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Bartholomäus Cadisch, der Dorfkönig von Davos, wird tot auf der Skipiste am Jakobshorn gefunden. Die Polizei und der Arzt schliessen eine Fremdeinwirkung aus. Doch Cadischs jüngste Tochter Allegra ist anderen Meinung und stellt Nachforschungen an. Als Immobilienspekulant hatte ihr Vater viele Feinde, aber auch bei den Mitgliedern ihrer eigenen Familie findet Allegra ein mögliches Motiv. Was erst zaghaft auf dem Waldfriedhof beginnt, wird zu einem Spießrutenlauf, der Allegra immer näher auf den Abgrund eines Familiendramas zutreibt ...
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Seitenzahl: 467
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Silvia Götschi, geboren 1958 in Stans, lebte und arbeitete mehrere Jahre in Davos. Seit der Jugend widmet sie sich dem literarischen Schaffen und der Psychologie. Sie ist leidenschaftliche Krimiautorin mit Hang zu den dunklen Abgründen der Seele. Sie hat sich vor allem in der Zentralschweiz einen Namen mit der Kramer-Krimi-Reihe gemacht. Seit 1998 ist sie freischaffende Schriftstellerin und Mitarbeiterin in einer Werbeagentur. Sie hat drei Söhne und zwei Töchter und lebt heute mit ihrem Mann in der Nähe von Luzern.www.silvia-goetschi.com
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig. Im Anhang findet sich ein Glossar.
© 2014 Emons Verlag GmbH Alle Rechte vorbehalten Umschlagmotiv: photocase.com/marsj Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch eBook-Erstellung: CPI books GmbH, LeckISBN 978-3-86358-392-7 Originalausgabe
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Nichts kann einen Menschen so zermürben wie das Gefühl, dass in ihm eine Wahrheit lodert, die von anderen verleugnet wird.
Philip Roth, The great American Novel, 1973
PROLOG
Die Nachtschatten lagen über der Landschaft. Es war dunkel und unheimlich.
Während ihr Wagen über die Prättigauer Strasse fuhr, leuchteten die Scheinwerfer die Spur vor ihr aus. Ab und zu flammten Markierungen auf, schwarz-weisse Pflöcke am Wiesenrand, kurz das Ortsschild in einem Bouquet von Stechpalmen, welches den Besucher willkommen hiess.
Über dem Tinzenhorn in der Ferne hingen die verwischten Konturen eines abnehmenden Mondes. Sein blasses Licht reflektierte auf der glatten Fläche des Davosersees, welche tief unten auf der linken Seite zur Strasse lag.
Diese Ansicht war ihr vertraut. Das bizarre Bild, das sich dem Besucher bietet, kaum hat er den Wolfgangpass hinter sich gelassen. Jetzt sah es aus wie eine Nachtaufnahme, auf welcher sie nichts als flüchtige Umrisse von einem Hügel erkannte, der hinter dem Seebecken anstieg und in einen Wald überging. Weiter oben das Flüelamassiv mit seinen schroffen Flanken im Verborgenen der Finsternis. Früher habe das ganze Tal um Davos unter einem See gelegen, wusste sie aus Erzählungen. In vorsintflutlicher Zeit habe es im Parsenngebiet einen Bergsturz gegeben, der die fliessenden Gewässer gestaut hatte. Dadurch, dass das Wasser auf der entgegengesetzten Seite des Tales einen tieferen Abfluss fand, als der Schutt- und Geröllpass hoch war, habe sich das gestaute Wasser durch die Felsen gefressen und so eine Schlucht gebildet. Der kleine See am Rande von Davos sei der Rest des Sees, der einmal die ganze Landschaft umfasst hatte.
Aus dem Radio erklang Mendelssohns Ouvertüre zum «Sommernachtstraum», als sie die Galerie passierte. Kontrabass und Geige schmetterten ein Crescendo, dass es sie fröstelte. Die Tunnelwand flimmerte rhythmisch an ihr vorbei, bis sie abrupt von der Schwärze der Nacht abgelöst wurde.
Später konnte sie es sich nicht erklären, weshalb sie vor der Ortseinfahrt links auf den Parkplatz abgezweigt war. Eine intuitive Idee, eine kurze Rast einzuschalten, bevor sie weiter ins Dorf hineinfuhr.
Am Rand zum See, der in der Dunkelheit nur zu erahnen war, wandelten schemengleich fluoreszierende Lichtgestalten. Eine hinter der anderen schwebten sie dem Wasser zu.
Sie hielt an und löschte die Scheinwerfer. Fasziniert betrachtete sie das seltsame Spektakel.
Sie blieb im Auto sitzen und blickte gebannt durch die beschlagene Scheibe. Als sich ihre Augen an die Nacht gewöhnt hatten, sah sie von den ersten Häuserzeilen des Dorfes her Leute in langen weissen Gewändern in Richtung See wandern. In ihren Armen trugen sie etwas Starres, Rundes, was sie aus der Distanz nicht erkannte. Vorne, wo das Ufer lag, beugten sie sich nieder. Es sah aus, als schütteten sie etwas in den See.
Sie suchte nach ihrem Mobiltelefon. Es musste auf der Fahrt hierher vom Beifahrersitz auf den Boden gerutscht sein. Mendelssohn begab sich in den letzten Seufzer. Der unförmige Mond blickte durch die Scheiben. Der «Sommernachtstraum» klang aus.
