Jeder Anfang mit dir - Marc Levy - E-Book

Jeder Anfang mit dir E-Book

Marc Levy

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Beschreibung

Romantikerinnen aufgepasst: Wer »Solange du da bist« – verfilmt mit Reese Witherspoon – geliebt hat, sollte sich »Jeder Anfang mit dir« nicht entgehen lassen!

Hope, Josh und Luke lernen sich im Medizinstudium kennen und sind schon bald ein unzertrennliches Gespann – bis Hope eines Tages erfährt, dass sie nicht mehr lange zu leben hat. Josh, heimlich in sie verliebt, fasst einen unglaublichen Plan, der nach ferner Zukunft klingt, in den Laboratorien der Bostoner Universität aber schon Wirklichkeit werden kann: Er will Hopes Gedächtnis kopieren und es auf jemand anderen übertragen, sobald die Wissenschaft dazu in der Lage ist. So müsste er sich lediglich von Hopes Körper verabschieden, nicht aber von der Essenz ihres Wesens. Dies ist die einzige Chance der beiden auf ein gemeinsames Morgen …

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Seitenzahl: 438

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Buch

Hope, Josh und Luke lernen sich im Medizinstudium kennen und sind schon bald ein unzertrennliches Gespann – bis Hope eines Tages erfährt, dass sie nicht mehr lange zu leben hat. Josh, heimlich in sie verliebt, fasst einen unglaublichen Plan, der nach ferner Zukunft klingt, in den Laboratorien der Bostoner Universität aber schon Wirklichkeit werden kann: Er will Hopes Gedächtnis kopieren und es auf jemand anderen übertragen, sobald die Wissenschaft dazu in der Lage ist. So müsste er sich lediglich von Hopes Körper verabschieden, nicht aber von der Essenz ihres Wesens. Dies ist die einzige Chance der beiden auf ein gemeinsames Morgen …

Der Autor

Marc Levy ist 1961 in Frankreich geboren. Mit achtzehn Jahren engagiert er sich beim französischen Roten Kreuz, für das er sechs Jahre tätig ist. Gleichzeitig studiert er Informatik und Betriebswirtschaft an der Universität in Paris. Von 1983 bis 1989 lebte er in San Francisco, wo er sein erstes Unternehmen gründete. 1990 verließ er die Firma und eröffnete mit zwei Freunden ein Architektenbüro in Paris. Er entdeckte schon früh seine Liebe zur Literatur und zum Kino und schrieb mit siebenunddreißig Jahren seinen ersten Roman, »Solange du da bist«, der von Steven Spielberg verfilmt und auf Anhieb ein Welterfolg wurde. Seitdem wird Marc Levy in neunundvierzig Sprachen übersetzt, und jeder Roman ist ein internationaler Bestseller. Marc Levy, der mit seiner Familie in New York lebt, ist mit 40 Millionen verkauften Büchern der erfolgreichste französische Autor weltweit.

Mehr über den Autor unter www.marclevy.info

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Marc Levy

JEDER ANFANG MIT DIR

Roman

Aus dem Französischen von Eliane Hagedorn und Bettina Runge

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
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Die Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel »L’Horizon à l’envers« bei Robert Laffont Versilio, Paris.
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2020 by Blanvalet Verlag, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München Redaktion: Gerhard Seidl Covergestaltung: www.buerosued.de nach einer Originalvorlage von Editions Pocket Coverdesign: Chez Gertrud / Illustrissimo KW Herstellung: sam Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-23040-1

Für meine Eltern,meine Schwester,meine Kinder,meine FrauundSusanna

»Nichts ist bedrohlicher als das Unmögliche.«

HOPE

In der Ferne hörte man eine Sirene.

Die Stirn an die Fensterscheibe gedrückt, holte Josh tief Luft. Sein Blick verlor sich in Richtung der Backsteinfassaden des Viertels, in das Hope und er ein Jahr zuvor gezogen waren.

Ein Flimmern blauer und roter Lichter tauchte am Ende der menschenleeren Straße auf, kam näher und erleuchtete das gesamte Zimmer, als das Fahrzeug vor der Tür des Gebäudes anhielt.

Nun zählte jede Sekunde.

»Josh, ich muss es jetzt tun …«, beschwor ihn Luke.

Es ging über seine Kräfte, sich umzudrehen und das Gesicht der Frau zu betrachten, die er liebte.

»Josh«, murmelte Hope, als die Nadel in ihre Vene eindrang, »schau nicht hin, das ist nicht nötig. Unser Schweigen hat uns immer gereicht.«

Josh trat ans Bett, beugte sich über Hope und küsste sie. Sie öffnete ihre blassen Lippen.

»Es war ein Privileg, dich zu kennen, mein Josh«, sagte sie lächelnd und schloss die Augen.

Es klopfte an der Tür. Luke stand auf und ließ das Team eintreten: zwei Sanitäter und ein Arzt, der sofort an Hopes Bett trat, um ihr den Puls zu fühlen. Er zog ein Wirrwarr aus Kabeln und Elektroden aus seiner Tasche und befestigte diese an Brust, Handgelenken und Fußknöcheln.

Der Arzt beobachtete den Kurvenverlauf auf dem Papierstreifen und machte den beiden Sanitätern ein Zeichen. Sie näherten sich mit der Trage und hoben Hope aus dem Bett, um sie auf der Trage auf eine Eismatte zu legen.

»Wir müssen uns beeilen«, sagte der Arzt.

Josh sah ihnen hinterher, wie sie Hope mitnahmen, und wäre ihnen am liebsten gefolgt, doch Luke hielt ihn am Arm zurück und zog ihn ans Fenster.

»Glaubst du wirklich, das kann funktionieren?«, fragte er mit einem Seufzer.

»Was die Zukunft betrifft, kann ich dir nichts sagen«, erwiderte Luke. »Doch heute Abend haben wir das Unmögliche möglich gemacht.«

Josh schaute nach unten auf die Straße. Die Sanitäter schoben die Trage in den Krankenwagen, auch der Arzt kletterte hinein und schloss die Türen.

»Wenn dieser Doktor etwas bemerkt hätte … Ich weiß nicht, wie ich dir jemals danken soll.«

»Die Zauberlehrlinge seid ihr beide, meine Rolle wird nicht so wichtig gewesen sein. Und das wenige, was ich getan habe, war allein für sie.«

»Was du getan hast, war wichtig.«

»Ihrer Theorie nach … und allein die Zukunft wird es uns sagen, wenn wir dann noch da sind.«

Kapitel 1

»Warum machst du dich selbst immer so schlecht? Wirklich verrückt, dass ein Mädchen wie du derart wenig Selbstvertrauen hat. Oder es ist nur eine List.«

»Was für eine Art von List denn bitte schön? Nur du kannst so einen Blödsinn reden.«

»Vielleicht willst du damit ja nur erreichen, dass man dir Komplimente macht.«

»Siehst du, ich habe recht! Wenn ich hübsch wäre, würdest du nicht denken, ich hätte es nötig, dass man mir Komplimente macht.«

»Du gehst mir echt auf die Nerven, Hope. Das Unwiderstehliche an dir ist deine geistreiche Art. Du bist das witzigste Mädchen, das ich kenne.«

»Wenn ein Junge zu einem Mädchen sagt, dass sie witzig ist, heißt das fast immer, sie ist hässlich.«

»Ach wirklich, weil sie nicht zugleich hübsch und witzig sein kann? Wenn ich gewagt hätte, das zu sagen, hättest du mir vorgeworfen, sexistisch und chauvinistisch zu sein.«

»Und dazu eine echte Pfeife – aber ich darf das sagen. Also, wie ist diese Anita?«

»Welche Anita?«

»Jetzt tu nicht so unschuldig!«

»Sie hat mich nicht begleitet. Wir haben zufällig nebeneinander im Kinosaal gesessen und nur unsere Meinungen über den Film ausgetauscht.«

»Ihr habt eure Meinungen über einen Film ausgetauscht, in dem es um eine anderthalbstündige Verfolgungsjagd und zum Schluss um eine stürmische Umarmung ging?«

»Du hältst mich von der Arbeit ab!«

»Seit einer Stunde schielst du immer wieder zu der Brünetten hinüber, die da ganz hinten am Ende der Bibliothek sitzt. Soll ich mich für dich einsetzen? Ich kann sie um ihre Telefonnummer bitten für den Fall, dass sie Single ist, und ihr sagen, dass mein guter Freund davon träumt, sie in einen Autorenfilm mitzunehmen. La grande bellezza – Die große Schönheit oder ein Meisterwerk von Visconti oder sogar einen alten Capra-Film …«

»Ich versuche, hier wirklich zu arbeiten, Hope, und ich kann nichts dafür, dass sich diese junge Frau in meinem Blickfeld befindet, während ich nachdenke.«

»Man kann die Anziehungskraft wirklich nicht dafür verantwortlich machen, dass Menschen sich verlieben, da gebe ich dir recht. Und über was grübelst du nach, wenn ich fragen darf?«

»Über Neurotransmitter.«

»Aha. Noradrenalin, Serotonin, Dopamin, Melatonin …«, zählte Hope mit ironischem Unterton auf.

