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Am Wochenende liebt sie Franklin, den Juristen. Montags liebt sie Tom, den Einbrecher. Mittwochs liebt sie Anthony, den Lord. Jeder von ihnen glaubt, er sei der einzige. Alle drei sind glücklich. Auch Jane ist glücklich ... Aber eines Tages erwartet sie ein Kind – von wem? Soll Jane ihren drei Liebhabern die Wahrheit sagen? Eine Vierecksgeschichte mit Herz, Charme und viel Humor – und mit gezielten Seitenhieben auf gesellschaftliche Vorurteile.
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Seitenzahl: 473
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Dee Wells
Jane
Aus dem Englischen von Marianne Therstappen
Ihr Verlagsname
Am Wochenende liebt sie Franklin, den Juristen. Montags liebt sie Tom, den Einbrecher. Mittwochs liebt sie Anthony, den Lord. Jeder von ihnen glaubt, er sei der einzige. Alle drei sind glücklich. Auch Jane ist glücklich ... Aber eines Tages erwartet sie ein Kind – von wem? Soll Jane ihren drei Liebhabern die Wahrheit sagen? Eine Vierecksgeschichte mit Herz, Charme und viel Humor – und mit gezielten Seitenhieben auf gesellschaftliche Vorurteile.
Dee Wells, eine amerikanische Journalistin, war Mitarbeiterin der «New York Times», des «Guardian», des «Sunday Express», des «Daily Herold» und der Zeitschrift «Punch». Außerdem arbeitete sie für Rundfunk und Fernsehen.
Im Gedenken an V.R. Lang, Lyriker und Dramatiker, der im Juli 1956 starb.
Beim ersten Klingeln drehte sie unwillkürlich den Kopf auf die andere Seite, fort vom Telefon. Beim zweiten Klingeln verwandelte ein noch listigerer Abwehrreflex das Drrr-Drrr des Londoner Telefons in den Pariser Doppel-Summton für ‹besetzt›. Es klang so echt, daß es sie beinahe überzeugte.
Sie befand sich in einer Telefonzelle in der Gare de l’Est. Sie hatte Odéon 78–51 gewählt. Sie roch den schalen Métro-Geruch von Gauloises und sah aus dem Augenwinkel heraus, wie draußen besorgt aussehende Leute vorüberhasteten. Sie las die Plakate an der Wand. «Les femmes qui savent vivre, s’habillent aux …»
Sie las noch einmal die Anweisungen. «Décrochez le recevoir. Mettez un jeton … composez le numéro d’appel …» Drrr-Drrr.
Sie drückte auf einen Knopf, und ihr jeton fiel rasselnd herunter. Sie spürte den zweiten, heftigeren Ruck, mit dem sie die Tür der Telefonzelle aufstieß. Aber der doppelte Summton hörte nicht auf. Sie gab der Wirklichkeit nach, wachte auf, löste sich aus Anthonys Armen und griff nach dem Hörer.
«Hallo.»
«Ist Miss Jane Cornell – äh – zu sprechen? Ich habe hier ein Gespräch von Washington, D.C.»
«Ein Gespräch von wem?»
«Ich habe ein Gespräch von Wash-ing-ton, D.C., für Miss Jane Cornell – äh. Ist …»
«Ja, schon gut. Hier ist Jane Cornell, am Apparat.»
Stille.
«Hallo? Fräulein?»
«Bleiben Sie in der Leitung, bitte. Ich versuche – äh – Sie zu verbinden.»
Es drang gerade genug schmuddliger rosa-grauer Morgen durch das Oberlicht über dem Bett, daß sie die Zeit auf ihrem Warenhauswecker erkennen konnte. Fünf nach fünf. Keine reizvolle Zeit. Nicht einmal ästhetisch befriedigend wie das Zwanzig-nach-acht der Uhren in Werbeanzeigen. Vermutlich nicht einmal genau.
Den Hörer zwischen Kinn und Schlüsselbein geklemmt, riß sie ein Streichholz an und blinzelte auf das ziffernlose Zifferblatt aus Lapislazuli von Anthonys Armbanduhr. Viertel vor fünf. Nun, du hast eben Woolworth-Zeit, dachte sie. Aber alles hat seine zwei Seiten, und man bekommt schließlich kein Thunfischbrötchen mit Extra-Mayonnaise zum Mitnehmen bei Cartier.
Dann, aufreizend fröhlich, Angelas Stimme.
«Hallo, Liebling. Fröhlichen Aschermittwoch.»
«Angela, zum Teufel. Es ist fünf Uhr morgens!»
«Red keinen Unsinn, das kann nicht sein. Es ist noch nicht Mitternacht hier, und das Telefonfräulein hat gesagt, es wären fünf Stunden Unterschied.»
«Sind es auch. Sie hatte vollkommen recht.»
«Oh, mein Gott, also so herum.»
«Du sagst es. So herum. In Uhrzeigerrichtung. Ihr hängt nach. Es ist alles Teil einer Ordnung, einer großen Ordnung, die zu verstehen uns nicht gegeben ist.»
«O Gott, tut mir das leid. Mein Gott, wie gräßlich! Kein Wunder, daß sie es WEZ nennen – Welch Elende Zeit. In meinem ganzen Leben hab ich noch nichts Elenderes gehört.»
«Okay. So schlimm ist es nun auch wieder nicht. Aber geh schonend mit mir um, mein Kopf macht nicht ganz mit.»
«Was, abgesehen von den offenkundigen Mängeln, über die wir jetzt nicht reden wollen, ist denn los mit deinem Kopf?»
«Keine Ahnung. Der Mann hat gesagt, es wäre der beste Stoff seit Acapulco Gold, aber mit dem verständlichen Stolz des Händlers auf seine Ware könnte er sich …»
«Also wirklich, Jane. Nein, wirklich. Es ist abstoßend, wie du in dieser abscheulichen Fabrik wohnst und …»
«Es ist keine Fabrik. Wie oft muß ich dir noch sagen, daß es ein Lagerhaus ist? Und auch nicht irgendein altes Lagerhaus. Wir waren in House and Garden.»
«Was immer es ist, es ist abscheulich. Und wenn Leute in deinem Alter in Lagerhäusern wohnen und Hasch rauchen, so besagt das etwas. Es besagt jedenfalls bestimmt etwas über Unreife. Ich werde natürlich nicht genau sagen, was es besagt, aber bestimmt …»
«Angela, hör auf. Ich bin nicht irgendeine heruntergekommene Süchtige, und außerdem, seit wann beschimpft der Kessel den Topf?»
«Nicht witzig, Liebling.»
«Gut, dann eben nicht. Nun sag schon, was du willst, damit ich wieder einschlafen kann.»
«Was heißt wollen. Wollen – ach du liebe Güte! Was wollen denn alle? Liebe, Weisheit. Die ewige Glühbirne. Daß es wieder Bier in Pfandflaschen gibt und keine Schweinsohren in den Würstchen. Aber da du schon fragst … Ich wollte dir eigentlich nur etwas erzählen, solange Aubrey im Badezimmer ist.»
«Wer ist Aubrey?»
«Liebling, wirklich! Habt ihr in England keine Suzy Knickerbocker?»
«Gott sei Dank nein.»
«Einen Leonard Lyons?»
«Nein.»
«Aber eine Eugenia Sheppard? Die müßt ihr haben. Jeder hat doch eine Eugenia Sheppard.»
«Wir nicht.»
«Gott, was für ein Land!»
«Wer ist denn nun Aubrey? Dein Zeitungsjunge?»
«Nein, er ist einer vom Jet-set. Aubrey Phipps Wetherby der Vierte. Nicht zu verwechseln mit dem alten Aubrey Phipps Wetherby dem Dritten, und auch nicht mit dem alten toten Aubrey Phipps Wetherby Jr., der für Harvard Baseball gespielt hat. Und weißt du was?»
«Was?»
«Man behauptet, ich werde ihn heiraten. Hab ich beim Friseur gelesen.»
«Also, dann hoffe ich, du wirst sehr glücklich mit deinem Baseballer. Ich bin zwar noch nie einem begegnet, aber ich hab schon tolle Sachen über sie gehört.»
«Aber der ist es doch gar nicht, Dummchen. Der andere. Und im übrigen stimmt es nicht. Das ist es ja eben, was ich versuche, dir mitzuteilen: es stimmt nicht.»
«Und dafür bin ich ‹in der Leitung› geblieben? Also, das ist zuviel. Auch wenn du’s bist.»
«Jane. Du hast gefragt. Erinnerst du dich? Du hattest gefragt. Mein Gott, diese schreckliche Droge! Sie ruiniert deinen Verstand. Und nicht nur das. Sie ist auch schlecht für die Haut. Wußtest du das? Schlecht für die Haut.»
«Ach, um Gottes willen, Angela. Meine Haut ist in Ordnung. Dick vielleicht, aber in Ordnung. Also, wenn es das nicht war, was war es dann?»
«Rate mal. Los, rate doch mal.»
«Ophelia Griesecock ist Miss Rheingold geworden, und du hattest auch für sie gestimmt.»
