Islam III -  - E-Book

Islam III E-Book

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Beschreibung

Islam today, with approximately 1.8 billion adherents, is a lively and fast-growing worldwide religious community. This third volume of the three-part presentation of Islam in the series ?Religions of the World= traces the religion=s historical development during the last 200 years and examines the issues of ?Islam and Modernity= and ?Islam in the Postcolonial Age=. These questions are linked to the current situation in Islamic regions and the Muslim diaspora, exploring the way in which Islam deals with the challenges of modernity; the search for the ?right path= (halal/haram); intercultural influences; the situation of non-Islamic minorities in the world of Islam; jihad, terror and martyrdom; and much more. An overview of topics in modern Islamic theology and philosophy, as well as interfaith dialogue, rounds off this lively account of the youngest of the world=s three monotheistic religions.

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Die Religionen der Menschheit

Begründet vonChristel Matthias Schröder

Fortgeführt und herausgegeben vonPeter Antes, Manfred Hutter, Jörg Rüpke und Bettina Schmidt

Band 25,3

Peter Antes (Hrsg.)

Islam III

Vom 19. Jahrhundert bis heute

W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

1. Auflage 2022

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Abbildungshinweis: Kaaba während des Hadsch. Quelle: www.pixabay.com

Print:

ISBN 978-3-17-034026-8

E-Book-Formate:

pdf: ISBN 978-3-17-034027-5

epub: ISBN 978-3-17-034028-2

Für den Inhalt abgedruckter oder verlinkter Websites ist ausschließlich der jeweilige Betreiber verantwortlich. Die W. Kohlhammer GmbH hat keinen Einfluss auf die verknüpften Seiten und übernimmt hierfür keinerlei Haftung.

Der Islam ist heute mit ca. 1,8 Milliarden Gläubigen eine lebendige schnell wachsende weltweite Glaubensgemeinschaft. Der dritte Band der dreiteiligen Darstellung des Islam in der Reihe ›Die Religionen der Menschheit‹ zeichnet die historische Entwicklung der letzten 200 Jahre nach und nimmt die Fragen ›Islam und Moderne‹ und ›Islam in der postkolonialen Zeit‹ in den Blick.

Diese werden mit der gegenwärtigen Situation in islamisch geprägten Regionen und der muslimischen Diaspora verknüpft: der Umgang des Islam mit den Herausforderungen der Moderne; die Suche nach dem ›rechten Weg‹ (halal/haram); interkulturelle Einflüsse; die Situation nichtislamischer Minderheiten in der Welt des Islam; Djihad, Terror und Märtyrertum; u.v.m.

Ein Überblick über Themen der modernen islamischen Theologie und Philosophie sowie des Interreligiösen Dialogs komplettieren diese lebendige Darstellung der jüngsten der drei monotheistischen Weltreligionen.

Prof. em. Dr. Dr. Peter Antes lehrte Religionswissenschaft an der Leibniz Universität Hannover.

Inhalt

Einleitung

Peter Antes

1  Drei Schwerpunkte

Der erste Schwerpunkt behandelt regionale Darstellungen:

Der zweite Schwerpunkt ist Theologie, Philosophie, Recht und Kultur gewidmet.

Der dritte Schwerpunkt behandelt moderne Herausforderungen und Bedrohungen:

2  Richtungsvielfalt in der innerislamischen Diskussion

3  Die Wahrnehmung des Islam in der nichtislamischen Welt und Öffentlichkeit

Umschrift, Bibliographie und Dank

I  Regionale Darstellungen

Europa und der Orient

Lutz Berger

1  Einleitung

2  Der Vordere Orient von 1800 bis 1870

3  Die Hochphase des Imperialismus von ca. 1870 bis ca. 1925

4  Die Zeit des Nationalismus von ca. 1925 bis 1970

5  Nach 1967: Klientelismus und Islamismus

Literatur zum Weiterlesen

Zu einzelnen Reichen und Regionen:

Muslime in Afrika südlich der Sahara: Mehrheitsgesellschaften und Minderheiten

Roman Loimeier

1  Einleitung

2  Der historische Kontext

3  Die -Bewegungen des 18. und 19. Jahrhunderts

4  Das Erbe der Kolonialzeit

5  Die Bedeutung des lokalen Kontexts für religiöse Konflikte

6  Muslimische Reformbewegungen der Gegenwart

7  Schluss

Literatur zum Weiterlesen

Islam in Südasien: Zwischen Kalifatsbewegung und religiöser Gewalt (ca. 1920–2018)

Jamal Malik

1  Einleitung

2  Nationalistische Forderungen und die Kalifatsbewegung

3  Gespaltene islamische Öffentlichkeit

4  Muslim Liga und politische Unabhängigkeit

5  Das Problem der nationalen Integration Pakistans und die Geburt Bangladeschs

Islamischer Staat oder Staat für Muslime?

Gescheiterte nationale Integration

Sezession und die Geburt Bangladeshs

6  Islamisierung in Pakistan und ihre Folgen

7  Muslimische Inder oder indische Muslime?

8  Ausblick

Literatur zum Weiterlesen

Islam in Indonesien

Fritz Schulze

1  Ethische Politik und die Entstehung moderner islamischer Strömungen

2  Japanische Übergangszeit und Unabhängigkeitskampf

3  Indonesien unter Soekarno (bis 1965)

4  Die Zeit der Suharto-Diktatur (1966–1998)

5  Die 90er Jahre und Suhartos Sturz

6  Die Reformära

Literatur zum Weiterlesen

Islam in der Diaspora

Albrecht Fuess

1  Eine islamische Diaspora?

2  Islam im Westen

3  Islam in Nordamerika

USA

Kanada

4  Islam in Lateinamerika

Argentinien

Brasilien

Surinam

5  Islam in Australien und Neuseeland

Australien

Neuseeland

6  Islam in Europa

Großbritannien

Frankreich

Deutschland

Weitere Länder der europäischen Union

Skandinavien und die Niederlande

Österreich

Spanien

Italien

Griechenland

7  Ausblick

Literatur zum Weiterlesen

Nichtislamische Religionen in der Welt des Islam

Manfred Hutter

1  Einige Eckpunkte zum Umgang des Islam mit anderen Religionen

2  Nationalismus und Umgang mit nichtmuslimischen Religionen

3  Arabische Republik Ägypten

4  Republik Irak

5  Islamische Republik Iran

6  Libanesische Republik

7  Resümee

Literatur zum Weiterlesen

II  Theologie, Philosophie, Recht und Kultur

Islamische Theologie heute: Orte, Gesichter und Tendenzen

Ömer Özsoy

1  Einleitung

2  Ursprünge dessen, was sich islamische Theologie nennt

3  Traditionelle Orte, Gesichter und Tendenzen der islamischen Theologie

4  Islamische Theologie(n) nach dem Traditionsbruch: Spannungsfeld zwischen Erbe und Moderne

5  Neuausrichtung der islamischen Theologie in der Türkei

6  Wiederbelebung der Islamischen Theologie in ex-sowjetischen und ex-jugoslawischen Ländern

7  Neugeburt der Islamischen Theologie in Westeuropa und Deutschland

Literatur zum Weiterlesen

Muhammad als Vorbild Entwicklungen seit dem 19. Jahrhundert und Typen der

Cüneyd Yıldırım

1  Einleitung: Die Erforschung der Bedeutung Muhammads im Islam

2  Muhammad als Vorbild

Die Quellen des Muhammad’schen Vorbildes: Hadith, und ʾ

Entwicklungen seit dem 19. Jahrhundert

Typen der imitatio Muhammadi

3  Schluss

Literatur zum Weiterlesen

Innerislamische und aus islamischen Kontexten hervorgegangene religiöse Minderheiten

Robert Langer

1  Zur Problematik innerislamischer Diversität

2  Versuche der religionshistorischen Systematisierung

Gemeinsamkeiten des »Ritual Idiom of the Middle East«

»Pseudo-islamische Sektengebilde«

»Extreme Schiiten«

»Spiritual Elite Communities«

3  Religionsgeschichtliche Debatten um vorislamische Wurzeln

Gnosis

Kontinuität iranischer Religion

Zentralasiatische Himmelsreligion und turko-mongolisches Schamanentum

4  Arabischsprachige Gruppen

Nuṣairī / ʿAlawīyūn

Drusen

5  Gruppen aus iranisch/türkischen Kontexten

Aleviten

Schabak

Kākāʾī

Ahl-e Ḥaqq / Yāresān

Babismus und Bahaitum

Aḥmadiyya

6  Religionshistorische Zusammenfassung

7  Terminologische Überlegungen

Literatur zum Weiterlesen

Themen und Orte nahöstlicher Philosophie (19.–20. Jahrhundert)

Anke von Kügelgen

1  Einleitung

2  Gemeinsamkeiten der nahöstlichen Philosophie

3  Hervorstechende Entwicklungsmerkmale der nahöstlichen Philosophie

Vereinzelte einschneidende Begegnungen mit europäischer Philosophie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts

Vermehrte Auseinandersetzung mit zeitgenössischen europäischen Philosophien, 1850er bis 1920er/1930er Jahre

Akademisierung – Institutionalisierung der Philosophie an Universitäten

Philosophie im Dienste eines neuen oder neuzuschaffenden Kollektivs

Selbst- und Vernunftkritik – Revisionen und neue Konzepte

4  Ausblicke

Literatur zum Weiterlesen

Themen und Orte des islamischen Rechts im 20./21. Jahrhundert

Hakki Arslan

1  Einleitung

2  Das 20. und 21. Jahrhundert in der Historiographie des islamischen Rechts

3  Die Transformation des islamischen Rechts in der Moderne: Probleme

Die Verrechtlichung der Scharia und die

Die Marginalisierung der Scharia und der Gelehrten

4  Merkmale des islamischen Rechts im 20. und 21. Jahrhundert

Methoden der Erneuerung des islamischen Rechts

Die Überwindung der Rechtsschulen und die Rechtsvergleichung ()

