Das Geheimnis unserer Herzen - Marc Levy - E-Book

Das Geheimnis unserer Herzen E-Book

Marc Levy

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Beschreibung

Ein Mann, eine Frau, eine unerwartete Begegnung – und eine Spurensuche, die zur aufregendsten Reise ihres Lebens wird ...

London 2016: Die fünfunddreißigjährige Eleanor Rigby erhält einen anonymen Brief, in dem behauptet wird, ihre kürzlich verstorbene Mutter habe eine dunkle Vergangenheit, von der niemand etwas ahnt. Zur gleichen Zeit bekommt George Harrison, ein Tischler aus Quebec, ein identisches Schreiben. Eleanor und George haben sich noch nie im Leben gesehen, doch das wird sich bald ändern, denn der mysteriöse Verfasser bestellt beide in eine Fischerkneipe am Hafen von Baltimore. Dort lernen sie sich kennen und versuchen gemeinsam herauszufinden, was es mit den Briefen auf sich hat. Welche Verbindung besteht zwischen ihnen und was haben ihre Mütter damals getan? Noch ahnen die beiden nicht, dass ihre Nachforschungen sie weit in die Vergangenheit führen, zurück in den Sommer des Jahres 1944, und dass sie einander nicht gleichgültig bleiben ...

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Seitenzahl: 488

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Buch

London 2016: Die fünfunddreißigjährige Eleanor Rigby erhält einen anonymen Brief, in dem behauptet wird, ihre kürzlich verstorbene Mutter habe eine dunkle Vergangenheit, von der niemand etwas ahnt. Zur gleichen Zeit bekommt George Harrison, ein Tischler aus Quebec, ein identisches Schreiben. Eleanor und George haben sich noch nie im Leben gesehen, doch das wird sich bald ändern, denn der mysteriöse Verfasser bestellt beide in eine Fischerkneipe am Hafen von Baltimore. Dort lernen sie sich kennen und versuchen gemeinsam herauszufinden, was es mit den Briefen auf sich hat. Welche Verbindung besteht zwischen ihnen und was haben ihre Mütter damals getan? Noch ahnen die beiden nicht, dass ihre Nachforschungen sie weit in die Vergangenheit führen, zurück in den Sommer des Jahres 1944, und dass sie einander nicht gleichgültig bleiben …

Autor

Marc Levy ist 1961 in Frankreich geboren. Mit achtzehn Jahren engagierte er sich beim französischen Roten Kreuz, für das er sechs Jahre tätig war. Gleichzeitig studierte er Informatik und Betriebswirtschaft an der Universität in Paris. Von 1983 bis 1989 lebte er in San Francisco, wo er sein erstes Unternehmen gründete. 1990 verließ er die Firma und eröffnete mit zwei Freunden ein Architektenbüro in Paris. Er entdeckte schon früh seine Liebe zur Literatur und zum Kino und schrieb mit siebenunddreißig Jahren seinen ersten Roman, »Solange du da bist«, der von Steven Spielberg verfilmt und auf Anhieb ein Welterfolg wurde. Seitdem wird Marc Levy in neunundvierzig Sprachen übersetzt, und jeder Roman ist ein internationaler Bestseller. Marc Levy, der mit seiner Familie in New York lebt, ist mit 40 Millionen verkauften Büchern der erfolgreichste französische Autor weltweit.

Weitere Informationen finden Sie unter: www.marclevy.info

Besuchen Sie uns auch auf www.instagram.com/blanvalet und www.twitter.com/BlanvaletVerlag

Marc Levy

DAS GEHEIMNIS UNSERER HERZEN

Roman

Aus dem Französischen von Eliane Hagedorn und Bettina Runge

Die Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel »La dernière des Stanfields« bei Editions Robert Laffont, Paris.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright der Originalausgabe © 2017 by Marc Levy/ Susanna Lea Associates, Paris

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2021 by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Gerhard Seidl

Umschlaggestaltung: www.buerosued.de nach einer Originalvorlage von Editions Pocket

Umschlagdesign: Emmanuel Romeuf / Illustrissimo

KW · Herstellung: sam

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-23039-5V001

www.blanvalet.de

Für Louis, Georges, CléaFür Pauline

Es gibt drei Versionen einer Geschichte: deine, meine … und die Wahrheit.Und niemand lügt.

Robert EVANS

There are three sides to every story:Your side … my side … and the truth. And no one is lying.

Kapitel 1

Eleanor-Rigby

Oktober 2016, London

Ich heiße Eleanor-Rigby Donovan.

Mein Vorname sagt Ihnen vielleicht etwas. Meine Eltern waren Fans der Beatles. Eleanor Rigby ist der Titel eines Songs von Paul McCartney.

Mein Vater hasst es, wenn ich ihn darauf hinweise, dass seine Jugend im vorigen Jahrhundert stattgefunden hat, aber in den 1960er-Jahren teilten sich die Rockfans in zwei Lager, entweder war man für die Rolling Stones oder für die Beatles. Aus einem mir unerfindlichen Grund war es schlicht nicht vorstellbar, beide zu mögen.

Meine Eltern waren siebzehn, als sie das erste Mal in einem Londoner Pub miteinander flirteten. Alle Augen waren auf einen Fernsehbildschirm gerichtet, um die Übertragung eines Beatles-Konzerts zu verfolgen, und der ganze Saal stimmte dazu All You Need Is Love an. Siebenhundert Millionen Fernsehzuschauer begleiteten ihre aufkeimenden Gefühle. Das dürfte wohl ausreichen, um den Grundstein für eine dauerhafte Lovestory zu legen.

Und dennoch verloren sie sich einige Jahre später aus den Augen. Doch da das Leben voller Überraschungen ist, begegneten sie sich mit knapp dreißig unter recht komischen Umständen wieder. Ich wurde dreizehn Jahre nach ihrem ersten Kuss gezeugt. Sie hatten sich Zeit gelassen.

Da mein Vater einen schier grenzenlosen Sinn für Humor hat – in der Familie wird erzählt, damit habe er meine Mutter verführt –, entschied er sich bei der Eintragung meiner Geburt dafür, mich Eleanor-Rigby zu nennen.

»Diesen Song haben wir in Endlosschleife gehört, als wir an dir gearbeitet haben«, vertraute er mir eines Tages zu seiner Rechtfertigung an.

Ich verspürte nicht die geringste Lust, Details über eine Situation zu erfahren, die ich mir ebenso wenig vorstellen wollte. Ich könnte jedem, der es hören möchte, erzählen, meine Kindheit sei schwierig gewesen, doch das wäre eine Lüge, und ich konnte noch nie gut lügen. Meine Familie ist so dysfunktional wie jede Familie. Und auch hier gibt es zwei Lager: die einen, die es akzeptieren, und die anderen, die so tun als ob. Dysfunktional, aber fröhlich, manchmal fast zu fröhlich. In meiner Familie gibt es den festen Willen, alles auf die leichte Schulter zu nehmen, selbst wenn es sich um Schicksalsschläge handelt. Und das hat mich, zugegebenermaßen, oft rasend gemacht. Meine beiden Eltern haben stur jeweils dem anderen dieses Körnchen Verrücktheit zugeschoben, das bei den Mahlzeiten und an den Abenden keimte und meine Kindheit ebenso bestimmte wie auch die meines großen Bruders (er kam zwanzig Minuten vor mir zur Welt) und die meiner jüngeren Schwester Maggie.