«Liebling, diesen Wettbewerb gibt es nicht einmal mehr, glaube ich.»
«Du hast angefangen, per Fernkursus das Abitur nachzuholen.»
«Nicht einmal ‹warm›.»
«Okay, ich gebe auf.»
«Also, bei deiner schrecklichen Laune weiß ich wirklich nicht, ob ich es dir überhaupt erzählen soll.»
«Na schön, dann laß es.»
«Vielleicht tu ich’s doch.»
«Also wirklich, Angela, um Gottes willen!»
«Nein, es war auch nicht weiter wichtig. Es war überhaupt nicht wichtig, und es war dumm von mir zu glauben, bloß weil ich dachte, es wäre wichtig, daß du das auch fändest und …»
«Angela, ich …»
«Nein, nein, entschuldige dich nicht. Es ist schon in Ordnung. Ich verstehe.»
«Angela, du verstehst nicht.»
«Doch, ich verstehe vollko –»
«Du verstehst nicht, denn da gibt es nichts zu verstehen, meine ich. Was ist es denn nun?»
«Was ist was?»
«Was, um Himmels willen, wolltest du mir denn nun erzählen?»
«Willst du es wirklich wissen?»
«Ja, natürlich will ich es wirklich wissen.»
«Na gut, wenn du es wirklich willst … Es ist nämlich … Ich werde kommen. Nach London. Nach … verstehst du, dahin, wo du … sozusagen … wohnst.»
«Du kommst? Wunderbar! Und wann?»
«Mittwoch.»
«Für wie lange?»
«Weiß noch nicht. So lange, wie es dauert, nehme ich an.»
«So lange was dauert?»
«Die faschistische Hyäne. Er will eine Titelgeschichte über die Labour Party. Hintergrund für die Wahl. Etwas, das die fiebrig-heiße Aufregung einfängt, für die die temperamentvollen Briten und ihre Wahlen so bekannt sind. Hast du je im Leben etwas Dümmeres gehört?»
«Nicht daß ich wüßte. Aber warum gerade du? Du kannst England nicht leiden. Du kannst Politik nicht leiden. Du hast keinen Kontakt zu den unteren Schichten. Und du …»
«Liebling, wußtest du das denn noch nicht? Ich habe inzwischen Kontakt zu den unteren Schichten gewonnen. Bei dieser südamerikanischen Sache. Ich wette, du hast noch nie mit einem bolivianischen Guerilla geschlafen, der Filzläuse hat. Trotz deiner vielseitigen Neigungen und obwohl du dein Leben lang jede Gelegenheit, dich zu bessern, versäumt hast. Nein, ich wette, das hast du noch nie getan.»
«Wie kommt in Gottes Namen ein bolivianischer Guerilla dazu, mit jemandem, der für die Hyäne schreibt, überhaupt auch nur zu reden?»
«Oh, er dachte, ich schriebe für Scientific American.»
«Wie grotesk, so was auch nur anzunehmen. Wie kam er dazu?»
«Ich muß es ihm wohl erzählt haben.»
«O mein Gott. Und natürlich kein Gedanke an seine Frau und seine zwölf Kinder! Oder daran, was etwa sein Guerillaführer dazu sagen würde.»
«Er war selbst der Guerillaführer. Und hat er sich etwa um meinen Mann geschert oder darum, ob ich einen hatte, oder auch nur um die Grundbegriffe der Hygiene? Jane, wirklich, ich übertreibe nicht. Wenn du diese Viecher gesehen hättest … Es war zu gräßlich! Und ob du es glaubst oder nicht, ehe ich überhaupt wußte, was sie waren, hatte ich sie schon überall auf mir …»
«Okay … okay. Ich glaube dir. Also, wann am Mittwoch? Möchtest du hier bei mir übernachten? Ich habe ein nettes bequemes Sofa, das sich ausziehen läßt …»
«Liebling, ich vergöttere dich, das weißt du. Aber ich glaube, ich werde mich ins Connaught pferchen und das wahre England kennenlernen und so. Ist der bezaubernde Mr. Gustav noch da?»
«Weiß ich doch nicht. Das Connaught ist nicht gerade der Ort, wo ich rumhänge, verstehst du? Aber ich kann mich ja erkundigen. Und was möchtest du, wenn ja?»
«Nun, ihn für den Anfang, und dann vielleicht einen …»
«Nein, komm schon, Angela. Ein Zimmer? Ein Appartement? In einem Appartement wirkst du verführerischer, würde ich meinen, jedenfalls möchte ich nicht, daß es ein Mißverständnis gibt und daß du in der Halle Theater machst und gegen die Gummipflanzen trittst.»
«Ein Zimmer reicht, glaube ich. Irgendein kleines Mansardenzimmer über dem Lüftungsschacht der Küche, damit ich mich in Labour Party-Stimmung versetzen kann. Gott, wenn du wüßtest, wie mir das alles bevorsteht! Tragen sie immer noch ihre grünlichen Tweedanzüge und geloben in Räumen, die nach Schweiß riechen, der Roten Fahne die Treue? Den Schweiß versteh ich nicht. Wie können sie je derartig ins Schwitzen geraten?»
«Na, du kennst die Armen. Irgendwie gelingt es ihnen immer, schlecht zu riechen. Sie lassen sich keine Gelegenheit dazu entgehen.»
«Genau. Weshalb wohnen sie sonst auch immer in der Nähe von Gaswerken und sitzen in der Oper im dritten Rang?»
«Angela, du hast ja so recht. Als die Königin sie bat, sie anflehte – ich weiß nicht, wie viele Male – daß sie doch alle im Park vom Buckingham Palace wohnen sollten und in den Ferien auf Windsor … Aber wollen sie? Nein.»
«Siehst du? Was soll man mit solchen Leuten anfangen? Aber im Ernst, willst du nicht eine kleine Party geben und ein paar dazu einladen? Nichts Aufwendiges, nur einen kleinen Imbiß, schwarzen Tee und Brote mit Heringspaste und ein Wurfpfeil-Spielchen. Du weißt ja, was sie so gewohnt sind.»
«Sicher, wenn du das gern möchtest. Ich bin nur etwas knapp an Guerillas.»
«Ich auch. Er hat gesagt, er würde schreiben, aber ich nehme an, er meinte, er wollte es lernen.»
«Ich würde dich abholen, aber am Mittwoch gibt es drei Filmpremieren, alle in verschiedenen Stadtteilen.»
«Liebling, ich würde nicht einmal im Traum damit rechnen. Außerdem hat unser Londoner Büro einen schrecklichen alten Rolls, der den ganzen Tag bloß in seinem Stall schnaubt und mal bewegt werden muß. Wie ist’s mit einem Lunch?»
«Fein. Auf Kosten der Hyäne?»
«Selbstverständlich. Und du darfst sogar à la carte bestellen.»
«Wo dann?»
«Wo ist es gut?»
«Bei Lacy. Da gibt es Lamm mit Rosenblatt-Gelee aus Ungarn. Einfach sagenhaft! Gott, weißt du, was es gestern abend gab? Nicht bei Lacy. Hier, bei mir.»
«Was?»
«Lädierte Fischfinger.»
«Du meine Güte. Ich wußte gar nicht, daß Fische …»
«Ich weiß, aber es stand so auf der Packung, dann wird’s wohl auch stimmen. Wum! Genau in die Fanghand. Wie James Mason und Joan Fontaine in dem Film, wo sie eine …»
«Wo sie eine Schauspielerin namens Ann Todd ist? Meinst du den?»
«Joan Fontaine war’s.»
«Ann Todd, Liebling.»
«Himmel, vielleicht hast du recht. Aber die sind ja alle nicht ganz dicht, nehme ich an, also was macht’s schon aus?»
«Wirst du mir jetzt glauben, daß das Zeug die Hirnrinde zersetzt? Aber was gibt’s sonst noch außer lädierten Fischfingern? Ich meine jetzt nicht zum Essen.»
«Nicht viel. Einen neuen Freund. Neu für dich jedenfalls. Und genau dein Fall. Ein Lord.»
«Ein schäbiger Pair aus dem Walliser Kohlenpott in einem grünlichen Tweedanzug, wette ich.»
«Überhaupt nicht. Echt. Arm, aber echt.»
«Ich mag keine armen Adligen, egal ob echt oder nicht.»
«Vielleicht kennst du seinen Bruder. Er ist eine Art Halb-Jet-Setter und immer in New York und Newport und solchen Orten.»
«So? Wer ist es denn?»
«Hugo Wiltshire.»
«Mein Gott. Doch nicht dieser gräßliche schwule Herzog, der den Caraveggio bei Parke-Bernet verkauft hat und nicht einmal wußte, daß es einer war. Der?»
«Der. Und Anthony sagt, er hätte es vermutlich sogar herausgefunden, wenn er nicht zu geizig gewesen wäre, das Bild vorher reinigen zu lassen.»
«O Gott, irgendwie sieht es dir schrecklich ähnlich, dich mit dem mittellosen jüngeren Bruder eines Herzogs einzulassen, der nicht alle beisammen hat.»