»Jetzt sei mal still und hör mir einen Augenblick zu. Sie mobilisieren das Gehirn hinsichtlich bestimmter Aktionen, erhöhen Aufmerksamkeit und Merkfähigkeit, beeinflussen unsere Schlafzyklen, unser Ernährungs- und unser Sexualverhalten … Melatonin spielt eine Rolle bei der Winterdepression …«

»Wenn du mir sagen kannst, welcher Neurotransmitter bei der Sommerdepression im Spiel ist, und zwar in dem Moment, in dem man versucht, sich in einen Bikini zu zwängen, schlage ich dich für den Nobelpreis vor …«

»Und wenn diese Moleküle in beide Richtungen funktionieren? Wenn die Neurotransmitter Informationen über die Auswirkungen sammeln würden, die sie im Lauf unse­res Lebens auslösen? Stell dir vor, sie würden wie Teilchen eines ›Arbeitsspeichers‹ agieren, die unseren ganzen Erfahrungsschatz sammeln, alles, was unseren Charakter prägt, was uns verändert. Niemand weiß, wo im Gehirn sich unser Bewusstsein befindet, was aus jedem von uns ein einzigartiges Wesen macht. Stell dir also vor, dass die Neurotransmitter wie vernetzte Computer die enormen Mengen an digitalem Material speichern und so das Netzwerk bilden, in dem unsere Persönlichkeit wohnt.«

»Großartig! Geradezu genial! Und wie willst du das beweisen?«

»Warum, glaubst du, studiere ich Neurowissenschaften?«

»Um die Mädchen zu verführen, und ich bin sicher, der erste Prof, dem du von deinen revolutionären Theorien berichtest, wird dir vorschlagen, auf Jura oder Philosophie umzusteigen, ganz egal, nur damit er dich nicht mehr zu seinen Studenten zählen muss.«

»Wenn ich allerdings recht hätte – ist dir klar, was das bedeutet?«

»Angenommen, deine nebulöse Theorie wäre fundiert und es würde eines Tages gelingen, die Informationen, die in diesen Molekülen enthalten sind, zu entschlüsseln, könnte man im Gedächtnis eines Menschen zum Zeitpunkt t gelangen.«

»Wir könnten es nicht nur kopieren, sondern das gesamte Bewusstsein eines Menschen vielleicht auch auf einen Computer übertragen.«

»Ich finde diese Idee grauenhaft. Warum erzählst du mir das?«

»Damit du zusammen mit mir an diesem Projekt arbeitest.«

Hope brach in schallendes Gelächter aus, das von den Tischnachbarn mit finsteren Blicken bedacht wurde. ­Hopes Lachen versetzte Josh jedes Mal in gute Laune. Selbst wenn sie auf seine Kosten lachte, was nicht selten der Fall war.

»Du kannst schon mal damit anfangen, mich zum Abendessen einzuladen«, flüsterte sie. »Aber kein schwer verdauliches, ins Haus geliefertes Fast Food, mein Lieber, ich spreche von einem richtigen Restaurant.«

»Kann das noch ein bisschen warten? Ich bin momentan nämlich ziemlich knapp bei Kasse. Aber gegen Ende der Woche dürfte ein bisschen Kohle reinkommen.«

»Dein Vater?«

»Nein, Nachhilfestunden in Naturwissenschaften, die ich einem kleinen Idioten gebe. Seine Eltern halten verbissen daran fest, dass er eines Tages ein Studium absolviert, das diesen Namen auch verdient hat.«

»Du bist ein Snob und noch dazu bösartig. Ich bezahle die Rechnung.«

»Unter diesen Umständen bin ich gern bereit, dich zum Abendessen einzuladen.«

Josh hatte Hope während der ersten Monate auf dem Campus kennengelernt. Luke und er hatten auf dem Rasen eine nicht ganz legale Zigarette geraucht und sich über ihre Enttäuschungen in Liebesdingen ausgetauscht. Hope saß an einen Kirschbaum gelehnt da und ging ihre Vorlesungen durch.

Mit lauter, klarer Stimme hatte sie soeben gefragt, ob hier jemand unter einer unheilbaren Krankheit leide, die den medizinischen Einsatz einer psychotropen Substanz unter freiem Himmel rechtfertige.

Luke hatte sich aufgerichtet, um festzustellen, ob diese Stimme einer Dozentin oder einer Studentin gehörte, und während er sich suchend umsah, hatte Hope ihm gewinkt. Dann pustete sie sich eine Haarsträhne aus der Stirn, die ihre Augen verdeckt hatte, und Luke war wie verzaubert.

»Du scheinst in Topform zu sein, daraus schließe ich, dass dein Kumpel, der am helllichten Tag die Sterne zählt, todkrank sein muss, wobei euer jamaikanischer Tabak sicher auch damit zu tun hat – selbst ich fühle mich schon etwas seltsam.«

»Willst du nicht zu uns herüberkommen?«, fragte Luke.

»Danke, aber ich habe so schon Mühe, mich zu konzentrieren. Dank eures brillanten Gesprächs über das weibliche Geschlecht lese ich seit einer halben Stunde immer wieder dieselbe Zeile. Es ist unglaublich, was Typen eures Alters für einen Blödsinn über Frauen sagen können.«

»Was liest du da gerade so Interessantes?«

»Angeborene Missbildungen des Zentralnervensystems von Professor Eugene Ferdinand Algenbruck.«

»Sie ist ein hübsches Mädchen, schlank und lässig, von Kopf bis Fuß fürs Überleben gemacht. Wovon wir reden, wenn wir von Liebe reden von Raymond Carver. Jeder hat so sein Kultbuch, stimmt’s? Aber wenn du uns über das weibliche Geschlecht aufklären willst – es ist ein größeres Mysterium als die Pathologie der Großhirnrinde, und weitaus aufregender.«

Hope beobachtete Luke zurückhaltend, schloss ihr Buch und stand auf.

»Erstes Studienjahr?«, fragte sie, während sie sich zu ihm gesellte.

Josh kam hinzu, um sie zu begrüßen, sie schwieg und begnügte sich damit, die ihr entgegengestreckte Hand zu betrachten. Überrascht, dass sie ihm nicht ebenfalls die Hand reichte, setzte er sich wieder hin.

Luke war nichts von den Blicken entgangen, die sie gewechselt hatten, und von dem Licht, das in Hopes Augen aufgeblitzt war, und auch wenn diese Unbekannte ihn bereits faszinierte, so war ihm doch klar, dass sie es nicht auf ihn abgesehen hatte.

Hope würde stets verneinen, dass sie sich an diesem Tag auch nur im Geringsten von Josh angezogen gefühlt hatte, Luke aber glaubte kein Wort davon, und immer, wenn das Thema aufkam, erinnerte er daran, dass die Folge der Ereignisse ihm recht gegeben hatte.

Auch Josh würde schwören, an jenem Tag nichts besonders Verführerisches an Hope bemerkt zu haben, und sogar hinzufügen, dass sie zu den Mädchen gehörte, die man erst hübsch findet, wenn man sie wirklich kennt. Und Hope würde es nie gelingen, ihn dazu zu bewegen zuzugeben, ob das ein Kompliment oder reiner Sarkasmus war.

Nachdem sie sich vorgestellt hatten, genossen sie die Milde des spätsommerlichen Abends. Da Josh nicht sonderlich redegewandt war, bemühte sich Luke, an seiner Stelle zu antworten, wenn Hope eine Frage stellte, und Josh beobachtete voller Schadenfreude, wie sehr sich sein bester Freund ins Zeug legte.

Mitte des Herbstes bildeten Hope, Josh und Luke ein unzertrennliches Trio. Nach den Vorlesungen trafen sie sich, wenn es das Wetter zuließ, auf dem Vorplatz der Bibliothek, an kalten und regnerischen Tagen im Lesesaal.