Maggie, siebter Song der A-Seite des Albums Let It Be, hat ein so großes Herz, dass es nicht einmal in die Hand eines Riesen passen würde, sie hat einen starken Charakter und ist auch eine Egoistin ohnegleichen, wenn es sich um kleine Alltäglichkeiten handelt. Das passt jedoch durchaus zusammen. Wenn man ein echtes Problem hat, ist sie immer zur Stelle. Weigerst du dich, um vier Uhr morgens zu zwei Kumpeln ins Auto zu steigen, die zu viel getrunken haben, um noch fahrtüchtig zu sein, schnappt sie sich die Autoschlüssel von Dads Austin, holt dich im Schlafanzug am anderen Ende der Stadt ab und fährt auch noch deine Kumpel nach Hause, nachdem sie ihnen eine Standpauke gehalten hat, selbst wenn die zwei Jahre älter sind als sie. Versucht man hingegen, ihr beim Frühstück einen Toast vom Teller zu stibitzen, werden sich deine Unterarme noch lange daran erinnern, und man braucht auch nicht darauf zu hoffen, dass sie etwas Milch für die anderen übrig lässt. Warum meine Eltern sie immer wie eine Prinzessin behandelt haben, bleibt mir ein ewiges Rätsel. Mum brachte ihr eine krankhafte Bewunderung entgegen, ihr kleines Nesthäkchen sollte große Dinge vollbringen. Maggie würde Rechtsanwältin oder Ärztin werden, vielleicht sogar beides, sie würde Witwen und Waisen retten, den Hunger in der Welt ausrotten … kurz, sie war der Liebling, und die ganze Familie sollte über ihr Wohl wachen.

Mein Zwillingsbruder heißt Michel, siebter Song der A-Seite von Rubber Soul, auch wenn der Vorname auf dem besagten Album der einer Frau, also eigentlich Michelle, ist. Der Gynäkologe hatte im Ultraschall sein Zipfelchen nicht gesehen. Anscheinend hatten wir uns zu eng aneinandergedrückt. Errare humanum est. Das war eine große Überraschung bei der Entbindung. Aber der Vorname stand nun mal schon fest, eine Änderung kam nicht infrage. Dad begnügte sich damit, ein l und ein e unter den Tisch fallen zu lassen, und mein Bruder verbrachte seine ersten drei Lebensjahre in einem Zimmer mit rosa Wänden, geschmückt mit einem Zierstreifen, auf dem Alice hinter einem Kaninchen herlief. Die Kurzsichtigkeit eines Gynäkologen kann unerwartete Folgen haben.

Diejenigen unter uns, deren gute Erziehung mit Heuchelei im Wettstreit liegt, werden in verlegenem Tonfall erklären, Michel sei etwas speziell. Vorurteile sind das Vorrecht der Menschen, die davon überzeugt sind, über alles umfassend Bescheid zu wissen. Michel lebt in einer Welt, die keine Gewalt, Engstirnigkeit, Heuchelei, Ungerechtigkeit oder Bosheit kennt. Einer nach Meinung der Ärzte ungeordneten Welt, in der jedoch für ihn jedes Ding und jeder Gedanke seinen Platz hat, einer Welt, die so spontan und ehrlich ist, dass sie mich glauben lässt, wir anderen seien vielleicht »speziell«, um nicht zu sagen anormal. Diesen Ärzten ist es nie gelungen, mit Sicherheit zu bestimmen, ob es sich bei ihm nun um das Asperger-Syndrom handelt oder ob er einfach nur etwas anders gestrickt ist. Tatsächlich keine einfache Sache, aber Michel ist ein unglaublich sanfter Mensch, eine Quelle gesunden Menschenverstands und unerschöpflichen Gelächters. Während ich nicht lügen kann, muss Michel immer sagen, was er denkt, und zwar genau in dem Moment, in dem er es denkt. Als er sich mit vier Jahren endlich dazu entschloss zu sprechen, fragte er in der Warteschlange vor einer Supermarktkasse eine Dame, die im Rollstuhl saß, woher sie ihre Kutsche habe. Mum, die völlig überrascht war, ihn endlich einen vollständigen Satz sprechen zu hören, schloss ihn in die Arme, um ihn zu küssen, bevor sie vor Verlegenheit einen knallroten Kopf bekam. Und das war erst der Anfang …

Seit dem Abend, an dem meine Eltern sich wiederbegegneten, haben sie sich geliebt. Es gab bei ihnen, wie bei jedem Paar, Eiszeiten, aber sie haben sich immer wieder versöhnt, respektiert und vor allem bewundert. Als ich sie eines Tages, nach der Trennung von dem Mann, in den ich noch immer verliebt war, fragte, wie sie es geschafft hätten, sich ein Leben lang zu lieben, antwortete mein Vater: »Eine Liebesgeschichte ist die Begegnung zweier Gebender.«

Meine Mutter ist letztes Jahr gestorben. Sie war mit meinem Vater zum Essen im Restaurant, der Ober hatte ihr soeben ihr Lieblingsdessert, einen Rum-Savarin, gebracht, als sie zusammenbrach und mit dem Gesicht in die Schlagsahne fiel. Es gelang den Rettungskräften nicht, sie wiederzubeleben.

Dad hütete sich, sein Leid mit uns zu teilen; ihm war dennoch bewusst, dass jeder von uns es auf seine Art durchlebte. Michel zum Beispiel ruft weiterhin jeden Morgen an, um mit Mum zu sprechen, und mein Vater antwortet ihm stets, dass sie nicht ans Telefon kommen könne.

Zwei Tage nachdem wir sie zu Grabe getragen hatten, hat Dad uns um den Küchentisch versammelt und uns offiziell verboten, eine Trauermiene aufzusetzen. Mums Tod dürfe keinesfalls schmälern, was sie für uns mit so viel Mühe aufgebaut hatten: eine fröhliche Familie mit starkem Zusammenhalt. Am nächsten Morgen fanden wir eine Notiz von ihm an der Kühlschranktür: »Meine Lieben, eure Eltern sterben eines Tages, und eines anderen Tages werdet ihr an der Reihe sein, deshalb nutzt jeden Tag, euer Dad.«

Logisch, würde mein Bruder sagen. Man darf nicht eine Sekunde damit vergeuden, sich in seinem Unglück zu gefallen. Doch wenn die eigene Mutter mit dem Gesicht in der Schlagsahne in eine andere Welt übertritt, kann einem das schon zu denken geben.

Mein Beruf lässt diejenigen, die mich danach fragen, vor Neid erblassen. Ich bin Journalistin für die Zeitschrift National Geographic. Ich werde, wenn auch kärglich, dafür bezahlt, zu reisen und die Vielfalt der Welt zu fotografieren und zu beschreiben. Seltsamerweise musste ich die ganze Welt durchqueren, um zu entdecken, dass die Herrlichkeit dieser Vielfalt überall in meinem Alltag präsent ist und ich nur mehr auf meine Umgebung achten muss, um das festzustellen.

