mary Anne hatte noch nicht vergessen, wie sie in den irischen Midlands um ihre ungeborenen Kinder hatte bangen müssen; der Grund ihrer Rückkehr nach Groagh Park und der unfreiwilligen Trennung von Jack. Und als liebende Mutter wäre sie seiner dringenden Bitte nie nachgekommen, wenn der Hilferuf nicht so alarmierend gewesen wäre. Ihre Gefühle fuhren Achterbahn, als sie aus dem Erste-Klasse-Waggon ausstieg, während Redgrave und Aengus sich mit dem Nötigsten an Gepäckstücken einen Weg durch die Menschenmenge von der zweiten Klasse zu ihr bahnten. Die Luft in dem stählernen und glasüberdachten Bahnhofsgebäude war vom Ruß der Lokomotiven erfüllt und versetzte sie schlagartig in eine andere Welt als die, die sie in Irland seit über einem Jahr gewohnt war.

Eine moderne Eisenkonstruktion überspannte die Bahnsteige, auf denen sich Menschen jedweder Herkunft ebenso tummelten wie eine Schar dreister, gurrender Tauben, die auf der Suche nach Krümeln pickend auf dem Boden herumstocherten, ohne Rücksicht auf die Beine der Reisenden.

Auf jedem freien Platz standen kummervolle alte Weiber, die gebundene Blumensträußchen in der Luft schwenkten und ihren Preis dafür über die Köpfe der Menschen hinweg schrien. Die ärmlich gekleideten Frauen mussten mit erfindungsreichen Knaben und deren gut gefüllten Bauchläden konkurrieren, die zwischen den potenziellen Kunden umherhetzten.

Jack stand mitten im Trubel neben einer Litfaßsäule und schien von alledem nicht beeindruckt zu sein. Die Säule war rundherum mit Werbung jeglicher Art plakatiert. Ein großes Plakat pries in bunten Lettern Zuckerrohr aus der Kolonie als gesundes Lebensmittel an, daneben klebte eine auffällige Haarwasserwerbung in Schwarz-Weiß. Sogar für die in Mode gekommenen Damentaschenuhren gab es den passenden Werbespruch. Über so viel Kommerz musste Mary Anne insgeheim schmunzeln. An die Betriebsamkeit einer Großstadt mit all ihren Fallstricken musste sie sich erst wieder gewöhnen, auch wenn sie sich in ihrem Modellkleid aus aquamarinfarbener Tussahseide mit jedem Schritt, den sie auf Jack zuging, unaufhaltsam ihrer städtischen Umwelt anpasste.

Groagh Park lag idyllisch von Bergen und kleineren Dörfern umgeben. Dort war die Luft rein, das Wasser klar, und die Menschen waren ehrlich und gottesfürchtig. Das urbane Leben lag ihr ebenso in den Genen wie ihre privilegierte Herkunft, auf die sie sich nie etwas eingebildet hatte.

Die Reisenden gingen zügig auf ihre wartenden Angehörigen zu, um dem Gestank von Schmierfett, Kohlenruß und menschlichen Ausdünstungen zu entkommen. Mary Anne schritt geradezu anmutig über den Bahnsteig. Es war eine kleine, nicht ernst gemeinte Rache an Jack, um ihm vor Augen zu führen, worauf er in den letzten Monaten hatte verzichten müssen. Zumal sie ihre alte Figur wiedererlangt hatte. Sie dachte noch: Wie kindisch von mir!

Doch als sie in Jacks Augen sah, die wie zwei Saphire zu strahlen begannen, als er sie erblickte, war es Genugtuung und Lob zugleich, einen Anflug von kindlicher Dummheit zugelassen zu haben. Sie wollte Jack gerade begrüßen, als sich Aengus zwischen sie und die Zofe drängte.

»Mylord.« Der Junge begrüßte Jack mit einer tadellosen Verbeugung und trotz der Freude, ihn wiederzusehen, auch merklich aufgebracht. Redgrave dagegen blinzelte demonstrativ gestresst. Es war ein offen zur Schau gestellter Protest der Angestellten gegen das ihrer Meinung nach geschehene Unrecht. Die Strapazen der dreitägigen Reise standen ihr ins Gesicht geschrieben, weshalb Aengus auch, um sie zu beaufsichtigen, mit ihr in einem Abteil gesessen hatte statt bei Mary Anne, wie diese es gerne gehabt hätte.

»Draußen stehen Kutschen bereit.« Jack fasste Aengus beherzt an den Schultern. »Sag ihnen, dass du von mir kommst, dann wissen sie Bescheid.«

»Das werde ich, Mylord«, erwiderte der Junge pflichtbewusst, schnappte sich Redgrave und zog sie mit sich nach draußen.

Jack schmunzelte über sein Verhalten: »Ein guter Junge, aber noch etwas grob.«

Mary Anne blickte kurz himmelwärts beziehungsweise zu den Eisenstreben, die sich wie Sehnen unter dem Glasdach bogen. »Redgrave kann eine strenge Hand gebrauchen. Seit gestern jammert sie ständig über Übelkeit und die Beschwerlichkeiten, denen ich sie ausgesetzt habe.« Ihr fiel auf einmal auf, dass sie miteinander plauderten, als wären sie gerade einmal eine Stunde getrennt gewesen.

»Sie ist eine Zofe!«, erinnerte Jack sie unnötigerweise. »Tun die das nicht für gewöhnlich, ihre Herrin auf Reisen begleiten?«

»Tun sie!«, erwiderte Mary Anne deutlich missgestimmt. »Und das habe ich ihr auch gesagt, klar und deutlich!«

Jack nickte, fuhr sich mit der Zunge über die Unterlippe und betrachtete seine Frau. Nach einem anerkennenden Blick nahm er sie in die Arme und küsste sie leidenschaftlich. Es war eine aufsehenerregende Begrüßung.

»Du schmeckst immer noch so, wie ich es in Erinnerung hatte.«

Mary Anne spürte gleich sein heißes Verlangen nach ihr und seine ungezügelte amerikanische Seite, die immer wieder hervorbrach und dreister war, als seine irische Seite es je gewesen war und vermutlich jemals sein würde.

»Wir sind nicht alleine!« Sie blinzelte ungewollt geschmeichelt ihre Umgebung ab, um zwischen den behüteten Köpfen echauffierte Blicke ausfindig zu machen, ohne eine wirkliche Strategie parat zu haben, selbst pikiert dreinzublicken.

»Wir sorgen für einen Skandal, wenn du so weitermachst«, sagte sie immer noch geschmeichelt. »Du bist etwas zu unkonventionell für die englische Öffentlichkeit, Lord Brandon!«

Jack fuhr sich erneut mit der Zunge über die Lippen. Es war eine klare Botschaft an sie.

»Nun, geschehen wird es, aber erst die Pflicht.« Vor aufkommender Erregung wippten die Putenfedern an Mary Annes kleinem Hut, den sie schräg ins Gesicht geschoben trug. Eine feine Gaze von der Krempe fiel über ihre Stirn und ließ sie regelrecht keck wirken.

»Ich bin schließlich nicht die May!«

»Aber dennoch erfahren«, entgegnete Jack provokant und erinnerte sich mit einem Lächeln an die Prostituierte aus Bodie, einer Stadt, die von Goldgräbern und Säufern besiedelt war. »Als Lehrer habe ich mich doch gut gemacht. Du könntest mit deinen Qualitäten eine Menge Geld verdienen.«

Sie boxte ihn sanft an die Schulter, obwohl ihr seine Anzüglichkeiten gefielen.

»Und noch eine Menge Krankheiten obendrauf.«

Jack vermochte ihr nicht zu widersprechen. London war für seine dunklen Gassen bekannt, in denen sich nachts Dirnen tummelten und sich die Syphilis und andere Krankheiten verbreiteten. Das Elend der Armut und die hohe Arbeitslosigkeit warfen die Frauen wie Abfall auf die Straßen, trotz der neu entstandenen Fabriken, die wie Pilze aus dem Boden schossen. Denn nichts anderes waren diese armen Seelen in den Augen der Aristokraten: Abfall! Auch wenn ihre überwiegend zahlungskräftige Kundschaft der Oberklasse angehörte.

Als Mary Anne die große Bahnhofshalle hinter sich gelassen hatte, herrschte eine rege Betriebsamkeit von Pferdestraßenbahnen, die in beide Fahrtrichtungen fuhren, und Kutschen auf der breiten Straße, die zudem von Lastkarren und Menschen überfüllt war. Doch der Himmel war klar. Die Sonne schien, und ein Schwarm Vögel flog über ihre Köpfe hinweg, als hätten sie sich dem Tempo der Großstadt angepasst. Mary Anne spürte gleich die unverkennbare Essenz, die eine Metropole dieser Größe auszeichnete. Es war beinahe zwei Jahre her, dass sie ihre Heimatstadt Boston verlassen hatte.

Die spürbar dichtere Luft war in den Straßenzügen zu einem windstillen Dunst angeschwollen, teils stickig und von Ruß erfüllt, der genauso berüchtigt war wie der plötzlich aufkommende Nebel in London. Es lärmte an jeder Ecke, und die Gehwege waren von Leben erfüllt.