«Ich hab mich nicht mit ihm eingelassen. Er ist bloß ein … weißt du, ein Freund. Außerdem hat er das wunderbare Haar der oberen Zehntausend und die schönsten Hände. Ich starre sie gerade an.»
«Und was macht er mit seinen schönen Händen? Irgendwas Interessantes?»
«Na ja, das ist eines der Probleme. Nicht gerade sehr viel.»
«Und ich kann dir noch eines nennen: Mami. Es heißt, sie sei eine noch schlimmere Strafe als der große Bruder.»
«Ich hatte noch nicht das Vergnügen …»
«Also, Süße, paß bloß auf. Es wird ihr gar nicht gefallen, wenn er in die Klauen einer bolschigen Amerikanerin gerät, die ihn mit Fischfingern füttert.»
«Die soll ganz still sein. Sie hat ihn nie mit irgend etwas gefüttert. Weißt du, daß er, bevor er ins Internat kam, ausschließlich mit den Dienern gegessen hat? Und weißt du, was sie ihm als Baby immer gegeben haben, damit er ruhig blieb? Brandy-Zitzen.»
«Bestimmt Brandy-Plätzchen. Ich hab sie bei Bloomingdale gesehen.»
«Nein, Zitzen. Ein Finger von Mamis altem Glacéhandschuh, mit einem winzigen Loch in der Spitze und mit warmem Wasser und Zucker und Brandy gefüllt. Die Nanny machte das. Und das war’s, was sie ihm zum Nuckeln gaben, wenn er schrie. Wie findest du das?»
«Das hast du dir ausgedacht.»
«Hier braucht sich niemand solche Sachen auszudenken. So was gibt’s hier massenweise.»
«Ist er nun Alkoholiker?»
«Nein, aber er hat es immer noch mit Handschuhen.»
«Liebling, wie schrecklich. Wirklich, was für ein Volk … Ich meine, all das und dazu noch die kalten Badezimmer! Du mußt mir auf der Stelle mehr erzählen, sobald ich da bin. Aber Aubrey hat bereits seinen dritten Drink vor sich und macht ein saures Gesicht. Also, halb zwei?»
«Halb eins wäre besser. Ich hab einen Film um drei.»
«Nicht sehr schick, halb eins.»
«Auch nicht sehr schick, die bescheidene Filmkritikerin eines linken aufrührerischen Blättchens zu sein.»
«Vielleicht holt dein Handschuh-Lord dich aus alldem raus.»
«Hm, vielleicht. Also, halb eins. Bei Lacy. Du, Angela?»
«Ja?»
«Ich freu mich wirklich riesig, daß du kommst.»
«Das wird lustig, nicht wahr, Liebling?»
Jane legte den Hörer auf, drückte auf den Knopf, der die Vorhänge vor dem Oberlicht schloß, und legte wieder Anthonys Arm um sich. Er rückte näher an sie heran und küßte schläfrig ihren Nacken. «Was war das alles?»
«Nichts. Eine alte Freundin von mir, die nach London kommt. Heißt Angela.»
«Dieses Detail ist mir nicht entgangen. Angela wer?»
«Van Schuyler. Sie kommt aus New York und spielt so ein bißchen herum für die News Views.»
«Spielt?»
«Nun, arbeiten kann man das eigentlich nicht nennen. Sie sagt, sie kennt deinen Bruder. Vom Hörensagen jedenfalls. Schien aber von euch nicht besonders viel zu halten.»
«Warum denn nicht?»
«Ihr besitzt eben keine Ölquellen. Angela mag Ölquellenbesitzer. Außerdem mögen die Reichen die Armen nie. Hast du das noch nicht gewußt?»
«Aber sie mag dich.»
«Na ja, sie kennt mich. Und irgendwie verzeihen sie den Armen, die sie kennen.»
«Ich bin nicht arm.»
«Du bist nicht das, was die Armen arm nennen. Aber Angela geht’s nur um das dicke Geld. Und außerdem, was soll’s? Gott, dieses Zeugs war gräßlich, oder? Meine Kehle brennt immer noch.»
«Hm. Meine auch.»
«Orangensaft?»
«Ist welcher da?»
«Jede Menge.»
«Wo?»
«Im Tiefkühlfach. Es ist tiefgefrorener.»
«Das würde jetzt guttun.»
«Hm, nicht wahr?»
Sie wartete. Sie zählte langsam die Fünfer bis 200. Sie versuchte, sich an die Hauptstadt von Idaho zu erinnern. Des Moines? Boise? Sie versuchte, die Passage über das Krokodil in Antonius und Cleopatra zusammenzukriegen. «Es hat eine Gestalt, Herr, wie es selbst und ist so breit, als seine Breite beträgt; just so hoch, als es hoch ist, und bewegt sich mit …» Na ja, mit irgendwas. «… und haben seine Elemente sich aufgelöst, so wird ein neues Wesen aus ihm.»
Nicht schlecht.
Aber niemand kann einen Engländer, der nicht aufstehen will, im Abwarten übertreffen. Sie löste sich wieder aus seinen Armen und ging hinaus, um den Orangensaft zu holen.
Die Londoner Makler-Gecken, die Jane bei ihrer Suche nach einer Wohnung kennengelernt hatte, Leute, die wie Piloten der Royal Air Force in Filmen über Colditz auszusehen versuchten und zweireihige Blazer mit Automobilclub-Knöpfen trugen, hatten alle ziemlich deutlich zum Ausdruck gebracht, daß sie Covent Garden nicht als eine erstrebenswerte Wohngegend einstuften. Immerhin gaben sie widerwillig zu, daß die zentrale Lage Vorteile bot und daß die Gegend, wenn man Abfälle mochte, sogar einen gewissen Pariser Unterwelts-Charme besaß. Aber dort wohnen? Nein. In schmucken Remisenhäuschen in London S.W.3, alle rosa oder blau gestrichen, mit eingetopftem Lorbeerbaum vor der Haustür – dort sollte man wohnen, fanden sie, oder zumindest wohnen wollen. Den Baum kettete man natürlich vorsichtshalber mit einem Vorhängeschloß am Kratzeisen an.
Das konnte sie nicht über sich bringen. Wo man Ketten und Vorhängeschlösser an Bäumen haben mußte, wollte sie nicht wohnen.
Ihr war klar, daß sie um die Kleinigkeit von 350 Jahren zu spät kam, um Covent Garden zu seiner Glanzzeit zu erleben. Damals mußte die Gegend wirklich Klasse gewesen sein. Damals, als S.W.3 noch Wiesenland war und N.W.1 sich höchstens damit brüsten konnte, daß Dick Whittington dort einmal vorbeigekommen war, damals hatte Inigo Jones die große Piazza angelegt, seine Antwort auf Venedig, und damals hatte Covent Garden seinen großen Augenblick gehabt. Eine Zeitlang war es der richtige Platz zum Wohnen gewesen.
Das hatte nicht lange gedauert. Im achtzehnten Jahrhundert jagten die Schrittmacher, die mit dem ersten großen Jones mitgehalten hatten, bereits irgendeinem anderen Jones im westlichen London nach, und mit Covent Garden ging es allmählich bergab. Anmutige Parterrezimmer erhielten neue gläserne Fronten und wurden zu Läden. Kaffeehäuser, Freudenhäuser, Theater und schlampige Pensionen machten auf. Und im neunzehnten Jahrhundert erhielt Mr. Jones’ Traum seinen coup de grâce. Kutschenfabriken und Speicherhäuser wuchsen empor. Drucker und Verleger siedelten sich an. Der Markt wurde mit Glas und Eisen überdacht. Auf den freien Flächen, die Jones so sorgfältig entworfen hatte, durften Obst- und Gemüsestände stehen. Schnapsläden scheffelten das Geld, und Covent Garden war als der richtige Ort zum Wohnen oder auch nur als ein Ort zum Wohnen einfach nicht mehr im Rennen.
Ein Teil davon ist immer noch sehr reizvoll. Wenn auch die Säulengänge von St. Paul’s heute verrußt sind und von einfältigen roten Backsteinnachbarn in den Schatten gestellt werden, so ist St. Paul’s doch immer noch eine Kirche, über die man nicht die Nase rümpft. Es gibt auch noch andere Überlebende. Das Haus in der Russell Street, in dem, wie man behauptet, Boswell zum ersten Male Dr. Johnson begegnete, ist immer noch da. Auch das Haus, wo De Quincey seinen Opiumesser schrieb, ist noch da. Und niemand hat bisher das Haus in der Henrietta Street abgerissen, wo T.S. Eliot zu arbeiten pflegte, nachdem es in eine Bank umgewandelt worden war. Sogar David Garricks Haus aus dem frühen achtzehnten Jahrhundert in der Southampton Street steht noch, und ebenso sein fast identischer Nachbar. Und noch wundersamer ist eine ganze Zeile von Häusern zwischen der Monmouth und der Shelton Street, die nun schon über 200 Jahre lang stets allem entkommen sind – von den kribbelnden Fingern der Städteplaner bis zu den deutschen Bomben. Aber natürlich kann sich jeder an seinen zehn Fingern abzählen, wie lange solche Zaubertricks noch zu schaffen sind.