Aber wenn man sein Leben in Flugzeugen verbringt, dreihundert Nächte im Jahr in mehr oder weniger komfortablen Hotelzimmern schläft – wegen des knappen Budgets übrigens eher weniger –, die meisten Artikel in holprigen Bussen schreibt und einen der Anblick einer sauberen Dusche in maßlose Verzückung versetzt, hat man, einmal wieder zu Hause, nur noch den Wunsch, mit einem Snack auf einem kuscheligen Sofa vor dem Fernseher zu lümmeln, die Familie in Reichweite.

Mein Liebesleben beschränkt sich auf ein paar Verführungsspielchen, die so selten wie kurzlebig sind. Das ständige Reisen stempelt einen auf unbestimmte Zeit zum Single. Zwei Jahre lang hatte ich mit einem Reporter der Washington Post eine Beziehung, an der ich festhalten wollte. Eine wunderbare Illusion. Wir hatten genügend Mails ausgetauscht, um uns den Eindruck zu vermitteln, einander nah zu sein, aber wir haben nie mehr als drei Tage am Stück zusammen verbracht. Alles zusammengerechnet, war es uns nicht vergönnt, mehr als zwei Monate unser Leben miteinander zu teilen. Jedes Mal, wenn wir uns trafen, schlug uns das Herz bis zum Hals, jedes Mal, wenn wir uns trennen mussten, ebenfalls. Aufgrund dieser Arrhythmien gaben unsere Herzen schließlich auf.

Verglichen mit dem Leben der meisten meiner Freunde ist das meine alles andere als alltäglich, doch richtig einmalig wurde es erst, als ich eines Morgens meine Post öffnete.

Ich kam von einer Costa-Rica-Reise zurück, Dad hatte mich am Flughafen abgeholt. Mit fünfunddreißig Jahren sollte man sich abgenabelt haben. In gewisser Weise habe ich das auch, aber sobald ich zurückkomme und in der Menge, die nach den Flugreisenden Ausschau hält, das Gesicht meines Vaters entdecke, werde ich wieder zum Kind, und auf diese süße Empfindung möchte ich um nichts auf der Welt verzichten.

Seit Mums Tod ist er etwas gealtert, sein Haar hat sich gelichtet, sein Bauch leicht gerundet, und sein Gang ist etwas schwerfälliger geworden, aber er ist noch immer dieser großartige, elegante, brillante und leicht verrückte Mann, und ich kenne keinen beruhigenderen Geruch als den seines Halses, wenn er mich in die Arme schließt und hochhebt. Ödipus, wenn du uns im Griff hast, lass uns niemals los oder wenigstens so spät wie möglich! Die Reise nach Mittelamerika hatte mich erschöpft. Auf dem Flug hatte ich eingezwängt zwischen zwei Mitreisenden gesessen, deren Köpfe sich bei jeder Turbulenz auf meine Schultern verirrten, als wären sie Behelfs-Kopfkissen. Als ich zu Hause mein erschöpftes Gesicht im Badezimmerspiegel sah, konnte ich diesen Irrtum verstehen.

Michel war zum Essen zu Dad gekommen, meine Schwester hatte sich später zu uns gesellt, und mein Herz schwankte zwischen der Freude, sie alle wiederzusehen, und dem Verlangen, mich in das Zimmer zurückzuziehen, das ich offiziell bis zum Alter von zwanzig Jahren bewohnt hatte, inoffiziell sehr viel länger. Ich habe ein Einzimmer-Appartement in der Old Brompton Road gemietet, im Westen von London, aus Prinzip und aus reinem Stolz, denn eigentlich schlafe ich dort so gut wie nie. Die seltenen Zeiten, in denen ich in mein Heimatland zurückkehre, verbringe ich gerne unter dem Dach unseres Elternhauses in Croydon.

Am Tag nach dieser Heimkehr schaute ich in meinem Appartement vorbei. Inmitten von Rechnungen und Prospekten fand ich einen handgeschriebenen Umschlag. Die Schrift war bemerkenswert schön, mit vielen geschwungenen und feinen Schnörkeln, wie man es in der Schule lernt.

In dem Brief teilte man mir mit, meine Mutter habe eine Vergangenheit gehabt, von der ich nichts wüsste. Man versicherte mir, beim Durchsuchen ihrer persönlichen Sachen würde ich auf Erinnerungsstücke stoßen, die mir jede Menge Informationen über die Frau liefern würden, die sie gewesen sei. Und damit ließ es der anonyme Schreiber noch nicht bewenden. Angeblich war Mum an einer schweren Straftat beteiligt gewesen, die inzwischen fünfunddreißig Jahre zurücklag. Genaueres wurde in dem Brief nicht genannt.

Vieles an diesen Enthüllungen konnte nicht stimmen. Diese fünfunddreißig Jahre fielen schon einmal auf das Jahr meiner Empfängnis … Und man konnte sich Mum – vor allem mit Zwillingen schwanger – nur schwer als Verbrecherin vorstellen, wenn man sie gekannt hatte. Der Verfasser dieses anonymen Briefs lud mich ein, ans andere Ende der Welt zu kommen, wenn ich mehr erfahren wolle. Zum Schluss bat er mich, seinen Brief zu vernichten, und empfahl mir, mit niemandem darüber zu sprechen, weder mit Maggie, aber vor allem nicht mit meinem Vater.

Woher wusste dieser Unbekannte die Vornamen der Menschen, die mir am nächsten standen? Das kam mir merkwürdig vor und machte mich misstrauisch.

Wir hatten Mum erst letztes Frühjahr beerdigt, und ich war noch längst nicht über diesen Verlust hinweggekommen.

Meine Schwester hätte mir niemals derart geschmacklos mitgespielt, mein Bruder war gar nicht in der Lage, eine solche Geschichte zu erfinden, und ich konnte mein Adressbuch noch so oft durchgehen, ich fand unter meinen Bekannten niemanden, der mir einen solchen Streich spielen würde.

Was hätten Sie an meiner Stelle gemacht? Wahrscheinlich denselben Fehler wie ich.

Kapitel 2

Sally-Anne

Oktober 1980, Baltimore

Beim Verlassen des Lofts musste sie es mit der langen Treppe aufnehmen.

Einhundertzwanzig steile Stufen führten die drei Stockwerke hinab, spärlich erhellt von Glühbirnen, die an altersschwachen Stoffkabeln hingen und einen kärglichen Lichtschein in diesen Abgrund warfen. Das Hinuntergehen war ein lebensgefährliches Spiel, das Hinaufgehen die reinste Qual.

Der Lastenaufzug hatte längst ausgedient. Sein altes, von Rost zerfressenes Gitter verschmolz optisch mit den ockerfarbenen Wänden.

Wenn Sally-Anne die Tür des Mietshauses öffnete, wurde sie jedes Mal von der staubigen Helligkeit der Docks geblendet. Die Straßen waren von alten Lagerhallen aus rotem Backstein gesäumt. Am Ende einer Mole, gegen die der Wind die Wellen peitschte, erhoben sich hohe Kräne, die die Container der letzten hier noch anlegenden Frachtschiffe umluden. Das Viertel war noch nicht von gewieften Bauträgern gentrifiziert worden. Aktuell hatten sich in diesen leer stehenden Anlagen nur einige aufstrebende Künstler, Musiker oder angehende Maler niedergelassen. Mittellose Jugendliche lebten hier Seite an Seite mit wohlhabenden Kids, die sich selbst überlassen und meist mit dem Gesetz in Konflikt geraten waren. Der nächste Lebensmittelladen war mit dem Motorrad in zehn Minuten zu erreichen.