Jack schien sich dem Rhythmus der Stadt angepasst zu haben. Er führte Mary Anne zielsicher zu zwei Hansom Cabs, die mit anderen in einer langen Reihe standen. Es waren zwei Einachser für je zwei Personen mit verglaster Kabine, deren Kutscher erhöht hinter dem Verdeck saßen. Als alles Gepäck verstaut war, gab Jack das Zeichen zum Aufbruch. Mary Anne wunderte sich über die zweite Kutsche, in der Redgrave und Aengus saßen und die zügig an ihnen vorbeifuhr und rechts abbog, aber auch ein wenig über das rotbraune Hinterteil des Pferdes, das sie stark an Mr. Hoover in Bodie erinnerte, eine dominante Person, mit der sie sich ständig angelegt hatte. Der Vergleich kam ihr recht seltsam vor. Vielleicht lag es an London? Es war eine ebenso betriebsame Stadt, auch wenn sie größer und imposanter war als das Goldgräbernest in Kalifornien. Vielleicht war es aber nur eine sentimentale Erinnerung an ihre Anfänge mit Jack.

Denn Mary Anne fühlte sich schon seit Wochen wie ein zerrissenes Blatt Papier, aber allmählich wich dieses Gefühl, und an seiner statt breitete sich eine wohltuende Wärme aus.

»Wo fahren die beiden denn hin?« Sie sah erstaunt der Kutsche hinterher.

»Ich musste uns ein Haus mieten, am Berkeley Square.« Jacks Gesicht verzog sich augenblicklich, vermutlich waren die Kosten dafür enorm.

Dass er überhaupt ein Haus angemietet hatte, verriet Mary Anne, dass sie länger in London verweilen würden, als ihr lieb war. Sie dachte voller Sorge an ihre Kinder. Ihr schlechtes Gewissen kehrte ebenso zurück wie ein stechender Schmerz an einer ihrer Schläfen. Ich hätte es besser wissen müssen, dachte sie. Immerhin war Jack schon seit drei Monaten in London, hatte aber vermutlich noch nicht so viel erreicht, wie er sich erhofft hatte. Es war der Grund dafür, dass er bei der Geburt seiner Kinder nicht hatte anwesend sein können.

»Musste es gleich ein Haus sein?«, hakte Mary Anne vorsichtig nach. »Hätte nicht auch ein Hotel gereicht?« Sie wollte ihm nicht das Gefühl geben, nicht zu ihm zu stehen, auch wenn sie sich mit der Entscheidung schwertat, für eine längere Zeit von ihren Kindern getrennt zu sein.

»Das war anfangs auch mein Plan gewesen. Sir John meinte aber, es sei besser, sich standesgemäß zu verhalten, um nicht den Eindruck eines Bittstellers zu erwecken. Ich musste ihm recht geben, Maisie.« Jack lächelte gequält, als er sie ansah. Er deutete ihre Züge gleich richtig und wusste genau, woran sie gerade dachte. Er war über die Situation und die Tatsache, noch mehrere Wochen in London bleiben zu müssen, auch nicht glücklich. Als er ihr in die Augen sah, war auch sein Gewissen mit Schuld beladen. In seinem Blick lag eine Anklage gegen sich selbst.

»Ich bin so glücklich, dich zu sehen«, sagte er schließlich zärtlich und griff nach Mary Annes Hand. Er legte ihr Handgelenk unter ihrem Glacéhandschuh frei, dann küsste er ihren Puls. Für einen Moment schloss sie die Augen. Es gab nur sie beide. Durch ihren Körper strömte eine Woge der Leidenschaft. Jack verwöhnte die Stelle mit seinen warmen Lippen, er saugte zärtlich daran, bis er begierig zu stöhnen begann.

»Oh, Liebling«, hauchte er, »ich will dich so sehr.«

»Jack.« Das war alles, was Mary Anne herausbrachte. Sie wollte ihn in diesem Moment ebenso, wie er sie wollte. Doch er bezwang sich und streichelte zärtlich ihre Wange.

»Wie sehr habe ich mich nach diesem Moment gesehnt.«

»Ich mich auch, Liebster«, flüsterte sie, noch von ihrer Erregung benommen. Dann sahen sie sich tief in die Augen.

»Nun, schön«, sagte Jack und bemühte sich, auf andere Gedanken zu kommen, denn Mary Anne schien ihn mit ihrer Lust zu verschlingen, »wie sind unsere Stammhalter? Geht es ihnen gut?«

Sie lächelte, es war eine willkommene Ablenkung. »Anelle ist furchtbar eigen, aber wunderschön. Ich glaube, sie bekommt die Augenfarbe deiner Mutter. Sagtest du nicht, dass sie blaugrün waren?«

Jack strahlte über das ganze Gesicht: »Dann hat sie bereits mein Herz erobert.«

»Geoffrey weiß natürlich noch nicht, was ihm bevorsteht«, fuhr Mary Anne stolz fort. »Als zukünftiger zweiter Lord von Groagh Park hat er aber eine … sagen wir mal durchdringende Stimme. Wenn ihm etwas nicht passt, dann wehrt er sich vehement – laut und deutlich.«

Jack streichelte ihr Handgelenk, und obwohl noch ein warmes Lächeln seinen Mund umspielte, hob er besorgt seine schwarzen Brauen an. »Wenn er denn der zweite Lord wird, Maisie.« Er warf ihr einen besorgten Blick zu. Er hatte gerade unumwunden das heikle Thema angesprochen, das sie schon seit Monaten geißelte. Mary Anne hatte in den letzten Tagen an nichts anderes denken können. Immer wieder kreisten ihre Gedanken um das dasselbe Problem, quälende Fragen hüpften in ihrem Kopf herum wie Flöhe. Für Jack stand viel auf dem Spiel: sein guter Ruf und seine Freiheit.

»Läuft es so schlecht für uns, Jack? Hätte in dem Fall nicht die Krone das letzte Wort?«

»Hat sie!«, entgegnete er. »Aber durch eine schmutzige Intrige kannst du hier alles verlieren, dein Ansehen und im schlimmsten Fall deinen Titel, und der, Maisie, ist in der englischen Gesellschaft von enormer Bedeutung.«

»Der Titel interessiert mich nicht«, sagte sie leichtfertig und löste damit eine kleine Lawine aus.

»Mich schon!«, erwiderte Jack unbeabsichtigt harsch. »Ich werde meiner Familie nicht einen Millimeter weichen. Lord McDonough hin oder her. Wenn der Alte meint, mir das alles nehmen zu können, hat der Bastard sich getäuscht. Er hat schon das Leben meiner Mutter ruiniert, meines ruiniert er nicht!« Er warf einen Blick durch die Frontscheibe und über das Pferd auf die Straße, auf der mehr Kutschen unterwegs waren als irgendwo sonst in England. Kurze Zeit später standen sie in einem Stau. Passanten drängelten sich zwischen den Pferden und Kutschen hindurch. Auf den Bürgersteigen schoben und drückten sich Menschen durch die Häuserschluchten wie ein reißender Bach.

Jacks Blick war wieder auf Mary Anne gerichtet, entschiedener als zuvor.

»Es ist nur gerecht, dass die Enkelkinder meiner Mutter vom Leben das bekommen, was ihr Vater ihr verwehrt hat.«

Mary Anne zog ihr Handgelenk aus Jacks Umklammerung und ergriff seine Hand.

»Und wenn … ich sage nur, wenn, Jack«, fing sie behutsam an, um ihn nicht weiter aufzuwühlen, »wenn es deinem Großvater gar nicht um deine Stellung in Kilkenny geht, sondern nur um die restlichen Schuldbriefe ...«

»Und der Vorwurf des Mordes? Warum sollte er den erheben?«, fragte Jack, der ihre Ansicht nicht teilte. »Mein Cousin wird gegen mich aussagen. Cedric wird behaupten, dass ich Graf Clermont brutal ermordet hätte, auch wenn er weiß, dass es aus Notwehr geschah. Der Mistkerl will Rache. Er verfolgt seinen eigenen Weg. Cedric kann es nicht ertragen, dass ich seinem Bruder ein Drittel der Schuldbriefe über Corrib Castle überlassen habe.« Er seufzte laut und legte seine ganze Last in das Geräusch.

»Können wir das nicht für uns nutzen?«, fragte Mary Anne nicht ohne Hintergedanken. »Es war Cedric, der deinen Tod wollte, nicht dein Großvater und auch nicht Lorcan.«

Das Hansom Cab kam langsam wieder vorwärts. An der Straßenecke hatte eine Lastkutsche ihre Fracht verloren. Die letzten Kisten mit Gemüse lagen noch verstreut auf der Fahrbahn. Zwei Polizisten trillerten die Kutschen mit Pfeifen aus dem Chaos.