Josh arbeitete von den dreien am wenigsten und heimste die besten Noten ein. Nach jeder Prüfung verglich Luke ihre Ergebnisse und musste zugeben, dass die wissenschaftliche Intelligenz von Josh der der beiden anderen überlegen war. Hope milderte sein Urteil ab, Josh sei zwar brillant, aber er nutze über die Maßen seine Verführungskünste, sowohl bei den Professoren als auch bei seinen weiblichen Opfern. Bestenfalls sprach sie ihm mehr Vorstellungskraft als ihnen beiden zu, dafür jedoch sehr viel weniger Gewissenhaftigkeit.

Luke ließ sich zumindest nicht vom ersten Paar Beine ablenken, das an ihm vorbeispazierte und, genau wie die beiden anderen, hatte er sich die Priorität gesetzt, sein Studium erfolgreich abzuschließen.

Eines Abends, als sie in der Cafeteria lernten, verschlang eine Studentin an einem Nebentisch Josh geradezu mit Blicken, der seinerseits nicht darauf verzichtete, ihre Kontaktversuche verstohlen zu erwidern. Hope hatte die Heimlichtuerei unterbrochen und ihm vorgeschlagen, die alberne Gans in seinem Zimmer zu vernaschen, anstatt so zu tun, als arbeite er.

»Eine sehr elegante Bemerkung«, hatte er erwidert.

»Gleichstand«, hatte Luke geschlichtet. »Eine Frage: Warum müsst ihr beiden euch eigentlich ständig zanken? Ihr könntet doch einmal etwas anderes machen.« Angesichts ihres Schweigens hatte er hinzugefügt: »Gemeinsam ausgehen beispielsweise.«

Darauf folgte eine denkwürdige Befangenheit, und Hope zog sich kurz darauf unter dem Vorwand zurück, sie müsse ihre Prüfungen noch einmal durchgehen, was in Gegenwart von zwei Schwachköpfen wie ihnen unmöglich sei, wie sie abschließend feststellte.

»Was ist denn in dich gefahren?«, fragte Josh.

»Ich bin es leid zuzusehen, wie ihr wie zwei Halbwüchsige umeinander herumschleicht. Das ist echt nervtötend.«

»Was geht dich das an? Außerdem sind Hope und ich einfach nur befreundet.«

»Du bist möglicherweise doch weniger intelligent, als man allgemein glaubt. Oder wirklich blind, um in diesem Punkt dermaßen danebenzuliegen.«

Josh hatte mit den Schultern gezuckt und seinerseits die Cafeteria verlassen.

Zurück in der Wohnung, die er sich mit Luke teilte, hatte er sich vor seinen Laptop gesetzt, um einige Recherchen durchzuführen, mit denen er wenig Erfahrung hatte. Nachdem er alle Pseudonyme durchprobiert hatte, die ihm einfielen, musste er zur Kenntnis nehmen, dass Hope die einzige ihm bekannte Person war, die nicht im Netz auftauchte. Diese Unauffälligkeit fand er irgendwie heim­tückisch.

Am nächsten Tag wartete er am Ende der Vorlesungen auf Hope. Sie spazierten über den Campus, und seine Versuche, das Thema anzuschneiden, blieben erfolglos. Hope machte sich einen Spaß daraus, die Bibliothek zu umrunden, ohne dass Josh merkte, dass sie wieder am Ausgangspunkt angekommen waren. Dann schlug sie den Weg in Richtung des Gebäudes ein, in dem sie ihr Zimmer hatte.

»Was willst du eigentlich, Josh?«, fragte sie ihn schließlich.

»Dir Gesellschaft leisten, sonst nichts.«

»Bist du in Verzug und willst, dass ich dir bei deinen Aufgaben helfe?«

»Ich bin nie in Verzug.«

»Wie schaffst du es, auf dem Laufenden zu sein, wo du so viel Zeit damit zubringst, Joints zu rauchen? Ein wissenschaftliches Phänomen!«

»Ich befasse mich mit dem Wesentlichen, ich optimiere meine Arbeitsstunden.«

»Ich neige eher zu der Annahme, dass es eine ganze ­Armee kleiner Laborantinnen gibt, die dir zu Diensten sind.«

»Es nervt, Hope, dass du immer über mich urteilst. Wofür hältst du mich eigentlich?«

»Für einen Hochbegabten, und das ärgert mich noch mehr, deshalb kann ich es nur schwer zugeben.«

Josh fragte sich, ob sie es ehrlich oder ironisch meinte.

Vor ihrem Wohnheim erinnerte Hope ihn daran, dass Jungen der Zutritt verboten war. Er würde nicht durch die Eingangshalle kommen, es sei denn, mit einer Perücke auf dem Kopf.

Schließlich stellte Josh die Frage, die ihn hierhergeführt hatte.

»Woher weißt du, dass ich in den sozialen Netzwerken nicht auftauche?«, fragte Hope zurück.

»Ich habe nichts gefunden.«

»Du hast also gesucht!«

Joshs Schweigen konnte als Eingeständnis gelten.

»Willst du nichts dazu sagen?«, beharrte er.

»Nein, ich versuche zu verstehen, was dich dazu gebracht haben könnte, deine wertvolle Zeit damit zuzubringen, Informationen über mich im Internet zu finden. Wäre es nicht einfacher gewesen, mich einfach zu fragen?«

»Gut, dann frage ich dich eben jetzt.«

»Wenn wir alles posten, was wir so treiben, wollen wir den anderen damit zeigen, dass unser Leben schöner ist als ihres. Meines ist einfach deswegen anders, weil es mein Leben ist und nicht das einer anderen, und deshalb behalte ich es für mich. Außerdem bist du auch nicht auf Facebook!«

»Ach ja? Woher weißt du das?«, fragte Josh mit diesem Lächeln, das Hope in höchstem Maße ärgerte.

»Gleichstand, wie Luke sagen würde«, antwortete sie.

»Ich mag die sozialen Netzwerke nicht, ich mag überhaupt keine Netzwerke«, antwortete Josh, »ich bin ein Einzelgänger.«

»Was willst du später einmal machen?«

»Elefanten im Zirkus trainieren.«

»Das ist genau die Art von Antwort, bei der ich denke, dass wir nie miteinander schlafen werden«, gab Hope zurück, ohne sich der Ungeheuerlichkeit bewusst zu sein, die sie soeben geäußert hatte.

In Verlegenheit gebracht, gelang es Josh nicht zu reagieren.

»Vielleicht, weil du es nie in Erwägung gezogen hast?«, fuhr Hope fort.

»Doch, aber mir war klar, dass du niemals einen Elefantendompteur in deinem Bett würdest haben wollen, deshalb habe ich nichts in der Richtung versucht.«

»Gegen Elefanten habe ich letztlich nichts … Aber gut, du wärst nur meine x-te Eroberung«, sagte sie, wobei sie sich ganz offen über ihn lustig machte. »Und denk bloß an den nächsten Morgen … Es wäre so unangenehm, dir gestehen zu müssen, dass du dir keine Illusionen machen und nicht hoffen sollst, mit uns beiden könnte es etwas Ernstes werden. Ich sehe mich in der Morgendämmerung verstohlen davonschleichen, während du noch schläfst und ich schon halb tot bin vor Scham. Du verdienst etwas Besseres als mich, das schwöre ich dir …«

»So siehst du mich also?«, unterbrach Josh sie. »Du glaubst, dass ich so ein Typ bin, ungeniert und vulgär?«

»Vulgär niemals, aber ungeniert sicherlich.«

Mit bestürzter Miene entfernte sich Josh, und Hope fragte sich, ob sie nicht etwas zu weit gegangen war. Sie rannte ihm nach.

»Schau mir in die Augen und schwör mir, dass du nicht so ein Typ bist.«

»Du kannst von mir aus denken, was du willst.«

Josh beschleunigte seinen Schritt, aber Hope holte ihn ein und baute sich vor ihm auf.

»Gib mir eine Nacht im Labor, und ich werde eine Pille entwickeln, die ich morgen früh unauffällig in deinem Kaffee auflöse«, sagte sie.

»Und welche Wirkung hätte diese Pille?«, fragte Josh, der den Schlag noch nicht verdaut hatte.