Nicht einmal Jane würde leugnen, daß Covent Garden eher zweckmäßig als schön ist. Zeitungsbüros, Verlage, Ballettschuhmacher, Kostümverleiher, Kneipen und zahllose kleine alteingesessene Geschäfte sind seine Hauptstützen – ganz abgesehen vom Gemüsemarkt selbst –, und da gibt es keine hübschen Hintergärten, keine gelben Eingangstüren mit einem Messingdelphin als Türklopfer, wie man sie in Belgravia findet.
Was nicht heißen soll, daß man nicht in Covent Garden wohnt. Eine Menge Leute tun das. Es sind ärmliche Leute, versteht sich. Wer sonst würde in grauen viktorianischen Mietshäusern von der Sorte wohnen, die man in England Buildings nennt?
Peabody Buildings. Throgmorton Buildings. Macclesfield Buildings. In ganz England gibt es keine gesellschaftlich verächtlichere Adresse als ein Building, und jetzt, da sogar Sozialwohnungen so protzige Namen wie Hill Terrace House und Birchwoods Hall tragen, trifft das mehr zu denn je.
Seltsam, die viktorianischen gotischen Lagerhäuser wie das, in dem Jane wohnt, sind, obwohl sie Seite an Seite mit den Buildings stehen, wieder etwas anderes. Sie gelten heute etwas. Sie lassen sich in herrliche, großräumige Wohnungen verwandeln, und sobald die Eichenfußböden geschliffen und gebleicht und ein paar Kleinigkeiten wie Türen, Küchen und Badezimmer eingebaut sind, sagen die Leute: «Aber wie hast du das je entdeckt?» Anschließend bedarf es nur noch einiger Schalen mit Blumen – amüsanter Schalen mit Blumen, wie die Leute sagen – und eines Efeuspaliers, um die Abflußrohre neben dem Balkon zu verbergen, und schon erfährt man, das Ganze sei in einer eleganten Architektur-Zeitschrift abgebildet und beschrieben, und die Miete verdreifacht sich.
Dennoch gefiel es Jane hier. Sie mochte ihre riesigen Räume. Sie mochte die soliden, niemals knarrenden Fußbodendielen. Sie fand es angenehm, zu ihrem Büro an einer Ecke der Fleet Street auch zu Fuß gehen zu können. Sie hatte sich sogar an den allnächtlichen Lärm des «Marktes» gewöhnt, und wenn die Leute, die mit der Frage: «Aber wie hast du das je entdeckt?» begonnen hatten, über Nacht blieben und zum Schluß dann fragten: «Aber wie hältst du das bloß aus?», war sie sehr verletzt.
Gewiß, irgendwie hatten sie schon recht. Fast jeder Apfel und jede Mango und jeder Salatkopf und jede Kartoffel, die in England südlich des Hadrianwalls gegessen werden, gehen durch Covent Garden, und ebenso fast jede Narzisse und jede Nelke. Und weder rein noch raus gehen sie auf Samtpfötchen.
Ankommende Laster, die abladen wollen, rangeln um jeden Zentimeter Straße mit den Lastern, die nach dem Beladen rauszufahren versuchen. Kisten krachen, Karren mit Eisenrädern rumpeln über den Betonboden und das Kopfsteinpflaster. Die Fahrer und Packer beschimpfen sich, und die Träger, die Lasten schleppen, unter denen ein Pferd zusammenbräche, fluchen auf alles und jeden.
Bis auf den Text des Drehbuchs, der sich ausschließlich auf Obszönitäten beschränkt, ist es ein bißchen so, als sähe man lebenslänglich jeden Abend Hamlet. Stoff hervorragend. Handlung dramatisch. Es ist unleugbar ein aufregender Film, der da vor einem abläuft. Aber auf die Dauer geht einem das Ganze auf die Nerven, und man kommt an einen Punkt, wo man es einfach nicht länger ansehen noch je wieder hören will. Noch schwieriger ist es, bei alledem das Nirwana des Schlafes zu erreichen.
Als die Bananenkarren unten herauszurollen begannen, stand Jane auf, nahm ein Bad und zog sich an. Anthony, der die Meinung der Makler über Covent Garden als Wohngegend uneingeschränkt teilte, blieb mit einem Kissen über dem Kopf im Bett.
Als mache es bei dem Lärm draußen auch nur das geringste aus, versuchte Jane, möglichst leise zu sein. Sie nahm ihre Schreibmaschine mit ins Wohnzimmer, um ihren Artikel fertigzuschreiben. Um neun Uhr ließ sie Mrs. Bush ein, und mit Mrs. Bushs Ankunft war es endgültig Freitag geworden. Mrs. Bush hatte sogar ihre Lieblingsnachricht bereit: daß nämlich wieder so ein Halunke die Milch geklaut habe.
«Wirklich? Ach du meine Güte!» Jane war zu beschäftigt, um dem Verbrechen jene Aufmerksamkeit zu widmen, die es, wie sie wußte, nach Mrs. Bushs Ansicht verdiente. Aber Mrs. Bush hatte das dringende Bedürfnis, ihre Meinung dazu zu äußern. Sie baute sich vor Janes Schreibtisch auf und erklärte: «Es geht schließlich ums Prinzip, nicht wahr?»
Jane tat, als hörte sie zu. Mrs. Bush war eine echte Kratzbürste, und ihre Prinzipien waren das Kratzigste an ihr.
Immerhin war sie wenigstens eine saubere Person und kein amputierter Torso, der am Staubsauger lehnen mußte, um sich aufrecht zu halten. Sie hatte alles gern «schmuck», wie sie sagte, und sie handelte auch danach. Sie schwor auf gelüftete Räume, Senfbreiumschläge, die Tories, auf Ferien in Pensionen an der englischen Küste, gewendete Matratzen, kräftige gelbe Riegelseife und destilliertes Wasser für Topfpflanzen. Leitungswasser, sagte sie, bestehe nur aus Kalk und Chlor. Gift, nichts als Gift. Leitungswasser sei der Tod für Geranien, und es bekomme auch den Menschen nicht.
Jeden Freitagmorgen stülpte sich Mrs. Bush mit der grimmigen Miene eines Feldlazarett-Chirurgen ihre orangefarbenen Gummihandschuhe über und stürzte sich auf alles, was sie beleidigte. Sie ging mit zischendem Schaum gegen den Ofendreck vor. Sie hängte irgendwelche Chemikalienscheiben in die Toilette, wodurch das Wasser madonnenblau wurde. Sie kochte die Geschirrhandtücher, bügelte die Wäsche, bohnerte die Fußböden, schüttete gräßliche ätzende Sachen in die Ausgüsse und fiel mit wahrer Wonne über Türen und Fensterrahmen her. Wirklich erpicht aber war sie auf das Killen von Ratten.
Mit sichtlich mörderischem Genuß preßte sie die Lippen zu einem boshaften geraden Strich zusammen und schleuderte Hände voll tödlichen weißen Pulvers in die Müllkästen, und wenn Jane nicht genug Abfälle hatte, um genug Ratten in den Tod zu locken, brachte Mrs. Bush von zu Hause Speisereste mit. Die «Strecke» war der Höhepunkt ihres Freitags.
«Zwei heute», sagte sie, als sie von ihrem Erkundungsgang zurückkam, «und so große! Würde mich gar nicht wundern, wenn es Führer wären. Die haben Führer, verstehen Sie, die Ratten.» Sie krächzte ihr Allzweck-Lachen, und Jane wußte, jetzt kam ein Mrs. Bush-Witz. «Genau wie die Sozialisten sind die, sagt mein Alf. Mit Führern und allem. Wie die Sozialisten.»
Der Nachteil einer ansehnlichen «Strecke» bestand darin, daß Mrs. Bush dadurch auf all die andern Gebiete gebracht wurde, wo ihrer Meinung nach Schmerz oder Tod die Verhältnisse bessern konnten, falls der Schmerz oder der Tod nur ausreichend schmerzhaft war. Unglücklicherweise hatte noch niemand wirklich wirkungsvolle Strafen entwickelt. Deshalb kamen die Bösen ja auch immer mit Strafen davon, die zu milde für sie waren. Hängen war zu gut für Mörder. Kastration war zu gut für Sexualverbrecher. Auspeitschen war zu harmlos für Raubgesindel. Die Gefängnisse waren zu fein für die Gefangenen. Anständige Prügel reichten nicht aus, um ungezogene Kinder zu bestrafen. Ledige Mütter hatten erhalten, was Mrs. Bush ihren «gerechten Lohn» nannte, aber das sagte sie in so düsterem Ton, daß es klang, als wäre es nur gerecht.
Doch abgesehen von ihren Ansichten über unzureichende Strafen wußte sie auch sonst sehr genau, was alles auf der Welt nicht stimmte. Da waren diese Juden und Katholiken. Da waren die Linken. Die Studenten. Die Gewerkschaften. Diese langhaarigen sogenannten Intellektuellen. Die Demonstranten. Die Wohltäter. Alle diese Aufrührer waren arbeitsscheue Subjekte, und nun, wo die neue antiautoritäre Welle und all diese Nigger hereinfluteten, würde es kein Ende mehr geben. Am besten, man führte das Hängen wieder ein und verpaßte einigen von diesem jungen Volk mal wieder eine ordentliche Tracht Prügel mit dem Riemen. Kein Psychi-aa-ter könne ihr erzählen, daß das nicht wirken würde.