Sally-Anne besaß eine Triumph Bonneville, sechshundertfünfzig Kubik, die einen, wenn man verrückt genug war, mit über hundertsechzig km/h davontragen konnte. Der blau-weiße Tank war verbeult, eine Erinnerung an einen denkwürdigen Sturz aus der Zeit, als sie noch lernte, diese Bestie zu zähmen.

Einige Tage zuvor hatten ihre Eltern Sally-Anne nahegelegt, die Stadt zu verlassen, um die Welt zu entdecken. Mit ihren manikürten Händen hatte ihre Mutter einen Scheck ausgestellt, ehe sie ihn ihrer Tochter überreichte, von der sie sich damit trennte.

Sally-Anne hatte auf den Betrag geschaut, überlegt, ihn für einige Dummheiten und Besäufnisse auszugeben, und schließlich beschlossen, sich zu rächen, da die Distanz, die ihre Familie ihr aufzwang, sie stärker kränkte als die Sühne eines Fehlers, den sie nicht begangen hatte. Sie würde so erfolgreich sein, dass ihre Familie es eines Tages bereuen würde, sie verstoßen zu haben. Ein sicher ehrgeiziges Projekt, aber Sally-Anne besaß eine außergewöhnliche Intelligenz, ein attraktives Äußeres und ein gut bestücktes Adressbuch. In ihrer Familie maß man Erfolg an der Höhe des Bankkontos und der Besitztümer, die man vorweisen konnte. Sally-Anne hatte es nie an Geld gemangelt, aber es hatte sie nie sonderlich interessiert. Sie schätzte den Kontakt zu anderen Menschen, und es war ihr egal, wenn sie ihre Familie durch den Umgang mit Leuten, die nicht ihresgleichen waren, schockierte. Sally-Anne hatte ihre Fehler, aber man musste anerkennen, dass sie aufrichtige Freundschaften ernsthaft pflegte.

Das trügerische Blau des Himmels durfte sie nicht darüber hinwegtäuschen, dass es die ganze Nacht über geregnet hatte. Eine feuchte Fahrbahn kann mit dem Motorrad verhängnisvoll sein. Die Triumph verschlang die Kilometer, Sally-Anne spürte die Wärme des Motors zwischen ihren Schenkeln. Diese Maschine zu lenken verschaffte ihr ein Gefühl unvergleichlicher Freiheit.

An einer noch entfernten Kreuzung entdeckte sie eine einsame Telefonzelle in diesem Niemandsland, sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr, die zwischen den Druckknöpfen ihrer behandschuhten Hand zu sehen war, schaltete zurück und bremste. Sie parkte die Triumph auf dem Bürgersteig und klappte den Seitenständer herunter. Sie musste sich vergewissern, dass ihre Komplizin pünktlich sein würde.

Fünf Mal läutete das Telefon, May hätte längst abheben müssen. Sally-Anne spürte, wie sich ihre Kehle zusammenschnürte, dann hörte sie am leisen Klicken, dass endlich abgehoben wurde.

»Alles in Ordnung?«

»Ja«, antwortete lakonisch eine Stimme.

»Ich bin auf dem Weg. Bist du bereit?«

»Ich hoffe es. Für einen Rückzieher ist es wohl schon zu spät, oder?«

»Warum sollten wir einen Rückzieher machen?«, fragte Sally-Anne.

May hätte alle Gründe nennen können, die ihr einfielen. Ihr Plan war viel zu riskant, lohnte der Einsatz wirklich die Mühe? Wozu sollte diese Rache gut sein, sie würde nichts von dem auslöschen können, was geschehen war. Und wenn es nicht wie geplant lief, wenn sie geschnappt würden? Ein zweites Mal verurteilt zu werden würde ihre Kräfte übersteigen. Doch da sie diese Risiken nur ihrer Freundin zuliebe auf sich nahm, schwieg sie.

»Verspäte dich nicht«, beharrte Sally-Anne.

Ein Polizeiauto fuhr vorbei, und Sally-Anne hielt den Atem an. Sie durfte sich, so dachte sie, auf keinen Fall von der Angst übermannen lassen, was sollte sonst werden, wenn sie wirklich zur Tat schritt? Im Moment konnte man ihr nichts vorwerfen, ihr Motorrad war vorschriftsmäßig geparkt, und die Nutzung einer Telefonzelle war schließlich nicht verboten. Das Polizeiauto fuhr weiter, doch der Beamte am Steuer hatte sich noch die Zeit genommen, ihr einen verführerischen Blick zuzuwerfen. Wenn die nun auch noch anfangen!, sinnierte sie, während sie einhängte.

Nach einem Blick auf ihre Uhr kalkulierte sie, dass sie in zwanzig Minuten vor der Tür der Stanfields ankommen würde, ihr Haus innerhalb einer Stunde verlassen und in neunzig Minuten zurück sein würde. Neunzig Minuten, die für May und sie alles verändern würden. Sie schwang sich auf ihre Maschine, ließ den Motor mit einem Tritt auf den Kickstarter an und fuhr wieder los.

Am anderen Ende der Stadt schlüpfte May in ihren Mantel. Sie überprüfte, ob der Lockpicker, eine Art Dietrich, sich in dem Papiertaschentuch in ihrer rechten Manteltasche befand, und bezahlte den Schlosser, der ihn für sie angefertigt hatte. Beim Verlassen des Mietshauses schlug ihr die Kälte ins Gesicht. Die nackten Äste der Pappeln knackten im Wind. Sie klappte den Mantelkragen hoch, ging zur Haltestelle und wartete auf den Bus.

Auf ihrem Fensterplatz betrachtete sie ihr Spiegelbild, fuhr sich mit den Fingern durchs Haar, um es nach hinten zu streichen und mit einer Klammer zu einem Knoten zusammenzufassen. Zwei Reihen vor ihr hörte ein Mann, der einen kleinen Radioapparat auf seinen Knien hatte, ein Stück von Chet Baker. Sein Kopf wiegte sich im langsamen Rhythmus der Ballade. Der Mann neben ihm blätterte geräuschvoll in seiner Zeitung, um seinen Nachbarn dadurch ebenso zu stören, wie ihn My Funny Valentine zu belästigen schien.

»Das ist der schönste Song, den ich kenne«, raunte ihr ihre Sitznachbarin zu.

May fand ihn eher traurig als schön, die Wahrheit lag wohl dazwischen. Nach sechs Haltestellen stieg sie aus und stand zur abgemachten Zeit am Fuß des Hügels. Sally-Anne erwartete sie bereits auf ihrem Motorrad. Sie reichte ihr einen Helm und wartete, bis sie aufgestiegen war. Der Motor heulte auf, und die Triumph fuhr die Straße hinauf.

Kapitel 3

Eleanor-Rigby

Oktober 2016, Beckenham, Vorort von London

Alles schien normal, doch nichts war mehr normal. Maggie lehnte am Türrahmen zum Wohnzimmer und drehte eine erloschene Zigarette zwischen ihren Fingern. Irgendetwas in ihrem Inneren sagte ihr, das Anzünden dieser Kippe würde den Unsinn bestätigen, den sie soeben gehört hatte.