Der kollektive Idschtihad und die Entstehung von Fatwa-Gremien

Fatwa-Räte für Muslime in nichtmuslimischen Ländern

Fatwas und Covid-19

5  Zeitgenössische Richtungen in der islamischen Welt

6  Schluss

Literatur zum Weiterlesen

Kulturgeschichte muslimischer Gesellschaften im 19. und 20. Jahrhundert

Peter Heine

1  Musik in islamischen Gesellschaften

Osmanisches Reich und Türkische Republik

Beispiele aus der arabischen Welt

Iran

2  Bildende Kunst

Moderne Kalligraphie

Malerei in arabischen Staaten

Frauen in der Kunst arabischer Staaten

Malerei im Osmanisches Reich und in der Türkei

Malerei im Iran

Malerei in Pakistan

3  Sport in islamischen Gesellschaften

Traditionelle Sportarten in der Moderne

Zûr Khâneh und Pahlavân im Iran

Öl-Ringen in der Türkei

Andere traditionelle Sportformen

Reiterspiele

Bogenschießen

Kamel- und Pferderennen

4  Fazit

Literatur zum Weiterlesen

III  Moderne Herausforderungen

Das Verhältnis von Staat und Religion und Recht in der Moderne: Demokratie und Menschenrechte, Geschlechtergleichheit, und Religionsfreiheit

Irene Schneider

1  Einleitung

2  Die Zeit des Kolonialismus: »Wir« sind besser als »sie«

3  Die Konstituierung moderner Nationalstaaten

4  Der Islam als Lösung? Re-Islamisierung, die iranische Revolution und die Neo-Salafīya

5  Internationales Recht und Menschenrechte

6  Wo bleibt die Demokratie? Der »Arabische Frühling« und seine Nachwirkung

7  Fazit

Literatur zum Weiterlesen

Dschihad, Terror, Märtyrertum

Rüdiger Lohlker

1  Zur Theologie des Dschihadismus

2  Zur Geschichte des Dschihadismus

3  Dschihad neu gedacht

Dschihadismus Online

Militärische Aspekte

Märtyrertum und Blutzeugentum

Frauen und Dschihadismus

4  Konzeptuelle Erwägungen

Literatur zum Weiterlesen

Technik und Wissenschaft als Herausforderung für den Islam am Beispiel der modernen Medizin

Ilhan Ilkilic

1  Einführung

2  Diskussionen über die modernen Naturwissenschaften, Technik und Biomedizin

Prowissenschaftlich konsequentialistische Ansätze

Bedeutung der prowissenschaftlich konsequentialistischen Ansätze für die Biomedizin

Wissenschaftskritisch epistemologisch-metaphysische Ansätze

Bedeutung der wissenschaftskritisch epistemologisch-metaphysischen Ansätze für die Biomedizin

3  Diskussionen um die Wissensproduktion und den Wissenstransfer

Wissensproduktion

Wissenstransfer

4  Fazit

Literatur zum Weiterlesen

Grundprobleme des Islam heute im internationalen und interkulturellen Vergleich

Reinhard Schulze

1  Der Islam in der Moderne

Konfessionalisierung

Gesellschaft und Religion im Hegemoniekonflikt

Öffentlichkeit als sozialer Ort des Islam

2  Der Islam im Anbruch der Postmoderne

Transnationalismus

Islamität als Begriff der Ordnung

Der soziale Ort der islamischen Öffentlichkeit

Die Krise der Mittelklasse

Fissuren in der islamischen Moderne

Folgen der Fissuren in der Moderne

Literatur zum Weiterlesen

Interreligiöser Dialog

Erdal Toprakyaran

1  Einleitung

2  Der interreligiöse Dialog – ausgewählte Beispiele

3  Sufis im interreligiösen Dialog – ausgewählte Beispiele

Sufismus und Liebe

Die Nähe, Erfahrbarkeit, Immanenz und Einheit Gottes

Das Licht Muhammads

4  Der interreligiöse Dialog an Universitäten – ausgewählte Beispiele

5  Abschließende Reflexion und Kritik

Literatur zum Weiterlesen

Schlusswort zu Islam I – III

Diversität

Vitalität

Index

1  Personen

2  Stichworte

Einleitung

Peter Antes

Die Moderne, der dieser dritte Band gewidmet ist, hat tiefgreifende Veränderungen mit sich gebracht und dies nicht nur in Europa und Nordamerika, sondern weltweit. Symbolisch lässt man sie mit Blick auf die islamische Welt 1798 mit der Expedition Napoleons nach Ägypten beginnen, zutreffender ist jedoch die einsetzende Ausbreitung des europäischen Einflusses im 19. Jahrhundert.

Wie grundlegend die Veränderungen waren, zeigt ein Beispiel aus der Technik. Während Napoleons Feldzug nach Italien mit der gleichen Geschwindigkeit in Pferdestärke wie der Cäsars von Italien nach Gallien vonstatten ging, ändert die Einführung der Dampflok die Fortbewegungsgeschwindigkeit so grundlegend, dass Ärzte sogar als Reaktion auf die erste Fahrt 1835 von Fürth nach Nürnberg meinten, der menschliche Körper sei für einen derart raschen Ortswechsel von ca. 60 km/h nicht geschaffen. Wie wir heute wissen, hält der menschliche Körper weit höhere Geschwindigkeiten problemlos aus: Züge fahren mit über 300 km/h, Flugzeuge erreichen noch größere Geschwindigkeiten, ganz zu schweigen von den Trägerraketen der Weltraumfahrt.

Die Modernisierung erfasste alle Bereiche des menschlichen Lebens: von der Fortbewegung in der Technik, über die Naturwissenschaften und die Medizin bis in den sozialen Bereich. Auch die Religion bekam diese Veränderungen zu spüren und musste darauf reagieren. Wer weltweit mithalten wollte, hatte sich – so die allgemeine Überzeugung – auf diesen Weg zu begeben. In Europa war man daher davon überzeugt, dass alle auf der Welt, wollten sie nicht zurückbleiben, irgendwie vom europäischen Zentrum abhängig wären und seinem Beispiel zu folgen hätten. Dass diese Modernisierungen jedoch nicht überall gleich verliefen, sondern es – wie N. S. Eisenstadt sagt – zu multiple modernities gekommen ist, hat sich als Erkenntnis in der europäisch-nordamerikanischen Wissenschaft erst langsam durchgesetzt. Lutz Berger schreibt darüber in seinem Beitrag in diesem Band: »Für Eisenstadt ist die Vielfältigkeit der Moderne insbesondere ein Ergebnis des Fortlebens lokaler kultureller Traditionen, die in unterschiedlicher Weise in das ursprünglich europäische Projekt der Moderne eingebaut wurden. Die Entstehung vielfältiger Modernen ist aber genauso ein Produkt des eben erwähnten Umstandes, dass Modernen außerhalb von Westeuropa und Nordamerika exogen und im Regelfall nachholend entwickelt wurden. Zudem liefen Prozesse der Modernisierung, die in Westeuropa ineinandergriffen, in der muslimischen Welt unabhängig voneinander und zeitversetzt ab.«

Dies zu dokumentieren und in seiner Vielgestaltigkeit zu zeigen, also den weltweiten Modernisierungswillen und seine lokalen Umsetzungen gleichermaßen im Blick zu haben, ist das Anliegen dieses dritten Bandes. In Form von drei Schwerpunkten wird dies hier thematisiert. Auf ihre Darstellung anhand entsprechender Unterkapitel folgt ein kurzer Blick auf die Richtungsvielfalt in der innerislamischen Diskussion sowie auf die Wahrnehmung des Islam in der nichtislamischen Welt und Öffentlichkeit. Ein Hinweis zur Umschrift und Bibliographie sowie ein Dank schließen diese Einleitung ab.

1  Drei Schwerpunkte

Der erste Schwerpunkt behandelt regionale Darstellungen:

Lutz Berger konzentriert sich in seinem Beitrag: »Europa und der Orient« vornehmlich auf den türkisch-persisch-arabischen Raum. Er behandelt die Thematik in Anlehnung an S. N. Eisenstadts multiple modernities so, dass er die für die Region jeweils eigenen Entwicklungen aufzeigt, also Verstädterung ohne damit einhergehende Industrialisierung, sozialer Wandel durch Rückgang der Kindersterblichkeit, Modernisierung ohne Säkularisierung u. a.m. Er unterteilt die letzten 200 Jahre in vier Abschnitte, die für die Entwicklung typisch sind: der Vordere Orient von 1800–1870; die Hochphase des Imperialismus von ca. 1870 bis ca. 1925; die Zeit des Nationalismus von ca. 1925 bis 1970; nach 1967: Klientilismus und Islamismus. Ganz zum Schluss wird der Blick ausgeweitet: auf Afrika südlich der Sahara sowie auf Zentral-, Süd- und Südostasien bis hin nach Malaysia und Indonesien, wo ähnliche Entwicklungen stattgefunden haben, ohne dass alles einfach mit dem vorher Besprochenen gleichgesetzt werden kann und darf.

Roman Loimeier behandelt den »Islam in Afrika südlich der Sahara – als Mehrheitsgesellschaft wie als Minderheit«. Er zeigt an konkreten Beispielen sehr anschaulich, wie regionale und transregionale Einflüsse zu unterschiedlichen Auseinandersetzungen unter Muslimen sowie zwischen dem Islam und anderen Religionen im Lande oder auch als Antwort der Religion auf die kolonialen und postkolonialen Nationalstaaten geführt haben.

Jamal Malik führt in seinem Beitrag: »Islam in Südasien: Zwischen Kalifatsbewegung und religiöser Gewalt (ca. 1920–2018)« seine historische Abhandlung aus Band 2 zum indischen Subkontinent fort, konzentriert sich nun auf Pakistan und zeigt, wie aus einem ursprünglich für Muslime konzipierten Land ein islamischer Staat geworden ist. Zudem kommt er auch auf die anders gelagerten Umsetzungen islamischer Identität in Bangladesh und Indien zu sprechen, sodass insgesamt ein recht facettenreiches Bild des Islam in dieser Weltregion entsteht, das sich nicht auf einen einheitlichen Nenner bringen lässt.

Fritz Schulze erweitert mit seinem Beitrag: »Islam in Südostasien« das Spektrum eines keineswegs homogenen Islam mit Blick auf Indonesien. Er zeigt, wie konservative Kreise, teils sogar terroristische Gruppen, einen islamischen Staat dort errichten wollten und als dies misslang, sich auf die Schariatisierung der Gesellschaft verlegten, aber am Widerstand liberaler Auslegungen des Islam gescheitert sind. Dennoch sind die Auseinandersetzungen, welcher Islam letztendlich die Richtung vorgeben wird, noch voll im Gange und verunmöglichen vorherzusagen, welchen Weg Indonesien zukünftig wählen wird.