Plötzlich nahm sie eine Bewegung unmittelbar neben ihrem Wagen wahr.
Ein Blitz traf ihre Augen.
Was war das?
Erschrocken realisierte sie das grelle Licht, das noch lange auf ihrer Iris nachwirkte und sie für ein paar Sekunden erblinden liess.
Es sind die Nerven, versuchte sie, ihre Trugbilder zu begründen. Sie hätte sich vor der Fahrt zuerst ein wenig schlafen legen sollen. Doch auch wenn sie es noch gewollt hätte, wäre es ihr nicht gelungen. Nichts hatte sie mehr zurückhalten können, nach Davos zu reisen, nachdem sie erfahren hatte, was geschehen war.
Ein Blick aufs Mobiltelefon. Die digitalen Ziffern kündeten vier Uhr siebenundzwanzig an. Zu spät, um jemanden anzurufen. Zu früh, um irgendwo frühstücken zu können. Trotzdem wollte sie den Rest der Nacht nicht auf dem unbequemen Autositz verbringen.
EINS
Man munkelte, mein Vater sei beim Skifahren tot umgefallen. Aber so genau wusste es niemand. Die Polizei hatte den Leichnam am Mittwochmorgen oberhalb der Ischalp aus dem Schnee geborgen. Da waren die Skier weg, die Schuhe ausgezogen und ebenso verschwunden gewesen. Die Spuren zeugten von mehreren Personen, welche die Piste oberhalb der Waldgrenze betreten hatten. Ob sie vor oder nach dem Sturz da gewesen waren, konnte niemand mit Bestimmtheit nachweisen. Nur eines war sicher: Unbekannte hatten sich Vaters Bretter angeeignet. Ohne Respekt gegenüber dem Toten. Ob es der Fremde getan hatte, der später die Polizei anrief, stand genauso in den Sternen wie die Antwort auf die Frage, weshalb Vater früh am Morgen unterwegs auf dem Berg gewesen war. Sein Anwalt, Dr. Polcan, behauptete nämlich, dass er sich mit ihm um neun im Hinterzimmer des «Café de la Poste» verabredet hatte. Man habe eine Neufassung des Testamentes besprechen wollen.
Das passte nicht zusammen.
Ich bemühte mich, meine Tränen zurückzuhalten. Beerdigungen vermittelten mir immer eine nicht zu beschreibende Beklemmung, und ich hätte nicht sagen können, ob mich der Tod meines Vaters betroffener machte, als wenn ein mir Unbekannter gestorben wäre. Friedhöfe strahlten für mich eine Aura aus, die mich gleichzeitig faszinierte und abstiess. Erst vor einem Jahr hatte ich einen guten Freund verloren, der jetzt hier lag – Tobias. An ihn musste ich denken. Nicht an Vater. Zu viel war geschehen. Zu viel Schmerz. Sollte mit dem heutigen Tag alles vorüber sein?
Ich war zu spät aufgestanden, obwohl ich mir vorgenommen hatte, es eine halbe Stunde früher zu tun. Ich hatte geduscht, mein verschlafenes und verweintes Aussehen mit Kosmetik kaschiert. Ich hatte den Kaschmiranzug schon am Vorabend zurechtgelegt. Nicht allzu aufgetakelt daherkommen wollte ich und trotzdem nicht den Eindruck erwecken, dass ich am Boden zerstört war. Eines Endes wegen, das nicht sauber geendet hatte. Weil ich vermutete, dass jemand zuvorgekommen war.
Vater gab es nicht mehr. Seine Uhr war abgelaufen.
Latent blieben gemischte Gefühle. Widerwille. Das Nichtwahrhaben-Wollen.
Oder sogar Erleichterung?
Ich sah auf die Menschen, die sich im Halbkreis neben- und hintereinander versammelt hatten. Der Pfarrer am Fusse des ausgehobenen Grabes sprach mit monotoner Stimme ein Gebet. Er schien im Beherrschen von traurigen Momenten geübt zu sein. Seine traditionelle Kutte hatte er gegen einen dunklen Zweiteiler eingetauscht. Einzig der steife weisse Kragen erinnerte an das Gewand, das er üblicherweise in der Kirche trug. Noch vor zwei Tagen hatte ich mich mit ihm über die Formalitäten der Beerdigung unterhalten. Er hatte mir den genauen Ablauf geschildert, sogar die Stelle gezeigt, die er aus der Bibel lesen würde. Die Erinnerung daran war wie ausradiert.
Die Verwandten und wenigen Freunde des Toten standen mit gesenkten Häuptern wie erschlaffte Marionetten.
Ein Montagmorgen Anfang April.
In zehn Tagen hätte mein Vater den fünfundsiebzigsten Geburtstag feiern können. Mit den Vorbereitungen dazu war ich fast durch, obwohl ich infolge meines Studiums nicht wirklich Zeit dazu fand. Meine Brüder hatten alles auf mich abgewälzt und gemeint, dass ich schon immer ein Organisationstalent gewesen sei. Eine Feier ganz nach Vaters Gusto hätte es gegeben. Nachtessen in einem Tessiner Grotto. Mit fünfzig Geladenen. Vaters Wunsch hatte sich dann aber als schwieriges Unterfangen erwiesen. So viele Freunde besass er nicht mehr, und wenn, dann hatte er sie nur benutzt. Für ihn galt ein Freund etwa so viel wie eine Aktie. Er war austausch-, kaufbar und vom Kurs abhängig.