»Sie wird aus deinem Gedächtnis alles löschen, was wir uns in den letzten vierundzwanzig Stunden gesagt haben, also vor allem alles, was ich von mir gegeben habe, meinen zweifelhaften Humor … und alle meine Fehler. Aber sei beruhigt, an meinen Vornamen wirst du dich noch erinnern.«

Was Josh überwältigte, waren die beiden Grübchen, die sich in ihren Mundwinkeln zu bilden begannen, als sie ihn anlächelte, wie zwei Klammern, die den Rest seines Lebens einfassen sollten. Auf Hopes Gesicht war etwas Einzigartiges aufgetaucht. Ob es nun ein Ausdruck war, den sie noch nie gezeigt hatte oder den er noch nie wahrgenommen hatte, in diesem Augenblick spürte er auf jeden Fall, dass zwischen ihnen nichts mehr so sein würde wie zuvor. Keiner seiner Eroberungen war es bisher gelungen, seinen Panzer zu knacken, aber an diesem Abend hatte Hope mit ihren Bemerkungen genau ins Schwarze getroffen.

Er küsste sie auf die Wange, bereute diesen Übereifer, den er schrecklich ungeschickt fand, und machte die ebenso schreckliche Feststellung, dass es ihm nicht gelingen würde, drei sinnvolle Worte aneinanderzureihen, und wäre es nur, um seiner Freundin einen schönen Abend zu wünschen.

»Sollen wir hierbleiben und die erleuchteten Fenster zählen?«, schlug Hope vor. »Ich hätte dir gerne vorgeschlagen, die Sterne zu zählen, ich weiß ja, dass du sie liebst, aber der Himmel ist heute Abend bedeckt.«

Hope fragte sich, was sie dazu trieb, Josh so zu provozieren. Auch sie hatte das Gefühl, eine seltsame Befangenheit läge in der Luft. Die Zeit war gekommen, die Deckung fallen zu lassen. Wenn sie ihn weiter zurückstieß, würde sie ihn wirklich von sich entfernen. Es war vergebene Liebesmüh, sich schützen zu wollen, sie war verrückt nach ihm, und sich in Verweigerung zu verstricken, würde daran nichts ändern. Auch wenn sie ihr Sexualleben, im Gegensatz zu vielen ihrer Freundinnen, nicht an die erste Stelle ihrer Beschäftigungen setzte, musste sie doch zugeben, dass sich eine gewisse, um nicht zu sagen völlige Abstinenz bei ihr eingestellt hatte, seit sie Josh begegnet war, und das war womöglich kein Zufall. Konnte man wirklich so naiv sein, unbewusst jemandem treu zu sein, mit dem gar nichts lief? Welches idiotische Molekül konnte das Gehirn dazu bringen, sich so einzuschränken?

Josh beobachtete sie ratlos.

Hope hatte eine Wahnsinnslust, ihn zu sich einzuladen. Um diese Zeit war die Eingangshalle menschenleer. Die Treppe hinaufzugehen, die paar Meter über den Flur bis zu ihrer Zimmertür zurückzulegen, war mit keiner großen Gefahr verbunden, wenn man diskret vorging. Schlimmstenfalls würde man einer anderen Studentin begegnen – die Wahrscheinlichkeit, dass ein Unschuldsengel sie verpfeifen würde, war ziemlich gering. Sie hatte bereits einige ihrer Nachbarinnen dabei überrascht, dieses Risiko einzugehen. Das alles hatte Hope sich innerhalb von wenigen Sekunden vorgestellt, aber der heikelste Teil ihres Plans bestand darin, ihn mit demjenigen zu besprechen, der sie mit seinen Blicken fixierte. Dabei genügte es, etwas Einfaches zu sagen wie: »Möchtest du auf ein Gläschen mit raufkommen?« – Wohl wissend, dass es in ihrem Zimmer weder Alkohol noch ein anderes Glas als ihr Zahnputzglas gab – oder, ebenso kompromittierend, aber glaubwürdiger: »Sollen wir unsere Unterhaltung oben fortsetzen?« Sie nahm dreimal Anlauf, aber die Worte blieben ihr im Hals stecken.

Josh starrte sie weiter an, die Zeit verrann, und er musste zur Tat schreiten … oder auch nicht.

Es gelang ihr, ihn etwas glücklicher anzulächeln als bisher, dann zuckte sie mit den Schultern und verschwand schließlich allein im Haus.

Nachdenklich versuchte Josh, das Ausmaß des Schadens einzuschätzen, das diese Unterhaltung ihrer Freundschaft zufügen würde, wobei er auch die Tatsache berücksichtigte, einen Moment lang sogar Monogamie in Erwägung gezogen zu haben. Das beunruhigte ihn möglicherweise noch mehr als der erste Punkt, und er beschloss, vor dem nächsten Tag keinerlei endgültige Schlussfolgerungen zu ziehen, überhaupt gar keine Schlussfolgerung, bis sich alles wieder normalisiert hätte, und vor allem nie mehr seinen Blick auf Hopes Mund zu richten.

Hope streckte sich auf ihrem Bett aus, starrte an die Decke, griff nach einem ihrer Lehrbücher, dessen Seiten sie umblätterte, ohne sich konzentrieren zu können, und bedauerte ein einziges Mal, keine Mitbewohnerin zu haben, und da sie merkte, dass sie nicht würde schlafen können, stand sie auf und beschloss, ins Labor zu gehen.

In schlaflosen Nächten arbeitete sie gerne dort. Das Campus-Labor, ein riesiger Raum mit rosa Wänden, eine Deko, die Hope als geheimnisvoll empfand, verfügte über alle Materialien, die sich ein Student nur wünschen konnte. Mikroskope, Zentrifugen, Kühlschränke, Autoklaven und rund dreißig Labortische mit Spüle und Computer. Um jedoch dorthin zu gelangen, musste sie einen Korridor entlanggehen, der ihr eine Heidenangst einjagte. Sie atmete tief ein, dachte daran, dass sie den restlichen Abend mit Josh hätte verbringen können, wenn es ihr einmal gelungen wäre, ihre Gefühle auszusprechen, und verließ ihr Zimmer.

Sie ging einen Weg hinauf und erreichte die Eingangshalle des Gebäudes. Ihre ökologischen Überzeugungen über Energiesparmaßnahmen gerieten in dem Moment ins Wanken, als sie über den ins Halbdunkel getauchten Flur zum Labor ging. Sie beschleunigte ihre Schritte und begann, vor sich hin zu trällern.

Als sie die Tür zum Labor aufstieß, war sie überrascht, Luke dort vorzufinden. Er war über ein Mikroskop gebeugt und schien sie nicht eintreten gehört zu haben. Hope näherte sich mit leisen Schritten, fest entschlossen, ihm den Schrecken seines Lebens einzujagen.

»Sei nicht albern, Hope«, brummte er schließlich hinter seiner Schutzmaske, die einen guten Teil seines Gesichts bedeckte, »ich hantiere hier mit etwas Empfindlichem.«

»Und womit hantierst du da zu so später Stunde?«, fragte Hope, enttäuscht, ihren Auftritt vermasselt zu haben.

»Mit sich erwärmenden Zellen.«

»Woran arbeitest du?«

»Wenn du mich weiter ablenkst, an gar nichts! Ich vermute, wenn du mitten in der Nacht hergekommen bist, dann, um ebenfalls zu arbeiten, oder?«

»Charmant!«, antwortete sie, bewegte sich jedoch keinen Zentimeter vom Fleck.

Luke hob den Kopf und drehte sich auf seinem Stuhl herum. »Was willst du, Hope?«

»Hat Josh Humor? Ich meine, hat er hinter seinem unechten umwerfenden Lächeln wirklich Humor?«

Luke blickte Hope ernst an und wandte sich wieder seinem Mikroskop zu.

»Ich spreche auch gern mit deinem Rücken«, nahm Hope den Faden wieder auf, »aber du könntest schon ein bisschen höflicher sein.«

Luke drehte seinen Stuhl wieder zurück.

»Josh ist mein bester Freund, du bist neu in unserer ­Clique, also wenn du dir einbildest, ich würde hinter seinem Rücken mit dir über ihn sprechen, täuschst du dich.«

»Warum erwärmst du Zellen?«

»Wir sind uns schon einig, dass diese Frage mit der vorherigen nichts zu tun hat?«

»Ich dachte, das Thema wäre abgeschlossen, also habe ich es gewechselt.«

»Gut! Um zu versuchen, sie wieder aufzuwecken.«

»Du hattest sie in Schlaf versetzt?«

»Ja, indem ich sie eingefroren habe.«

»Aber warum?«

Luke merkte, dass er sie nicht so einfach wieder loswerden würde. Er war müde, und seine Arbeiten würden noch einen Großteil der Nacht dauern. Er wühlte in der Tasche seines Arbeitskittels, holte zwei Fünfundzwanzig-Cent-Münzen heraus und reichte sie Hope.