»Lorcan muss sich ein für alle Mal zu mir bekennen«, sagte Jack, nachdem er sich einen groben Überblick über das Chaos auf der Straße verschafft hatte. »Ich brauche ihn als Informanten. Er kann sagen, was die beiden gegen mich vorhaben. Aber ein Ass haben wir noch. Der Premier ist für unsere Sache, die irische Sache. Nur darf das nicht an die Öffentlichkeit dringen. Wir fahren kurz zu seinem Club. Gladstone hat dort für mich einen Umschlag abgegeben.«

Mary Anne öffnete erstaunt den Mund, schloss ihn aber gleich wieder. »Der Premier?«, fragte sie erstaunt. »Er und Sir John sind miteinander bekannt?«

»Sir John und Gladstone stehen hinter den Forderungen der irischen Nationalbewegung, genauer gesagt der Irischen Republikanischen Bruderschaft.«

»Da bin erleichtert«, stieß Mary Anne ungestüm aus. »Ich dachte schon, wir wollten in einer Jolle aus Papier einem Sturm die Stirn bieten.«

Sir John war gerade im Begriff, die letzte Stufe der Außentreppe hinunterzusteigen, als ihre Kutsche vor der weißen Stuckfassade zum Stehen kam.

Der ältere und äußerst gepflegte Herr war sichtlich erleichtert, Jack und Mary Anne noch anzutreffen. Voller Freude stieß er seinen Gehstock zwischen seinen Beinen auf den Boden, und kleine Funken stoben auf wie bei einem Feuerstein.

»Lady Brandon, wie sehr ich mich über unser Wiedersehen freue«, sagte Sir John überschwänglich und lüftete seinen Zylinder, als sie und Jack vor ihrem gemieteten Domizil standen, das vierstöckig in den azurblauen Himmel ragte.

Wie sämtliche Gebäude rund um den begrünten Platz, die von berühmten Architekten wie Robert Adam und William Kent geschaffen wurden, stand der Ort für eine Lebensweise seiner Bewohner, die nur wenigen Londonern zuteilwurde.

»Ich habe mich spontan entschieden, Sie persönlich zu begrüßen«, sagte er hintergründig lächelnd. »Ich hoffe, die Reise mit der Eisenbahn war nicht allzu belastend. Sie wissen ja, dass ich nichts davon halte. Die Geschwindigkeit ist für den menschlichen Organismus nicht gesund. Dreißig bis vierzig Stundenkilometer!« Sir John schüttelte verständnislos den Kopf. »Die Landschaft braust nur so an einem vorbei. Das kann für die Augen nicht gesund sein.«

Nachdem Mary Anne ihm versicherte, dass sie keine Schäden davongetragen habe, lächelte er beruhigt, auch wenn er noch leicht skeptisch dreinblickte. Er fand aber die Situation, in der sich die beiden befanden, zu ernst, um über gesundheitliche Konsequenzen des Zugfahrens oder die Geschwindigkeit zu debattieren, und verbeugte sich hastig, aber in vollendeter Ausführung.

»Gehen wir ins Haus«, sagte Jack fast beiläufig und wies auf die schwarz lackierte Eingangstür, die mit einem glänzenden Türklopfer in Form eines Löwenkopfes ausgestattet war.

»Und Sir Johns Kutscher?«, fragte Mary Anne, während Jack verhalten den Türklopfer betätigte. »Soll der arme Mann die ganze Zeit auf dem Bock sitzen bleiben?«

Jack warf einen Blick über die Schulter, wo eine offene Landaulet-Kutsche stand, bevor er Sir John fragend ansah.

Dieser nickte zustimmend. »Man soll ihm in der Küche einen Tee und eine Kleinigkeit zu knabbern geben. Es könnte etwas dauern.«

»Dann sind Sie also nicht meinetwegen gekommen?«, fragte Mary Anne dennoch, als sie ihren Verdacht bestätigt sah, und verwarf ihren Plan, sich in aller Ruhe mit Jack zu unterhalten und sich vor dem Dinner kurz hinzulegen, um sich von den Strapazen der Reise zu erholen.

»Meine Liebe«, antwortete Sir John gedehnt, »Ihnen kann ich nichts vormachen, das habe ich schon auf dem Dampfschiff ›Parthia‹ erkannt.«

Bei der Erinnerung daran seufzte Mary Anne und geriet fast ins Wanken. Es kam ihr wie eine Ewigkeit vor, seit sie mit Jack Amerika verlassen hatte, um ein neues und sicheres Leben in Irland zu beginnen, das ihnen auf Killian nicht vergönnt gewesen war. Und wie es schien, ebenso wenig auf Groagh Park. Jacks eigene Familie war sprichwörtlich hinter seinem Kopf her, den er in London zu retten versuchte.

Die Eingangstür öffnete sich, was ihre Gedanken unterbrach. Ein hochgewachsener Butler, hoch und breit wie eine Takelage, begrüßte sie. Als er erkannte, wer vor ihm stand, trat er würdevoll zur Seite.

»Lord Brandon«, sagte er in einem gepflegten Englisch.

Der Blick ins Innere des Hauses wurde frei. Mary Anne sah, dass eine geschwungene Treppe nach oben führte. An der Stuckdecke hing ein böhmischer Kristalllüster, der sich in zwei hohen Wandspiegeln spiegelte, vor denen Konsolentische mit Blumenbuketts standen.

»Ist es nicht schön, wenn man sich nichts vormachen muss, Sir John?«, sagte Mary Anne nach einem kurzen Blick auf den Butler und reiflicher Überlegung, denn ihr war bewusst, dass Engländer nicht über ihre Gefühle und Gedanken sprachen und erst recht nicht über ihre Meinung, wenn sie denn eine vertraten. Sie schmunzelte rebellisch, als sie an Jacks ausgestreckten Arm vorbeiging, denn sie erwartete umgehend eine Reaktion von Sir John.

»Solange es unter uns dreien bleibt, habe ich nichts dagegen«, entgegnete Sir John wie erwartet. »Doch wenn wir in Gesellschaft sind, sollten wir es wie immer handhaben.«

Mary Anne übergab dem Butler ihren Hut. »Sie meinen damit die Praktiken der Anspielung, den belanglosen Tonfall und stille Zustimmung?«

»Du liebe Güte!«, stieß Sir John echauffiert aus. »Wenn Sie ein Ziel im Auge haben, dann treffen Sie es. Mein Instinkt war richtig. Wir können Sie hier gut …«

»… mit einspannen«, sagte Jack diplomatisch, der über ihr kleines Zwiegespräch ebenso belustigt war wie die beiden selbst. »Deswegen ist sie hier, und deswegen habe ich sie geheiratet.«

Sir John nickte anerkennend. »Dann sollten wir unser Vorgehen besprechen«, sagte er pragmatisch, »vorzugsweise bei einem französischen Cognac.« Er deutete auf eine Tür. »Ist das dort der Salon?«

Jack beantwortete seine Frage mit einem knappen Nicken, während der Butler Sir John die opulente Kassettentür öffnete.

Der Salon sah, zumindest auf den ersten Blick, für Mary Anne nicht so aus, als hätten hier jemals Menschen gelebt. Das elegante Haus war wie fast alle anderen am Berkeley Square von prunkvoller Eleganz, mit Wänden, die mit kostbarem Damast bespannt waren, erlesenen Teppichen und verschnörkelten Sitzgruppen, und scheinbar nur wenige Wochen im Jahr bewohnt. Zum Glück waren die Räume gut geheizt. Ein hohes Feuer brannte in dem marmornen Kamin, über dem ein Ölporträt von irgendwem hing, vermutlich dem Besitzer selbst, der, wie es in der Oberschicht Tradition war, außerhalb der Saison auf dem Lande lebte.

Nur mit dem kleinen Unterschied, dass dieses prachtvolle Gebäude zwischenzeitlich vermietet wurde, was Mary Anne deutlich vor Augen führte, dass die finanzielle Lage des Eigentümers nicht die beste zu sein schien. Sie streifte sich ihre Handschuhe ab und legte sie auf ein Tischchen mit Intarsien, während ihr das alles blitzschnell durch den Kopf ging.

Sie sah den Butler auffordernd an. »Sie sind für alles zuständig, nehme ich an?«

»So ist es, Mylady.« Er folgte ihrer stummen Anweisung, sich vorzustellen. »Roberts, Mylady.«

»Dann seien Sie so nett, Roberts, und servieren Sie Tee und einen kleinen Happen zu essen, Sandwiches vielleicht«, wies sie ihn freundlich an. »Die Eisenbahnfahrt war recht anstrengend.« Sie befühlte unbewusst ihren Nacken, der sich verspannt anfühlte und über dem eine Silberspange eine komplizierte Frisur zusammenhielt.

Der Butler beabsichtigte gerade, das Zimmer zu verlassen, als ihr noch etwas einfiel: »Sind meine Zofe und der Junge bereits eingetroffen?«

»Ihre Zofe kümmert sich um Ihr Gepäck.« Roberts hob kaum merklich eine Augenbraue. »Der Knabe ist in der Küche.«

Mary Anne stutzte kurz. »Aengus hat einen gesunden Appetit«, sagte sie in einem versöhnlichen Ton, weil sie den Unmut des Butlers darüber bemerkte.

Der spitzte seine Lippen. »Und ziemlich klare Vorstellung von Lunch, Mylady.«

Mary Anne lächelte und glaubte, hinter ihrem Rücken das schadenfrohe Grinsen von Jack zu spüren. »Seien Sie streng mit ihm, dann frisst er Ihnen aus der Hand.«

Der Butler ruckte unmerklich mit dem Kopf zurück, die braunen Augen weit aufgerissen.