Ich saß, den Brief in den Händen haltend, gleichsam in einem Zustand frommer Verzückung kerzengerade auf meinem Stuhl wie eine Schülerin, die sich nicht den Zorn ihrer Lehrerin zuziehen will.

»Lies ihn noch einmal vor«, befahl Maggie.

»Bitte. Lies ihn bitte noch einmal vor«, korrigierte ich sie ordnungshalber.

»Wer von uns beiden ist denn mitten in der Nacht bei der anderen aufgekreuzt? Also geh mir bitte nicht auf die Nerven…«

Wie konnte Maggie sich eigentlich eine Zweizimmer-wohnung leisten, während ich, die einen richtigen Job hatte, kaum die Miete für mein Einzimmer-Appartement aufbringen konnte? Unsere Eltern hatten sie offensichtlich unterstützt. Und wenn sie die Wohnung seit dem Tod unserer Mutter noch immer halten konnte, dann war auch Dad in das Spielchen eingeweiht gewesen, und das ärgerte mich besonders. Eines Tages würde ich den Mut aufbringen müssen, am Familientisch danach zu fragen. Ja, dachte ich, eines Tages würde ich den Mut finden, mich ein für alle Mal gegen meine jüngere Schwester zu behaupten und sie in die Schranken zu weisen, wenn sie mich dumm anredete – das und alles Mögliche andere ging mir durch den Kopf, um nicht an diesen Brief denken zu müssen, den ich Maggie erneut vorlesen würde, da sie es mir befohlen hatte.

»Hat’s dir die Sprache verschlagen, Rigby?«

Ich hasse es, wenn Maggie meinen Vornamen entstellt, indem sie ihm seinen weiblichen Teil nimmt. Und das weiß Maggie ganz genau. Abgesehen von der Liebe, die wir füreinander empfinden, ist zwischen uns nie etwas einfach gewesen. Als wir noch Kinder waren, kam es vor, dass wir uns bei einem Streit zwischen kleinen wütenden Mädchen die Haare ausrissen, und diese Streitereien nahmen in der Pubertät weiter zu. Wir prügelten uns, bis Michel den Kopf zwischen seine Hände nahm, als würde ein durch die Boshaftigkeit seiner Schwestern ausgelöster Schmerz unter seinen Schläfen hervorquellen, unter dem er furchtbar litt. Daraufhin beendeten wir unseren Kampf, dessen Ursache wir längst vergessen hatten, und um ihn davon zu überzeugen, dass alles nur ein Spiel gewesen war, nahmen wir einander in die Arme und zogen ihn in einen fröhlichen Tanz.

Maggie träumte davon, meine roten Haare zu haben, und meine abgeklärte Haltung, der, wenn man ihr Glauben schenkte, nichts etwas anhaben konnte. Ich träumte davon, den dunklen Wuschelkopf meiner jüngeren Schwester zu haben, was mir in der Schule sehr viele Hänseleien erspart hätte, ihre unbestreitbare Schönheit, ihre Selbstsicherheit. Jeder Vorwand diente uns zur Konfrontation, aber sobald ein Außenstehender oder ein Elternteil eine von uns angriff, rückte die andere mit ausgefahrenen Krallen an, um die Schwester zu schützen.

Ich seufzte und begann vorzulesen.

Liebe Eleanor,

Sie werden mir diese Namenskürzung sicher verzeihen. Zusammengesetzte Vornamen sind für meinen Geschmack zu lang, Ihrer ist übrigens bezaubernd, aber das ist nicht Gegenstand dieses Briefs.

Sie müssen den plötzlichen Tod Ihrer Mutter als zutiefst ungerecht empfunden haben. Sie war wie dafür geschaffen, Großmutter zu werden und hochbetagt in ihrem eigenen Bett im Kreis ihrer Familie, der sie so viel gegeben hat, zu sterben. Sie war eine bemerkenswerte Frau und von großer Intelligenz, die sie zum Besten wie zum Schlechtesten befähigte, Sie haben jedoch nur das Beste gekannt.

Es ist nun einmal so, dass wir von unseren Eltern immer nur das wissen, was sie uns erzählen wollen, was wir sehen sollen, und wir vergessen – so ist nun mal der Lauf der Dinge –, dass sie auch vor unserer Geburt schon ein Leben gehabt haben. Ich will damit sagen, dass unsere Eltern ein Leben nur für sich gehabt, die Qualen und die Lügen der Jugend gekannt haben. Auch sie mussten ihre Ketten sprengen, mussten sich freimachen. Die Frage ist nur: wie?

Ihre Mutter beispielsweise hat vor fünfunddreißig Jahren auf ein beträchtliches Vermögen verzichtet. Dieses Vermögen war jedoch nicht das Ergebnis einer Erbschaft. Unter welchen Umständen hat sie es sich also beschafft? Gehörte es ihr, oder hatte sie es gestohlen? Warum hätte sie sich sonst davon getrennt? So viele Fragen, auf die Antworten zu finden Ihre Sache ist, wenn es Sie denn interessiert. Und sollte dies der Fall sein, empfehle ich Ihnen, Ihre Recherchen geschickt anzustellen. Sie werden ahnen, dass eine so kluge Frau wie Ihre Mutter ihre intimsten Geheimnisse nicht an einem Ort versteckt hat, der leicht zu finden ist. Wenn Sie die Beweise für die Stichhaltigkeit meiner Äußerungen entdeckt haben werden – denn ich weiß, dass es Ihr erster Drang sein wird, mir nicht zu glauben –, müssen Sie sich, wenn die Zeit gekommen ist, aufmachen, um mich zu treffen, denn ich lebe am anderen Ende der Welt. Doch zunächst ist es meine Pflicht, Sie nachdenken zu lassen. Sie haben viel zu tun.

Verzeihen Sie mir auch, dass ich anonym bleiben möchte, sehen Sie darin bitte keine Feigheit, mein Verhalten ist nur zu Ihrem Besten.

Ich empfehle Ihnen von ganzem Herzen, mit niemandem über diesen Brief zu sprechen, weder mit Maggie noch mit Ihrem Vater, und ihn zu vernichten, sobald Sie ihn gelesen haben. Es hätte für Sie keinerlei Nutzen, ihn aufzuheben. Glauben Sie an die Aufrichtigkeit meiner Absicht, ich wünsche Ihnen nur das Beste und spreche Ihnen, wenn auch mit Verspätung, mein Beileid aus.

»Ganz schön clever formuliert dieser Text«, bemerkte ich. »Man kann nicht erkennen, ob der Verfasser ein Mann oder eine Frau ist.«

»Ob Mann oder Frau, es ist auf jeden Fall ein gestörter Geist. Das einzig Vernünftige in diesem Brief ist die Empfehlung, ihn zu vernichten …«

»Und mit niemandem darüber zu sprechen, vor allem nicht mit dir …«

»In diesem Fall hast du gut daran getan, den Rat nicht zu befolgen.«

»Und auch nicht mit Dad.«

»An diese Empfehlung hältst du dich besser, denn es kommt nicht infrage, ihn mit einem so unsinnigen Konstrukt zu beunruhigen.«

»Hör auf, mir immer zu sagen, was ich tun soll und was nicht, ich bin hier schließlich die Ältere!«

»Und ein Lebensjahr mehr verleiht dir eine höhere Intelligenz? Wäre das der Fall, wärst du nicht gleich zu mir gerannt, um mir diesen Brief zu zeigen.«

»Ich bin nicht gleich zu dir gerannt, ich habe ihn bereits vorgestern erhalten«, berichtigte ich.