»Der Kaffeeautomat ist auf dem Gang. Für mich einen Kaffee mit Milch und der doppelten Dosis Zucker, für dich, was du möchtest.«

Hope sah ihn amüsiert an, die Hände in die Hüften gestützt. »Wofür hältst du mich?«

Luke fixierte sie schweigend.

»Du solltest dich schämen«, sagte sie und machte sich auf den Weg zum Kaffeeautomaten.

Kurz darauf war sie zurück und stellte den Becher auf den Labortisch.

»Also, woran arbeitest du?«

»Versprich mir zuerst, dass du Josh nichts davon sagen wirst.«

Der Gedanke, mit Luke ein Geheimnis zu teilen, egal worum es ging, und dass Josh nichts davon wusste, erfüllte Hope mit Freude. Sie nickte und widmete ihm ihre ganze Aufmerksamkeit.

»Du hast sicher schon mal etwas von Biostase gehört?«

»Vom Winterschlaf?«

»Beinahe, der Zustand ähnelt dem Winterschlaf, geht ­jedoch noch etwas weiter. Man spricht auch von einem ›rever­siblen Tod‹.«

Hope zog sich einen Stuhl heran und setzte sich.

»Bestimmte Säugetiere können ihren Stoffwechsel so weit verlangsamen, dass sie nahezu tot sind. Hierfür senken sie ihre Körpertemperatur schrittweise auf beinahe null Grad ab. In diesem lethargischen Zustand verringert das Tier seinen Sauerstoffverbrauch drastisch, senkt den Herzrhythmus und reduziert damit den Blutfluss erheblich, sodass sein Herzschlag kaum noch wahrnehmbar ist. Um zu überleben, produziert der Organismus wirksame Antikoa­gulanzien, damit die Bildung von Blutgerinnseln verhindert wird. Die Zellprozesse kommen sozusagen zum Erliegen. Das ist ganz schön faszinierend, oder? Die Frage ist, ob auch andere Säugetiere über dieselbe Fähigkeit verfügen, es jedoch nicht verstehen, sie auch zu nutzen. Du hast sicher schon von den seltenen, aber dennoch vorkommenden Fällen gehört, wo Menschen, die in eiskaltes Wasser gefallen waren oder im Gebirge vermisst wurden, nach relativ langer Zeit gerettet wurden und eine starke und lange Unterkühlung ohne neurologische Folgen überlebt haben. Ihr Organismus hat ähnlich reagiert, indem er sich in eine Art extremen Stand-by-Modus versetzt hat, um seine lebenswichtigen Organe genauso zu schützen wie die Tiere, von denen ich gesprochen habe.«

»Okay, okay, das weiß ich alles, aber warum arbeitest du an der Biostase?«

»Immer mit der Ruhe. Der Zustand der Biostase würde es theoretisch ermöglichen, und ich betone das Wort theoretisch, einen Organismus gefrieren zu lassen und auf unbestimmte Zeit zu konservieren.«

»Macht man das nicht bereits mit Spermatozoiden für die In-vitro-Befruchtung?«

»Und sogar mit Embryonen im frühen Teilungs­stadium, wobei diese maximal acht Zellen umfassen dürfen. Das sind sozusagen die einzigen Organismen, bei denen die Konservierung auf diese Weise gelingt und bei denen es vor allem möglich ist, sie auf Wunsch wieder zum Leben zu erwecken. Erhalten ist eine Sache, wieder zum Leben zu erwecken eine andere. Die heutige Wissenschaft stößt auf ein physikalisches Problem. Nähert man sich der extremen Kälte, bilden sich in den Geweben Eiskristalle und zerstören oder beschädigen die Zellen.«

»Und was genau willst du beweisen?«

»Nichts, ich begnüge mich damit, es zu studieren, dieses Gebiet fasziniert mich. Die Kryokonservierung ist eine Kreuzung aus mehreren Disziplinen, aus der Medizin natürlich, der Kältetechnik, der Chemie, der Physik, aber das Schwierigste ist, jemanden zu finden, der es versteht, alle diese Kompetenzen zu orchestrieren.«

»Möchtest du eines Tages der Dirigent dieses Orchesters sein?«

»Eines Tages vielleicht … träumen ist schließlich erlaubt, oder?«

»Warum muss das Josh gegenüber ein Geheimnis bleiben?«

»Ich habe meine Gründe, und du hast mir ein Versprechen gegeben, ich hoffe, du hältst dich daran.«

»Ehrlich gesagt finde ich es absolut nicht sensationell, die Nacht damit zu verbringen, eingefrorene Zellen zu beobachten. Du kannst auf meine Diskretion zählen.«

Luke beugte sich über sein Mikroskop und zuckte mit den Schultern. »Vergiss es, du hältst mich wahrscheinlich für einen Fantasten, und ich muss jetzt wirklich weiterarbeiten.«

Hope beobachtete ihn. Irgendetwas quälte sie, sie war sich sicher, dass Luke nicht nur vor Josh etwas verbarg.

»Weißt du, warum ich mich für dieses Studium entschieden habe?«, fragte sie nach kurzem Schweigen.

»Nein, und ich pfeif drauf!«

»Um das Molekül zu entwickeln, dass der Entwicklung neurodegenerativer Erkrankungen vorbeugen wird.«

»Sag bloß! Du wirst also Alzheimer … ausrotten, aber sonst geht’s dir gut?«

»Alzheimer und verwandte Krankheiten, du siehst also, dass ich in der Kategorie der großen Fantasten auch meinen Platz habe.«

Luke drehte sich zu Hope um. Sein hartnäckiger Blick bereitete ihr Unbehagen.

»Eines Tages werde ich es dir erklären, aber nicht heute Abend. Lass mich jetzt in Ruhe, du bist ja sicher gekommen, weil du auch zu arbeiten hast.«

Hope spürte, dass sie nichts weiter erfahren würde, und setzte sich an einen anderen Tisch.

In ihrem Kopf schwirrten die Gedanken. Während sie die Kenntnisse wiederkäute, die sie im ersten Studienjahr erworben hatte, versuchte sie zu erraten, inwiefern die Kryokonservierung der Medizin nutzen könnte. Sie hatte einen Artikel über ein laufendes Experiment in der Notfallabteilung des Krankenhauses von Pittsburgh gelesen. Verletzte in kritischem Zustand wurden in eine tiefe Hypo­thermie versetzt, um den Chirurgen die nötige Zeit zu verschaffen, ihre Verletzungen zu operieren. Während des Eingriffs wurde die Körpertemperatur auf zehn Grad abgesenkt, was den Organismus in einen Zustand versetzte, der quasi dem klinischen Tod entsprach, bevor man diesen Organismus dann wieder reanimierte. Schließlich, so dachte sie, würde die Kälte künftig vielleicht weitere, wichtige therapeutische Fortschritte bieten. Und sie wollte herausfinden, welche Luke dazu bringen konnten, die Nacht hinter dem Rücken von Josh zu verbringen.

Sie hob den Kopf, er saß noch immer über sein Mikroskop gebeugt da.

»Man könnte die Kälte also gezielt einsetzen, um Krebszellen anzugreifen? Nehmen wir einmal an, man würde die Körpertemperatur vor einer Chemotherapiesitzung absenken. Logischerweise würden dadurch die bösartigen Zellen in Schlaf versetzt, wären also empfindlicher.«

»Und in diesem Fall auch die gesunden Zellen«, antwortete Luke. »Also los, sprich morgen in der Vorlesung darüber, dann wird man sehen, was der Professor dazu zu ­sagen hat.«

»Ganz sicher nicht, denn wenn ich eine geniale Idee habe, ziehe ich es vor, mich zuerst ausgiebig selber damit zu befassen.«

»Dein Genie ist wirklich insofern bemerkenswert, als du glaubst, vor dir habe noch niemand daran gedacht«, ­äußerte Luke im Plauderton. »Wenn du dir die Mühe machst, ein paar Recherchen durchzuführen, und zwar vor deiner nächsten genialen Entdeckung, so wirst du erfahren, dass man seit mehreren Jahren Kryosonden auf kleinen Tumoren platziert, um ihre Temperatur auf minus vierzig Grad abzusenken. Im Inneren der bösartigen Zellen bilden sich Eiskristalle, und wenn sie sich wieder erwärmen, platzen sie. Zu dumm, dass die Medizin Fortschritte macht, während du mich hier störst.«

»Es ist nicht nötig, so unfreundlich zu sein. Ich wollte nur diskutieren.«

»Nein, du willst wissen, was ich mache, und darauf kann ich dir keine Antwort geben. Ich experimentiere.«

»Aber welche Art Experiment unternimmst du?«

»Eine Art, die dazu führen kann, dass ich von der Uni fliege, deshalb arbeite ich nachts und ziehe es vor, dir nichts mehr darüber zu sagen. Verstehst du es nun?«

»Ich verstehe vor allem, dass ich jetzt doppelt so neugierig bin. Du kennst mich offenbar sehr schlecht. Gut, gibst du mir nun die Information oder nicht?«

Luke stand auf und setzte sich neben sie. Er legte ihr die Hände auf die Schultern und näherte sein Gesicht dem ihren.