Mary Anne räusperte sich verlegen. Ihre amerikanische Ausdrucksweise war unbeabsichtigt durchgeschlagen, was so gut wie nie vorkam. »Ich meinte«, korrigierte sie sich, »dass der Junge dann zahm wie ein Spatz ist.«

»Ah, ich verstehe«, entgegnete Roberts distinguiert und verließ den Salon.

»Oje«, flüsterte Mary Anne Jack zu, als sie hinter ihm stand, während er zwei Gläser mit Cognac füllte. »Den hab ich wohl ziemlich verschreckt.« Sie konnte sein Gesicht nicht sehen, aber der Reaktion seiner Schultern nach zu urteilen schien er sich darüber zu amüsieren.

Sir John nahm gleich einen kräftigen Schluck, als Jack neben ihm auf dem Sofa mit Medaillonlehne saß, das zwischen zwei bodentiefen Fenstern stand, an denen Volants aus Goldbrokat mit aufwendigen Quasten hingen.

Mary Anne sah sich kurz nach einer Sitzgelegenheit um und machte es sich gegenüber den beiden auf einer Récamiere mehr oder weniger bequem.

Immerhin schien die Sonne durch die beiden Fenster und ließ den gelben Damast an den Wänden honigfarben aufleuchten, was sie etwas milder stimmte.

»Haben Sie den Umschlag erhalten?« Sir Johns Leidenschaft für ausgeklügelte Pläne und politische Intrigen kam deutlich zum Vorschein, als er Jack funkelnd ansah.

Mary Anne hätte Jacks Antwort auch gerne gehört, aber ihr brannte die ganze Zeit eine Frage auf der Zunge.

»Sir John, verraten Sie mir doch, warum der Premierminister auf unserer Seite ist. Und warum hilft er meinem Mann?« Als sie bemerkte, wie verblüfft er seine grün gesprenkelten Augen aufriss, verteidigte sie sich umgehend. »Sie haben zugestimmt, dass wir unter uns offen sprechen.« Sie lächelte und legte gleich nach: »Ich verstehe noch nicht ganz, warum er für die irische Sache ist.«

»Ja, sicher doch«, entgegnete Sir John noch etwas irritiert und trank einen Schluck. »Ich muss mich nur noch daran gewöhnen, dass eine Lady so unverblümt ihre Meinung kundtut. Wir Engländer sind nicht so modern wie die Amerikaner.«

»Sie haben wohl vergessen, dass ich zur Hälfte Irin bin, und die sind in der Regel rebellisch, Sir John.« Mary Anne nutzte seine Befangenheit, um ihre aquamarinfarbene Schleppe zurechtzulegen, die aufgebauscht war und wie ein Wasserfall zu Boden fiel.

Sir John presste kurz seine Lippen aufeinander. »Nun, wo soll ich anfangen? William Ewart Gladstone ist der Sohn einer reichen Kaufmannsfamilie, Mitglied der Whig-Partei, war Abgeordneter im House of Commons und ist jetzt Premierminister.« Er lächelte spöttisch. »Die übliche Karriere eines einfachen Mannes.«

»Daher auch sein freier Geist«, bemerkte Jack in einem Ton, aus dem Mary Anne nicht schließen konnte, wie er wirklich darüber dachte.

Gladstones steiler Aufstieg in der Politik war für Jack ein Glücksfall. Jack stammte zwar nicht aus einer wohlhabenden Familie – was bei Engländern mehr zählte als die Nationalität –, aber seine Mutter war die uneheliche Tochter eines irischen Lords, und er war der neue Lord von Groagh Park. Jacks Weg war ebenso unkonventionell verlaufen wie der von William Ewart Gladstone. Das muss es sein, dachte Mary Anne, auch wenn sie die Zusammenhänge noch nicht ganz begriff.

Egal wie hoch Gladstone auf der politischen Karriereleiter stieg, er hatte nie seinen Blick für die Realität, für die Ungerechtigkeit in der Gesellschaft verloren, auch wenn er ein ebenso berechnender Politiker war wie viele andere im Parlament, edle Lords, die nach persönlicher Größe und Macht strebten.

Die Königin ermutigte den Adel diesbezüglich und belohnte ihn anschließend mit Auszeichnungen, was oft zu politischen Fehlentscheidungen für das Empire führte. Der Premierminister war ein treuer und ergebener Untertan Seiner Majestät, doch in der irischen Sache vertrat er eine liberalere Meinung. Sir John musste schon eine Weile mit Mary Anne gesprochen haben, bevor sie, gestört durch den Butler, der ihr Tee und Lachssandwiches servierte, wieder auf seine Stimme aufmerksam wurde.

»Geben Sie mir in dem Punkt recht, Lady Brandon?«, fragte Sir John erwartungsvoll.

Mary Anne blinzelte ihn verwirrt an. »Ich gestehe, ich bin kurz abgeschweift«, gab sie zu und sah ahnungslos auf ihre Hände.

Sir John legte seinen Kopf zur Seite, sodass sein Monokel sie anblitzte.

»Es ging darum, dass Sie bei den Damen der Gesellschaft herausfinden sollten, welche von ihnen ihren Mann lenkt; einige haben die Macht dazu, was ich natürlich bedaure, aber zu unserem Vorteil ausnutzen möchte. Ich werde unterdessen mit Ihrem Mann in den Clubs Kontakte knüpfen«, wiederholte er seine Worte gelassen, als Roberts das Zimmer verließ.

»Ich könnte eine Liste erstellen«, schlug Mary Anne vor. Sie erinnerte sich, dass ihr verstorbener Vater ein kleines Buch über seine Geschäftspartner geführt hatte mit Informationen, die über die geschäftlichen Beziehungen hinausgingen. »Zudem ist es wichtig zu wissen, wer hier mit Lord McDonough brieflich korrespondiert und uns Steine in den Weg legt.«

Jack warf ihr einen anerkennenden Blick zu. »Aye! Die Liste haben wir bereits von Gladstones Sekretär. Daher auch der Zwischenstopp. Es sind fünf Gentlemen aus den besten Kreisen.«

Sir John stimmte Jack kopfnickend zu. »Ich werde noch heute Moses diesbezüglich Anweisungen erteilen.« Er trank den Rest seines Cognacs aus. »Wir müssen diese Herrschaften kennenlernen, in den inneren Zirkel vordringen, ihre Schwächen herausfinden und sie anschließend damit konfrontieren.«

Konfrontieren, dachte Mary Anne, das war ein englischer Euphemismus für Erpressung.

»Und wenn die fünf Herren keine ›Schwächen‹ haben sollten, Sir John?« Mary Anne warf Jack einen besorgten Blick zu.

»Was dann?«

»Jeder, der über ein Vermögen und einen Butler verfügt, hat Schwächen, ist angreifbar, Lady Brandon.«

»Dann sollten wir unserem Butler unverzüglich die Tür weisen«, entgegnete sie trocken.

Sir John lachte laut auf.

»Und wer ist Moses?« Mary Anne sah die beiden recht verdutzt an, während Sir John sich langsam wieder fing. »Wer ist die biblische Figur, deren Hilfe wir in Anspruch nehmen?«

»Mein Sekretär, er heißt Michael und ist Halbjude«, antwortete Sir John schmunzelnd, der mit dieser Reaktion gerechnet hatte. »Ein treuer Sekretär und ausgezeichneter Spion. Es ist sein Deckname, Lady Brandon. Der Name wertet seine Nebenbeschäftigung enorm auf und klingt huldvoll.«

Anders als im Christentum war der Erzengel Michael im Judentum nicht mit Attributen der Göttlichkeit versehen. Sir Johns Familie war seit Generationen katholisch und hatte für die anglikanische Kirche nicht viel übrig. Daher auch der christliche Deckname und vermutlich die Unterstützung der Katholiken in Irland. Das Puzzle fügte sich für Mary Anne langsam zu einem klaren Bild zusammen.

Doch Sir John war immer noch Engländer, was hieß, dass er undurchsichtig und mit einem zuweilen skurrilen Humor gesegnet war, der unabhängig von seinem Glauben war.

»Dann ist Ihr Sekretär das Äquivalent zum Propheten Mose, der von Gott beauftragt wurde, das Volk der Israeliten aus der ägyptischen Sklaverei zu führen, nur dass Ihr Prophet Sie über andere Leute informiert, um Sie aus der Knechtschaft der Unwissenheit zu befreien.« Sie sah gespannt in sein Gesicht, das von einem gepflegten Kinnbart und welligem Haar eingerahmt wurde. Sie gestand sich insgeheim ein, ihm gut Paroli geboten zu haben.

»In der Regel sind es keine Leute, es sind politische Gegner«, erwiderte Sir John mokant und von Mary Annes Ausführungen sowie ihrem wachen Verstand beeindruckt. »Politiker zählen da nicht, Lady Brandon.«

Soweit Jack sich erinnerte, waren Engländer für ihn intrigant, selbstsüchtig und in der Regel eine auf den eigenen Vorteil bedachte Nation, die auch vor Angriffskriegen nicht zurückschreckte, um die Ausdehnung des Empires voranzutreiben.

Doch Sir John und Gladstone bewiesen, dass nicht alle Untertanen der Königin kaltherzig waren. Sie traten für ein freies Irland ein, auch wenn es im Geheimen geschah.