Die Hälfte der eingeladenen Geburtstagsgäste war dem Begräbnis ferngeblieben, obwohl ich mich bemüht hatte, die Todesanzeige an alle diese Leute zu versenden. Einige hatte ich sogar angerufen, die sich jedoch mit fadenscheinigen Begründungen entschuldigten.
Ich wollte jetzt nicht darüber nachdenken.
Trotzdem zogen meine Gedanken durch Zeit und Raum. Zurück ins Totenhaus, wo man vor fünf Tagen die sterblichen Überreste meines Vaters hingebracht und aufgebahrt hatte. Ich war sehr erschrocken gewesen über seinen erschlafften Körper. Dieses wächserne Gesicht, die tiefen Furchen. Nichts war von seiner Bräune zurückgeblieben als ein paar behaarte Flecken, die man vom Alter kennt, vom unvorsichtigen Umgang mit der Sonne. Er hätte an Hautkrebs sterben können oder an Leberzirrhose, aber nicht so.
Spürt man, wenn die Seele geht? Eine Frage, die unbeantwortet blieb. Für mich.
Manchmal hatte es mich gedünkt, als hätte Vater zeit seines Lebens keine besessen.
Einer der letzten Patriarchen war tot.
Bartholomäus Cadisch, Sohn des Bauern Gion-Gieri Cadisch, ein vom Bündner Oberland Zugewanderter, der sich im Landwassertal niedergelassen hatte und dessen wirkliche Herkunft nur die Dorfältesten kannten. Vielleicht diejenigen noch, die in den Archiven der Regionalzeitung nach längst Vergessenem stöberten. Da lag er nun. War Hülle geworden, nicht einmal mehr verletzlich. Sein Körper zu dem verkommen, was er zeitlebens angebetet hatte: kalte Materie.
Ich wandte mich zur linken Seite, wo mein ältester Bruder keine zwei Meter neben mir stand. Andrin: Er schien nicht bei der Sache zu sein. Der Mann an seiner Seite war unwesentlich kleiner: Pablo Camenisch. Ich hatte ihn erst zweimal gesehen. Er war Andrins Freund, sein Geliebter, sein Lebenspartner. Vater hatte ihn nicht geduldet. Schwule hätten in seiner Familie nichts zu suchen, hatte er seinen Standpunkt verteidigt. Dass sein eigener Sohn homosexuell war, hatte er verdrängt, ihm sogar gedroht, ihn zu enterben, wenn er seine sexuelle Neigung nicht ändern würde. Die Beziehung zwischen Vater und Andrin hatte sehr gelitten. Und Andrin hatte die Konfrontation zwischen Vater und Pablo fortan vermieden. Deshalb verwunderte es mich, dass Pablo heute anwesend war.
Luzi stand schräg vor Andrin und dem Grab am nächsten. Seine reglose Gestalt erinnerte an eine Figur aus dem Panoptikum der Madame Tussaud. Auf den Armen trug er seine dreijährige Tochter Fiona – meine Nichte –, welche infolge eines einbandagierten Fusses nicht allein stehen wollte. Die Kleine schmiegte ihren Blondschopf schlafend an den Hals ihres Vaters.
Luzi hatte vor Kurzem mit seiner jungen Familie sein Eigenheim bezogen. Dass er sich mit der Finanzierung verschätzt hatte, war nicht lange geheim geblieben. Er hatte Vater um Unterstützung gebeten, war jedoch zuerst abgeblitzt. Erst nach langen Erklärungen und unschönen Dialogen hatte sich Vater bereit erklärt, einen Kredit zu gewähren und gleichzeitig die Bürgschaft für einen Kredit bei der Bank zu übernehmen. Ich ahnte, dass dies Luzis sicherer Todesstoss bedeutete.
Sibylle, Luzis schwangere Frau, befand sich etwas abseits. Sie erwartete in den nächsten Tagen ihr zweites und drittes Kind. Ihre gefalteten Hände lagen über ihrem prallen Leib, sie hatte ihr Gesicht gesenkt, als führte sie Zwiesprache mit ihren Ungeborenen.
Gleich hinter den beiden Brüdern, im Schatten einer Tanne, stand Bernadette Cadisch, geborene Wagner und die Mutter von Luzi. Nicht klar, weshalb sie zu der Beerdigung gekommen war, wo sie doch zeitlebens an Vater nichts Positives gefunden hatte. Ob sie dachte, von dem grossen Kuchen, der bald verteilt würde, auch noch ein Stück zu erhaschen? Sie wirkte wie eine verwelkte Diva in ihrem schwarzen Nerzmantel, ein aus der Mode gekommenes Requisit aus den sechziger Jahren. Sie stützte sich linksseitig auf einen Stock, dessen elfenbeinfarbenen Knauf sie so umfasste, dass man ihre rot lackierten Fingernägel zwangsläufig ansehen musste. Kurz musste ich an die scharfen Krallen eines Greifvogels denken.