Albrecht Fuess rundet das facettenreiche Bild des Islam in der Gegenwart mit seinem Beitrag: »Islam in der Diaspora« ab. Je nach Weltgegend (Nord- und Südamerika, Australien und Neuseeland, Europa) stehen die Muslime vor sehr unterschiedlichen Problemen und Herausforderungen, die zu recht unterschiedlichen Antworten in den einzelnen Ländern führen. Dadurch wird die Palette islamischer Existenzformen noch vielfältiger, als es die Beiträge zu Ländern mit islamischen Bevölkerungsmehrheiten erwarten ließen, ohne dass damit die ganze Breite der Möglichkeiten vollständig abgedeckt wäre. Diesbezüglich genügt es, nur an die verschiedenen »Islame« in Russland und den Nachfolgestaaten der Sowjetunion zu erinnern, um weitere Ausdrucksformen von Muslim-Sein ins Gespräch zu bringen.

Manfred Hutter behandelt die Religionen, die nicht aus dem Islam hervorgegangen sind. Da das Thema für die Welt des Islam jeden hier gesetzten Rahmen sprengen würde, geht er exemplarisch vor. Er spricht über Ägypten, den Irak, den Iran und den Libanon. Die von ihm erwähnten Religionen sind das Judentum, die verschiedenen regionalen wie überregionalen christlichen Kirchen und Religionsgemeinschaften sowie vornehmlich nur lokal relevante Religionsgemeinschaften wie die der Yeziden, Mandäer und Zoroastrier. Es wird deutlich, dass es einerseits eine durch den Islam vorgegebene Art des Umganges mit Angehörigen anderer Religionen gibt, dass aber dieser in den einzelnen Nationalstaaten – weit über den vorderorientalischen Rahmen hinaus – durch lokale wie überregionale andere Gesichtspunkte verändert und geprägt wird, sodass die Realität weit vielgestaltiger ist als die diesbezügliche Theorie.

Der zweite Schwerpunkt ist Theologie, Philosophie, Recht und Kultur gewidmet.

In »Islamische Theologie heute: Orte, Gesichter und Tendenzen« zeichnet Ömer Özsoy zunächst die Entstehung der islamischen Theologie und ihrer Disziplinen nach. Danach bietet er einen weit gespannten Überblick an ausgewählten Beispielen zum Spannungsfeld zwischen Erbe und Moderne über aktuelle Orte islamischer Theologie und ihrer jeweiligen gesellschaftlichen Eingebundenheit, vor allem im indisch-pakistanischen Kontext, in der Arabischen Welt, in der Türkei, in ex-sowjetischen und ex-jugoslawischen Ländern sowie in Westeuropa und Deutschland.

In dem Beitrag »Muhammad als Vorbild. Entwicklungen seit dem 19. Jahrhundert und Typen der imitatio Muhammadi« zeigt Cüneyd Yildirim, dass trotz aller Kritik an traditionellen Ausprägungen des Islam und an einer starken Konzentration auf den Koran Muhammad noch immer für die meisten Muslime Vorbildfunktion hat. Allerdings sind die Typen der imitatio Muhammadi recht unterschiedlich. Sie reichen von der Nachahmung des Propheten im praktischen Vollzug der religiösen Pflichten über die peinlich genaue Beachtung aller Details in Alltagssituationen bis hin zu mystischen Formen im Wunsch, mit dem Wesen des Propheten eins zu werden, oder ihn als Leitbild für politisches Handeln zu sehen, sei es als Kämpfer wie ʿAbd al-Wahhāb gegen jede Form »fehlgeleiteter Frömmigkeit« oder wie Tariq Ramadan als ethisches Vorbild im Einsatz für einen menschenfreundlichen Umgang mit allen Menschen, für Gewaltlosigkeit, Demokratie und den interreligiösen Dialog.

Robert Langers Beitrag: »Innerislamische und Islam bezogene religiöse Minderheiten« verweist auf die sehr breit gefächerte Vielfältigkeit und Heterogenität, insbesondere hinsichtlich nicht-Scharia-orientierter Gemeinschaften einerseits und anderer »non-konformistischer« Religionstraditionen in mehrheitsislamischen Kontexten. Sie sind dort entstanden und konnten sich unter dem Dach des Islam eigen- wenn auch nur randständig entwickeln. Dies gilt für arabischsprachige Gruppen wie die Alawiten (Nusairī/ʿAlawīyūn) oder die Drusen ebenso wie für die Gruppen aus iranisch-türkischen Kontexten wie die Aleviten, Schabak, die Kākāʿi oder die Ahl-e Ḥaqq (Yāresān). Je nach Interesse und Vorkenntnissen der sie untersuchenden wissenschaftlichen Disziplinen werden sie – wie der Beitrag zeigt – unterschiedlicher religiöser bzw. weltanschaulicher Herkunft zugeordnet. Erst im 19. Jahrhundert ist es zur Bildung von sich unabhängig vom islamischen Kontext entwickelnden, aus dem Islam hervorgegangenen Religionsgemeinschaften wie dem Babismus und der Bahai-Religion sowie zur sich selbst als islamisch verstehenden, vom Mainstream des Islam aber als islamisch abgelehnten Aḥmadiyya gekommen.

»Themen und Orte nahöstlicher Philosophie (19.-20. Jahrhundert)« von Anke v. Kügelgen zeigt, wie in zunehmendem Maße die Philosophie im Nahen Osten und Nordafrika an Bedeutung gewinnt und sich viele – u. a. angeregt durch ihre Studien in Europa – damit auseinandersetzen und teilweise sehr eigene Wege gehen. Diese Denkansätze sind bislang im Westen noch wenig zur Kenntnis genommen worden und verdienen eine stärkere Rezeption und Auseinandersetzung damit.

»Themen und Orte des islamischen Rechts im 20./21. Jahrhundert« von Hakki Arslan geht davon aus, dass die Auseinandersetzung des Islam mit der Moderne, vor allem mit dem Kolonialismus und der neuen Realität von Nationalstaaten, sowie die Einführung westlichen Rechts und die Kodifikation des islamischen Rechts nach europäischen Vorbildern in den meisten Staaten mit islamischer Bevölkerungsmehrheit die Scharia und die islamischen Gelehrten marginalisiert haben. Die Kodifizierung hat bewirkt, dass das islamische Recht als etwas Fixes wahrgenommen wurde, was zu einer Erstarrung und Konservierung des zuvor durchaus dynamischen Rechtsstoffes geführt hat. Es kam zu einer dynamischen Auslegung der traditionellen Rechtsquellen jenseits der Rechtsschulen. Zudem machte infolge des Buchdrucks die Veröffentlichung bislang unbekannter Texte aus der Vergangenheit neue Interpretationsansätze bekannt. Der Iğtihād wurde neu belebt, die Folge waren innerislamische Rechtsvergleiche, ein kollektiver Iğtihād und die Entstehung von Fatwa-Gremien mit hoher Fachkompetenz sowie unterschiedliche Schwerpunkte für die Länder, wo die Muslime in der Minderheit sind, und die, wo sie die Mehrheit der Bevölkerung bilden. Es kam zu einer Fülle von Ansätzen wie Traditionalismus, Reformismus, Modernismus, Islamismus, Salafismus oder Liberalismus, die miteinander in Konkurrenz stehen. Abgesehen von radikalen und extremistischen Positionen sind dabei zwei Kriterien von besonderer Bedeutung, die es miteinander zu vereinbaren gilt: die Islamizität, also die Betonung des spezifisch Islamischen, bei gleichzeitiger Beachtung der Praktikabilität, d. h. der konkreten Umsetzbarkeit der Prinzipien.

Peter Heines Beitrag: »Kulturgeschichte muslimischer Gesellschaften im 19. und 20. Jahrhundert« behandelt Musik, Bildende Kunst (Kalligraphie und Malerei, einschließlich der Thematik Frauen als Kunstschaffende) und Sport. Er vermittelt dadurch ein Bild gelebter Wirklichkeit, das mit dem oft in der deutschen Islamdebatte vermittelten Eindruck einer ausschließlich am Koran und der Glaubenslehre orientierten Lebensweise wenig gemeinsam hat.

Der dritte Schwerpunkt behandelt moderne Herausforderungen und Bedrohungen:

Irene Schneider hat »das Verhältnis von Staat und Religion und Recht in der Moderne: Demokratie und Menschenrechte, Geschlechtergleichheit, und Religionsfreiheit« als Thema. Bereits der Titel nennt alle »heißen Eisen«, die in der deutschen Öffentlichkeit – vor allem in rechtspopulistischen Kreisen – die Diskussion bestimmen. Die Ausführungen des Beitrages zeigen, dass der Streit um die richtige Auslegung nicht nur ein Streit zwischen westlichen Forderungen und dem Islam ist, sondern die Debatten unter Muslimen in gleicher Weise bestimmt, sodass eine innerislamische Meinungs- und Deutungsvielfalt zutage tritt, die jede Vorstellung vom Islam als einem homogenen Block Lügen straft.

Dschihad, Terror, Märtyrertum sind Schlüsselbegriffe, die Rüdiger Lohlker behandelt. Er kommt zu dem Schluss: »Eine zielführende Analyse des Phänomens Dschihadismus darf zwar nicht den islamischen Aspekt des Phänomens vernachlässigen, kann aber nicht umhin, den Dschihadismus in all seiner Vielfalt als Teil einer globalen Ökonomie männlich geprägter Gewalt zu verstehen, die weit über den dschihadistischen Kontext hinausreicht. Charakteristika sind der Missbrauch und die Vernutzung von Körpern, sei es im Sinne des Menschenhandels, des Entführungsgewerbes, der Prostitution und Versklavung, des Mordes und der Verstümmelung, der Plünderung von Gesellschaften, des Schmuggels von vielerlei Gütern, eingebettet in die Interessen von Staatsapparaten und häufig in Verbindung mit kriminellen Unternehmungen, einer wahrhaft ›schwarzen‹ Ökonomie (mit allerdings fließenden Grenzen). In dieser Einbettung zeigt sich die erschreckende Modernität des Dschihadismus.«

Ilhan Ilkiliç: »Technik und Wissenschaft als Herausforderung an den Islam am Beispiel der modernen Medizin« verweist darauf, dass der Islam in seiner klassischen Periode für naturwissenschaftliche Erkenntnisse und entsprechende Technologien stets sehr offen gewesen ist. Religion und Wissenschaft wurden als Einheit begriffen. Dementsprechend vertritt auch heute die große Mehrheit der Theologen. der Fatwas und der staatlichen Regulierungen einen prowissenschaftlich-konsequentialistischen Ansatz, der naturwissenschaftliche Forschung und Technik positiv bewertet, während akademisch-intellektuelle Kreise eher wissenschaftskritisch eingestellt sind und betonen, dass die westliche Wissenschaft nicht losgelöst von ihrem weltanschaulich säkularen Kontext gesehen werden darf und folglich aus islamischer Sicht kritisch geprüft und bewertet werden müsse. Allerdings ist der Einfluss dieser zuletzt genannten Position sehr begrenzt. Etwas anderes ist dagegen der Umgang mit der Wissensproduktion und dem Wissenstransfer. Am Beispiel der Medizin wird gezeigt, welche theologischen und ethischen Probleme sich aus der Embryonen verbrauchenden Stammzellenforschung und aus der Intensivmedizin am Lebensende hinsichtlich der Bestimmung des Eintrittes des Todes ergeben und wie die Reaktionen darauf unter Naturwissenschaftlern, Ärzten und Theologen sind.