Mary Anne spürte es ebenfalls, sie konnte den leichten Ausdruck der Verwunderung in Jacks Gesicht sehen, eine winzige Bewegung seiner dichten schwarzen Augenbrauen, als fragte er sich, warum ihm das nicht schon früher bewusst geworden war.

»Dann haben Sie weniger zu beichten«, entgegnete Jack erleichtert über seine neu gewonnenen Erkenntnisse. »Sie sind ein Pragmatiker, Sir John. Liegt das vielleicht in Ihrem Blut?« Jetzt wurde Jack etwas spöttisch.

»Ich denke nicht«, entgegnete Sir John trocken. »Das ist bei uns Engländern vielmehr ein kulturelles Phänomen, mein lieber Junge.« Er sah Jack väterlich an. Sein Blick war kurz, aber intensiv und voller Anerkennung. Jack hätte der Sohn sein können, den er selbst gerne gehabt hätte. Wären sie noch in ein Gespräch vertieft, so glaubte Mary Anne, wäre augenblicklich ein betroffenes Schweigen aufgekommen; stattdessen klopfte Jack ihm auf sein Hosenbein, griff zur Karaffe und füllte sein Glas auf.

DIE ERÖRTERUNG EINES PLANS

Mary Anne blieb noch eine Weile bei Jack und Sir John, dann ging sie nach oben, um sich vor dem Dinner auszuruhen. Sie schob eines der beiden Fenster hoch, um frische Luft hereinzulassen. Der Nachmittagshimmel war mit grauen Wolkenfetzen bedeckt. Der Wind war inzwischen stärker geworden, weitere und schwerere Wolken zogen heran. Die Luft prickelte elektrisch, ein Sommergewitter stand bevor. Mary Anne versuchte sich eine lose Haarsträhne aus dem Gesicht zu streichen, die sich elektrisch aufgeladen hatte und hartnäckig auf ihrer Wange kleben blieb; mit einer energischen Handbewegung klappte es schließlich. Dann hielt sie ihren Kopf aus dem Fenster und genoss den frischen Wind auf ihren Wangen, der sachte durch ihr Haar fuhr. Der Duft von Erde und Gras, der von dem kleinen Park herübergeweht wurde, der das Herzstück von Berkeley Square zu sein schien, erinnerte sie an Groagh Park, auch wenn der Platz von eleganten, weißen Häusern gesäumt war, die von schwarzen Zäunen und Gaslaternen eingerahmt wurden.

Ein streuender Hund kam dem Bild schon etwas näher, er lief über die breite Pflasterstraße, aufgeschreckt von einer offenen Kutsche, die an ihrem Haus vorbeifuhr. Mary Anne nahm den Vierbeiner ohne ersichtlichen Grund zum Anlass, das Fenster zu schließen, und setzte sich auf die gepolsterte Bank, die in die Fensternische eingebaut war.

Im Zimmer war es still. Draußen rüttelte eine starke Bö an der Steinfassade und zerrte an den Bäumen. Ihr Gewissen begann sie wieder zu quälen. Sie dachte schmerzlich an ihre Kinder.

Bis Jack ins Zimmer kam. Sie blickte blinzelnd auf, als er die Tür schloss. Er warf einen Blick auf den Toilettentisch, auf dem sein Geschenk für Mary Anne noch ungeöffnet stand. Er schritt über den Teppich. Seine Augen verengten sich, als er auf ihren Scheitel blickte. Er ahnte, woran sie gerade dachte, und ersparte es sich, sie danach zu fragen.

Sein schwerer Atem zeugte von schlechtem Gewissen.

»Ich werde alles tun, damit wir bald wieder auf Groagh Park sind. Ich weiß, wie du dich fühlst.« Er schwieg eine Weile. »Ich habe die Kleinen noch nicht einmal zu Gesicht bekommen. Du musst mir mehr von ihnen erzählen. Wie sie aussehen, wie sie riechen, glucksen und wie sich ihre kleinen Hände anfühlen.«

Das ist furchtbar!, dachte Mary Anne und hob ihren Blick, der die ganze Zeit auf ihre gefalteten Hände gerichtet war. Das Geräusch einer fahrenden Droschke zog an ihrem Fenster vorbei und sorgte zusätzlich dafür, dass sie wieder im Hier und Jetzt ankam.

»Ich habe nur an mich und meine Gefühle gedacht«, sagte sie, als sei sie gerade aus einem tiefen Brunnen herausgezogen worden, in den sie sich freiwillig gestürzt hatte. »Dabei hast du deine Kinder noch nicht einmal in deine Armen gehalten. Verzeih mir, Jack.«

Er sah Verständnis und eine Spur von Betroffenheit in ihren grünen Augen aufflimmern.

»Ich werde die Kinder schon bald in meinen Armen halten«, beruhigte er sie. »Es wird nicht mehr lange dauern, das verspreche ich.« Er nahm ihre Hand und küsste sie sanft. »Dann beschütze ich sie vor der ganzen Welt, Maisie!«

»Wenn das nur so einfach wäre – beschützen!«, erwiderte sie zweifelnd, aber dennoch mit einer Spur von Hoffnung in der Stimme. »Das Leben wird uns weiterhin Steine in den Weg legen.«

Jacks kantiges schlankes Gesicht schien skeptisch einzuräumen, dass das möglich war.

»Dann werden wir sie gemeinsam aus dem Weg räumen, Maisie.«

Mary Anne lächelte bitter. »Darin sind wir zwei mittlerweile recht gut.«

»Aye!«, erwiderte er, »das sind wir.«

Sie sahen sich tief in die Augen. Es war das erste Mal, dass sie alleine und für sich waren, ohne Blicke fremder Leute oder Geräusche, die sie hätten stören können. Es gab nur sie beide.

»Ich habe etwas für dich«, sagte Jack und küsste ihre Stirn. »Es liegt dort drüben.« Er ruckte mit dem Kopf zu dem kleinen Tisch mit dem Spiegel.

»Was ist es?«

»Pack es aus.«

Mary Anne stand auf und ging zu dem Tischchen. Zwischen ihrer Bürste, dem Handspiegel und diversen Schönheitsmittelchen wie einem Töpfchen Pure Rose Cream und einer Flasche Dufthaarwasser lag ein in Seidenpapier eingewickeltes Päckchen. In erregter Vorfreude wickelte sie das blaue Seidenband und das Papier ab und hielt wenig später einen Parfümflakon in der Hand. »La Fleur« stand auf dem Etikett. Sie öffnete den Flakon und erschnupperte den floralen Duft.

»Oh Jack«, stieß sie vor Freude aus, »es ist so lange her, dass ich ein Parfüm benutzt habe. Das letzte Mal in Boston, nein, es war in Bodie. Ich besaß ja kaum noch etwas.«

Jack nickte zuversichtlich. »Und sieh dich um, Maisie«, sagte er mit unverkennbarem Stolz in der Stimme, »wo du jetzt stehst.«

»Wo wir stehen!«, korrigierte sie ihn. Mit nur wenigen Worten hatte er es erklärt, obwohl es keiner Erklärung bedurft hatte. Mary Anne war sich ihres Glückes bewusst, es musste lediglich in Erinnerung gebracht werden. Eine Welle der Erleichterung durchströmte plötzlich ihren Körper wie der Funke von Hoffnung, der zu einem schwachen Gefühl von Stolz anschwoll. Sie stieß angestaute Luft aus ihrer Lunge und schritt zu ihm. Sie blickte auf sein kantiges Kinn und seine vollen Lippen. Dann gab sie ihm einen Kuss.

»Ich liebe dich, Jack Anthony Oisin Brandon.«

Er umarmte sie und drückte sich an ihren Körper, dessen Wärme er durch die kühle Seide ihres Kleides spürte. Er hätte gern gebetet, aus Dankbarkeit für ihre Liebe und die Kinder, die sie ihm geschenkt hatte.

Stattdessen schloss er seine Lider, um die kleinen Gesichter seiner Zwillinge heraufzubeschwören, die ihrer Mutter und ihm ähnlich sein mussten, auch wenn ihre Züge noch nicht ausgeprägt waren.

»Das kannst du mir öfter sagen«, flüsterte er ihr ins Ohr. »Du bist mein Leben.«

Ein Blitz entlud sich in der elektrisierten Atmosphäre. Es wurde schlagartig hell im Zimmer.

Mary Anne wartete auf den Donner, der aber nicht kam. Es blitzte erneut. Jacks schwarze Haare glänzten kurz auf. Er kam ihr vor wie die verbotene Frucht im Paradies: verlockend süß und von anziehender Reife. Aber sie war nicht Eva und ihr Schlafzimmer nicht das Paradies. Auch gab es keine hinterlistige Schlange, nur wachsames und geschwätziges Personal.

»Wir müssen bis nach dem Dinner warten«, vertröstete sie ihn und sah deutlich das Verlangen in seinen tiefblauen Augen, was ihre Lust nur noch vergrößerte. »Wir müssen tapfer sein.« Sie musste selbst über diesen Satz lächeln.