Mein Vater hatte etliche Beziehungen gehabt. Aus der ersten Ehe mit Monique, geborene Vögtli, war Andrin hervorgegangen – ein Unfall im Bett, was ich von Mam wusste. Als Monique einen amerikanischen Pornoregisseur kennengelernt hatte, habe sie Mann und Sohn verlassen und sei in die Staaten ausgewandert. Dies sei ein harter Schlag für Vater gewesen. Daraufhin hatte er Bernadette geheiratet, um für seinen Erstgeborenen eine Ersatzmutter zu haben. Doch auch diese Beziehung habe nicht sehr lange gehalten.
Die Ehe mit Franca Sturm war kinderlos geblieben. Sie hatte genug mit Andrin zu tun gehabt. Nach der Scheidung hatte sie ihre Erfüllung in einem Kloster gefunden, wo sie bald darauf an einer unheilbaren Krankheit starb.
Vaters neueste Errungenschaft hatte er vor acht Jahren kennengelernt und sie Hals über Kopf geheiratet. Aus Wut, Rache und Torschlusspanik, was offensichtlich war. Er hatte es bis heute nicht verkraftet, dass meine Mam ihn verlassen hatte.
Letícia Epaminondas de Souza Cadisch. Der Name bot genug Stoff für Gespräche am Stammtisch. Ich hatte anfänglich grosse Mühe bekundet, mich mit der gebürtigen Brasilianerin anzufreunden, weil sich mein Vater mit ihr zum Gespött der Gemeinde machte. Vater hatte jedoch behauptet, das sei der pure Neid, weil ihn eine Dreissigjährige angelacht habe. Natürlich war es umgekehrt gewesen, denn Vaters Hang zu jungen Frauen war nichts Neues. Gleichaltrigen war er nicht gewachsen gewesen, obwohl ich den Grund zu kennen glaubte: Er hatte herrschen und beherrschen wollen. Junge und unerfahrene Frauen hatten ihm sein Ego genauso aufpoliert wie alle die Leute, die von seinem Portemonnaie abhängig waren. Die Umstände, wie er Letícia kennengelernt hatte, trieb mir beim blossen Darandenken Röte ins Gesicht. Sie war zuerst Luzis Freundin gewesen, die er im Davoser Nachtclub kennengelernt hatte.
Die Sonne stach vom Aprilhimmel. Ihre Strahlen durchbrachen die kahlen Lärchen, welche den Waldfriedhof beim Wildboden säumten. Hie und da ein gelbes Aufblitzen einer verfärbten Nadel, die trotzig dem Tannentod wehrte. Das Landwasser dampfte im nimmermüden Lauf. Über den Wipfeln glitzerte die schneebedeckte Kuppe des Jakobshorns, darüber der Kondensstreifen eines Linienjets, der sich in der Ferne verlor, auf der anderen Seite des Horizontes und für die Trauernden unsichtbar. Ich blickte auf den Sarg, der in einer Flut von Blumenarrangements aufgebahrt war. Die Zurschaustellung des Sarkophags hatte zwar bei einigen zu reden gegeben, andere hatten sich belustigt darüber geäussert, dass dies ganz im Sinne des Bartholomäus sei. Er habe sich seit früher Jugend stets in eine wichtige Position gerückt. Und wir Kinder hatten nur seinem Naturell entsprochen.
Unklar blieb, woher alle diese Kränze kamen.
Zerstreut nestelte ich an meiner Kaschmirjacke, öffnete mit zitternden Fingern die Knöpfe und schälte mich heraus. Wieder dieses undefinierbare Gefühl.
«… aus der Erde sind wir geboren, zur Erde kehren wir zurück …»
Ich lauschte, ohne die Worte des Pfarrers zu begreifen. Er hatte seine Bibel aufgeschlagen. «… Dazwischen stand ein reich erfülltes Leben … er hat gesät und geerntet …»
«Vor allem geerntet», hörte ich jemanden sagen, worauf ein unverständliches Getuschel begann. Der Pfarrer zitierte ein Gleichnis aus dem Neuen Testament, dem niemand richtig zuzuhören schien. Von Zeit zu Zeit äugte er über den oberen Brillenrand und hängte seine eigene Interpretation an. Im Anschluss huldigte er Worte des Dankes und lobte den Verstorbenen, was kaum jemand zu verstehen schien. Kopfschütteln und Achselzucken. Verlegenes Räuspern. Doch der Tod begradigt so manche Schwäche, und dem Toten Übles nachreden wäre nicht im Sinne der Hinterbliebenen gewesen, zumal Vaters Ableben für viele der hier Anwesenden eine Verbesserung der Lebensqualität in Aussicht stellte. Mich eingeschlossen.
Der Hügel hinter dem Friedhof war braun gesprenkelt. In den letzten milden Tagen hatte sich der Schnee in die höheren Lagen zurückgezogen. An seine Stelle waren glitzernde Bäche getreten, verwaschene Gräser, die sich zaghaft aufzurichten versuchten, und aufgeworfene Erdklumpen wie Maulwurfshügel im sonnendurchfluteten Tag. Auf den Gräbern drangen Krokusse durch den sulzigen Restschnee. Als Hymne der Unsterblichkeit oder des Wiedergeborenwerdens. Vielleicht als Trost für die Endgültigkeit.