Reinhard Schulze: »Grundprobleme des Islam heute im internationalen und interkulturellen Vergleich« weist darauf hin, dass durch die Entstehung der Nationalstaaten dem Islam eine völlig neue Rolle zukam. Er musste sich als Sozialform neu begründen und wie jede andere Religion in die neue nationalstaatliche Ordnung einfügen. Diese weitgehende Vergesellschaftung von Religion führte in den einzelnen Ländern zu recht unterschiedlichen Modellen und zu einer Konfessionalisierung des Islam, wie sie vorher so nicht existiert hatte. Erstmals setzte sich eine umfassende soziale Trennung aller Lebensbereiche nach sunnitischer und schiitischer Identität durch. Die Konfessionen begannen vor allem ab dem 19. Jahrhundert die sozialen Lebenswelten der Muslime entscheidend zu prägen. Sie bewirkten nach dem Prinzip »belonging without believing« eine Homogenisierung der islamischen Öffentlichkeiten, für die als Trägerschichten die Mittelschichten nicht stark genug waren, um prägend zu sein. Anders als in West- und Nordeuropa, wo eine Entflechtung der Konfessionen von den sozialen Milieus stattgefunden hat, kam es ab den 1970er Jahren in der islamischen Welt zu einer schleichenden, sich immer mehr verstärkenden Islamisierung. Die Gründe dafür sind vielfältig und ergeben mit Blick auf die Zukunft unterschiedliche mögliche Szenarien. Die Palette reicht von ultraislamistischen Vorstellungen über liberale bis zu säkularen. Was letztlich sich dominant durchsetzen wird, ist nicht mit Sicherheit vorhersehbar, zumal die Wahl des Weges nicht nur von religiösen Autoritäten abhängt, weil zunehmend die Bildungseliten in die Diskussion eingreifen und die öffentliche Diskussion beeinflussen.

Erdal Toprakyaran: »Interreligiöser Dialog« zeigt die vielfältigen Versuche in Europa, zu einem Dialog zwischen Christen und Muslimen zu kommen. Der Beitrag verschweigt aber auch nicht die kritischen Einwände und Befürchtungen vieler Muslime gegenüber dem interreligiösen Dialog. Es fällt auf, dass die Länder mit islamischen Bevölkerungsmehrheiten weit weniger Anstrengungen in diese Richtung bislang unternommen haben, sei es, weil ihnen eine multireligiöse Vielfalt seit Jahrhunderten im Nebeneinander mehr vertraut ist als den Europäern oder weil ihnen das Miteinander bzw. Auf-einander-Zugehen in ihren traditionellen Milieus noch kein Anliegen ist.

Es fällt sicher auf, dass einige Bereiche nicht durch eigene Kapitel vertreten sind. So fehlt im Beitrag von Peter Heine ein Abschnitt zur Architektur. Darauf wurde verzichtet, weil die Architektur sich seit der klassischen Zeit großer Beliebtheit erfreut und in der Moderne nicht umstritten war. Des weiteren fehlt ein Kapitel zur Mystik, weil sie mehrfach in den Beiträgen angesprochen wird, so dass sie nicht eigens thematisiert zu werden braucht.

2  Richtungsvielfalt in der innerislamischen Diskussion

Die einzelnen Thematiken der drei Schwerpunkte haben gezeigt, wie vielgestaltig der Islam ist. Neben traditionellen Unterschieden zwischen den sunnitischen Rechtsschulen und den zur Schia zählenden Traditionen gibt es regional wie international eine Fülle anderer Auslegungsrichtungen, die zum Erscheinungsbild des Islam in der Moderne gehören. Jede Vorstellung vom Islam als homogenem Block muss daher aufgegeben werden. Es ist an der Zeit, die klassischen Stereotypen vom Islam als einer reformunfähigen, frauenfeindlichen und durch Autoritäten im Ausland gesteuerten Religion ad acta zu legen und stattdessen die vielfältigen Prozesse der Erneuerung in der innerislamischen Diskussion zur Kenntnis zu nehmen. Das soll nicht heißen, dass es die reformunwilligen Muslime oder die, die mit Gewalt für die Einführung der Scharia eintreten, nicht gäbe, aber sie sind bei weitem nicht repräsentativ für alle Muslime, deren Palette von den Extremisten über die Traditionalisten und Fundamentalisten bis zu den Reformfreudigen und Liberalen, den Kulturmuslimen und sogar in Deutschland bis zu den Ex-Muslimen reicht. Die öffentliche Debatte über den Islam in Westeuropa nimmt dagegen nur die konservativsten und aggressivsten unter ihnen zur Kenntnis. Sie gleicht daher der Debatte derer, die im 19. Jahrhundert in mehrheitlich protestantischen Ländern ähnliche Debatten über den Katholizismus geführt haben.1 Erinnert sei in diesem Zusammenhang aus noch früherer Zeit an das berühmte Diktum Friedrichs d. Gr. in Preußen, der bekanntlich schrieb:

... alle Religionen Seindt gleich und guht wan nuhr die leüte so sie profesiren Erliche leüte seindt und wen Türken und Heiden kähmen und wollten das Land Pöpliren, so wollen wier sie Mosqueen und Kirchen bauen. (Alle Religionen sind gleich und gut, wenn nur die Leute, die sie ausüben, ehrliche Leute sind, und wenn Türken und Heiden kämen, so wollen wir ihnen Moscheen und Kirchen bauen.)

»Dabei ging es dem König weder um die Muslime noch um die Heiden. Anlass zu seiner Antwort am Rand des Immediat-Berichts des General-Direktoriums vom 15.6.1740 war die Frage, ob es erlaubt sei, einem Katholiken das Bürgerrecht in Frankfurt [an der Oder] zu verleihen.«2

Die Parallele zu heutigen Debatten mit Blick auf die Integration von Muslimen in unsere Gesellschaft springt ins Auge. Wenn Integration nicht totale Assimilation meint, dann ist mit Aladin El-Mafaalani festzustellen, dass Integration nicht zu weniger, sondern zu mehr Problemen im gesellschaftlichen Aushandlungsprozess führt. Um dies verständlich zu machen, wählt er folgendes Beispiel:

Die erste Generation der Einwanderer ist noch bescheiden und fleißig, beansprucht nicht volle Zugehörigkeit und Teilhabe. [...] Sie sitzen überwiegend am Boden oder am Katzentisch, während die Einheimischen am Tisch sitzen.3

Die ersten Nachkommen beginnen, sich an den Tisch zu setzen. In der zweiten Generation gelingt Integration zunehmend. Die Migrantenkinder sprechen deutsch, haben nie in einer anderen Heimat als Deutschland gelebt und sehen sich schon als Teil des Ganzen. Egal wie wir Integration definieren, hier findet sie statt. Und deshalb steigt das Konfliktpotenzial. Denn mehr Menschen sitzen jetzt am Tisch, wollen einen schönen Platz und wollen ein Stück vom Kuchen. Es geht hier also um Teilhabe an Positionen und Ressourcen.

In der dritten Generation geht die Reise noch mal weiter. Die Enkel der Migranten möchten nicht nur am Tisch sitzen und ein Stück vom servierten Kuchen bekommen. Sie wollen mitbestellen. Sie wollen mitentscheiden, welcher Kuchen auf den Tisch kommt. Und sie wollen die alten Tischregeln, die sich entwickelt und etabliert haben, bevor sie dabei waren, mitgestalten. Das Konfliktpotenzial steigert sich weiter, denn nun geht es um die Rezeptur und die Ordnung der offenen Tischgesellschaft.4

Während in der Vergangenheit in der klassischen Gesellschaft die Ordnung in der Gesellschaft »von oben« (Gott, Götter, Weltordnung, Himmel) vorgegeben und durch den König durchgesetzt wurde, ist die gesellschaftliche Ordnung in modernen Gesellschaften das Ergebnis eines Aushandlungsprozesses, folglich nie ein für allemal festgelegt sondern immer wieder neu auszuhandeln. Damit fallen alle göttlichen Wahrheiten unter intersubjektive Heilsvorstellungen, die der Staat sich nicht zu eigen machen darf. Er muss sie alle für sich bestehen lassen, weshalb er Toleranz üben muss und nur noch das von Menschen gemachte Recht durchsetzen kann.5

Damit sind gesellschaftliche Aushandlungsprozesse notwendig und Konflikte vorprogrammiert; sie sind aber zugleich das Movens für die Entwicklung einer Gesellschaft:

Die Konflikte selbst sind es, die liberale Gesellschaften zusammenhalten. Die Vielheit in der Bevölkerung wird durch Aushandlungen und Streit zu einer Einheit. [...]

Welche sozialen Innovationen oder sozialen Fortschritte wurden nicht durch Konflikte erstritten und erkämpft? Der Sozialstaat, die Demokratie, die Geschlechtergerechtigkeit, die sexuelle Befreiung, die Menschenrechte – alles, was heute wie selbstverständlich im Grundgesetz steht, ist das Ergebnis von Konflikten und ihrer – irgendwann – konstruktiven Bewältigung.6

Ziel allen Bemühens muss die Teilhabe sein:

Ein Kennzeichen offener Einwanderungsgesellschaften ist es, dass alle, die wollen, zum Wir gehören können. Nicht Migration macht die offene Gesellschaft aus, auch in Russland und Saudi-Arabien findet beträchtliche Migration statt, sondern Integration und Teilhabe.7

Daraus folgt für die Zukunft:

Die offene Gesellschaft ermöglicht die Diskussion. Aber sie allein gibt noch keinen Sinn, kein Ziel und auch keinen Kompass vor. Sie ist die Arena, nicht das Spiel. In ihr kann über die Vergangenheit, die Gegenwart und ganz besonders intensiv über die Zukunft gestritten werden. Dabei sollte die Leitidee sein: Lieber mit etwas Neuem scheitern, als die schreckliche Vergangenheit zu wiederholen. Denn: Alles ist heute besser als früher, außer einem: die Zukunft. Und an der Zukunft kann man jetzt noch was ändern.8

Wer sich dem Ideal der Integration als Teilhabe im beschriebenen Sinne verweigert, muss sich dem Recht der Gesellschaft beugen. Dies ist das Erziehungsideal aller Schulgesetze in Deutschland und wird von der überwiegenden Mehrheit der Muslime in unserem Lande geteilt. Dass diesbezüglich noch Nachholbedarf in vielen Ländern mit islamischer Bevölkerungsmehrheit besteht, hängt sicher auch damit zusammen, dass die dortigen Gesellschaften bei weitem nicht so weltanschaulich und religiös plural zusammengesetzt sind, wie dies für West-, Mittel- und Nordeuropa gilt, sodass dort noch im klassischen Sinne das Recht als »von oben« (Gott) angeordnet und durch die gesellschaftlich führenden Instanzen verordnet werden kann.