Jack verzog ironisch den Mund. »Das weibliche Geschlecht hat also diesbezüglich auch seine …«

»Triebe?«, platzte es aus Mary Anne heraus. »Ja!«

»Wenn du es so ausdrückst«, schmunzelte er. »Nur habt ihr sie besser unter Kontrolle.«

Mary Anne zog eine Braue hoch, während sie mit dem Glaskorken des Flakons ihre Handgelenke und den Hals betupfte. »Das denkt ihr«, erwiderte sie, verschloss den Flakon, schnupperte noch einmal verzückt daran und stellte ihn auf das Tischchen zurück.

»Wie meinst du das, Maisie?«

»Oh, frag mich nicht«, trillerte sie heiter. »Wir sprechen nicht dieselbe Sprache.«

Nach einer sowohl draußen wie auch drinnen stürmischen Nacht, die erst mit der Morgendämmerung ein befriedigendes Ende fand, begann für Mary Anne ein neuer Tag. Der typische feucht-frische Duft von Regen hing über der Stadt. Es war ihr erster Morgen in einer ihr vollkommen fremden Umgebung. Was nicht ungewöhnlich war, wenn man bedachte, wie die letzten beiden Jahre verlaufen waren.

Obwohl ihr neuer Lebensmittelpunkt Groagh Park war, verlief ihr Leben dort noch nicht so friedvoll und problemlos, wie sie es sich erhofft hatten.

Im Kamin brannte ein Feuer. Es wurde in der Regel von einem Küchenmädchen entfacht, noch während sie schliefen. Viele fleißige Hände sorgten dafür, dass der Ablauf im Haus reibungslos vonstattenging. Die Vorhänge waren noch zugezogen, das Zimmer lag im Halbdunkel. Der Raum war noch vom Odeur von Schweiß und Pheromonen der letzten Nacht und einer abgestandenen Luft erfüllt, die ihre Liebesnacht zu konservieren schien. Mary Anne warf einen Blick auf die feuervergoldete Kaminuhr, die leise vor sich hin tickte.

Es war kurz nach neun. Das Personal war schon seit Stunden auf den Beinen. Redgrave rechnete vermutlich jede Minute mit einem Klingelzeichen von ihr, um ihnen das Frühstück hinaufzubringen. Der Gedanke an frischen Kaffee, gebutterte Scones mit Marmelade und ein Schälchen Früchte rückte immer mehr in ihren Fokus. Mary Anne fuhr sich unbewusst mit der Zunge über die Lippen. Ein Heißhunger überfiel sie, der ebenso stark und ungebremst war wie ihr fleischliches Verlangen der vergangenen Nacht, das von Jack ausgiebig und geschickt befriedigt wurde.

Jack lag neben ihr und bekam von ihren Gelüsten nichts mit, die sich jetzt ausschließlich auf Essbares richteten. Er lag auf der Seite, sein Kopf war tief in die Kissen gesunken. Er stieß leise Grunzlaute aus. Seine muskulösen Beine und sein pralles Gesäß zeichneten sich deutlich unter dem weißen Leinen ab. Jack hatte die flauschige Decke im Schlaf weggestrampelt. Seine Umrisse unter dem hauchdünnen Stoff erinnerten Mary Anne an eine antike marmorne Statue. Nur dass Jacks starke Beinmuskeln vom ständigen Treiben von Rindern herrührten und nicht von den geschickten Händen eines Bildhauers modelliert worden waren. Das Treiben der Rinder auf Killian war jetzt die Aufgabe von David, dem Mann von Jacks Schwester Margaret, der gemeinsam mit ihr neuer Besitzer der Farm und Herr über zweitausend Morgen Land in Nevada war.

In Gedanken an die letzte Nacht fuhr Mary Anne sich mit der Hand über die Lippen, die noch kurz zuvor vor Gelüste ganz anderer Art befeuchtet hatten. Sie fühlte sich in diesem Moment lebendig und geliebt. Kurz entschlossen sprang sie aus dem Bett, zog die schweren Samtvorhänge auf und schob das Fenster einen Spalt hoch. Die Sonne blendete sie, und sie hielt sich schützend eine Hand vor die Augen.

Sie spürte gleich die warmen Strahlen und den Luftzug auf ihrer Haut; die Elemente riefen ihr aber auch ins Gedächtnis, dass sie vollkommen nackt vor einem bodentiefen Fenster stand. Sie verschränkte blitzschnell die Arme vor der Brust, verharrte kurz vor Schreck und sprang dann geradezu zum Sessel, auf dem ihr seidener Morgenrock lag. Wenn nicht der Park gewesen wäre, der zu dieser frühen Stunde menschenleer war, hätte sie sich ernste Gedanken machen müssen. Es wäre kein guter Einstieg in die englische Aristokratie gewesen, die das kleine, privilegierte Fleckchen Erde vor dem Haus für sich beanspruchte.

Jack blinzelte zwar unbemerkt, dennoch war sie sich sicher, dass er genug Zeit gehabt hatte, um ihr Hinterteil in Augenschein zu nehmen.

»Sah vorher besser aus«, grunzte er verschlafen und mit einem kritischen Blick auf ihren Morgenmantel. »Oh verdammt, Maisie.«

Mary Anne fuhr erschrocken herum und blinzelte unsicher zum Fenster.

»Was?«

Jack sparte sich eine Antwort. Sie konnte seine Erregung unter dem Laken deutlich erkennen. Sie lächelte schadenfroh, spürte aber auch, dass sich Schweißperlen der Panik vor fremden Blicken auf ihrer Stirn gebildet hatten, die sich langsam über ihren Brauen wieder verflüchtigten. Sie zog an der Klingelschnur neben dem Kamin und fuhr sich mit der Hand über die Stirn.

»Ich brauche jetzt wirklich etwas zu essen, Jack«, sagte sie in einem mitleiderregenden Ton, als sie seinen enttäuschten Blick sah. »Nach solch einer Nacht …«

»Der Morgen wäre auch nicht schlecht geworden.« Jack klemmte sich ein Kissen zwischen die Beine und grinste verkrampft. »Wir wollen ja Redgrave nicht mit meinem Hammer erschrecken.«

Mary Anne stieß ein Geräusch aus, das signalisierte, dass Jack übertrieben hatte, auch wenn er gut gebaut war. »Stell sie dir nackt vor«, entgegnete sie nicht ohne einen listigen Hintergedanken. »Sie soll eine Warze auf einer ihrer Brüste haben.« Sie schielte ironisch schmunzelnd auf seinen Schritt.

Jack zog sogleich das Kissen weg und sah an sich herunter. »Jetzt hast du alles verdorben. Er ist auf dem Rückzug, wie Napoleon nach seinem Russlandfeldzug.«

»Bin ich nicht gut zu dir?«, flötete Mary Anne und setzte sich zu ihm auf die Bettkante. »Jetzt musst du nicht auf dem Bauch liegen wie ein gestrandeter Buckelwal, wenn Redgrave das Frühstück bringt. Das war doch gut.«

»Aber jetzt muss ich an die Warze denken«, entgegnete Jack mit einem Gesicht, als hätte er in eine Zitrone gebissen. »Na ja, eine kleine Stärkung kann nicht schaden. Wer weiß, wofür sie gut ist.«

Sein Tonfall verriet ihr, dass er sein Ziel noch nicht aus den Augen verloren hatte.

»Ich führte schließlich drei Monate lang das Leben eines Mönchs. Das würde nicht jeder Mann tun, zumindest kein Engländer.«

Sie sah ihn erstaunt an. »Wie kommst du darauf?«

»Ich war in den letzten Wochen viel mit Menschen von diesem Schlag zusammen. In Clubs und bei opulenten und langweiligen Dinners, zu denen mich Sir John zwang. Einige von ihnen führen ein sehr scheinheiliges Leben, Maisie.«

»Die Doppelmoral ist die Tugend der Aristokratie«, bemerkte Mary Anne zynisch. »Damit können wir sie schlagen.«

»Aye.« Jack ordnete seine Männlichkeit, dabei kniff er den Mund zusammen, als würde es ihm irgendwo zwicken. Als er seine Hand unter dem Leinen hervorholte, hätte Mary Anne annehmen können, er hielte zwei frisch gelegte Eier in der Hand, geradewegs auf eine heiße Pfanne zusteuernd. Ihre skurrilen Gedanken wurden von Redgrave unterbrochen, die mit einem gut bestückten Frühstückstablett ins Zimmer kam.

»Guten Morgen, Ihre Ladyschaft, Mylord.« Die Zofe stellte das Tablett auf einen Tisch, der vor einer kleinen Sitzgruppe stand. Mary Anne erblickte zwei dampfende, goldbraune Spiegeleier auf einem der Teller.

»Finden Sie sich unten zurecht?«, fragte Jack, der sich dabei ertappte, wie er auf Redgraves Brüste starrte, die unter ihrer schwarzen Diensttracht verborgen lagen wie die Kronjuwelen Ihrer Majestät. Mary Anne sah aus dem Augenwinkel, wie er sich unmerklich schüttelte, nach der dickeren Decke griff und sie bis zum Kehlkopf hochzog.

Die Angestellte wich seiner Frage aus. »Nun, es ist noch zu früh, um etwas zu sagen, Mylord.«

Das ließ Mary Anne hellhörig werden. Die Charaktere einiger Dienstboten betrachtete sie mit einem respektvollen Schrecken, der sich durch die Berichte ihrer alten Zofe Miss Winters noch gesteigert hatte.