Jane war entsetzt über Mrs. Bush, aber sie hatte zugleich so große Angst, sie zu verlieren, daß sie durch Himmel und Hölle ein feiges Schweigen bewahrte. Anthony jedoch ging mit ihr um wie der Herr mit dem Hund und brauchte bloß «Guten Morgen» oder «Danke schön» zu sagen, um Mrs. Bush – die «wirkliche Herren» und mehr noch Lords schätzte – vor Freude erbeben zu lassen.
Jane beobachtete die beiden gelegentlich: Mrs. Bush, die wie ein Kranich ungeschickt umherstelzte und ihm beflissen den Hof machte, und Anthony, der sie mühelos führte und dirigierte, indem er ab und zu bei seinem eisigen Menuett einen artigen Schritt tat. Dann dachte sie, wie recht Disraeli gehabt hatte, als er sagte, daß England aus zwei Nationen bestand – den Privilegierten und dem Volk. Im Grunde hatte sich überhaupt nichts geändert. «Was für ein netter junger Herr dieser Lord Anthony doch ist», sagte Mrs. Bush manchmal, wenn Anthony nicht da war. War aber Mrs. Bush nicht da, erwähnte Anthony sie nie auch nur mit einem Wort. Es war, als existierte sie nicht einmal. Und sie tat es auch nicht, jedenfalls nicht für ihn.
Aber wenn Jane über Mrs. Bush entsetzt war und Anthony sie einfach zum Narren hielt, so war es Tom, der sie genau durchschaute und sie haßte.
Das war nicht immer so gewesen. Jedenfalls nicht offenkundig. Anfangs – in der Zeit, als Mrs. Bush immer dienstags gekommen war – hatte Tom sie nur mit ausdruckslosem Blick verfolgt und mit einer wachen, schweigenden Gleichgültigkeit auf sie reagiert. Zugegeben, er hatte sie immer gemieden. Wenn sie in das Zimmer kam, wo er zeichnete oder las, packte er einfach Bleistifte und Bücher zusammen und ging in ein anderes Zimmer.
Sie sprachen nie miteinander – dazu fürchteten und verachteten sie sich gegenseitig offenbar zu sehr –, und hatte man die beiden den ganzen Tag in der Wohnung, waren die Dienstage immer ganz schön spannungsgeladen gewesen. Aber irgendwie hatte ihr System der uneingestandenen, beherrschten Feindseligkeit funktioniert. Das heißt bis zu jenem Dienstag, als Jane mittags von einer Filmvorführung für die Presse nach Hause kam und Tom mit dem Gesicht nach unten auf dem Bett lag. Er wollte seine Augen nicht öffnen, und Jane merkte irgendwie, daß er geweint hatte.
Sie zündete eine Zigarette an, gab sie ihm, setzte sich neben ihn und streichelte seine Schulter. «Was ist los, Tom? Was ist?»
Er entzog sich ihrer Hand. «Nichts.»
«Komm, du hast doch irgend etwas, willst du es mir nicht sagen?»
«Da gibt es nichts zu sagen.»
Sie legte sich zu ihm, streichelte seinen Rücken und wartete. Schließlich drehte er sich um. «Diese Scheißperson. Gott, wie ich sie hasse!»
«Wieso, Tom? Hat sie irgend etwas Böses gesagt?»
«Hast du diese Scheißperson je etwas zu mir sagen hören?»
«Aber was war es denn dann?»
Es dauerte lange.
«… und es war nicht bloß ein Spinnennetz. Na ja, einerseits war es bloß ein Spinnennetz. Aber die arme verdammte Spinne hat den ganzen Morgen gebraucht, um es zu weben, und das weiß ich genau, weil ich es nämlich beobachtet hab. Und weißt du … zum Teufel, ich weiß, es klingt verrückt … aber es war schön, ihr zuzusehen, wirklich schön. Zuerst hat sie … ich weiß nicht, wie man das nennt, so eine Art Ankerpunkte festgelegt. Richtig wissenschaftlich … verstehst du, was ich meine?»
Er öffnete die Augen und sah sie an.
«Dann zog sie die Speichen ein, alle so gleichmäßig verteilt, als ob sie es vermessen hätte. Und dann lief sie immer rundherum. Nicht schnell, aber auch nicht langsam, so als ob sie wirklich wüßte, was sie tat. Das wußte sie auch. Man konnte an der Art, wie sie jedes Fädchen mit den Hinterbeinen festhakte, genau sehen, wo sie es hinhaben wollte.»
Er gab ihr die Zigarette zum Ausdrücken und schlang die Arme um sie. Dann holte er tief Luft, als müßte er sich Mühe geben, seine Tränen zurückzuhalten. Den Mund auf ihrem Haar, fuhr er langsam fort: «Mensch, sie hat Stunden dazu gebraucht. Stunden! Und dann war’s geschafft, und das Netz hing in der Sonne am Fenster, wo es viele Fliegen gibt oder jedenfalls ein paar. Du konntest sehen, das wußte sie auch … Sie hatte sich das Fenster ausgesucht, weil es der beste Platz war. Es war eine schlaue Spinne, ganz bestimmt. Und dann macht sie Feierabend … weißt du, so eine Art Pause. Und darum krabbelt sie in die Mitte und sitzt da ganz gemütlich, und ab und zu hüpft sie ein bißchen, als ob sie das Netz testen will.»
Diesmal folgte ein langes Schweigen.
«Na ja, mehr war’s nicht, eigentlich nicht. Sie machte ein paar Übungsläufe die Speichen entlang. Sie jagte noch hinter nichts her, denn es gab noch nichts zum Hinterherjagen. Es waren bloß Übungen. Und dann … na ja, das war’s. Dann hat die Scheißperson sie erwischt. Sie kommt reingestürzt, und mit einem Stoß mit ihrem beschissenen Besen, auf dem sie ewig wie eine Hexe rumreitet, hat sie die Spinne geschnappt. Und als die Spinne auf den Fußboden knallte und wegrennen wollte, hat die Scheißperson sie mit dem Fuß erledigt. Ich weiß, es klingt nach nichts, wenn du nicht gesehen hast, wie’s war. Aber, Mensch, es war schrecklich. Schrecklich. Und, Jane, es war nicht nötig. Die Spinne hat der gar nichts getan. Sie hätte ihr nicht weh getan. Sie jagte hinter nichts her, was dieser Person gehörte. Sie hatte ihr überhaupt nichts getan. Sie wollte doch nichts weiter als eine Fensterecke in der Sonne und ein paar Fliegen. Scheiße, die bringt ständig die Fliegen um … und dabei ißt sie sie nicht einmal. Obwohl … wer weiß, vielleicht tut sie’s doch … Ich würde es ihr glatt zutrauen. Aber warum konnte sie die Spinne nicht einfach in Ruhe lassen und lebendig? Die Spinne hätte ihr sogar eine Hilfe sein können … bei den Fliegen, meine ich.»
Noch lange Zeit nach diesem Dienstag wurde Toms Gesicht gelegentlich plötzlich hart, und Jane wußte, daß er über eine neue Möglichkeit nachdachte, sich an Mrs. Bush zu rächen. Einmal wollte er ihr einen Kaktus in die Scheide schieben und mit einer rostigen Nadel einnähen. Dann wollte er ihr Augentropfen-Fläschchen mit Vitriol füllen. Oder ein paar Scheiben von ihrem Hintern schneiden und sie in einen Haufen Salz setzen. Oder sie auf einem Pfad von Ameisen-Soldaten festbinden. Er hatte sich eine Menge Strafen für Mrs. Bush ausgedacht, aber Jane hatte aufgehört, ihm zuzuhören, wenn er darüber sprach, und vergaß diejenigen, die sie zur Kenntnis genommen hatte. Sie vergaß sie fast. Nicht ganz.
An dem Dienstag, als Mrs. Bush ihr Schiff aus gesponnenem Glas mitbrachte, um es ihr zu zeigen, tauchten Toms Rachephantasien wieder in Janes Gedächtnis auf.
Das Schiff war Mrs. Bushs größter Schatz. Alfs Neffe hatte es den weiten Weg von Venedig her mitgebracht, ganz in Schaumkügelchen verpackt, so daß nicht ein einziger Faden von der Takelage gerissen war. Zu Hause bewahrte sie es sorgfältig außer Reichweite oben auf ihrem Fernsehgerät auf, wo es seinen Platz auf einem besonders weichen Häkeldeckchen hatte. Und sie staubte es nur mit einem winzigen feinen Pinsel aus Marderhaar ab.