Michael Blume hat allerdings darauf hingewiesen, dass es sowohl in den Ländern mit islamischer Bevölkerungsmehrheit als auch in der Diaspora eine nicht unbeträchtliche Anzahl von Muslimen gibt, die damit schon längst nicht mehr übereinstimmen, sondern für sich den stillen Rückzug angetreten haben.9 Sie protestieren nicht gegen das bestehende traditionelle System in Ländern mit islamischer Bevölkerungsmehrheit noch äußern sie sich kritisch zu Islamforderungen von Islam-Verbänden in der Diaspora, sondern halten sich aus allem heraus, weshalb es unmöglich ist, ihren Prozentsatz regional wie international konkret zu bestimmen.

3  Die Wahrnehmung des Islam in der nichtislamischen Welt und Öffentlichkeit

Sudhir Kakar hat die Entstehung und den Verlauf von Gewalt zwischen Hindus und Muslimen im Dezember 1990 in der südindischen Stadt Hyderabad untersucht. Nur 24 Stunden genügten, um die Spannungen eskalieren zu lassen. Nur wenn in dieser Zeitspanne die Ordnungskräfte eingreifen, lässt sich der Gewaltausbruch noch verhindern. Die Gruppen gehen dabei zuerst rhetorisch aufeinander los, indem sie sich gegenseitig als Stereotype und nicht mehr als individuelle Persönlichkeiten wahrnehmen sowie nur noch nach der Gruppenzugehörigkeit über einander sprechen: »Schaut nur, was die Hindus machen!« oder »Die Muslime haben wieder einmal alle Grenzen überschritten!«10 Hier ist ein Eingreifen notwendig, um Schlimmeres zu verhindern.

Die Wurzeln von Gewalt liegen in diesen Gruppenzuschreibungen, wie wir sie oft auch bei uns in Talkshows erleben mit dem Ergebnis, dass die eine interviewte Person vom Publikum als repräsentativ für alle, die zu dieser Gruppe gehören, angesehen wird und jegliches Verhalten auf diese eine Gruppenzugehörigkeit reduziert wird. In Wahrheit hat aber jeder Mensch verschiedene Identitäten: eine als Elternteil, eine andere im Berufsleben, wieder eine andere in der Freizeit usw. Wenn all diese auf eine einzige – sei sie religiös, ethnisch oder historisch – reduziert wird, dann wird es – wie Amin Maalouf zutreffend schreibt – fatal.11

In einem Klima emotionaler Angst kann die Identifikation mit einer Gruppenzugehörigkeit auch als Folge eines Medienprinzips zum Problem werden. So hatte ich Herrn Simon Benne, einen Redakteur der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung (HAZ) darum gebeten, die Erklärung des Rates der Religionen in Hannover und insbesondere seiner muslimischen Mitglieder vom 6. November 2020 zur Verurteilung der »mutmaßlich islamistisch motivierten Terroranschläge in Nizza, Paris, Kabul, Dresden und Wien« an prominenter Stelle in der HAZ abdrucken zu lassen, um dadurch deutlich zu machen, dass nicht nur Herr Michael Fürst, der Vorsitzende des Jüdischen Landesverbandes Niedersachsen, und Herr Recep Bilgen, der Vorstandsvorsitzende der Schura Niedersachsen, des Landesverbandes der Muslime in Niedersachsen diese Terrorakte als nicht mit der Religion vereinbar ablehnen, sondern auch andere muslimische Vertreterinnen und Vertreter der Stadt dies tun. Lediglich eine kleine Notiz ist daraufhin am 7. November 2020 auf S. 23 in der HAZ erschienen, zu mehr konnte sich die Zeitung nicht durchringen. Herr Benne hat dies in einer Mail an die stellvertretende Vorsitzende des Rates der Religionen in Hannover, Frau Dr. Hamideh Mohagheghi, und an mich am 8. November 2020 folgendermaßen erklärt:

Ein wenig liegt es auch im Wesen jeder Form medialer Berichterstattung, dass schlechte Nachrichten oft mehr Aufmerksamkeit erfahren als gute Nachrichten. Es ist ja unsere Aufgabe, den Finger in Wunden zu legen und Missstände anzuprangern. Hundert Muslime, die sich für Frieden einsetzen, werden nie so viel Aufmerksamkeit bekommen wie der eine Gewalttäter.

Kein Wunder, dass dadurch eine falsche Wahrnehmung in der Öffentlichkeit entsteht, die dringend einer Korrektur bedarf, wenn das friedliche Zusammenleben in der Gesellschaft nicht Schaden erleiden soll.

Auch die wissenschaftliche Bearbeitung des Islam bedarf bisweilen noch größerer Sorgfalt hinsichtlich der Konsequenzen und Tragweite bestimmter Aussagen. So geht Florian Zimmin davon aus, dass »our language not only describes and evaluates a given reality, but also helps to produce it.«12 Am Beispiel der Rede vom »Islamic Extremism« oder »Extremist Islam« zeigt er, dass damit jeweils ganz andere Deutungsmuster verbunden sind.13 Im Falle von »Islamic Extremism« ist der Oberbegriff der Extremismus, der auch eine islamische Variante hat, während »Extremist Islam« darauf hinweist, dass Extremismus eine Spielart von Islam ist und somit kontextuell ganz anders verortet ist als im zuerst genannten Fall. Das Beispiel zeigt, dass je nach dem Oberbegriff unterschiedliche Kontexte für die Deutung von Wirklichkeit entstehen. Sie alle vermitteln somit gedeutete Wirklichkeit, nicht aber die Wirklichkeit selbst. Deshalb ist es wichtig, sich über die Tragweite solcher Begrifflichkeiten Gedanken zu machen und zu fragen, welche Konsequenzen ihre Verwendung für die Wahrnehmung der Phänomene durch die öffentliche Diskussion haben wird und ob man diese möchte oder nicht.

Umschrift, Bibliographie und Dank

Zum Schluss sei noch erwähnt, dass die Umschrift der orientalischen Begriffe, Orte und Namen nach der Umschrift der DMG erfolgt, es sei denn – was nicht selten der Fall ist – sie sind der Öffentlichkeit durch andere Umschriften vertraut. Wo dies der Fall ist, sind diese Umschriften beibehalten worden, auf eine wissenschaftlich korrekte Umschrift wurde in diesen Fällen verzichtet.

Am Ende eines jeden Beitrages finden sich einige wenige Literaturhinweise, die zur Vertiefung des Gesagten anregen möchten. Belege für die Aussagen finden sich dagegen in den Anmerkungen.

Ein besonderer Dank gilt dem Verlag Kohlhammer, insbesondere Herrn Dr. Sebastian Weigert und Herrn Daniel Wünsch für die gute Zusammenarbeit sowie Herrn Daniel Wünsch ganz besonders für die technische Umsetzung der Beiträge und für das Erstellen des Indexes, der nicht alle Stellen, sondern nur die inhaltsrelevanten verzeichnet, was sicher im Einzelfall die eine oder andere Inkonsequenz mit sich bringt, aber den Index vor einer verwirrenden Vielfalt von Seitenangaben bewahrt.

Hannover im Dezember 2020

Peter Antes

I  Regionale Darstellungen

Europa und der Orient

Lutz Berger

1  Einleitung

Die letzten 200 Jahre haben die Welt mehr verändert als alle Jahrhunderte zuvor seit der neolithischen Revolution, mit der die Landwirtschaft in der Menschheitsgeschichte Einzug gehalten hatte. Das gilt auch für den Nahen Osten. Die Forschung der letzten Jahrzehnte betont dabei immer wieder, dass es keinen grundsätzlichen Unterschied zwischen Modernisierungsprozessen im Vorderen Orient und in Westeuropa gegeben habe. Die Modernisierung der Welt seit dem 19. Jahrhundert sei vielmehr ein vielfach ineinander verflochtener Prozess gewesen, an dem sowohl Westeuropa als auch alle anderen Gesellschaften der Welt ihren Anteil gehabt hätten.1 Eine derartige Sichtweise mag ihre Berechtigung haben. Sie berücksichtigt jedoch nicht ausreichend, dass in allen außereuropäischen Gesellschaften mit Ausnahme der europäischen Siedlungskolonien in Nordamerika und Ozeanien diese Prozesse im Regelfall in Abhängigkeit vom europäischen Zentrum des modernen Weltsystems ihren Anfang genommen haben. Sie wurden zudem über lange Jahrzehnte auch zu einem nicht unerheblichen Maß von diesem europäischen Zentrum und später seinem nordamerikanischen Nachfolger dominiert und gesteuert.

Doch nicht allein diese Abhängigkeit vom europäischen Zentrum ist prägend für Modernisierungsprozesse in muslimischen Gesellschaften geworden. Es ist genauso der Umstand, dass jeder Schritt der Modernisierung dort immer nur als ein Nachholen dessen erschien, was in Westeuropa oder in Nordamerika, später auch in Ostasien, bereits erreicht war. Muslimische Gesellschaften, die über Jahrhunderte zu den reichsten und mächtigsten der Welt gehört hatten, waren nunmehr und sind bis heute Teil dessen, was man Dritte Welt nennt. Dies hat viele Verwerfungen ausgelöst.

Wir haben es in der muslimischen Welt mit einer Variante jener multiple modernities zu tun, von denen der Soziologe S. N. Eisenstadt spricht. Dieses Konzept geht davon aus, dass Modernisierung zwar überall auf der Welt stattgefunden, sich aber außerhalb des westeuropäisch-nordamerikanischen Kernraums nach anderen, jeweils eigenen Entwicklungsgesetzen vollzogen habe. Für Eisenstadt ist die Vielfältigkeit der Moderne insbesondere ein Ergebnis des Fortlebens lokaler kultureller Traditionen, die in unterschiedlicher Weise in das ursprünglich europäische Projekt der Moderne eingebaut wurden.2 Die Entstehung vielfältiger Modernen ist aber genauso ein Produkt des eben erwähnten Umstandes, dass Modernen außerhalb von Westeuropa und Nordamerika exogen und im Regelfall nachholend entwickelt wurden. Zudem liefen Prozesse der Modernisierung, die in Westeuropa ineinandergriffen, in der muslimischen Welt unabhängig voneinander und zeitversetzt ab. So hat eine Verstädterung ohne damit einhergehende starke Industrialisierung stattgefunden. Dies hat Auswirkungen auf weitere soziale Prozesse, etwa von Individualisierung, und auf das Funktionieren politischer Systeme.