»Gibt es unten Probleme? Doch nicht etwa mit Aengus?« Unwillkürlich entlockte ihre Fürsorge für ihn Mary Anne ein grimmiges Schmunzeln. »Wir wissen ja, wie er sein kann.«

»Ist es Aengus?«, wollte Jack von der Angestellten wissen. Er setzte sich etwas beunruhigt auf.

»Nein«, entgegnete die Zofe. »Diesmal nicht, es ist Roberts. Der Butler führt das Haus mit strenger Hand und hat das Personal unter seiner Knute.«

Jack vollführte eine kleine Geste, ein angedeutetes Achselzucken, um auszudrücken, dass er die Situation später klären könne.

Es war schlicht Tatsache, dass er sich über die Sorgen des Hauspersonals nur wenig Gedanken machte. Doch Mary Anne protestierte mit einem gezielten Blick in seine Richtung.

»Dann müssen wir wohl alle aufpassen, dass wir nichts Falsches sagen«, fühlte Jack sich genötigt zu antworten, was bei der Angestellten jedoch nicht gut ankam.

»Ich werde mit Roberts sprechen, wenn Sie das möchten«, schlug Mary Anne mit einem leisen, auflehnenden Seufzer in Jacks Richtung vor. »Denn wir werden wohl oder übel eine Zeit lang mit ihm auskommen müssen.«

Redgrave riss unbeabsichtigt ihre Augen auf, als hätte sie sich verhört.

»Spätestens im Dezember sind wir wieder in Irland.« Jack verzog ironisch den Mund. Mary Anne bemerkte jedoch, wie ihre Zofe aufgebracht schluckte.

»Seine Lordschaft hat heute Morgen den Schalk im Nacken«, versuchte Mary Anne sie zu beruhigen und dachte: Ich würde ihn umbringen, wenn es so käme. »Wir bleiben nur so lange, wie es unbedingt sein muss.«

Die Zofe lächelte gequält. »Nun, das ist erfreulich, Mylady. Und in Bezug auf Roberts sollten Sie warten und beobachten, wie es sich entwickelt, wenn ich Ihnen den Rat geben darf.« Sie lächelte, diesmal etwas entspannter. »Wann möchte Ihre Ladyschaft angekleidet werden? In einer halben Stunde vielleicht?«

»Ich habe es nicht eilig, aber ja«, sagte Mary Anne nach kurzer Überlegung, »das wäre reizend, danke.«

Die Zofe nickte. »Es wurden bereits Briefe für Ihre Ladyschaft abgegeben«, erinnerte sie sich beim Hinausgehen. »Soll ich sie unten auf den Sekretär legen?«

Mary Anne nickte knapp leicht gereizt und warf Jack einen erstaunten Blick zu. »Wer sollte mir schreiben? Ich kenne hier niemanden!«

»Ich vermute anhand der Kuverts, dass es Einladungen sind, Mylady.«

»Danke, Redgrave.« Mary Anne wies ihre Zofe mit einem Blick zur Tür; als sie das Zimmer verlassen hatte, wandte sie sich Jack zu.

»Jack, das arme Ding.« Sie unterdrückte ihren Impuls zu lächeln, um nicht unglaubwürdig zu erscheinen. »Du hast sie irritiert. Sie hat ein einfaches Gemüt.«

Jacks Brauen schnellten nach oben. »Das arme Ding ist über vierzig und eine Jungfer«, entgegnete er, stieg aus dem Bett und schwang sich geschickt in seinen Hausmantel, der mit einem wattierten moosgrünen Kragen ausgeschlagen war. »Und du hast ihr keinen guten Dienst erwiesen, Maisie, als du mir von ihrer Warze erzählt hast. Das wird mich verfolgen, jedes Mal, wenn ich sie sehe.«

Mary Anne hatte große Mühe, ein Lächeln zu unterdrücken, was heute Morgen ziemlich oft vorkam. Sie bemühte sich um mehr Ernsthaftigkeit, setzte sich zu Jack und beobachtete geduldig, wie er Kaffee in zwei Tassen goss.

»Weißt du, von wem die Einladungen sein könnten?«, fragte sie und trank einen großen Schluck, nachdem er ihr die Tasse gereicht hatte.

»Ich habe in den letzten Wochen Kontakte geknüpft. Sir John und ich haben dafür gesorgt, dass uns sämtliche Salons der Stadt offen stehen.« Er bestrich sich seinen Scone mit Butter und biss herzhaft hinein. »Du wirst einiges zu tun haben.«

»Ich muss zugeben, dass ich neugierig bin«, gestand Mary Anne offen. »Die Engländerinnen sollen ja viel reden, ohne wirklich etwas zu sagen.«

Jack warf ihr einen leicht vorwurfsvollen Blick von der Seite zu, während er sich über die Spiegeleier hermachte. »Du solltest das nicht auf die leichte Schulter nehmen.«

»Tue ich nicht«, versprach sie ihm und genoss ihr erstes gemeinsames Frühstück nach langer Zeit.

Mary Anne verbrachte den Nachmittag in einem eleganten Salon in der Nähe von South Kensington, wo sie das notwendige Übel einer Einladung zum Tee über sich ergehen ließ, in deren Verlauf zwei Damen eine Lobeshymne auf das Empire hielten. Während Mary Anne sich tapfer das Gähnen verkniff, nahm das Gespräch plötzlich eine andere Wendung. Es war nicht weniger trivial, aber es fiel ein Name, den Jack beim Frühstück im Zusammenhang mit vier weiteren Herren genannt hatte. Sein Plan sah vor, dass Mary Anne über diese Person so viel wie nur möglich herausbekommen sollte, scheinbar beiläufig bei einem Plausch.

»Die Gegend profitiert immer noch von der Weltausstellung von 51.

Es wurde hier enorm viel gebaut«, sagte eine der Damen und sah gespannt in die Runde. »Sie war das geistige Kind des Prinzgemahls Albert und ein immenser Erfolg. Das sagt auch Lord Berkley, obwohl ich gewöhnlich sehr wenig darauf gebe, was er sagt.« »Sein Name klingt wie Berkeley Square, wo wir zurzeit untergekommen sind«, erwähnte Mary Anne scherzhaft.

»Tja, das würde ihm gefallen, nur hätte das der Namensgeber, Baron Berkeley von Stratton, womöglich etwas anders gesehen.« Die Hausherrin reckte kurz ihr Kinn und fuhr unbeirrt fort: »Aber der Hyde Park ist nicht mehr das, was er einmal war.

Der Crystal Palace ist doch recht monströs.« Sie warf einen kritischen Blick aus dem Fenster in den weitläufigen Park, wo zwischen hundertjährigen Eichen und Wiesen das gläserne Konstrukt in der Sonne glänzte, das sie als Kind mit ihren ehrenwerten Eltern besucht hatte.

»Charles Fox ist aber etwas gelungen, wofür uns die Welt bewundert. Er war ein brillanter Architekt«, meinte eine Dame, die Mary Anne als Lady Howard vorgestellt worden war. »Nur wenn man selbst in einem Anwesen lebt, das beinahe so groß ist wie der Glaspalast, ist das keine Freude.«

»Und warum ist das so?«, fragte Mary Anne, die sich genötigt sah, sich an der Konversation zu beteiligen. Unterdessen kämpfte sie das Bedürfnis nieder, zur Haustür hinauszulaufen, in ihre Mietdroschke zu springen, auch wenn das mit dem Kleid nicht möglich war, nach Berkeley Square zurückzukehren und den Nachmittag mit Aengus und Jack zu verbringen. Ganz ruhig, sagte sie sich und lächelte gekonnt.

Lady Howard nippte an ihrem Tee während Mary Annes innerem Kampf.

»Es ist ein kalter Ort. Ich sterbe eines Tages an den Folgen des Durchzugs«, entgegnete sie ernsthaft, was ihre Aussage noch skurriler erschienen ließ als ihr Hut, der mit Seidenkirschen und Schleifen bestückt war. »Das ist auch der Grund, warum wir noch in der Stadt sind. Wir hätten schon im Juni auf dem Land sein müssen.«

»Wir sollten uns nicht ständig dem Diktat der Saison unterordnen«, befand eine Dame mit rollendem schottischen Akzent, die Mary Anne als Gräfin Gordon vorgestellt worden war.

Mary Anne bedachte sie kurz mit einem Blick und nickte zustimmend. »Und dafür beten, dass im Empire der heiße Tee nicht ausgeht.« Sie lächelte über den Tassenrand hinweg, um ihren Worten die Schärfe zu nehmen, die sich unbeabsichtigt in ihren Ton geschlichen hatte. Einige der Damen verzogen dennoch skeptisch die Brauen, andere fanden ihre Argumentation sogar logisch.

»Das sage ich unserem Butler ständig, wenn wir außerhalb der Saison auf dem Land sind«, stimmte Lady Howard ihr zu. »Ich sage nur eins: Vorrat!«

Die Runde nickte zustimmend, als wäre das Problem mit der Kälte in großen Räumen damit gelöst, Räume, die in den herrschaftlichen Gebäuden schon einmal das Ausmaß einer Tennishalle erreichen konnten.