Nachdem es genügend bewundert worden war, hatte Jane beobachtet, wie Mrs. Bush ihr Schiff vorsichtig auf die geschnitzte Eichentruhe stellte. Genau in der Mitte der Truhe, wo ihm nichts zustoßen konnte. Aber irgendwie war es trotzdem heruntergefallen. Die arme Mrs. Bush hatte geweint, als sie die Splitter auf die Kehrichtschaufel fegte – und Jane hatte auch fast geweint, als sie feststellen mußte, daß ein nicht annähernd so prächtiges Ersatzschiff sie 25 Pfund kostete.
Damals hatte sie nichts zu Tom gesagt. Auch nicht das zweite Mal, als der schwere Petersilientopf von der Küchenfensterbank gefallen war und Mrs. Bush unten im Hof vor dem Keller nur knapp verfehlt hatte.
«Das muß die Katze gewesen sein», hatte Mrs. Bush gesagt. «Einer Katze kann man nie trauen.» Jane war da nicht so sicher.
Aber dann, gut zwei Monate nach dem Spinnenmord, wurde in Mrs. Bushs Wohnung überaus gründlich eingebrochen, und da war Jane absolut sicher.
«Tom, das warst doch du, nicht wahr?»
«Was war ich?»
«Der bei Mrs. Bush eingebrochen hat.»
«Ich? In der Höhle von der Scheißperson alles auf den Kopf stellen? Was könnte ich bei der denn holen wollen? Was könnte überhaupt jemand bei der schon holen wollen?»
«Lüg nicht, Tom.»
«Lügen? Wer lügt?»
«Du. Du lügst, und du weißt, daß du lügst, und ich weiß, daß du lügst. Aber lassen wir das. Auf jeden Fall mußt du alles zurücktragen. Du brauchst bloß alles zusammenzupacken und ihr vor die Tür zu legen oder so. Aber du mußt es tun.»
«Was, um Gottes willen, alles zusammenpacken? Ich weiß gar nicht, wovon du eigentlich redest.»
«Tom, tu, was ich dir sage.»
Er tat es jedoch nicht. Mrs. Bush sah die versilberten Salz- und Pfefferstreuer ihrer Mutter nie wieder. Auch nicht Alfs Armbanduhr. Auch nicht die vergoldete Spieldose, die das Wiegenlied von Brahms spielte, wenn man den Deckel hob. Auch nicht den echten Bisammantel, für den sie ab fünf Uhr morgens bei Barker Schlange gestanden hatte, um ihn im Winterschlußverkauf zu ergattern. Sogar ihre drei Gipsmöwen waren von der Wand gerissen worden und mit dem übrigen verschwunden.
Wer sonst aus der Tiefe oder auch nur vom Rande der Londoner Unterwelt würde es riskiert haben, sich beim Diebstahl von Gipsmöwen erwischen zu lassen? Niemand. Es mußte Tom gewesen sein, und Jane wußte, daß es Tom gewesen war.
Jane tippte los, und um die Mittagszeit wurde es in Covent Garden ruhiger. Der Freitag lief jetzt auf vollen Touren, und der Artikel, an dem sie arbeitete, war beinahe fertig. Sie sah auf ihre Armbanduhr. Es war fast Zeit für Anthonys Aufbruch nach Cravenbourne, wo er die Wochenenden zu verbringen pflegte.
Sie hörte, wie Mrs. Bush sein Frühstückstablett in die Küche zurücktrug, und während sie eine Zeile in ihrem Manuskript ausixte, dachte sie, daß es «typisch Anthony» war, im Bett zu frühstücken.
Aber warum auch nicht? Wenn er gern im Bett frühstückte und wenn Mrs. Bush ihm gern das Frühstück ans Bett brachte, was ganz gewiß der Fall war, warum sollte er es dann nicht tun? Wirklich, nichts sprach dagegen.
Aber warum stört es mich dann? Tut es gar nicht. Es stört mich nicht. Nur daß … nun, so etwas ist schwer zu definieren.
Also laß es. Er geht sowieso bald. Gut.
Gut?
Nein, gut wäre zu viel gesagt.
Aber es stimmte, nach langen Stunden mit Anthony hatte man das Gefühl, man spielte Tennis gegen eine Ziegelmauer. Der Ball kam nach jedem Schlag zurück – sicher –, und genau das ist es, was man über das Tennisspielen mit Menschen nicht sagen kann. Denn wenn man gegen eine Mauer spielt, ist die einzige Energie im Spiel die eigene. Man selber muß den Anfang machen. Man selber muß die Punkte notieren. Man selber muß entscheiden, wann das Spiel vorüber ist und wer, falls es überhaupt einen Sieger gibt, gewonnen hat. Und nur man selber gerät in Schweiß und wird müde.
Für die Mauer spricht, daß sie niemals nein sagt, sich nie beklagt. Und sie spielt nie besser oder schlechter als das letzte Mal. Bei einer Mauer weiß man, woran man ist. Was einen stört, ist der Umstand, daß der Mauer eigentlich alles gleichgültig ist. Es ist wie mit Kindern, die schlaff und mit müden, trüben Augen sagen: «Ist mir egal», wenn man sie fragt, ob sie ein Eis haben möchten. Wobei das oft vielleicht nur eine primitive Schutzmaßnahme gegenüber der Möglichkeit ist, daß das Angebot mit dem Eis nicht ganz ehrlich sein könnte. Die Mauer dagegen meint es ernst, leider.
Auch kränkte es ihr puritanisches Gemüt, daß Anthony nichts tat. Es gehörte sich nicht, fand sie, daß Menschen nicht arbeiteten, und sie hatte vorher noch nie jemanden gekannt, der nichts tat. Andererseits war dieser Nichtangriffspakt mit dem Leben eine von Anthonys nettesten Eigenschaften. In einer Welt der emsigen Streber kann jemand, der nicht mit Weizen spekulieren oder nicht als erster auf dem Mars sein will, sehr fesselnd sein. Anthony war nicht habsüchtig. Es ging ihm weder um Ehrgeiz noch um Leistung. Er wollte nicht einmal «etwas darstellen». Alles, was er wollte, war … ja, er wollte eben tun, was er wollte. Und genau das tat er.
Er las die Bücher, nicht nur die Kritiken in den Zeitungen. Er ging zu den Eröffnungen neuer Galerien und besuchte die Theaterpremieren. Er ging zu Vorträgen in der Britischen Akademie. Er erschien zu den Auktionen etruskischer Gefäße und anderer Gegenstände bei Sotheby, und wenn ihm etwas gefiel, kaufte er es. Und wenn die beste Ausstellung von Werken Henry Moores in Florenz war, flog er eben nach Florenz.
Anthony wäre zum Beispiel schon nach fünf Minuten aus jeder Bank geflogen, und er hätte einem unmöglich sagen können, welchen Bus man nach Clapham Common nehmen mußte, aber es gab einiges, worüber er allerhand wußte. Jane hatte das herausgefunden, als einmal ein New Yorker Kritiker, so berühmt, daß sogar sie schon von ihm gehört hatte, nach London gekommen war und Anthony sie zu einem Vortrag von ihm im Courtauld mitgenommen hatte.
Sie hatte sich Mühe gegeben, sie hatte sich wirklich Mühe gegeben. Und nicht etwa, daß sie die Worte nicht verstanden hätte, denn der gutaussehende Christus aus Columbia gebrauchte nur einfache Worte und wurde nie prätentiös. Und es lag auch nicht daran, zumeist jedenfalls nicht, daß sie seine Gedanken nicht begriffen hätte. Aber gerade als sie dachte, nun hätte sie es, nun hätte sie etwas Greifbares und hätte es fast verstanden, da legte der große Mann noch den einen Klotz, der zuviel war, auf den ohnehin schon wackligen Turm in ihrem Verstand, und alles brach zusammen. Dann, während sie noch versuchte, sich an das fast Verstandene zu erinnern, blendete er zurück nach Kreta, sprach im nächsten Augenblick über Troubadoure und romantische Liebe und machte eine geistvolle Bemerkung über einen Italiener des sechzehnten Jahrhunderts. Und was er von da an noch von sich gab, hätte er ebensogut auf Urdu sagen können – sie verstand nichts mehr. Als er kurz über den Türmen von Chartres schwebte und dann sein Supermann-Cape ausbreitete, um weiterzufliegen, wußte sie, daß sie ihm unmöglich folgen konnte, und so hatte sie einfach benommen dagesessen wie ein 90-Pfund-Schwächling, der draußen im Schneetreiben zusammengesackt war, während alle übrigen weiterdrängten, vorwärts nach Klondike.
Sie hatte Anthony und die anderen beobachtet. Sie verstanden, was der große Mann sagte. Mit gespannter Aufmerksamkeit verfolgten sie jedes Wort, und als ‹Kunst› und ‹Leben› zu einem makellosen Paket verpackt worden waren, das überdies auch noch ‹Gott›, ‹Mensch›, ‹Wohin?› und sogar ‹Warum?› enthielt, spendeten sie ihm tosenden Beifall. Auch Jane: sie klatschte wie verrückt. Nur daß sie – Chartres einmal beiseite – ausschließlich dem Mann selber applaudierte. Sie mochte von Kunst nicht allzuviel verstehen, aber sie wußte, wann sie einen phantastischen Mann vor sich hatte, und sie wußte, daß es genau das war, was ihr gefiel.