»Denk gut darüber nach, denn wenn ich dieses Geheimnis mit dir teile, bist du eine Komplizin, ob du willst oder nicht.«

»Das ist gut überlegt!«

Aber Luke ging an seinen Platz zurück, und Hope wusste, dass sie momentan nichts weiter von ihm hören würde. Sie nahm ihre Sachen und verließ das Labor. Sie empfand keinerlei Angst, als sie über den Flur zurückging, dazu war sie viel zu aufgeregt.

Wieder in ihrem Zimmer streckte sie sich auf dem Bett aus, griff nach ihrem Smartphone und schrieb eine Mail. Sie las den Text noch einmal durch, zögerte und schickte ihn dann ab.

Kapitel 2

Der Wecker klingelte. Josh schlug die Augen auf und streckte sich, bevor er sich mühsam aus dem Bett quälte. Er spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht, betrachtete sich kritisch im Spiegel über dem Waschbecken und beschloss, sich unter der Dusche zu rasieren. Alles, was ihm half, seine Benommenheit loszuwerden, war gut.

Frisch rasiert, trocknete er sich ab, sah auf die Uhr und zog sich in aller Eile an. Die Klausuren rückten immer ­näher, es würde ein langer Tag werden.

Er überprüfte die Unterlagen, vergewisserte sich, dass sein Handy aufgeladen, sein Schlüsselbund in der Jackentasche war, und schlug die Wohnungstür hinter sich zu.

Unterwegs ergatterte er ein Exemplar der kostenlosen Campus-Tageszeitung und eilte zur Cafeteria.

Als er vor seinem Frühstück saß, ging er die SMS auf seinem Smartphone durch und öffnete die einzige, die es wert war, noch nüchtern gelesen zu werden.

Mein lieber Josh,

ich komme am besten gleich zur Sache: Ein Teil meines Gehirns verführt mich dazu, Dir zu sagen: »Vergessen wir den gestrigen Zwischenfall«, und der andere Teil weiß nicht, warum ich Dir diese Message schicke.

Ich küsse Dich (auf die Wange, versteht sich).

Hope

Es wurmte ihn, dass ihm keine Antwort einfiel, die sie zum Lächeln hätte bringen können. Er dachte noch während der Vorlesungen daran.

Als Luke ihn fragte, warum er seit einer Stunde murmelnd zur Decke starrte, erwiderte Josh: »Ich glaube, ich habe gestern Abend mit Hope Mist gebaut.«

Luke sagte nichts über ihre Begegnung im Labor.

»Hast du ihr etwas über unsere Arbeit verraten?«, wollte Luke wissen.

»Nein, das hat nichts damit zu tun. Ich habe sie bis vor ihre Haustür begleitet, wir hatten ein seltsames Gespräch, und ich dachte schon, sie wollte mich zu sich auf ihr Zimmer einladen. Jetzt weiß ich nicht mehr, woran ich bin.«

»Wie könntest du bei deinen ganzen Eroberungszügen auch noch wissen, woran du bist?«

»Hope ist anders, und so viele Abenteuer habe ich nun auch wieder nicht. Ich baggere zwar viele an, aber schlafe doch nicht mit jeder.«

»Das ist Ansichtssache. Schließlich bin ich es, der mir das Gejammer der Mädchen anhören muss, die du abblitzen lässt.«

»Eben – die ich abblitzen lasse! Und wage nicht zu behaupten, das käme dir nicht gelegen! Übrigens, dürfte ich wissen, wo du geschlafen hast?«

»Ich habe die Nacht im Labor verbracht. Schließlich muss ja einer von uns unser Projekt voranbringen. Sag mal ganz ehrlich: Hast du vor, sie einzuweihen?«, fragte Luke.

Josh tat so, als würde er über die Frage seines Freundes nachdenken. Wäre es nach ihm gegangen, so hätte er Hope schon längst zu überreden versucht, sich ihnen anzuschließen – ihr Beitrag wäre wertvoll … Doch wie er Luke kannte, war es geschickter, ihn entscheiden zu lassen.

»Warum nicht? Sie ist clever, einfallsreich, neugierig auf alles, und …«

»Ich glaube, du weißt ganz genau, woran du mit ihr bist. Doch ich warne dich: Wenn wir sie in unsere Sache einweihen, musst du deine Gefühle im Zaum halten. Es kommt gar nicht infrage, dass sie wegen irgendeiner Enttäuschung in eurer Liebesgeschichte das Handtuch wirft. Wenn sie mitmachen will, muss ihr Engagement bedingungslos sein.«

Hope kehrte die Woche über nicht ins Labor zurück. In ihrer gesamten Freizeit verschlang sie Bücher über Kryokonservierung. Sie war ehrgeizig: Wenn Luke ihr schließlich alles verraten würde, wollte sie bei dem Thema genauso bewandert sein wie er.

Josh wiederum dachte über die Bedingung nach, die Luke für Hopes Aufnahme in ihr Team gestellt hatte. Eigentlich ein guter Grund, seinen bisherigen Lebensstil fortzuführen, doch diese Vorstellung erfüllte ihn seltsamerweise auch nicht mit Befriedigung.

Nachdem er am Samstag den Lohn für seine Nachhilfestunden einkassiert hatte, bat er Luke, ihm seinen Wagen zu leihen.

»Und wo willst du hin?«

»Beeinflusst das deine Entscheidung?«

»Nein, reine Neugier.«

»Ich muss mal frische Luft schnappen, ein kleiner Ausflug aufs Land. Bin heute Abend zurück.«

»Wir könnten doch morgen zusammen fahren. So eine kleine Atempause würde mir auch guttun.«

»Ich möchte gerne allein sein.«

»Eine Spritztour aufs Land mit Jackett und gebügeltem Hemd … Darf ich ihren Vornamen wissen?«

»Gibst du mir jetzt den Wagen oder nicht?«

Luke durchwühlte seine Hosentasche und warf ihm die Schlüssel zu. »Vergiss nicht, wieder vollzutanken!«

Josh lief die Treppe hinunter und wartete, bis er am Steuer des Camaro saß, um Hope anzurufen. Es war mehr eine Aufforderung als eine Einladung, ihn am Ausgang des Campus vor der Subway-Station Vassar Street zu treffen. Hope protestierte aus Prinzip, sie sei mit ihrer Arbeit in Verzug, doch sie hörte Josh nur sagen: »Also in zehn Minu­ten«, ehe er auflegte.

»Na dann«, rief sie und warf ihr Smartphone aufs Bett.

Sie kämmte sich vor dem Spiegel, streifte einen Pullover über, zog ihn gleich wieder aus, um einen anderen anzuziehen, kämmte sich erneut, griff nach ihrem Smartphone, das sie in ihre Handtasche steckte, und verließ das Haus.

Am verabredeten Treffpunkt angelangt, wartete sie vor der Ampel, um die Straße zu überqueren. Mit den Blicken suchte sie Josh auf dem gegenüberliegenden Bürgersteig, entdeckte dann aber den Camaro, der in zweiter Reihe parkte, wenige Meter von der Kreuzung entfernt.

»Was ist los?«, erkundigte sie sich besorgt und nahm auf dem Beifahrersitz Platz.

»Wir müssen sprechen, ich lade dich zum Abendessen ein, aber dieses Mal zahle ich. Worauf hast du Lust?«

Hope fragte sich, was in seinem Kopf vorging. Sie hätte gerne die Sonnenblende heruntergeklappt, um einen prüfenden Blick in den kleinen Spiegel zu werfen, doch sie verzichtete lieber darauf.