Der Pfarrer segnete den Sarg. Ich bezweifelte, ob diese Worte etwas bezweckten, zumal mein Vater, seit ich mich erinnerte, jegliche christlichen Glaubensgrundsätze mit Füssen getreten hatte.
In der Ferne der dumpfe Schlag der Mittagsglocke, welcher in leisen Tönen über die Landschaft hallte.
«Warum hat man Vater nicht einfach kremiert?» Ich war neben meinen Bruder Valerio geschlichen, der mit hängendem Kopf zuhinterst stand. Er hatte die Hände verschränkt. Mit dem linken Fuss zeichnete er einen Halbkreis auf den feuchten Asphalt. Zweifelsfrei war er mit seinen Gedanken weit weg. Er liess schweigend die Zeit verstreichen und bemühte sich um ein ernstes Gesicht, das südländisch anmutete. Trotz seines energischen Profils, der leicht gebogenen Nase und den grossen dunklen Augen hatte er etwas unschuldig Naives, sogar Zartes an sich. Im Alter von siebenundzwanzig Jahren schien er den Ernst des Lebens noch nicht begriffen zu haben. Er fühlte sich stets auf der Sonnenseite. Das Leben war ein Karussell, und er schwebte von einem Höhepunkt zum anderen. Allem, was ihm Probleme bescherte, wich er aus. Er galt als Exot in der Familie. Auch äusserlich besass er wenig Ähnlichkeit mit dem Rest der Geschwister.
«Du bist mir eine Antwort schuldig», drängte ich leise, aber bestimmt.
«Die kann ich dir nicht geben», entgegnete Valerio. «Ich habe die Beerdigung nicht vorbereitet. Aber wenn du meine Meinung hören willst, Vater hätte eine Einäscherung nicht gewollt. Auch wenn er es nie zugab, er ist sehr altmodisch gewesen.»
Kurzes Zögern auf beiden Seiten. Ich überlegte mir, wie viele von den Angehörigen echte Trauer empfanden. Ich traute es weder meinen beiden Halbbrüdern zu, die mit ihren Partnern aus dem Engadin angereist waren, noch Vaters fünfter Frau Letícia, die unmittelbar neben dem Sarg harrte und ihre Krokodilstränen abtupfte, noch Vaters Schwester Benita, die sogar ihre Ferien in Nepal abgebrochen hatte, um hierherzureisen. Erstaunlich gefasst stand sie da, immer noch aufrecht mit ihren zweiundsiebzig Jahren. Ihre Haare waren mittlerweile schlohweiss geworden und rahmten ein gebräuntes faltiges Gesicht ein. Je älter sie geworden war, umso mehr hatte sie die Züge meines Vaters angenommen.
«Er hat seinen Körper mit viel Sport in Form gehalten», meinte Valerio leise und drückte seine Schultern nach hinten, um seine eigene Sportlichkeit zu demonstrieren. Sein gestählter Oberkörper sprengte den schwarzen Blazer, den er schon bei der Maturafeier vor sieben Jahren getragen hatte.
«Deshalb ist es merkwürdig, dass er beim Skifahren einfach zusammenbricht … Trotzdem ein schönes Ende. Sterben im Schnee …» Meine Stimme begann zu zittern. Ich zog meinen Bruder am Arm, während der Pfarrer ein Lied anstimmte. «Ich habe die Dinge immer aus einer respektvollen Distanz betrachtet.» Ich musste das jetzt loswerden. «Ehrlich gesagt habe ich Mam besser verstanden als du, wo du doch von Vater ziemlich indoktriniert warst.»
«Deinen juristischen Fachjargon könntest du dir zumindest auf dem Friedhof verkneifen», empörte sich Valerio leise, während man ein mir unbekanntes Lied sang. Er griff mit der rechten Hand ans Kinn. Die wuchernden Bartstoppeln bezeugten den raschen Aufbruch vor vierundzwanzig Stunden, wo ihn am Strand von Yucatán die Nachricht von dem Tod unseres Vaters ereilt hatte. Nur auf Umwegen und mit viel Mühe hatte ich seinen Aufenthalt herausgefunden. Aber da war Vater schon seit drei Tagen tot, und das Begräbnis stand fest.
Während vier Träger den dunkelbraunen Sarg an starken Seilen in die Tiefe senkten, schwenkte der Fahnenträger das Familienwappen. Drei Musikanten aus dem ortsansässigen Verein hoben ihre Blasinstrumente. Der zweite Teil aus «Free As A Bird» von Louis Armstrong schwang über die Köpfe der Anwesenden. Es mutete etwas sonderbar an. Ich erinnerte mich an Vaters Ohrwurm, ein einziges Musikstück, das er je gemocht und zu den unmöglichsten Begebenheiten abgespielt hatte, und das jahrelang. Er war ein unmusikalischer Mensch gewesen.
Valerio wandte sich um und verfolgte mit zusammengekniffenen Augen die Trauerzeremonie, in die Bewegung gekommen war.
«Sieh sie dir an!», spottete er, dass nur ich es hörte. «Der Landammann hat es nicht für nötig gefunden, mit seiner Frau zu kommen. Häusermann fehlt auch, und die paar Dörfler sind aus purer Neugier erschienen.»
«Hast du etwas anderes erwartet?»