Wenn Anthonys Interesse an intellektuellen und ästhetischen Dingen auch echt und bewundernswert war, so waren seine Passivität und Teilnahmslosigkeit doch ärgerlich.
Vielleicht paßte er nicht in die moderne Zeit. Vielleicht hätte die Glanzzeit des britischen Imperiums ihm besser gestanden als der Wahnsinn der Gegenwart mit ihren zielstrebigen Bomben und ihren ziellos dahinlebenden Menschen. Indien. Puna. Die Bengal Lancers. Die niemanden auf die Lanze nahmen, sondern eher auf seidenen Teppichen und Kissen ruhten und mit Madeleine Carroll Weintrauben aßen.
Bälle … Bälle, Bälle, Bälle im Palast des Vizekönigs. Farbige Untertanen, die wußten, wo sie hingehörten. Wildsau-Stechen, Offizierskameradenfrauen-Stechen. Whisky-Soda. Polo. Die Angel-Flotte leicht verblühter englischer Rosen, die östlich von Suez auf Gattenjagd gingen. Das Nobelleben von «Backbord raus, Steuerbord rein». Ein gelegentlicher Aufruhr an der afghanischen Grenze, der einem gerade genügend Bewegung verschaffte, um den Wadenmuskelschwund zu verhindern. Im wesentlichen aber ein Leben, das sich um die Ankunft von Büchersendungen aus England drehte und um reichlich Monsun-Muße, in der man die Bücher las. Ja, das hätte aufs Haar zu Anthony gepaßt.
Vor ihm hatte sie nie jemanden gekannt, der ständig von Dienern umsorgt worden war und es als Gegebenheit ansah, daß er nicht nur ihnen, sondern auch sonst so ziemlich jedem überlegen war. Nicht daß er irgend jemandem gegenüber arrogant den Lord herausgekehrt hätte. Nein, er gab sich eher demütig – so wie Menschen, die sich ihrer Überlegenheit bewußt sind und sie auch nie in Frage gestellt oder einer Prüfung unterzogen haben, es sich leisten können, demütig zu sein. Demütig wie Jesus es war, sind solche Leute immer demütig – bis es einmal hart auf hart geht und sie auf ihre demütige Art klarstellen, daß Papa der liebe Gott war und daß sie Gott jr. sind. Die stille Arroganz und die gelegentliche blanke Empfindungslosigkeit gegenüber den Gefühlen anderer – das war am schwersten zu ertragen.
Anthony zum Beispiel nahm keinen Anstoß daran, daß eine bestimmte Farbe «Niggerbraun» genannt wurde, obwohl inzwischen selbst die schäbigsten Schuhläden diese Bezeichnung nicht mehr gebrauchten.
Ähnlich wie Mrs. Bush fand er, daß Bergarbeiter und Krankenschwestern mehr als angemessen entlohnt wurden, und wenn Bergarbeiter und Krankenschwestern das nicht fanden, gab es eine ganz einfache Lösung – dann sollten sie sich eine andere Arbeit suchen. Der Wohlfahrtsstaat unterminierte in seinen Augen den britischen Nationalcharakter (was immer das war), indem er den Leuten die Sache zu einfach machte.
Im Bett war er bezaubernd. Außerhalb des Bettes war er zu englisch. Er half nie beim Abwaschen. Er nahm ihr beim Einkaufen nie etwas ab, nicht einmal die Kartoffeln. Wenn sie angefangen hatte, das Kreuzworträtsel in der Times zu lösen, und es nur einen Augenblick beiseite legte, etwa um ans Telefon zu gehen, beendete er es. Mit Tinte.
Wenn er im Bad duschte, ließ er den Vorhang immer nach draußen hängen und konnte gar nicht verstehen, warum sie sich darüber ärgerte. Wenn er badete, ließ er seinen Waschlappen unausgewrungen und zu einem sauberen Quadrat gefaltet auf der Seife liegen, wo beides zu einer kalten schleimigen Masse verschmolz. Er benutzte auch ihre Zahnbürste. Allerdings mochte hier ein echter kultureller Unterschied bestehen – sie hatte inzwischen genügend Engländer kennengelernt, um zu wissen, daß alle die Zahnbürste benutzten, die gerade dalag, auch wenn sie noch naß war.
Wirklich schwierig war Anthony insofern, als er auf keiner Ebene ganz einsehen konnte, daß das, was er mochte, nicht unbedingt auch anderer Leute Geschmack war. Wieso eigentlich nicht? Senf auf dem Steak war gut, er mochte Senf auf Steak, und darum mußte es jeder mögen. Sie hatte hundertmal «Nein, danke» gesagt, und trotzdem reichte er ihn ihr jedesmal, wenn sie Steaks aßen, und fragte: «Senf?» Er wußte, daß sie Kricket nicht ausstehen konnte. Aber wann immer er sich im Fernsehen ein Kricketspiel ansah, rief er ihr zu, sei es ins Schlafzimmer oder wohin sie sich sonst geflüchtet hatte: «Liebling, es ist zu aufregend … 364 zu vier, England ist nicht draußen, und Davis ist dran.»
Es störte sie nicht, daß er für vieles, was sie komisch fand, keinen Sinn hatte. Aber es gab eine Menge an Anthony, das sie störte. Es störte sie, daß er einfach alles mögliche voraussetzte. So setzte er voraus, daß es ihr, da sie eine unverheiratete Frau war, nichts ausmachte, wenn er seine Sachen bei ihr herumliegen ließ. Seinen Tennisschläger in der Diele. Rechnungen von Turnbull and Asser auf dem Nachttisch. Seinen Gucci-Taschenkalender neben dem Telefon. Er schaffte es immer, irgend etwas liegenzulassen, und wenn er gegangen war, mußte sie jeden Freitag die ganze Wohnung absuchen und seine sämtlichen Spuren tilgen. («Polizei durchkämmt Shepherds Bush nach vermißtem Mädchen.» Ja, das war auch etwas, das Anthony nicht komisch gefunden hatte.)
Normalerweise sammelte Mrs. Bush alles ein und stapelte Anthonys Sachen säuberlich auf der Eichentruhe auf, und zwar ziemlich demonstrativ in dem Korb für AUSGÄNGE. Aber selbst Mrs. Bush konnte etwas entgehen, und eines Freitagabends hatte Jane, als sie ins Badezimmer kam, Franklin mit Anthonys hölzerner Rasierschüssel in der Hand dastehen sehen.
«Stephanotis? Was ist Stephanotis?» hatte er bloß gefragt, aber seither war Jane sehr vorsichtig. Ihr waren genug Casanovas begegnet, die eine kunterbunte Sammlung von Ohrringen, Haarspangen und zurückgelassenen Lippenstiften in Zigarettendosen aufbewahrten, wo andere Frauen sie todsicher entdeckten, und sie wollte keinesfalls das weibliche Gegenstück zu solchen Männern sein. Oh, sie fand es herrlich, drei Liebhaber zu haben, aber das Bedürfnis, damit zu prahlen, hatte sie nicht. Und einer der Gründe, warum alles so gut klappte, lag – da war sie ganz sicher – darin, daß sie die drei sorgsam auseinanderhielt und nie einem von ihnen gegenüber auch nur andeutete, daß ein anderer, geschweige denn zwei andere existierten.
Freitags wurden also Anthonys Spuren getilgt. Montags beseitigte sie alle Spuren von Franklin, obwohl das kaum nötig war, da Franklin gewöhnlich nichts liegenließ. Und mittwochs räumte sie auf, wenn Tom gegangen war. Nur daß es bei Tom ein bißchen anders war: Tom durfte Sachen liegenlassen, da es manchmal wirklich angeraten war. Und was er liegenließ – Silber, Gemälde, Schreibmaschinen, Nerzmäntel, Schmuck und dergleichen mehr –, ließ er zumindest nicht offen herumliegen. Darauf war er sogar noch mehr bedacht als sie.
Sie hatte Tom schon vor langer Zeit einen großen Wandschrank draußen in der Diele überlassen, die das Wohnzimmer mit den übrigen Räumen verband. Er hatte selbst ein Sicherheitsschloß angebracht, und nur er allein kannte die Kombination. Um das Ganze noch geheimer zu machen, hatte er irgendwo einen riesigen vergoldeten Spiegel besorgt, der die Wand von oben bis unten bedeckte und die Schranktür vollständig verbarg. Aber wenn Jane sich schon um Toms geheimen Schrank und das Zeug darin manchmal sorgte, so machte Tom selbst ihr noch sehr viel größere Sorgen.
Sie kannte ihn seit über einem Jahr, und obwohl sie ihn in mancher Hinsicht sehr gut kannte – auch er war im Bett bezaubernd –, wußte sie über ihn wirklich nur das, was sie erraten und sich aus ihren Vermutungen zusammensetzen konnte. Alles in allem war es nicht viel mehr als das, was sie in der Nacht des Unfalls herausgefunden hatte, als er wie Manna in ihr Bett gefallen war.