»Nun?«

»Habe ich freie Hand?«

»Sofern es nicht meine Mittel übersteigt.«

»Wie wäre es mit Austern am Meer? Fahren wir nach Nantucket.«

»Das ist drei Autostunden von hier entfernt, plus die Überfahrt mit der Fähre. Hast du nichts Näheres vorzuschlagen?«

»Nein«, antwortete sie schlagfertig, »aber eine Pizza würde es auch tun, und mit dem, was wir damit gespart ­haben, können wir ja das Benzin zahlen.«

Josh sah sie an, drehte den Zündschlüssel und fuhr los.

»Wir hätten Richtung Süden abbiegen müssen, jetzt fahren wir nach Norden«, meinte sie, als sie das Stadtgebiet verließen.

»Salem ist fünfundvierzig Minuten entfernt, da finden wir nicht nur deine Austern, sondern auch deine Meeresküste.«

»Gut, dann also Salem. Und du erzählst mir ein paar Hexengeschichten. Worüber willst du überhaupt mit mir sprechen?«

»Über Hexerei in gewissem Sinne, aber warte, bis wir im Restaurant sind.«

Josh schob eine Kassette ins Autoradio und drehte die Lautstärke voll auf.

Beim Klang der Stimmen von Simon and Garfunkel wechselten sie einen verschmitzten Blick, amüsiert darüber, wie sehr Lukes musikalischer Geschmack durch und durch ­retro war. Hope hörte »Mrs. Robinson« in Endlosschleife und sang dabei aus vollem Halse mit, sodass Josh sich beglückwünschte, dass die Reise nicht bis nach Nantucket ging.

Bald zeichnete sich Salem am Horizont ab. Josh kannte dort ein altes Fischer-Bistro am kleinen Hafen im historischen Zentrum. Um ehrlich zu sein, das einzige Viertel, das die Reise lohnte. Hope hatte Lust auf Meeresfrüchte und Seeluft geäußert und nicht auf eine Besichtigungstour. Er stellte den Wagen auf einem Parkplatz ab und führte sie in das Restaurant.

Dort ließ er bei der Chefin seinen ganzen Charme spielen, woraufhin sie ihnen einen Tisch am Fenster zuwies.

»Wie viele können wir uns leisten?«, flüsterte Hope mit Blick auf die Karte.

»So viele du willst.«

»Ich wollte sagen, ohne dass wir nachher in der Küche abspülen müssen.«

»Zwölf.«

Hopes Blick wanderte zu dem kleinen Aquarium, in dem drei Hummer herumkrochen, die Zangen mit Gummi­bändern fixiert.

»Warte«, sagte sie und nahm ihm die Karte ab. »Ich habe eine andere Idee. Vergiss die Austern.«

»War das nicht Sinn und Zweck dieses Ausflugs?«

»Nein, Sinn und Zweck des Ausflugs ist das Wichtige, was du mir sagen willst.«

Bei diesen Worten nahm sie den Kellner beim Arm und führte ihn zum Aquarium. Sie deutete mit dem Finger auf den kleinsten der drei Hummer und bat den jungen Mann, ihn ihr in einer Plastiktüte zu bringen. Josh ließ sie gewähren, ohne einzugreifen.

»Sollen wir ihn nicht vorher kochen?«, erkundigte sich der Kellner, der bei den vielen Spinnern, die die Stadt der Hexen besuchten, eigentlich gedacht hatte, schon alles erlebt zu haben, so etwas allerdings noch nicht.

»Nein, ich möchte ihn so, wie er ist, und dazu die Rechnung bitte.«

Josh zahlte und folgte Hope, die mit dem Hummer in der Plastiktüte zum kleinen Hafen rannte, in dem eine Reihe von Segelbooten auf dem ruhigen Wasser schaukelte.

Sie streckte sich bäuchlings auf dem Quai aus, tauchte die Tüte ins Wasser, zog sie wieder heraus, bevor sie aufstand. Dann sah sie sich um und rief: »Schau dort, die Spitze der Halbinsel scheint mir bestens geeignet …«

»Dürfte ich wissen, was du da vorhast, Hope?«

Ohne zu antworten, machte sie sich auf den Weg und hinterließ eine Wasserspur, da die Tüte nicht wirklich dicht war.

Zehn Minuten später erreichte sie außer Atem das Ende der Mole. Sie zog das Tier heraus und bat Josh, es festzuhalten. Vorsichtig befreite sie seine Zangen von den Fesseln und sah ihm dabei tief in die schwarzen Augen.

»Du wirst dem Hummer deiner Träume begegnen, und wenn ihr viele kleine Hummer bekommen habt, bringst du ihnen bei, sich nicht in den Reusen der Fischer fangen zu lassen. Sie werden auf dich hören, weil du ein Überlebender bist, und wenn du sehr alt sein wirst, erzählst du ihnen, dass eine gewisse Hope dir das Leben gerettet hat.«

Dann bat sie Josh, ihn so weit wie möglich aufs Meer zu werfen.

Der Hummer legte einen fantastischen Gleitflug hin, bevor er im Atlantik abtauchte.

»Du bist total durchgeknallt!«, rief Josh, der die Blasen auf der Wasseroberfläche verschwinden sah.

»Aus deinem Munde klingt das für mich wie ein Kompliment. Für die Austern war es zu spät, sie waren bereits geöffnet.«

»Dann hoffen wir mal, dass dein Schützling es bis ins offene Meer schafft. Ich weiß nicht, wie lange er gefesselt in seinem Behälter verbracht hat, aber seine Glieder dürften etwas steif und gefühllos sein.«

»Ich bin sicher, er schafft es, er hatte so eine richtige Sieger­visage.«

»Wenn du es sagst! Und was essen wir jetzt?«

»Ein Sandwich, wenn das deine Mittel nicht übersteigt.«

Sie liefen über den Strand zurück. Hope hatte ihre Schuhe ausgezogen, um den feuchten Sand unter ihren Fußsohlen zu spüren.

»Was wolltest du mir so Dringendes sagen?«, fragte sie unterwegs.

Josh blieb stehen und seufzte. »Vor allem wollte ich mit dir sprechen, bevor Luke es tut.«

»Aber worüber?«

»Wer finanziert dein Studium, Hope?«

Die Hoffnung, dass Josh sie hergeführt hatte, um über sie beide zu sprechen, verschwand so schnell wie das Meer bei Ebbe.

»Mein Vater«, sagte Hope, um Haltung bemüht.

»Meins wird in Form eines Kredits von einem Labor bezahlt. Sobald ich mein Diplom in der Tasche habe, muss ich ihnen alles zurückerstatten oder zehn Jahre für sie arbei­ten.«

»Und du sagst, dass mein Hummer lange gefesselt war?«

»Nicht alle Studenten haben Eltern, die ihnen helfen können.«

»Wie hast du dich rekrutieren lassen?«

»Es war eine Art Wettbewerb. Man musste ein Konzept vorstellen, das heute noch utopisch ist, in der Zukunft aber realisierbar erscheint.«

»Was für eine sonderbare Idee!«

»Die meisten technologischen Fortschritte, die unsere Lebensweise verändert haben, wären vor dreißig Jahren für unmöglich gehalten worden. Das gibt zu denken, oder?«

»Vielleicht, aber das hängt von deinen Interessenschwerpunkten ab. Hat Luke auch seine Seele verkauft?«

»Wir haben zusammen an dem Wettbewerb teilgenommen.«

»Und um welches innovative Projekt handelt es sich?«

»Um die Erstellung eines digitalen Abbilds aller Gehirnverbindungen.«

»Na klar … Und ihr vollbringt diese Glanzleistung, während ihr gleichzeitig studiert? Du solltest vielleicht nicht so viele Joints rauchen.«

»Die Sache ist absolut seriös. Wir gehören einer Gruppe von Forschern an, einem sehr wichtigen Team, dem beachtliche Summen bewilligt werden, um ihre Projekte zum Abschluss zu bringen. Luke und ich hatten das Glück, ins Schwarze zu treffen und dazugehören zu dürfen.«

»Natürlich … Und wie habt ihr es geschafft, ins Schwarze zu treffen?«, fragte Hope zweifelnd und ein bisschen neidisch.

»Schwör mir, dass das unter uns bleibt. Kein Wort zu Luke, und sollte er das Thema erwähnen, so musst du mir versprechen, ganz erstaunt zu tun.«

»Ich spüre jetzt schon, dass ich es sein werde – ganz erstaunt.«

Josh setzte ein breites Lächeln auf und erwiderte: »Es ist tatsächlich ganz einfach – ich bin genial!«

Hope traute ihren Ohren nicht.