Maggie nahm mir gegenüber Platz. Ich hatte den Brief auf den Tisch gelegt. Sie strich mit den Fingern darüber und prüfte die Qualität des Papiers.

»Du willst doch wohl nicht sagen, dass du auch nur ein Wort von dem Ganzen glaubst?«, fragte sie.

»Keine Ahnung … aber warum sollte sich jemand die Zeit nehmen, so etwas zu schreiben, wenn es nur Lügen wären?«, antwortete ich.

»Weil es überall Idioten gibt, die zu allem bereit sind, um dich zu kränken.«

»Mich nicht, Maggie. Du wirst mein Leben langweilig finden, aber ich habe keine Feinde.«

»Ein Mann, der deinetwegen gelitten hat?«

»Schön wär’s, aber in dieser Hinsicht gibt es leider absolut nichts zu befürchten.«

»Dein Journalist?«

»Er wäre zu einer solchen Hinterhältigkeit nicht fähig. Und außerdem sind wir weiterhin gut befreundet.«

»Und woher kennt der Verfasser dieses Geschreibsels meinen Vornamen?«

»Er weiß noch sehr viel mehr über uns. Wenn er Michel nicht erwähnt hat, dann …«

Maggie ließ ihr Feuerzeug auf dem Tisch kreiseln.

»… weil er sich sicher war, dass du unseren Bruder nicht durcheinanderbringen würdest. Der anonyme Briefschreiber weiß also über seinen Zustand Bescheid. Ich gebe zu, dass mir das etwas Angst macht«, antwortete sie.

»Was sollen wir jetzt tun?«, wollte ich wissen.

»Nichts, wir machen nichts, die beste Reaktion ist, nicht auf sein Spiel einzugehen. Wir werfen diesen Schund in den Müll, und das Leben geht weiter.«

»Kannst du dir Mum in ihrer Jugend mit einem Riesenvermögen vorstellen? Das ergibt gar keinen Sinn, wir hatten immer Mühe, über die Runden zu kommen. Warum hätten wir uns den Gürtel so eng schnallen sollen, wie es der Fall war, wenn sie reich gewesen wäre?«

»Jetzt übertreib mal nicht, wir haben schließlich nicht im Elend gelebt, es hat uns an nichts gefehlt«, brauste Maggie auf.

»Dir hat es an nichts gefehlt, es gibt so vieles, was du gar nicht mitbekommen hast.«

»Ach ja, was denn?«

»Die schwierigen Zeiten gegen Monatsende eben. Glaubst du wirklich, Mum hätte aus lauter Hingabe Privatstunden gegeben, oder Dad hätte zum Vergnügen seine Wochenenden damit verbracht, Manuskripte zu korrigieren?«

»Er arbeitete im Verlag, und Mum unterrichtete, ich dachte, das wäre Teil ihrer Arbeit.«

»Nein, eben nicht, nach achtzehn Uhr war das überhaupt nicht mehr Teil ihrer Arbeit. Und glaubst du vielleicht, wenn sie uns ins Ferienlager geschickt haben, wären sie in der Zwischenzeit in die Karibik abgedampft? Sie haben geschuftet. Mum hat sogar im Krankenhaus vertretungsweise am Empfang gearbeitet.«

»Mum?«, fragte Maggie verblüfft.

»Drei Jahre hintereinander, in den Sommern, als du dreizehn, vierzehn und fünfzehn warst.«

»Und warum hast du Bescheid gewusst und ich nicht?«

»Weil ich ihnen Fragen gestellt habe. Ein Jahr älter zählt eben doch, wie du siehst.«

Maggie schwieg einen Moment.

»Also nein«, fuhr sie dann fort, »die Vorstellung, unsere Mutter hätte einen Batzen Geld versteckt, ist völlig unvorstellbar.«

»Wobei Vermögen nicht unbedingt Geld bedeuten muss.«

»Wenn es kein echtes Vermögen war, warum sollte der anonyme Schreiberling dann behauptet haben, es sei nicht das Ergebnis einer Erbschaft gewesen?«

»Der anonyme Schreiberling empfiehlt uns auch, geschickt vorzugehen. Vielleicht will er uns damit sagen, dass sein Geschreibsel subtiler ist, als es auf den ersten Blick erscheint.«

»Das enthält alles zu viel vielleicht. Schmeiß den Brief weg, vergiss am besten, dass du ihn überhaupt bekommen hast.«

»Na klar! Wie ich dich kenne, dauert es höchstens zwei Tage, bis du bei Dad aufkreuzt und sein Haus durchwühlst.«

Maggie griff nach dem Feuerzeug und zündete sich eine Zigarette an. Sie nahm einen tiefen Zug und blies den Rauch in die Luft.

»Okay«, gab sie nach. »Morgen Abend gibt es hier ein Familienessen. Du kochst das Essen, und ich koche Dad weich, nur um ganz sicherzugehen, auch wenn ich davon überzeugt bin, dass es verlorene Zeit ist.«

»Morgen bestellst du Pizza, und wir beide werden Dad befragen, ganz diskret. Michel sollte mit von der Partie sein.«

Kapitel 4

Ray

Oktober 2016, Croydon, Vorort von London

Die Aussicht auf ein Essen mit seinen Kindern gefiel ihm, aber er hätte es schöner gefunden, wenn es bei ihm stattgefunden hätte. Ray war sehr häuslich, und in seinem Alter änderte man sich nicht mehr. Er nahm sein Jackett mit dem Fischgrätmuster aus dem Kleiderschrank. Er würde Michel abholen, das war eine Gelegenheit, mal wieder mit seinem alten Austin zu fahren. Seit Tesco Express fünf Gehminuten entfernt einen kleinen Supermarkt eröffnet hatte, benutzte er ihn nicht mehr zum Einkaufen.

Sein Arzt hatte ihm verordnet, mindestens fünfzehn Minuten pro Tag zu Fuß zu gehen. Das Minimum, um seine Gelenke in Schuss zu halten. Er pfiff auf seine Gelenke, denn seit er Witwer war, wusste er tatsächlich nicht mehr, was er mit seinem Körper anfangen sollte. Dennoch zog er vor dem Spiegel den Bauch ein und fuhr sich mit der Hand durchs Haar, um es nach hinten zu frisieren. Das Altern an sich bereitete ihm kein Problem, jedoch trauerte er dem dichten Haarschopf seiner Jugend nach. Mit all den Milliarden, die die Regierung für nutzlose Kriege ausgab, hätte man besser etwas erfinden sollen, um den Haarwuchs anzuregen. Könnte er noch einmal dreißig sein, würde er seine Frau davon überzeugen, ihre Talente als Chemikerin in den Dienst der Wissenschaft zu stellen, anstatt zu unterrichten. Sie hätte die Zauberformel gefunden, ein Vermögen gemacht, und sie hätten ihr Alter in Nobelhotels auf der ganzen Welt verbracht.