Eine Weile versank ich in meinen Gedanken. Ich versuchte auf mein Inneres zu hören. Den Verlustschmerz hatte ich bis jetzt nicht richtig wahrgenommen. Kein heftiges Gefühl der Trauer. Trotz der Tränen.
«Ich glaube, mit dem Tod des Vaters ist etwas nicht mit rechten Dingen zugegangen. Nach seinem letzten Untersuch beim Hausarzt Dr. Maissen berichtete er mir, dass alles in Ordnung sei. Mit seiner Körperkonstitution hätte er ohne Weiteres noch fünfzehn Jahre leben können.»
Valerio sah nachdenklich auf mich nieder. «Du hast ihm in der letzten Zeit sehr nahegestanden. Du warst sein einziges Mädchen. Bist du sehr traurig?»
«Nicht deswegen. Ich hatte noch gar keine Zeit, darüber nachzudenken. Bestürzung und Wut dürften die treffenderen Worte sein. Ich bin wütend, weil ich mich mit ihm nicht versöhnt, weil ich viele Dinge nicht geklärt habe.»
«Ihr hattet Streit?»
Ich wusste nicht, ob ich mich meinem Bruder anvertrauen sollte. In den entscheidenden Momenten war er stets auf Reisen gewesen, war jeglichen Konfrontationen ausgewichen, um nicht mit Vater diskutieren zu müssen. Er war der geborene Ja-Sager und Rosinenpicker. Vielleicht lag darin des Rätsels Lösung. Wer sich gegen Vater auflehnte, musste früher oder später mit einem Zank rechnen. Valerio zog sich in heiklen Situationen immer zurück. Er bestaunte die Welt durch die rosarote Brille.
«Es gab selten Tage, an denen dies nicht der Fall war», sagte ich. «Ich warf ihm vor, dass er sein halbes Vermögen in Letícia investiert, wo sie doch nichts tut, ausser Geld mit vollen Händen auszugeben. Dauernd trägt sie neue Klamotten. Ihr Schrank muss mit Schuhen und Handtaschen vollgestopft sein. Du kannst dir etwa denken, was er darauf erwiderte.»
«Dass wir alle hinter seinem Erbe her seien.» Valerio verzog seinen Mund. «Dabei hatte sie, wie unsere Mam auch, stets vor ihm auf die Knie gehen müssen, um ihren angemessenen Unterhalt zu bekommen. Es hätte mich gewundert, wenn er mit Letícia anders umgegangen wäre.»
«Ich werde in den nächsten Tagen ein paar Dinge sondieren», lenkte ich ab, «ein wenig Ordnung schaffen, was in Anbetracht von Vaters Chaos kein leichtes Unterfangen sein wird. Er legte alles zur Seite, was ihm in die Hände kam. In seinem Büro befinden sich Hunderte von Dokumenten, Quittungen, Zeitungsberichten, Ausschnitten von Illustrierten, was wir uns näher ansehen müssen. Vielleicht finden wir etwas, das uns einen Weg weist.»
«Du hast vor, einfach in seinen Sachen zu wühlen? Und wohin führt das?»
«Ich glaube, das ist vonnöten», sagte ich. «Vielleicht hätten wir die Kriminalpolizei einschalten sollen. Ich schliesse nichts aus.»
«Was heisst das?»
«Vielleicht hat man ihn umgebracht.»
Valerio fasste meinen Arm und zog mich an sich. «Hat dich dein Studium nun ganz degeneriert? Oder kann ich davon ausgehen, dass deine überbordende Phantasie mit dir verrücktspielt?»
«Ich weiss nicht, es ist so ein Gefühl. Übrigens, du tust mir weh.»
Er liess mich los. «Ihr Frauen mit euren Gefühlen!» Er verzog den Mund zu einer Grimasse und rückte seinen Körper wieder gerade. «Er ist altershalber gestorben, so einfach ist das.»
«Ja, so haben auch die Ärzte gedacht. Seine körperliche Verfassung und der Bericht von Dr. Maissen über Vaters Gesundheit sprechen aber eine andere Sprache.»
Der Fahnenträger liess nach der letzten verklungenen Musiknote das Banner auf den Sarg hinunterfahren. Letícia beugte sich, um eine Handvoll Erde aufzunehmen, was Andrin, der in ihre Nähe vorgedrungen war, mit leisem Ausruf missbilligte.
«Wenn hier jemand Erde auf den Sarg wirft, dann bin wohl ich das, der Erstgeborene!»
«Mach dich doch nicht lächerlich», tadelte ich und hielt Andrin von einem unüberlegten Intermezzo zurück. «Von einem Mann in deinem Alter kann man wohl etwas anderes erwarten als eine solche Blamage.»
Andrin zog beleidigt den Kopf ein.
«Immerhin war sie seine rechtmässig angetraute Ehefrau», flüsterte ich.
«Von diesem Recht wird sie ausufernd Gebrauch machen, du wirst schon sehen», konterte er.
«Stell dich nicht so an», sagte ich später zu ihm. «Vater hat es nicht verdient, dass wir uns an seiner Beerdigung wie in der ‹Dreigroschenoper› aufführen. Bitte ein wenig Respekt.»
Andrin warf den Kopf in den Nacken. Seine Augen wurden schmal. Ich bemerkte, wie Pablo ihn am Ärmel zog.