Es war in einer kalten, regnerischen Winternacht gewesen. Sie hatte gefroren und war früh zu Bett gegangen. Im tiefen Schlaf hatte sie nicht einmal gehört, wie die Scheibe des Oberlichts zersplitterte. Dann fielen kalter Regen, schmutziges nasses Glas und ein sehr nasser knochiger junger Mann in ihr Bett.
Er umklammerte ihr Handgelenk. «Halt’s Maul, oder ich stopf es dir.»
Irgendwie wußte sie, daß er zu jung war oder was auch immer, um gefährlich zu sein. «Mach keinen Unsinn, dummer Bengel. Laß mich los.»
Er hielt sie weiter fest, und sie nahm den Geruch seiner feuchten Lederjacke wahr. «Gibt’s hier ’ne Alarmanlage?»
«Nein, um Gottes willen. Und nun laß los, du …», dem Himmel sei Dank für kitschige Filme, «du tust mir ja weh.»
Er ließ sie los, und sie drehte sich auf den Rücken. «Wer, zum Teufel, bist du eigentlich überhaupt, und was hast du auf dem Dach zu suchen?»
«Dach? Was für’n Dach? Ich bin mit einem Hubschrauber rübergeflogen, und da … Nimm deine verdammte Hand vom Telefon.»
«Ah, der weltberühmte Juwelendieb ist nervös, was? Ich wollte nur das Licht anmachen. Okay?»
«Okay. Aber das ist alles, klar?»
Überall war Blut. An ihm, an ihr, auf dem Kopfkissen, den Wolldecken und sogar auf dem Fußboden. «He, ich glaube, du …»
Er zog ein schmuddeliges Tuch aus der Tasche und wickelte es sich um seine rechte Hand. «Ist nichts. Was ist hier drunter?»
«Unter dieser Wohnung, meinst du?»
«Worunter wohl sonst, verdammt?»
«Die Hölle. Und da gehörst du auch hin.»
«Mach keine Witze, Lady. Ich will eine klare Antwort.»
«Okay. Bananen.»
«Und?»
«Sonst nichts. Ein Haufen – ein Riesenhaufen Bananen.»
«Scheiße.»
«Tja, so ist das. Nächste Woche die Kronjuwelen. Und in der Zwischenzeit Bananen. Nun komm schon.»
«Kommen? Wohin?»
«Badezimmer. Wasser. Verbandszeug. Wenn du artig bist, kriegst du vielleicht eine Zelluloidente in die Badewanne.»
Er nahm sie wieder am Handgelenk und ließ sich von ihr zum Badezimmer führen. Während das Wasser in die Wanne einlief und sie Hamamelis aus dem Schränkchen nahm, stützte er sich auf den Waschbeckenrand und betrachtete sich im Spiegel. «Mann, was für ein blutiger Schmierkram.»
Der Schnitt an seinem Daumenballen war tief und zerklüftet und mußte genäht werden. «Du wirst damit zum Onkel Doktor …»
«Ich scheiß auf’n Doktor.»
«Okay, es ist dein Daumen. Aber das hier ist mein Teppich, und den wirst du nicht mit Blut verschmieren.»
Sie holte eine feine Nadel und Nähseide aus ihrem Nähkästchen, aber das Nadelöhr war zu klein für Hände, die zitterten, und für einen Faden, der ausfranste. Sie ging noch einmal an ihr Nähkästchen, nahm die gebogene Polsternadel und fädelte gefügiges Baumwollgarn ein. Es mußte ihm mächtig weh getan haben, aber er hatte nicht einmal «Au» gesagt.
In der Küche goß sie ihm einen Cognac ein und machte sich selbst eine Tasse Kaffee. Ihre Hände zitterten noch immer, und jetzt klapperten auch noch ihre Zähne. «Hier», sagte er und zog seine riechende nasse Lederjacke aus. «Zieh an.»
Es war eine derart komisch-ritterliche Geste, daß sie ihn zum erstenmal etwas genauer betrachtete.
Er war eher noch jünger, als sie gedacht hatte. Achtzehn? Zweiundzwanzig? Oder gar ein aufgeschossener Vierzehnjähriger? Mit ihren vierunddreißig Jahren war sie sich jungen Leuten gegenüber nicht mehr recht sicher. Das einzige, was sie wirklich wußte, während sie ihn albern anstarrte, war, daß sie noch nie in ihrem Leben jemanden gesehen hatte, der so schön war wie er. Sein dunkelbraunes Haar war naß und schmutzig, aber kräftig und wellig, und die gerade Nase, der breite Mund und die dunkelblauen Augen waren so hinreißend wie die Züge der Romanhelden in Frauenzeitschriften. Mein Gott, was für ein Gesicht, dachte sie. Er mußte ihre Gedanken erraten haben. Jedenfalls erwiderte er ihren Blick mit einem schiefen, frechen Desperado-Lächeln, das sie jedoch zu seinem Pech bereits in unzähligen schlechten Filmen gesehen hatte, seit in dem allerschlechtesten von ihnen Errol Flynn den Befreier Birmas gespielt hatte.
Schön. Das genügte. Wenn er sich einbildete, sie sei eine sexhungrige, von verdrehten mütterlichen Gefühlen heimgesuchte, allein schlafende Bibliothekarin, die auf hübsche Jungens in Lederjacken und dreckigen Jeans flog, irrte er sich gewaltig.
«Okay, Marlon Brando. Du kannst jetzt gehen.»
«Kann ich? Danke.» Aber sein Blick fiel auf den Rest von einem Zitronenauflauf auf dem Kühlschrank, und sein männlich-hartes, rauhes Getue schmolz dahin. Mit ganz normaler Stimme sagte er: «Mann, das sieht aber gut aus!»
Sie wußte, sie wußte ganz genau, es war ein Fehler, aber sie machte ihm Spiegeleier mit Speck, ein schäbiges Scheibchen Toast und stellte den Rest des Zitronenauflaufs vor ihn hin – und nicht einmal auf einem Teller, sondern in der Form, in der sie ihn gebacken hatte.
Während er aß, beseitigte sie die Glasscherben und die schmutzigen nassen Blätter und die vom Regen vollgesogenen Decken und Laken. Aber das Bett war durch und durch naß, und es regnete immer noch darauf. Sie schob das Bett zur Seite, damit es nicht noch nasser wurde, und ging mit frischen Laken und einem Federbett durch die Diele ins Wohnzimmer.
Er kam hinter ihr her. «Hör mal, ich brauche keine Bettwäsche. Das ist Verschwendung.»
«Du brauchst was nicht?»
«Bettwäsche. Ich meine, du sollst dir keine Umstände machen.»
Sie zog das Klappsofa aus und schlug wütend das Bettuch darüber auseinander. Er half ihr mit seiner unverletzten Hand, es festzustecken. Dann gab er ihr das Überschlaglaken.
Sie riß es ihm aus der Hand. «Das ist nicht für dich, das Bettzeug. Das ist für mich. Du gehst jetzt nach Hause – wo immer das ist.» Sie richtete sich auf und drohte ihm mit erhobenem Zeigefinger. «Und sollte ich dich je wieder hier in der Gegend erblicken, dann werde ich …»
Er lächelte sein gekünsteltes Lächeln. «Dann wirst du was?»
«Ich werde …»
«Sag schon. Ich höre.»
«Ich kriege schon raus, wer du bist, bestimmt. Ich kriege schon raus, was du vorhast, und werde die Polypen holen.»
«Du bist dir da sehr sicher, nicht wahr?»
«Natürlich bin ich mir da sehr sicher. Und jetzt verschwinde. Schieß in den Wind, und laß dich nie wieder blicken.»
Sie stampfte durchs Wohnzimmer, riß die Wohnungstür auf und blieb wartend stehen. Er rührte sich – aber bloß, um sich in den schwarzen Ledersessel fallen zu lassen und sich eine Zigarette anzuzünden.
«Oh, zum Teufel», sagte sie und schlug die Tür wieder zu.
Es war bestimmt idiotisch von ihr, es soweit kommen zu lassen, aber als er am nächsten Morgen fortging, war sie überrascht, wie leid es ihr tat, daß sie ihn nie wiedersehen würde. Und noch erstaunter war sie darüber, wie sehr sie sich freute, als er am gleichen Nachmittag wiederkam – mit Glasscheiben, Holzleisten, Fensterkitt und allem, was sonst noch nötig war, um das Oberlicht zu reparieren. Er hatte sogar die richtige Sorte Glas mitgebracht: aus zwei Schichten bestehende Scheiben mit Maschendraht dazwischen. «So wird es stärker, weißt du», hatte er gesagt. Und er hatte recht, das machte es sehr viel stärker.
Fast alles, was sie inzwischen von ihm wußte und damals noch nicht gewußt hatte, war, daß er Tom hieß, daß er eine komplizierte Mischung von heftigem Trotz und empfindsamer Sanftmut war und daß er in seiner Wißbegierde alles verschlang, was Jane ihm bot, und von allem nach mehr verlangte, von Jane Austen bis hin zum Fünfkartenpoker. Darüber hinaus wußte sie von ihm nur noch, daß sie ihn überaus lieb gewonnen hatte.