»Ob Lord Berkley ebenso praktisch denkt, meine Damen?«, fragte Mary Anne mit gespielter Ironie und dem Hintergedanken, ihnen mehr Details zu entlocken: eine spitze Bemerkung über seinen zweifelhaften Charakter, seine gesellschaftlichen Fehlschläge oder seinen dunklen Vorlieben, die jeder viktorianische Mann als sein angestammtes Recht betrachtete; Laster, die sie vehement, ohne Skrupel und mit vielen Schlichen verteidigten. Lord Berkley war einer der fünf Herren, die sich zum Ziel gesetzt hatten, Jack zu diskreditieren, indem sie ihn als Lügner, als Dieb eines alten Titels und als Mörder brandmarkten. Die Handvoll Gentlemen waren treue Freunde von Lord McDonough, der für seine Englandtreue und die Denunzierung seiner irischen Landsleute alles tat. Es waren englische Lords, die ebenso korrupt und skrupellos waren wie der ganze McDonough-Clan, ausgenommen Lorcan Campbell, Jacks Cousin und seine ganze Hoffnung in der Sache.

»Lord Berkley ist eitel und sein Charakter mehr als fragwürdig«, befand Gräfin Gordon. »Er hat ein Bild von sich in Auftrag gegeben bei Robert Macbeth, Schotte wie ich und sehr talentiert. Ich erwähne nur seine Interpretation von Phyllis, einer wunderbaren Gestalt aus der griechischen Mythologie. Ein Gemälde, das ihm alle Aufmerksamkeit einbrachte. Mein Gatte meint, das Porträt des Lords soll beeindruckend sein, aber der Mund sei noch nicht stimmig. Er hat ja dieses kleine Problem, wie Sie alle wissen.«

Die Gräfin sprach einen körperlichen Makel an. Mary Anne vermutete, dass es sich um eine Lippen-Kiefer-Gaumenspalte handelte, die im Volksmund auch Hasenscharte genannt wurde.

»Wenn ich der Künstler wäre, würde ich es so belassen. Stumm ist Lord Berkley attraktiver.« Lady Ashburys Tonfall klang beiläufig, obwohl ihre Bemerkung messerscharf war. Ihr Name war Mary Anne schon auf ihrer schriftlichen Einladung ins Auge gestochen.

Ashbury war der Name eines Dorfes in einer bürgerlichen Gemeinde in der Grafschaft Berkshire. Ihr adeliger Name war alt und berühmt und wie so oft in England traditionell von ihrem Stammsitz abgeleitet.

Name und Akzent der Gräfin verrieten Mary Anne, dass diese aus Schottland stammte. Vielleicht könnte ich Gräfin Gordon als Verbündete gewinnen?, erwog Mary Anne und betrachtete ihr schönes Gesicht, das von kastanienbraunem Haar umrahmt war. Immerhin teilten die Schotten mit den Iren die Abneigung gegen jedwede Fremdbestimmung.

»Dann ist Ihnen allen der Lord bekannt?«, fragte Mary Anne taktisch und sah charmant lächelnd in die Runde wie ein Kind, das seine Umwelt nicht ganz verstand.

»Sein Ruf ist nicht der beste«, entgegnete Lady Ashbury. »Er schafft es aber, dass ihn jede ehrbare Familie in London empfängt.«

Sie trank einen Schluck von ihrem Tee, in dem eine Zitronenscheibe schwamm. »Er umkreist uns wie ein Fuchs seine Beute«, stöhnte sie kaum hörbar.

Lady Howard stellte ihre Tasse auf das Tischchen neben ihrem Sessel. Sie sah sich durch den Kommentar der Gastgeberin genötigt, deutlicher zu werden: »Spekulation an der Börse, Spielschulden in den Clubs – und leichte Frauen.« Sie beobachtete genau Mary Annes Reaktion. »Und das ist nur, was wir wissen; dass er mit ausländischen Mächten korrespondiert, war ihm bislang nicht nachzuweisen.«

Mary Anne riss ihre grünen Augen auf, um den Eindruck von Empörung zu erwecken, hielt aber dann den Kopf naiv geneigt, um noch mehr pikante Details zu erfahren. Ihre Rechnung ging auf.

»Als Schottin müsste mir sein Verhalten vertraut sein, so rau und verschlagen er gegen sämtliche Regeln verstößt«, bemerkte die Gräfin mit unterschwelliger Anerkennung. »Aber ein Spion, Lady Howard! Ihre Fantasie geht mit Ihnen durch. Ich habe allerdings gehört, dass er in letzter Zeit Kontakt zu Mitgliedern des königlichen Haushalts sucht. Mein Gatte sah ihn dazu noch mit einem hohen Richter Seiner Majestät im Athenaeum Club. Er soll recht verschwörerisch gewirkt haben. Er sagte mir, er habe den Namen von Lord McDonough gehört. War er nicht letzte Saison in London? Mit seiner bedauernswerten Frau?«

»Und seinen beiden missratenen Enkeln!«, fügte Lady Ashbury kühl hinzu. »Der ältere der beiden zeigte starkes Interesse an der Tochter des Herzogs von Bedford.«

»Wirklich!«, stieß Lady Howard aus und legte sich einen Zitronenbiskuit auf den Teller. »Der Mann verfolgt doch immer irgendeinen frivolen Plan.«

»Wem galt jetzt Ihre Bemerkung?«, fragte Gräfin Gordon irritiert. »Lord Berkley, der wieder in eine Verschwörung verwickelt ist, oder den durchschaubaren Absichten des älteren Enkels von McDonough?«

Die Gräfin erntete prompt einen pikierten Blick von Lady Howard, bevor sie fortfuhr. »Wir haben großes Glück, dass Lord McDonough nicht in der Stadt ist«, war dann auch ihre unterkühlte Antwort. »Aber eine Dame ist manchmal gezwungen zu schweigen.« Sie knabberte lustlos an ihrem Kuchen.

Mary Anne stellte fest, dass sie ihr ihr Wissen über den alten Herrn zu gerne kundgetan hätte. Sie wurde hellhörig. Innerlich scharrte sie wie ein ungeduldiges Fohlen mit den Hufen.

»Ich würde dem keine Beachtung schenken«, erwiderte Lady Ashbury, die das Interesse an dem Thema verlor. »Phrasen, dumme Thesen werden dort in einer Wolke aus Zigarrenqualm und Cognac-Duft diskutiert. Charles Darwin ist im Athenaeum Club Mitglied.« Sie zog eine rotblonde Braue hoch. »Ein Mann, der behauptet, dass wir von den Affen abstammen, also wirklich! Der Club gehört geschlossen!«

»Nun«, sagte Mary Anne leise und mehr zu sich selbst, »bei manch einem unserer Mitmenschen würde ich das sogar bestätigen.«

Lady Ashbury war über ihre Aussage zwar verwundert, sah aber schmunzelnd in die Runde.

»Gladstone ist dort auch des Öfteren gesehen worden«, überging Lady Howard Mary Annes Bemerkung. »Und wie bekannt ist, ist das nicht sein Umfeld, in dem er seine Politik propagiert.«

»Gladstone ist in sämtlichen Clubs der Stadt unterwegs«, warf Lady Ashbury ein. »Als Premierminister steht ihm jede Tür offen. Es ist für jeden Club ein Privileg, wenn er sich dort blicken lässt. So kurz und undurchsichtig wie er ist auch seine Politik. Die Königin weiß nicht, woran sie bei ihm ist; Irland zum Beispiel, da äußerte er sich doch recht schwammig.«

»Als Irin sollte ich das mit Zuversicht sehen«, warf Mary Anne bezaubernd lächelnd in die Runde. Es folgte eine bestürzte Stille, die von Gräfin Gordon mit einem anerkennenden Blick in Mary Annes Richtung geadelt wurde.

»Die Wahlen vom letzten Jahr, als die Konservativen verloren, führten dazu, dass Gladstone erneut Premier wurde. Er ist ein Taktiker«, erstickte die Gräfin den Einwand ihrer Gastgeberin. »Aber ich gebe Ihnen recht, obwohl er ein Gegner Beaconsfields war, setzte er seine Außenpolitik in Bezug auf das Empire fort.«

Lady Ashbury stimmte ihr nur zum Teil zu. »Ich glaube, dass Disraeli das Problem in der damaligen Regierung war, auch wenn er als Premier 1878 die Friedensfindung zwischen den Türken und Russland vorangetrieben hat.«

»So wie man auf dem Berliner Kongress Frieden schließen kann, kann man ihn in Indien und anderswo bekämpfen«, konterte die Gräfin souverän.

Mary Anne wusste nun, dass sie mit Gräfin Gordon mehr verband als mit den übrigen Damen. Was sie aber mehr beschäftigte, war die Tatsache, dass die kleine Runde politisch interessiert war, was schon allein für sich erstaunlich war, wie die Bemerkung von Lady Howard über Lord McDonough. Sie musste irgendwie wieder auf das Gespräch zurückkommen. Mary Anne zog für den Bruchteil einer Sekunde in Betracht, die Katze aus dem Sack zu lassen und Jacks familiäre Verknüpfung preiszugeben, was vermutlich nur zu weiteren Problemen mit Lord McDonough führen würde. Jack vermied es, seinem Großvater offen den Krieg zu erklären. Er war ein Taktiker und sah die Zeit dafür noch nicht gekommen. Niemand aus dem