«Vielleicht kannst du für einmal deine zynischen Bemerkungen unterdrücken», tadelte Luzi. Die aufgewachte Fiona hatte er in der Zwischenzeit auf den Boden gestellt. «Dich hört man über alle Gräber hinweg.»
«Die sind doch alle schwerhörig hier», versicherte Andrin.
«Wir fahren jetzt zum Alpenblüemli!» Sibylle unterbrach die drei Geschwister. Schlichterin wie immer. Meine Brüder hätten sich verprügeln können; Sibylle fand immer einen Ausweg. Neben ihr humpelte Fiona in bemitleidenswerter Manier. Vom Saum ihres grauen Samtkleidchens blitzten weisse Spitzen. Sie sah aus wie ein menschgewordenes Porzellanpüppchen aus einer antiken Sammlung, was die blonden Spirallocken noch verstärkten.
«Du und Allegra könnt mit uns fahren. Wir haben noch genug Platz.»
Sie wandte sich zuerst an mich, dann an Valerio, welcher auf ihren Bauch, den es aus den Nähten zu sprengen schien, dann auf den weissen Van deutete. «Nun ja, wenn ich euren Familienwagen ansehe, so habt ihr noch einiges vor. Acht Plätze, sagtest du …?»
Ich blickte schweigend zu Sibylle und wartete vergebens auf eine Reaktion.
Meine Schwägerin. Eigentlich meine Halbschwägerin. Sie war mir schon immer ein wenig bieder vorgekommen, was ihre aschblonden kurzen Haare und die grauen Augen unterstrichen. Trotz ihrer Auszeichnung als diplomierte Narkoseschwester und dem Wissen um ihre Kompetenz blieb sie für mich die graue Vorstadtmaus, die meinem Halbbruder vor acht Jahren den Kopf verdreht hatte. Kurz nachdem mein Vater ihm Letícia ausgespannt hatte. Dass sie als Ersatz hatte hinhalten müssen, war ihr egal gewesen, zumal sie aus einer einfachen Familie stammte und die Ehe mit Luzi als ein Sprungbrett in eine angesehene Gesellschaft ansah. Damals hatte sie nicht geahnt, was ihr alles noch blühte.
«Ich werde mit Valerio fahren», sagte ich und hängte mich bei meinem Bruder ein. «Er hat seinen Wagen auch dabei.»
Niemand kondolierte.
Während die Totengräber Erde auf den Sarg schaufelten, trieb es die Trauergäste in alle Himmelsrichtungen auseinander. Ein groteskes Bild bot sich uns, den Hinterbliebenen. Die Musiker verstauten ihre Instrumente in den Futteralen, und der Fahnenträger legte das Familienbanner auf einen der Kränze, als wäre er mit dem Text auf der zugedeckten Schleife nicht einverstanden. Die Lilien machten schlapp, und die violette Masche «mit dem letzten Gruss» sog sich mit Schmelzwasser voll.
«Hat Luzi nicht zum Leichenschmaus geladen?» Ich blickte nach hinten. «Vielleicht hätten wir warten sollen.»
Valerio zückte den Autoschlüssel. «Ich habe keine Lust, ins Alpenblüemli zu gehen», schmollte er.
«Und trotzdem müssen wir dorthin.» Wir standen jetzt vor seinem blauen Kombi. «Ist Letícia schon gegangen?»
«Ja, zu Fuss, nehme ich an.» Valerio öffnete die Wagentür. «Sie hat schon über sechzig Fahrstunden, aber noch immer keine Prüfung.»
«Sie tut mir leid», sagte ich.
«Sie wird wieder in ihre Heimat zurückkehren», meinte Valerio. «Zu ihrem Liebhaber, den sie nun mit Reichtum überschütten kann. Clevere Frau …»
«Dass du auch immer solche Gedanken hegen musst», entrüstete ich mich.
«Nun ja, einen Brief von Guilherme hat sie ja mal offen liegen lassen … also halb offen.»
«Und du hast ihn gelesen? Scheusal!» Ich wusste nicht, ob ich mich hätte darüber aufregen sollen.
«Als Archäologe hat man nun mal die Angewohnheit, nach Ungewöhnlichem zu graben.»
«Und?» Ich setzte mich auf den Beifahrersitz. Die Hitze im Wageninneren raubte mir den Atem. Ich kurbelte die Scheibe hinunter. «Was schreibt er?»
«Du bist ja neugierig!» Valerio mochte es, mich zu provozieren. «An die Sätze mag ich mich nicht mehr erinnern. Aber er muss der Mann sein, der Letícias geheime Sehnsüchte stillt.»
«Hm … Deshalb reist sie dreimal im Jahr für einen Monat in ihre Heimat.» Ich stöhnte ob der infernalischen Hitze. Vergeblich versuchte ich, die Frischluftzufuhr zu regulieren.
«Durch und durch berechnend, diese Frau.» Valerio startete den Motor.
Ich glaubte wohl eher an ein berechtigtes Motiv in ihrem jungen Alter. «Sei ehrlich», forderte ich meinen Bruder auf, «meinst du, der hat noch mit ihr …?»
Valerio grinste. «So, wie er mir erzählt hat … Charlie Chaplin hat auch noch mit knapp achtzig Jahren Kinder gezeugt.»