Ein typisches Beispiel eines solchen Modernisierungsprozesses, der in der muslimischen Welt zwar in gleicher Weise, aber doch langsamer verlief als im Westen, ist der demographische Wandel. Vormoderne Gesellschaften waren durch eine hohe Geburtenrate und eine ebenso hohe Sterberate geprägt, Bevölkerungswachstum fand nur schleppend statt. Obwohl Frauen viele Kinder bekamen, sorgte eine hohe Kindersterblichkeit dafür, dass nur wenige dieser Nachkommen sich ihrerseits fortpflanzten. Ein weiteres Hemmnis stellten sich regelmäßig wiederholende Katastrophen wie Hungersnöte und Seuchen dar, die dafür sorgten, dass einmal erzielte Bevölkerungsgewinne oftmals rasch wieder dahinschwanden.

In Westeuropa waren Hungersnöte ab der Mitte des 19. Jahrhunderts dank technischer Fortschritte in der Landwirtschaft und der Möglichkeit des Imports aus Überschussgebieten wie den USA eine meist kriegsbedingte Ausnahme. Mit gewisser Verzögerung wurde dies auch in der muslimischen Welt im 20. Jahrhundert zum Normalfall, wobei neben dem technischen Fortschritt auch hier in den letzten Jahrzehnten der Import von Lebensmitteln eine zunehmend größere Rolle spielte. Der medizinische Fortschritt, insbesondere im Bereich der Hygiene, sorgte ab dem Ende des 19. Jahrhunderts und dann vor allem ab dem Zweiten Weltkrieg auch in der muslimischen Welt dafür, dass in einem nächsten Entwicklungsschritt die Kindersterblichkeit zurückging und sehr viel mehr Kinder als zuvor ins fortpflanzungsfähige Alter kamen. In gleichem Maße nahm auch die Lebenserwartung der Erwachsenen zu.

Der Abfall der Sterberate geht überall auf der Welt mit einer zunächst nach wie vor hohen Geburtenrate einher. Die Folge ist ein rapides Bevölkerungswachstum. Dieses rapide Bevölkerungswachstum nimmt schließlich langsam ab, weil die Menschen insbesondere in den Städten und da, wo sie über Zugang zu Bildungseinrichtungen verfügen, dazu neigen, weniger Kinder zu bekommen. In Westeuropa setzte dieser Prozess bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein und mündete schließlich in einem Zustand, in dem die Bevölkerung, sieht man von Wanderungszugewinnen ab, angesichts niedriger Geburtenraten sogar zu schrumpfen begann. In der muslimischen Welt können wir mit einer gewissen zeitlichen Verschiebung die gleiche Entwicklung beobachten. Der Höhepunkt des Bevölkerungswachstums lag in den 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts. Danach nahm die Zahl der Geburten merklich ab. Die Bevölkerung wächst allerdings weiterhin, da viele junge Frauen im gebärfähigen Alter sind. Insbesondere seit den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts können wir aber auch in vielen Ländern des Vorderen Orients, wie etwa in Tunesien und Iran, beobachten, dass die Zahl der Geburten pro Frau kaum mehr über der Reproduktionsrate liegt, vor allem in der Stadt. Die Abnahme der Geburtenrate ist in der muslimischen Welt insbesondere in solchen Ländern zu beobachten, in denen der Bildungsgrad der Frauen besonders hoch ist. Andernorts vollzieht sich der Prozess langsamer. Die Richtung ist allerdings überall die gleiche.3

Sowohl in Westeuropa als auch in der muslimischen Welt sind Phasen besonders starken Bevölkerungswachstums geprägt durch eine hohe Auswanderungsneigung. Diese hat damit zu tun, dass die Möglichkeiten, Arbeit zu finden, für die nunmehr starke junge Generation insbesondere auf dem Lande nicht ausreichen. Junge Menschen ziehen folglich in die Stadt oder versuchen in anderen Staaten oder gar auf anderen Kontinenten ihr Glück. Die Existenz von europäisch beherrschten oder geprägten Einwanderungsländern insbesondere in Nordamerika hat dies für Europäer des 19. Jahrhunderts deutlich vereinfacht.

Den Menschen in der muslimischen Welt stellte sich die Situation in der ersten Phase des rapiden Bevölkerungswachstums bis zum Beginn der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts ganz ähnlich dar wie jenen in Europa einige Jahrzehnte zuvor. Viele zogen zunächst in die Städte. Während der Zeiten der Hochkonjunktur in Westeuropa nach dem Zweiten Weltkrieg waren zudem viele westeuropäische Länder bereit, Arbeitskräfte aus den ehemaligen Kolonien und generell aus den Ländern der Dritten Welt aufzunehmen, und haben diese aktiv angeworben. Auch der Öl-Boom in den Golfstaaten hat dafür gesorgt, dass viele Menschen aus Ländern mit hohem Bevölkerungswachstum, aber geringen wirtschaftlichen Entwicklungsstandes am Golf Arbeit finden konnten. Auswanderung ist in den letzten Jahrzehnten politisch zunehmend problematisch geworden. Die Ölstaaten bevorzugen Arbeitskräfte aus Süd- und Südostasien, die weniger Forderungen nach Gleichberechtigung stellen als arabische Arbeiter. In Westeuropa hat die schwierige wirtschaftliche Lage ab den 1970er Jahren und eine Zunahme ausländerfeindlicher, insbesondere auch islamfeindlicher Ressentiments in den letzten Jahrzehnten ebenfalls dazu geführt, dass die Einwanderung von Menschen vor allem aus der Dritten Welt kritisch gesehen wird. Hier wie dort haben diese Widerstände aber nicht zu einem Ende der Einwanderungsprozesse geführt. Diese dauern fort, solange die Ungleichheit der ökonomischen Lebenschancen anhält. Da es nunmehr in allen Einwanderländern starke Diaspora-Gemeinschaften aus den Herkunftsländern gibt und die Verkehrs- und Kommunikationsbedingungen sich seit den 60er Jahren deutlich verbessert haben, ist Auswanderung trotz des eben Gesagten in mancher Hinsicht sogar einfacher geworden.

Im Zusammenhang mit dem demografischen Übergang zur Moderne steht der Prozess der Verstädterung, der bereits angesprochen wurde. In vormodernen Agrargesellschaften überall auf der Welt lebte die große Mehrheit der Menschen auf dem Lande. Im Zuge der Modernisierung fand ein tiefgreifender Wandel statt, so dass schließlich überall auf der Welt die städtische Bevölkerung die Mehrheit darstellte. Das gilt auch im Nahen Osten. Ähnlich wie der demografische Übergang zur Moderne vollzog sich der Verstädterungsprozess in der islamischen Welt deutlich später als in Westeuropa. Erst in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg nahm die Entwicklung hier richtig Fahrt auf. Anders als in Westeuropa war sie nicht begleitet von einer raschen Industrialisierung. Obwohl viele Städte schnell an Bevölkerung gewannen, führte die fehlende Industrialisierung dazu, dass ein entsprechender Wandel der Wirtschafts- und Sozialstruktur nicht stattfand und vielfach (eine wichtige Ausnahme stellen die Türkei und die muslimischen Länder Südostasiens dar) bis heute ausgeblieben ist. Fabriken bieten nur wenigen Menschen Arbeit. Der Erwerb des Lebensunterhalts ist für die neuen Stadtbewohner schwierig. Soziale Netzwerke auf der Basis von Religion oder Herkunft spielen so für das Überleben der neuen städtischen Bevölkerung nach wie vor eine sehr große Rolle. Ohne Verwandte und andere Kontakte ist kein soziales Fortkommen möglich; Lebensrisiken wie Krankheit und Alter sind nicht zu bewältigen. Die durch die moderne Industriegesellschaft und mehr noch den Sozialstaat ermöglichten Prozesse der Individualisierung haben somit in der islamischen Welt ein deutlich schwierigeres Umfeld.4

Wenn so auch viele der Strukturen der vormodernen Gesellschaft in den Großstädten des Vorderen Orients nach wie vor lebendig sind, hat sich dennoch viel gewandelt. In der Vormoderne haben Frauen der Unterschichten auf dem Lande wie in der Stadt immer gearbeitet. Frauen der Mittel- und Oberschicht insbesondere in den Städten waren dagegen im Regelfall den größten Teil ihres Lebens im Hause. Ab den 1920er Jahren wandelte sich dies, zunächst langsam, dann ab den 50er Jahren immer schneller. Die Frauen der Mittel- und Oberschicht hatten Anteil an der Bildungsexpansion, die die Länder der muslimischen Welt nach Ende der Kolonialepoche kennzeichnete, und suchten mehr und mehr ihren Platz auch im Berufsleben. Damit gerieten traditionelle Modelle von Geschlechtertrennung, wie sie islamische Gesellschaften überall auf der Welt kennzeichnen, ins Wanken. Zunehmende westlich geprägte Bildung junger Frauen und Männer führte zudem dazu, dass sie für sich mehr und mehr moderne Formen von Familienleben wählten, die nicht auf der Verbindung zweier Familienverbände, sondern auf individueller Liebe und Partnerschaft beruhen. Nichtsdestoweniger haben sich traditionelle Muster von Familie in der muslimischen Welt stärker erhalten als im Westen. Auch ist die Integration der Frauen in den Arbeitsmarkt nach wie vor weniger fortgeschritten als in Westeuropa und vielen anderen außereuropäischen Kulturen. Dies gilt, obwohl das Bildungsniveau von Frauen und Mädchen in muslimischen Gesellschaften weltweit sich zunehmend an das der Männer angleicht, ja dieses sogar übertrifft. Diese Bildungsfortschritte vollziehen sich auf dem Lande und in den Unterschichten allerdings meist langsamer. Die vormodernen muslimischen Normen der Geschlechtertrennung im öffentlichen Raum, die in den Städten im Laufe der ersten 70 Jahre des 20. Jahrhunderts zunehmend ins Wanken geraten waren, werden in den letzten Jahrzehnten wieder verstärkt eingefordert. In der Praxis ist die Mischung der Geschlechter allerdings im städtischen Alltag heute fortgeschrittener denn je, ohne dass damit für die meisten Menschen eine Liberalisierung der Normen des Sexuallebens einhergegangen wäre. Diese Normen sind dabei oft einfach traditionell, werden von den Betroffenen aber im Regelfall mal mit, mal ohne Bezug auf Vorschriften des Gelehrtenislams religiös begründet.