»Und von atemberaubender Bescheidenheit.«

»Das auch.«

»Hab schon verstanden! Nachdem du denkst, mein Genie sei dem deinen überlegen, möchtest du, dass ich mit euch arbeite!«

»Ganz genau, du bist brillant, du bist aufgeschlossen und träumst wie wir davon, die Welt zu verändern.«

»Nehmen wir einmal an, du hättest recht … Bevor ich dir antworte, möchte ich mit euch beiden darüber sprechen können, wie eure Arbeit ausgewertet wird, solltet ihr etwas Konkretes erreichen. Ich habe die starke Vermutung, dass du da etwas im Hinterkopf hast. Und sag mir zuerst einmal, warum du unbedingt noch vor Luke mit mir darüber sprechen wolltest.«

»Weil er eine Bedingung für deine eventuelle Mitarbeit gestellt hat.«

»Und zwar?«

»Dass zwischen uns beiden nichts läuft.«

Und während die Möglichkeit einer Liebesgeschichte zwischen beiden endgültig in weite Ferne rückte, fühlte sich Hope einerseits enttäuscht, andererseits geschmeichelt, dass die beiden sie ausgewählt hatten – aber auch verärgert.

»Ich weiß gar nicht, wo das Problem liegen soll, da zwischen uns nichts läuft und auch niemals etwas laufen wird. Und was mischt er sich da überhaupt ein?«

Josh ging einen Schritt auf sie zu und schloss sie in die Arme.

Hope hatte nie als Erste geküsst, und im Allgemeinen waren die ersten Küsse ein Fiasko gewesen, fade oder fordernde Lippen, aber der Kuss, den sie mit Josh tauschte, war … sie suchte nach dem treffenden Wort, um diesen Schauer zu beschreiben, der sie durchfuhr, der ihr über den Rücken rieselte, um sich im Nacken in tausend Funken zu entladen … sein Kuss war zart und behutsam. Und diese Behutsamkeit war es, die sie zur glücklichsten Frau der Welt machte, eine Eigenschaft, die sie mehr als alle anderen schätzte, da sie von einem perfekten Gleichgewicht zwischen Herz und Geist zeugte.

Josh sah sie an. Sie betete innerlich, dass er nichts sagen, dass kein Wort den Rausch dieses ersten Mals verderben würde. Er kniff die Augen zusammen, was ihn noch unwiderstehlicher machte, und streichelte ihre Wange.

»Du bist wirklich schön, Hope, umwerfend hübsch. Und die Einzige, die es nicht merkt.«

Hope sagte sich, dass sie bei so viel Komplimenten am Ende aufwachen würde, es wäre Sonntagmorgen, draußen würde es in Strömen gießen, und sie fände sich allein in einem alten zerknitterten Pyjama in ihrem Bett wieder, mit einem fürchterlichen Kater oder einer dieser Migränen, die ihr das Leben schwer machten.

»Kneif mich!«, sagte sie.

»Wie bitte?«

»Bitte, denn wenn ich mich selbst kneife, tue ich mir weh.«

Sie umarmten und küssten sich weiter, hielten von Zeit zu Zeit inne, um sich in der Stille der ersten Emotionen zu betrachten.

Josh nahm Hope bei der Hand und führte sie zum Hafen zurück.

Sie traten in eine Pizzeria. Die Einrichtung war ihnen zu trist, und so beschlossen sie, ihre Pizza auf dem Mäuerchen entlang der Mole zu verzehren.

Nach diesem improvisierten Abendessen spazierten sie durch die Straßen der Altstadt. Josh hatte seinen Arm um Hopes Taille gelegt, als über ihnen knisternd das Neonleuchtschild eines Bed and Breakfast aufflammte. Hope hob die Augen und legte ihren Zeigefinger auf Joshs Lippen.

»Lass dir ja nicht einfallen, dich im Morgengrauen davonzustehlen und mich ganz allein in Salem zurückzulassen.«

»Wenn wir nicht in einigen Wochen Prüfungen hätten und wenn ich nicht Gefahr laufen würde, dass Luke mich umbringt, weil ich ihm seinen Wagen nicht zurückgebracht habe, dann hätte ich dir jetzt vorgeschlagen, so lange hierzubleiben, bis du mich nicht mehr erträgst.«

Hope betrat das Hotel und entschied sich für das günstigste Zimmer. Als sie die Treppe zum obersten Stockwerk hinaufstiegen, spürten beide, wie sich ihr Herzschlag beschleunigte.

Das Mansardenzimmer hatte durchaus Charme. Die Wände waren mit einem altmodischen Muster ähnlich der Toile-de-Jouy tapeziert, ein Dachfenster ging auf den Hafen hinaus. Hope öffnete es und wollte sich rauslehnen, um die frische Meeresbrise einzuatmen, doch Josh hielt sie zurück und begann sie auszukleiden. Seine Gesten waren unbeholfen, was Hope als beruhigend empfand.

Sie streifte ihren Pullover über den Kopf, entblößte dabei ihre Brüste und gab Josh zu verstehen, er solle sein Hemd ausziehen. Ihre Jeans landeten auf dem Stuhl, während sie sich aufs Bett fallen ließen.

»Warte«, sagte sie und nahm sein Gesicht in beide Hände.

Aber Josh wartete nicht, und ihre Körper vereinten sich auf den zerwühlten Laken.

Einem Einbrecher gleich drang das Tageslicht in das Dachzimmer. Hope zog sich die Bettdecke übers Gesicht und drehte sich zu Josh um. Er schlief, einen Arm um ihren Körper geschlungen. Als er die Augen öffnete, dachte er, die Frau an seiner Seite gehöre zu denen, die man nicht kommen sieht, bei denen man sich ständig fragt, was sie denken und ob man gut genug ist für sie. Und die einen hoffen lassen, jemand Besseres zu werden.

»Ist es spät?«, brummte er.

»Ich würde sagen acht Uhr, aber es könnte auch schon Mittag sein, und ich habe keine Lust, auf meinem Smartphone nachzusehen.«

»Ich auch nicht. Meine Mailbox quillt sicher über von Lukes Gemecker.«

»Sagen wir einfach: Es ist so spät oder früh, wie es ist.«

»Wir müssten uns eigentlich auf die Prüfungen vorbereiten. Ich habe einen sehr schlechten Einfluss auf dich.«

»Eingebildeter Fatzke! Ich könnte die Person sein, die den schlechten Einfluss auf dich ausübt!«

»Dein Gesicht sieht anders aus.«

Hope drehte sich um und setzte sich auf ihn.

»Wie anders?«

»Ich weiß nicht … strahlend.«

»Mein Gesicht strahlt nicht, es wird nur von diesem verdammten Sonnenlicht geblendet. Wenn du ein Gentleman wärst, würdest du den Vorhang zuziehen.«

»Das wäre schade – dieses Licht steht dir gut.«

»Okay, ich fühle mich gut. Aber glaub ja nicht, es hätte damit zu tun, dass du ein so toller Liebhaber bist. Jeder, der sich hingeben möchte, kann eine heiße Liebesnacht erleben.«

»Wenn ich also kein toller Liebhaber bin, was lässt dich dann so … strahlen?«

»Jemand, der einen im Schlaf in den Armen hält, der einen anlächelt, wenn er die Augen öffnet, das ist wie ein Funken Liebe, der einen glücklich machen kann. Und gerat nicht in Panik, weil ich dieses Wort ausgesprochen habe, das habe ich nur so dahingesagt.«

»Ich habe keine Angst. Und du, hast du den Mut, auf diese Frage zu antworten: Glaubst du, du könntest eines Tages einen Mann lieben, der alle meine Fehler hat?«

Hope sah im Spiegel über dem Bett den Stuhl, auf dem ihre verknäulten Jeans lagen.

»Wie könnte ich einen Mann nicht lieben, der einen Hummer gerettet hat?«

»Ich bin also kein toller Liebhaber!«

»Vielleicht doch, aber ich sage es dir nicht jetzt gleich, ich möchte nicht mit ansehen müssen, dass du dir etwas darauf einbildest. Du hast zu viele Mädchen erobert, die nur mit dem Hintern wackeln können.«

Josh warf ihr einen finsteren Blick zu und vergrub den Kopf tief in seinem Kissen.

»War das etwa ernst gemeint?«, fragte Hope und hob mit dem Finger sein Kinn an. »Du willst mich doch nicht glauben machen, du hättest dich heute Nacht in mich verliebt?«

»Ein so intelligenter Mensch wie du kann nicht derart unbeholfen sein, das ist erschütternd.«