Doch als er nach seinem Gabardinemantel griff, besann er sich anders. Beim Alleinreisen hätte er seine Witwerschaft als noch viel schlimmer empfunden, und außerdem war er ohnehin ein häuslicher Typ. Es war das erste Mal, dass Maggie ihn zum Abendessen in ihre Wohnung einlud. Vielleicht würde sie ihm ihre bevorstehende Hochzeit ankündigen? Sofort fragte er sich, ob er wohl noch in seinen Smoking passte. Schlimmstenfalls würde er eine Diät machen, vorausgesetzt sie ließe ihm genügend Zeit, zwei oder drei Kilo, höchstens jedoch fünf abzunehmen, man musste ja nichts übertreiben. Er hatte trotz allem seine Figur recht gut gehalten, abgesehen von ein paar Pölsterchen hier oder da, nichts Dramatisches. Maggie war allerdings auch zuzutrauen zu verkünden, die Hochzeit fände am kommenden Wochenende statt, sie war so ungeduldig. Was er ihr wohl zur Hochzeit schenken könnte? Er bemerkte, dass er Tränensäcke bekommen hatte, legte den Zeigefinger unter sein rechtes Auge und fand, er sähe sofort jünger aus. Er könnte sich zwei Tesastreifen unter die Augen kleben, das würde alle zum Lachen bringen. Ray schnitt vor dem Spiegel verschiedene Grimassen und brachte sich selbst damit zum Lachen. Gut gelaunt schnappte er sich seine Kappe, ließ die Autoschlüssel in seiner Handfläche hüpfen und verließ seine Wohnung mit jugendlichem Elan.

Der Austin roch angenehm nach Staub, es war ein sehr eleganter alter Duft, wie ihn nur die Innenräume von Oldtimern verströmen. Sein Nachbar argumentierte, ein A60 Kombi sei kein Oldtimer, das war aber der reine Neid! Wo fand man denn heute noch ein Armaturenbrett aus echtem Palisanderholz, sogar die Uhr war eine Rarität. Er hatte den Wagen aus zweiter Hand gekauft, in welchem Jahr war das noch mal gewesen? Die Zwillinge waren noch nicht geboren. Natürlich waren die Zwillinge noch nicht geboren, schließlich hatte er mit diesem Auto seine Frau am Bahnhof abgeholt, nachdem sie sich wiedergefunden hatten. Unglaublich, wenn man bedachte, dass dieser Wagen sie ihr ganzes Leben begleitet hatte. Wie viele Meilen hatten sie mit diesem Austin zurückgelegt? Zweihundertvierundzwanzigtausendsechshundertdreiundfünfzig bzw. vierundfünfzig, wenn er bei Michel angekommen wäre, also wenn das kein Oldtimer war … Was für ein Dummkopf, dieser Nachbar!

Er konnte nicht zum Beifahrersitz hinüberblicken, ohne zu meinen, seine Frau dort sitzen zu sehen. Er hatte noch das Bild vor Augen, wie sie sich vorbeugte, um ihren Sicherheitsgurt zu schließen. Damit hatte sie immer Probleme gehabt, schimpfte und verdächtigte ihn, ihn kürzer eingestellt zu haben, nur um sie zu ärgern und glauben zu lassen, sie habe zugenommen. Es stimmte, dass er ihr zwei oder drei Mal diesen Streich gespielt hatte, aber nicht öfter. Nun gut, vielleicht etwas öfter, wenn er genau darüber nachdachte. Es wäre gut, wenn man sich in seinem Auto bestatten lassen könnte. Das würde aber erfordern, die Friedhöfe deutlich zu vergrößern, was nicht eben umweltfreundlich war.

Ray parkte vor dem Haus ein, in dem Michel wohnte. Er hupte zwei Mal, und während er wartete, beobachtete er die Fußgänger auf dem Bürgersteig, zwischen dessen Platten Gras wuchs. Niemand sollte über den englischen Regen meckern, kein anderes Land war so grün.

Ein Paar erregte seine Aufmerksamkeit. Der Mann schien einer von denen zu sein, die zum Lachen in den Keller gehen. Wenn es einen lieben Gott gab, hätte dieser Typ dort Witwer sein müssen. Die Welt war wirklich schlecht gemacht. Warum dauerte es immer so lange, bis Michel herauskam? Weil er zuerst überprüfen musste, ob alles an seinem Platz war, ob das Gas abgedreht war, auch wenn er seinen Gasherd schon seit ewigen Zeiten nicht mehr benutzte, ob die Lampen ausgeschaltet waren, außer in seinem Schlafzimmer, wo er immer das Licht anließ, und ob die Kühlschranktür richtig geschlossen war. Die Dichtung war altersschwach geworden. Er würde sie bei Gelegenheit austauschen, wenn Michel in der Arbeit war. Er würde es ihm erst nach erfolgter Reparatur sagen. Da kam er endlich in seinem ewigen Trenchcoat, den er sogar im Sommer trug, und es würde nicht leicht sein, ihn zu einem Wechsel zu bewegen. Es war noch ein weiter Weg, ihn davon zu überzeugen, etwas anderes anzuziehen.

Ray beugte sich hinüber, um ihm die Tür zu öffnen, Michel schlüpfte ins Wageninnere, küsste seinen Vater, legte den Sicherheitsgurt an und schob seine Hände auf die Knie. Als der Wagen anfuhr, starrte er auf die Straße und entspannte sich dann endlich nach der zweiten Kreuzung.

»Ich freue mich, dass wir alle gemeinsam essen, aber es ist merkwürdig, dass wir zu Maggie fahren.«

»Und warum ist das merkwürdig, mein Lieber?«, fragte Ray.

»Maggie kocht nie, deshalb ist das merkwürdig.«

»Wenn ich es richtig verstanden habe, gibt es eine Party, sie bestellt Pizza.«

»Aha, dann ist es weniger merkwürdig, aber dennoch …«, antwortete Michel, während sein Blick einer jungen Frau folgte, die über die Straße ging.

»Nicht schlecht«, sagte Ray mit einem anerkennenden Pfiff.

»Sie ist etwas unproportioniert«, äußerte Michel.

»Machst du Witze, sie ist großartig!«

»Die Durchschnittsgröße einer Person weiblichen Geschlechts liegt 2016 bei fünf Fuß und sechs Zoll, diese Frau ist mindestens sechs Fuß und einen Zoll, also sehr groß.«

»Wenn du meinst, aber in deinem Alter hätte mir diese Art Unproportioniertheit gefallen.«

»Mir gefällt es besser, wenn …«

»… eine Frau etwas kleiner ist!«

»Ja, genau, kleiner.«

»Jedem Topf seinen Deckel, nicht wahr?«

»Vielleicht, aber ich sehe da keinen Zusammenhang.«

»Das ist eine Redensart, Michel. Damit wird ausgedrückt, dass jeder einen anderen Geschmack hat.«

»Ja, das erscheint logisch, sie ist nicht die erste deiner Redensarten, die völlig sinnlos ist, sondern die zweite. Sie stimmt aber mit meinen Feststellungen überein.«

Der Austin fädelte sich auf der breiten Straße in den Verkehr ein. Es begann wieder, leicht zu regnen, der echt englische Sprühregen ließ den Asphalt innerhalb weniger Minuten glänzen.