Ein anderer Modernisierungsprozess, der für Westeuropa in den vergangenen 200 Jahren prägend war, ist die durchgreifende Säkularisierung aller gesellschaftlichen Bereiche. Organisierte und kollektive religiöse Praxis spielen heute für die meisten Menschen in Westeuropa keine entscheidende Rolle mehr. Die religiöse Zugehörigkeit ist nur noch in den seltensten Fällen ein zentraler Marker von Identität. Dieser Säkularisierungsprozess hat sich in Europa nicht ohne Kämpfe vollzogen. Diese waren insbesondere in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg meist zentral für die politische Positionierung einer Person. Erst die Auseinandersetzung um Sozialismus (und zeitweilig Faschismus) hat die Frage nach der öffentlichen Rolle der Religion als zentralen Faktor im europäischen politischen Tageskampf an Bedeutung verlieren lassen. Nach einem zeitweiligen Aufschwung des Einflusses der Religion unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg spielt sie heute für die meisten Menschen nur noch bei der Bereitstellung von rites de passage (Taufe, Heirat, Beerdigung) eine Rolle. Die Berufung auf konkrete religiöse Normen im Kontext politischer Forderungen ist dagegen selten und stößt vielfach auf Unverständnis. Mit diesem Rückgang der Bedeutung traditioneller religiöser Strukturen geht nicht für alle eine Entzauberung der Welt (d. h. insbesondere eine Vernaturwissenschaftlichung des Weltbildes) einher. Der Glaube an Esoterik bleibt aber in Westeuropa in der Regel ein individuelles, kaum kollektiv identitätsstiftendes Phänomen.

In der muslimischen Welt hat sich dieser Säkularisierungsprozess nicht in gleicher Weise vollzogen. Dass Religion in muslimischen Gesellschaften weltweit heute eine größere Rolle spielt als in Westeuropa, hat sicher zu einem guten Teil mit der eben beschriebenen Bedeutung sozialer Netzwerke in Gesellschaften der Dritten Welt zu tun. Andere Faktoren kommen aber hinzu. Kritik an Religion war und ist in muslimischen Ländern im Regelfall exogener Natur. Insbesondere in der Periode des Imperialismus und Postimperialismus war die Religion für viele Menschen einer der wenigen Ankerpunkte, der ihr eigenes Selbstbewusstsein heben konnte. Man lebte in einer Welt, die sich nicht nach den Regeln der eigenen, sondern nach denjenigen fremder Gesellschaften rapide wandelte. In den neuen Eliten fanden und finden sich immer wieder einzelne, die sich moderne westliche Konzepte von Religionskritik zu eigen machen. Für die meisten Menschen war das keine gangbare Strategie. Da die Religion auch mit den Werten von Familie und anderer Formen sozialer Gemeinschaft identifiziert wurde und wird, bot sie oft den einzigen sozialen und ideellen Halt.5 Man mochte zwar weniger mächtig als die Europäer sein, man war ihnen aber auf moralischer Ebene dank der wahren Religion überlegen.

Es wäre freilich falsch, die besondere Bedeutung von Religion für nahöstliche Gesellschaften als dem Islam inhärent anzusehen. Zum einen hat Religion in den 50er und 60er Jahren, als man berechtigterweise die Hoffnung hegen konnte, dass es den Nationalstaaten des Vorderen Orients gelingen würde, einen Modernisierungsprozess in Gang zu setzen, der die Bedürfnisse der Menschen befriedigt, eine vergleichsweise geringere Rolle gespielt als in unserer Gegenwart. Zum anderen ist auffällig, dass auch in den USA trotz der dort in vielerlei Hinsicht sehr viel weiter fortgeschrittenen Modernisierungsprozesse Religion nach wie vor eine sehr viel größere Rolle spielt als in Westeuropa. Der Bedeutungsverlust der Religionen in Westeuropa erscheint so als ein ganz eigenes Phänomen, das unter Umständen erklärungsbedürftiger ist als die immer noch große Bedeutung von Religion in muslimischen Gesellschaften. Im Vorderen Orient ist diese zudem sowohl für Muslime wie für Christen und in den letzten Jahrzehnten zunehmend auch für die jüdische Bevölkerung Israels zu konstatieren.6

Ein weiterer Modernisierungsprozess, der die muslimischen Gesellschaften in den letzten zwei Jahrhunderten geprägt hat, ist der Übergang von vormoderner, oft imperialer Staatlichkeit zu modernen Formen politischer Ordnung, die sich insbesondere im Nationalstaat manifestieren. Die heutigen Nationalstaaten gehen dabei nur in manchen Fällen auf vor dem 19. Jahrhundert bestehende politische Einheiten zurück (i. B. Ägypten, Marokko, Tunesien, in gewisser Weise auch Iran). Im Regelfall waren es die europäischen Imperialisten, die die Grundlage für die Entstehung moderner, sich antiimperialistisch gerierender Nationalstaaten im Vorderen Orient und in der übrigen muslimischen Welt gelegt haben. Es sind die Grenzen, die die imperialistischen Machthaber aus Europa gezogen haben, die heute als die natürlichen Grenzen politischer Ordnung erscheinen. Versuche, über diese nationalstaatliche Ordnung hinaus supranationale Ordnungen zu etablieren, insbesondere die Arabische Liga, dürfen als gescheitert betrachtet werden.

Die auf die Kolonialzeit zurückgehenden Staaten stellen so für die Menschen der muslimischen Welt in den meisten gesellschaftlichen Kontexten die zentralen Ordnungsfaktoren dar. Über ein immerhin zu konstatierendes Mindestmaß hinaus sind sie häufig nicht in der Lage, die Ausbildung und Gesundheitsversorgung oder auch das Vorhandensein einer grundlegenden Infrastruktur auf ihrem Territorium sicherzustellen. Sie sind allerdings in aller Regel, und das seit vielen Jahrzehnten, sehr wohl fähig, Sicherheit und Ordnung zu gewährleisten und damit die Fortdauer der Herrschaft der jeweils bestehenden politischen Eliten zu ermöglichen. Nichtsdestoweniger übertreffen die Leistungen des modernen vorderorientalischen Staates in Bezug auf die Daseinsvorsorge für seine Bewohner die Möglichkeiten vormoderner imperialer und nicht-imperialer Staatlichkeit in der islamischen Welt bei weitem. Das Gleiche gilt in noch stärkerem Maße für die Fähigkeit moderner Staaten der Region, ihre Bürger politisch zu kontrollieren und in ihren Alltag, ja sogar in intimste Bereiche ihres Privatlebens vorzudringen.

Der folgende Überblick wird zunächst die Geschichte des Vorderen Orients in vier Etappen näher ins Auge fassen: erst die Phase der beginnenden Reform bis 1870, dann die Epoche der imperialistischen Durchdringung von 1870 bis nach dem Ersten Weltkrieg, weiter die Phase nationalistischer Ideologien und der auf Nationalstaaten beruhenden antiimperialistischen Befreiungsideologien und endlich die Zeit ab 1970. Diese ist von der Enttäuschung gegenüber nationalistischen Ideologien und über die nicht eingelösten Modernisierungsversprechen der vorderorientalischen Nationalstaaten geprägt. In dieser Phase erscheint ein stark politisiertes Verständnis von Islam als dominante Ideologie. Gleichzeitig ist fast überall die Stabilität autoritärer politischer Systeme durch klientelistische Strukturen und in vielen Staaten auch durch Renteneinnahmen, die von den Mächtigen an die Bevölkerung verteilt werden können, gewährleistet. Diese erstaunlich stabilen Strukturen sind im späten 20. und frühen 21. Jahrhundert zunehmend in Frage gestellt worden, insbesondere von Seiten der gut ausgebildeten städtischen Bevölkerung. Ideologisch konnten die Oppositionellen dabei durch den politischen Islam, im frühen 21. Jahrhundert dann auch erneut durch westliche Modelle von Demokratie geleitet werden. Die Revolutionen nach 2010 haben diese politischen Systeme teils nur an der Oberfläche berührt, teils aber auch zum völligen Zusammenbruch staatlicher Ordnung geführt.

Im Anschluss an diese Überblicksdarstellung vorderorientalischer Geschichte werden kontrastierend dazu die Verhältnisse sowohl auf dem indischen Subkontinent als auch in Südostasien dargestellt. Ein großer Teil dessen, was über den Vorderen Orient zu sagen ist, gilt freilich auch hier.

2  Der Vordere Orient von 1800 bis 1870

Viele Jahrhunderte lang waren die muslimischen Gesellschaften den europäischen militärisch überlegen gewesen. Das Blatt wendete sich im späten 17. und frühen 18. Jahrhundert, zunächst unmerklich, dann immer deutlicher. In den sogenannten Türkenkriegen gelang es den Österreichern und ihren Verbündeten, später auch Russland, die osmanische Vorherrschaft auf dem Balkan und im Bereich des Schwarzen Meeres mehr und mehr ins Wanken zu bringen. Die Briten verstanden es ab der Mitte des 18. Jahrhunderts, ihre Herrschaft über Bengalen auf immer weitere Teile des indischen Subkontinents auszuweiten und lokale Fürsten zu ihren Klienten zu machen. War dies alles für muslimische Herrscher bereits beunruhigend, so mussten die Entwicklungen während der französischen Revolutionskriege den Verantwortlichen im Vorderen Orient endgültig die Augen für die Notwendigkeit eines tiefgreifenden Wandels im militärischen Bereich öffnen. Ein französisches Expeditionskorps unter Napoleon Bonaparte eroberte im Jahr 1798 Ägypten und unterwarf den ägyptisch-syrischen Raum für einige Jahre französischer Herrschaft. Der osmanische Sultan wie die ägyptischen Provinztruppen standen den Ereignissen weitgehend hilflos gegenüber.