Er fuhr an, und ich zerschnitt mit einem Taschentuch die heisse Luft. Ich wandte mein Gesicht Valerio zu. Unfähig, seiner Aussage Glauben zu schenken, dachte ich, dass Hunde, die bellen, nicht beissen.
«Ist was?»
«Nichts. Ich habe nur gerade an Vater gedacht und daran, was aus Mam geworden wäre, wenn sie ihn nicht kennengelernt hätte.»
«Dann gäbe es uns nicht.» Valerio deutete mit dem Zeigefinger zuerst auf mich, dann auf sich. «Allein dieser Gedanke ist verwerflich.»
Wir fuhren jetzt auf die Hauptstrasse, die ins Dorf führte. Grün-weiss-gefleckte Landschaft. In der Ferne die Kirchturmspitze, welche sich in einen makellosen Himmel schraubte. Einer Legende zufolge sei die spiralförmige Windung der Turmspitze durch den Wind entstanden.
Davos. Mein Geburts- und Heimatort.
Trotzdem kam ich mir hier wie eine Fremde vor. Es dünkte mich, als wäre hier alles stehen geblieben. Ein verstaubtes Spielzeugdorf in den Bergen mit ein paar wenigen modernen Bauten. Noch säumten die gleichen Häuser die Strasse wie damals, bevor ich mit meiner Mam in die Zentralschweiz gezogen war. Noch immer die gleichen grauen Flachdachbauten, die windschiefen Holzhäuser in der Nähe des Spitals. Der vergebliche Versuch, durch teilweise Renovationen das Gesamtbild zu verbessern. Unüberlegte Flicke, überflüssige Gestaltungen. Die schmutzigen Trottoirs, die von Staub verunreinigten Fensterscheiben. Noch immer die Einbahnstrasse und das Verkehrsschild, welches die Fahrt in die falsche Richtung anzeigte.
Ein Film war stehen geblieben.
Vor dem Bahnhof die Kutschen und Pferde, die auf die Touristen warteten. Die Schiefertafel vor dem gelben Hotel und der Buddhastatue beim Eingang. Und dann, gegenüber der Bushaltestelle, das Denkmal grössenwahnsinnigen Gebarens. Ein grauer Betonklotz inmitten beschaulicher Umgebung. Ein Hotel der Superlative, wie es Davos noch nie zuvor gesehen hatte.
Vaters Denkmal.
Bei der Einfahrt zur Tiefgarage ein Obelisk, auf dem sein Name eingraviert war.
«Du hättest den Weg über die Oberstrasse nehmen können», sagte ich.
«Warum? Willst du nicht sehen, was uns bald gehören wird?»
Valerio verlangsamte das Tempo.
«Ich werde freiwillig darauf verzichten», entgegnete ich.
«Einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul.» Valerio provozierte schon wieder. «Zudem wird es sicher ein Testament geben.»
«Natürlich gibt es eines. Das hatte Vater schon früh geregelt. Er wollte sich letzte Woche mit dem Anwalt und dann mit dem Notar treffen. Dr. Polcan hat gesagt, Vater habe eine Änderung anbringen wollen.»
«Wohl eher eine Anpassung.» Valerio stiess Luft aus. Offensichtlich regte ihn mein Gerede auf.
«Vielleicht hat er seiner Enkelin etwas vermachen wollen», fuhr ich fort.
«Fiona?»
«Warum nicht? Vielleicht Letícia?»
«Dann kannst du sicher sein, dass sich die Erbteilung in die Länge ziehen wird.»
«Du bist ja richtig erpicht darauf. Warum eigentlich?»
«Nein, bin ich nicht. Hüte dich davor, mir etwas Erfundenes zu unterstellen.» Valerio boxte mich in die Seite, während er seinen Mund zu einem schrägen Lachen verformte. «Wir denken schon wie er – ans Geld.»
«Ich nicht. Und solange ich in der Ausbildung stecke, wird der Rubel auch so rollen. Es gibt ja diese Klausel. Von dieser hast auch du profitiert, obwohl Vater nicht mehr verpflichtet gewesen wäre, die Zweitausbildung zu finanzieren.»
«Das war meine Erstausbildung», wehrte sich Valerio.
«Andere müssen sich ihr Studium selbst verdienen, indem sie in den Semesterferien einen Job annehmen. Du warst immer auf Reisen.»
«Learning by doing.»
«So kann man es auch sagen.»
Wir fuhren jetzt den Fluss entlang. Wieder das Gefühl von Fremdheit. Würde ich jemals wieder in diesem Dorf wohnen wollen?
ZWEI
Das Restaurant Alpenblüemli liegt an der Hauptstrasse, die nach Davos Dorf führt, eingepfercht zwischen einem Betonbau aus den frühen neunziger Jahren links und einem schäbigen Geschäftshaus mit Flachdach rechts, zurückversetzt hinter einer knorrigen Föhre. Der kleine Garten war mit hellen Platten ausgelegt. Die Fassadenfarbe, etwas zwischen Grün und Oliv, bröckelte ab. Vor dem Eingang standen zwei Tonkübel mit Buchsbäumen. In den Vitrinen verstaubten Weinflaschen und matte Gläser neben künstlichen Blumen, die das einstmals satte Grün infolge starker Sonneneinstrahlung verloren hatten. Die Tür war nur angelehnt.
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