Bereits ab der Mitte des 18. Jahrhunderts hatten die Osmanen versucht, sich mit Hilfe ausländischer, insbesondere französischer, aber auch ungarischer Offiziere militärtechnisch auf den neuesten Stand zu bringen. Sultan Selim III. (reg. 1789–1807) hatte nach seiner Thronbesteigung in Korrespondenz mit dem französischen König gestanden und es unternommen, eine neue, nach europäischem Muster ausgebildete Truppe aufzustellen. Dieser Versuch der militärischen Modernisierung stieß jedoch auf den Widerstand der traditionellen Kräfte innerhalb der Armee, insbesondere der wichtigsten Infanterieeinheiten, der Janitscharen. Deren Aufstand gegen den Sultan im Jahr 1807 führte zu seiner Absetzung und schließlich zu seiner Ermordung im folgenden Jahr. Der Versuch tiefgreifender militärischer Veränderungen im Zentrum des Osmanischen Reiches konnte somit zunächst als gescheitert angesehen werden.

Es war nicht das Zentrum, sondern die ägyptische Provinz des Osmanischen Reiches, von der nach Abzug der Franzosen die Erneuerung im vorderorientalischen Militär ausging. Ein vom Balkan entsandter Gouverneur, Mehmet Ali Pascha, versuchte, die traditionelle militärische Elite Ägyptens, die Mamluken-Armee, die seit dem Mittelalter das Land unter osmanischer Oberherrschaft verwaltet und ausgebeutet hatte, zu beseitigen. Die Führer der Mamluken wurden hingerichtet, und Mehmet Ali Pascha begann, eine neue, zunächst aus sudanesischen Sklaven rekrutierte Truppe aufzustellen. Als dies an der hohen Sterblichkeit der neuen Sklavensoldaten scheiterte, entschied Mehmet Ali sich für Wege der Rekrutierung, wie es sie im muslimischen Vorderen Orient seit den ersten Jahrhunderten des Islams nicht mehr gegeben hatte: Er führte eine allgemeine Wehrpflicht ein, der insbesondere auch die ägyptischen Bauern unterworfen wurden. Dass die ägyptischen Bauern an ihrer Rekrutierung keine große Freude hatten und sich dieser, soweit es ging, zu entziehen suchten, tat dabei nichts zur Sache. Für die Ausrüstung seiner Truppen gründete Mehmet Ali Fabriken, in denen zum Teil sogar Dampfmaschinen eingesetzt wurden. Er entsandte Ausbildungsmissionen nach Europa, mit deren Hilfe Angehörige der politischen und militärischen Elite in modernen europäischen Wissenschaften ausgebildet werden sollten, vor allem soweit sie für das Militär von Bedeutung waren. Auf diese Weise gelang es Mehmet Ali, eine Armee aufzustellen, die deutlich stärker war als die Truppen der osmanischen Zentralregierung, als deren Gouverneur er über Ägypten herrschte. Ab dem zweiten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts waren die Ägypter so für einige Zeit die stärkste Militärmacht im Nahen Osten. Sie unterwarfen 1818 im Namen des Sultans die rebellischen Wahhabiten auf der arabischen Halbinsel. Sie kämpften in den 1820er Jahren im Auftrag des Sultans gegen die griechischen Aufständischen auf der Peloponnes und wandten sich schließlich ab den 1830er Jahren gegen die Zentralregierung selbst. Die erfolgreich vorrückenden ägyptischen Truppen bedrohten sogar die Hauptstadt Istanbul. Allein dem Eingreifen der Briten und Russen war es zu verdanken, dass das Osmanische Reich diese schwere Krise unbeschadet überstand. Keine der beiden Mächte wollte ein potentiell gefährliches Ägypten an die Stelle des geschwächten Osmanischen Reiches treten sehen. Mehmet Ali wurde mit der erblichen Würde eines Gouverneurs über Ägypten betraut, musste aber weitergehende Herrschaftsansprüche aufgeben. Gleichzeitig erzwangen die Briten die Öffnung des ägyptischen Marktes für britische Importe. In der Forschung ist strittig, ob damit ein eigenständiger ägyptischer Weg zur Industrialisierung zunichtegemacht worden ist.

Um die für seine neuartige Armee notwendigen Ressourcen zu gewinnen, hatte Mehmet Ali nämlich nicht allein den Steuerdruck auf die Landbevölkerung erhöht. Er bemühte sich gleichzeitig um eine erhöhte landwirtschaftliche Produktivität. Dies und die bereits erwähnten Fabriken haben unzweifelhaft eine gewisse wirtschaftliche Dynamik in Gang gesetzt. Anders als in den sich industrialisierenden Regionen Europas geschah dies hier aber durch den Einsatz außerökonomischen Zwangs: Nicht für ihren Lebensunterhalt arbeiteten die Bauern in den Fabriken, sie wurden staatlicherseits dazu verpflichtet. Der im Vergleich zu Westeuropa geringere Bildungsstand der Bevölkerung tat ein Übriges, der Verwendung von komplexeren Maschinen Grenzen zu setzen. Insofern unterschieden sich die Versuche, in Ägypten staatlicherseits eine wirtschaftliche Modernisierung im Interesse der Armee zu organisieren, von vorneherein deutlich vom britischen Modell. Nach der Marktöffnung waren die Produkte der ägyptischen Fabriken trotz der Transportkosten der Importeure genauso wenig konkurrenzfähig wie die ägyptischen Truppen gegen das europäische Militär.

Die Modernisierungsbemühungen Mehmet Alis wurden trotz aller Probleme von seinen Nachfolgern fortgesetzt. Ägypten wurde so im späten 19. Jahrhundert zum fortschrittlichsten Land des Vorderen Orients. Das galt insbesondere für die Infrastruktur, für die Weltläufigkeit der Elite und die Öffnung zum Weltmarkt, für den man insbesondere Baumwolle lieferte. Die Autonomie Ägyptens darf dabei nicht mit der Entstehung eines ägyptischen Nationalstaats gleichgesetzt werden. Die führenden Kreise des Landes, insbesondere die Umgebung des Gouverneurs, stammten häufig vom Balkan und verstanden sich als Osmanen. Arabischsprachige Ägypter (außerhalb der islamischen Gelehrtenschaft) konnten sich erst im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts Gehör verschaffen.7

Dass der Sultan in Istanbul gegen seinen übermächtigen ägyptischen Gouverneur schließlich die Europäer zur Hilfe hatte rufen müssen, lag an der Schwäche der osmanischen Zentralregierung. Die bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts vorgenommenen Militärreformen waren entweder nicht weit genug gegangen oder – wie wir sahen – am Widerstand militärischer Interessengruppen gescheitert. In Ostanatolien, den arabischen Provinzen, aber auch auf dem Balkan, der wirtschaftlich wie politisch bedeutendsten Region des Reiches, war die Kontrolle des Sultans über weite Regionen recht eingeschränkt. Lokale Kleinfürsten bestimmten das Bild. Eine Reihe von diesen machte dem Aufstand gegen Selim III. ein Ende und setzte nach dessen Ermordung durch die Aufständischen einen neuen Sultan, Mahmud II. (reg. 1808–1839), ein. Angesichts der Umstände des Todes seines Cousins und Vorgängers Selim war dieser jedoch zunächst sehr vorsichtig, wenn es darum ging, die Erneuerung des Militärs und des Staatsapparates voranzutreiben. Er war bemüht, keine der wichtigen Interessengruppen in der Hauptstadt vor den Kopf zu stoßen. Zunächst suchte er daher noch mit Hilfe der alten Truppen die Kontrolle über den Balkan wiederzugewinnen. Erst Mitte der 20er Jahre nahm er die Modernisierungsbestrebungen wieder auf. Wie in Ägypten begannen die Militärreformen mit der gewaltsamen Ausschaltung von potentiell renitenten Teilen der bisherigen Armee. Im sogenannten »Heilsamen Vorfall« des Jahres 1826 wurde die Janitscharen-Truppe ausgeschaltet. Ihre Angehörigen in der Hauptstadt wie in der Provinz wurden, soweit sie nicht in die neue Armee integriert wurden, verfolgt und umgebracht. Eine moderne, nach europäischen Maßstäben ausgerüstete und trainierte Truppe sollte an ihre Stelle treten. Diese war zwar zunächst nicht stark genug, Mehmet Ali und seine ägyptischen Soldaten in die Schranken zu verweisen, sie war aber sehr wohl in der Lage, sowohl auf dem Balkan als auch in Anatolien und, nach der erwähnten Unterwerfung Mehmet Alis, in den ostarabischen Provinzen Syrien und Irak der osmanischen Zentralregierung wieder zu Autorität zu verhelfen. Die Epoche der Dezentralisierung, die das Osmanische Reich seit dem 17. Jahrhundert geprägt hatte, ging zu Ende.

Der hier im osmanischen Kontext beobachtete Prozess von Dezentralisierung im 17. und 18. Jahrhundert und Rückkehr der Zentralmacht im 19. Jahrhundert ereignete sich in ähnlicher, aber deutlich abgeschwächter Weise in Iran. Hier kam es im 18. Jahrhundert zum Zerfall des safawidischen Reiches unter wiederholten Angriffen nomadischer Gruppen. Dies geschah sowohl von der Peripherie her als auch aus dem Zentrum des Reiches selbst heraus. Erst ganz am Ende des 18. Jahrhunderts verstand es eine dieser nomadischen Gruppen, der Stammesverband der Kadscharen, das iranische Territorium wieder zu einen und eine neue, bis zum Jahr 1925 herrschende Dynastie zu begründen. Diese hatte ihr Zentrum nicht mehr wie die Safawiden im Südwesten des Landes, sondern in Teheran. Die Herrschaft der Kadscharen erstreckte sich zwar über das gesamte Territorium des heutigen Iran und einige Randgebiete im Norden und Osten. Die Kadscharen waren jedoch deutlich weniger als die Osmanen im 19. Jahrhundert in der Lage, das ganze Land einheitlichen Regeln zu unterwerfen. In den Provinzstädten residierten lokale Angehörige der Herrscherfamilie und herrschten im Bündnis mit lokalen Eliten. Kontakte zur Hauptstadt blieben, auch wegen der bis weit ins 20. Jahrhundert schwierigen Verkehrsbedingungen, eher selten.

Im Vergleich zu den Nachbarn im Osten erschien das Staatswesen der Osmanen im 19. Jahrhunert als ein Hort der Modernität. Nachdem die Militärreformen die Autorität des Zentrums wiederhergestellt hatten, begannen in den 1830er Jahren tiefgreifende Reformen, die man »Reorganisationsmaßnahmen«, osmanisch-türkisch tanzimat, nannte. In einem sultanischen Erlass, der nicht zufällig auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzungen mit Mehmet Ali erging, wurde allen Untertanen Sicherheit von Leben und Eigentum zugestanden. Gleichzeitig wurde grundsätzlich die Gleichberechtigung der Nichtmuslime mit den Muslimen gewährt. Dieser Erlass war nicht allein im Interesse der Nichtmuslime