»Ich glaube, dass deine Schwester uns verkünden wird, dass sie heiratet.«

»Welche? Ich habe zwei.«

»Maggie, glaube ich.«

»Aha, und warum denkst du das?«

»Väterlicher Instinkt, vertrau mir. Und es hat einen bestimmten Grund, warum ich jetzt mit dir darüber spreche. Wenn sie uns das verkündet, sollst du wissen, dass es eine gute Nachricht ist und du daher Freude zeigen solltest.«

»Aha, und warum?«

»Weil deine Schwester traurig wäre, wenn du das nicht machen würdest. Wenn einem die Leute etwas verkünden, was sie glücklich macht, erwarten sie umgekehrt, dass wir ihr Glück teilen.«

»Aha, und warum?«

»Weil das eine Art ist, ihnen zu zeigen, dass wir sie lieben.«

»Verstehe. Und heiraten ist eine gute Nachricht?«

»Diese Frage ist sehr tiefgründig. Im Prinzip, ja.«

»Und wird ihr künftiger Ehemann auch da sein?«

»Vielleicht, das weiß man bei deiner Schwester nie.«

»Bei welcher? Ich habe zwei.«

»Ich weiß, dass du zwei hast, schließlich habe ich sie gemacht, wenn ich dich daran erinnern darf, mit deiner Mutter natürlich.«

»Und Mum, wird sie auch da sein?«

»Nein, deine Mutter wird nicht da sein. Du weißt warum, das habe ich dir mehrfach erklärt.«

»Ja, ich weiß, weil sie gestorben ist.«

»Genau, weil sie gestorben ist.«

Michel schaute aus dem Fenster, bevor er seinem Vater den Kopf zuwandte und ihn anstarrte.

»Und für euch beide war es eine gute Nachricht, als ihr geheiratet habt?«

»Eine großartige Nachricht, mein Lieber. Und wenn ich noch einmal in der Situation wäre, hätte ich sie sogar viel früher geheiratet. Es wird also für Maggie eine gute Nachricht sein. Ich bin sicher, dass wir in unserer Familie ein Talent für glückliche Ehen haben.«

»Aha. Ich werde das morgen in der Universität überprüfen, aber ich glaube nicht, dass es genetisch bedingt ist.«

»Und du, Michel, bist du glücklich?«, fragte Ray mit sanfter Stimme.

»Ja, ich glaube schon … Ich bin jetzt glücklich, dass Maggie heiraten wird, weil ich weiß, dass wir in unserer Familie ein Talent für glückliche Ehen haben, aber ich habe dennoch etwas Angst, ihrem Ehemann zu begegnen.«

»Wovor hast du Angst?«

»Na ja, ich hoffe, dass wir uns gut verstehen werden.«

»Du kennst ihn bereits. Es ist Fred, ein großer Typ und sehr sympathisch, wir waren schon mehrmals in seinem Pub zum Essen. Also ich vermute, dass sie ihn heiraten wird, obwohl man das bei deiner Schwester nie wissen kann.«

»Schade, dass Mum heute Abend nicht kommen kann, wenn ihre Tochter verkündet, dass sie heiraten wird.«

»Welche? Sie hat zwei«, antwortete Ray lächelnd.

Michel überlegte einen Moment, dann lächelte auch er.

Kapitel 5

May

Oktober 1980, Baltimore

Das Motorrad fuhr die Hangstraße hinauf. Jedes Mal, wenn Sally-Anne Gas gab, wirbelte das Hinterrad eine Staubwolke auf. Noch ein paar Kurven, dann würde der Wohnsitz zu sehen sein. May brauchte nicht lange, um in der Ferne den eleganten Gitterzaun zu erahnen, der das Anwesen der Stanfields schützte – schwarz und mit schmiedeeisernen Spitzen. Je näher sie kamen, desto fester schlang May ihre Arme um Sally-Annes Taille, und ihr Griff wurde so fest, dass diese schließlich lächeln musste und gegen den Wind anrief: »Ich habe auch Muffensausen, aber du musst dir sagen, dass dieses Abenteuer dadurch nur aufregender wird.«

Der Motor der Maschine war viel zu laut, als dass der vollständige Satz bis zu May vorgedrungen wäre. Sie hatte nur »Muffensausen« und »aufregend« verstanden, und genau das war es, was sie empfand. Das musste die perfekte Beziehung sein, wenn man mit der geliebten Person im vollkommenen Gleichklang war.

Sally-Anne schaltete zurück, neigte die Maschine für die letzte einhundertachtzig Grad Spitzkehre auf die Seite, dann beschleunigte sie wieder und richtete das Motorrad erneut auf. Sie beherrschte die Triumph mit einer Geschicklichkeit, die jeden Biker vor Neid erblassen ließ. Letzte Gerade, nun war das Haus auf dem Hügel deutlich zu sehen. Mit seiner pompösen Säulenhalle beherrschte es das gesamte Tal. Nur Neureiche und Emporkömmlinge schätzten einen so auffällig zur Schau gestellten Luxus, dabei zählten die Stanfields zu den ältesten Honoratioren der Stadt, an deren Gründung sie sogar beteiligt gewesen waren. Manche erzählten, sie hätten dank der Sklavenarbeiter auf ihren Feldern angefangen, ein Vermögen anzuhäufen, andere hingegen berichteten, sie wären unter den Ersten gewesen, die ihre Sklaven freigelassen hätten, und einige Stanfields hätten dafür sogar mit ihrem Blut bezahlt. Die Geschichte änderte sich je nach Stadtviertel, in dem sie erzählt wurde.

Sally-Anne stellte die Maschine auf dem für die Angestellten reservierten Parkplatz ab. Sie schaltete den Motor aus, nahm ihren Helm ab und wandte sich May zu, die vom Sozius stieg.

»Der Lieferanteneingang ist genau vor dir. Du meldest dich dort und sagst, dass du einen Termin mit ›Miss Verdier‹ hast.«

»Und wenn sie da ist?«

»Dann hätte sie die heilige Gabe der Allgegenwart, denn die Frau, die du zu dem schwarzen Ford da unten gehen siehst, ist Miss Verdier. Ich habe dir ja gesagt, dass sie jeden Tag um elf Uhr Pause macht, ihr schönes Auto besteigt und in die Stadt fährt, um sich massieren zu lassen … na ja, so heißt es offiziell, sie lässt sich nicht nur massieren.«

»Und woher weißt du das?«

»Ich bin ihr in den letzten Wochen oft genug gefolgt, und wenn ich dir sage, dass ich ihr gefolgt bin, dann war ich ihr dabei sehr nah auf den Fersen, also kannst du mir aufs Wort glauben.«

»Du bist aber hoffentlich nicht so weit gegangen …«

»Wir haben jetzt keine Zeit zum Diskutieren, May. Die Verdier ist eine Langsamkommerin, aber sie wird innerhalb von fünfundvierzig Minuten ihren kleinen vormittäglichen Orgasmus gehabt haben, und nachdem sie anschließend im Café nebenan ein BLT-Sandwich gegessen und dazu eine Cola getrunken hat, um sich zu stärken, wird sie hier wieder aufkreuzen. Beeil dich jetzt, du kennst den Plan auswendig, wir haben ihn hundert Mal durchgespielt.«

May blieb vor ihrer Freundin wie angewurzelt stehen. Sally-Anne spürte, dass es ihr an Selbstsicherheit fehlte, also nahm sie sie in die Arme, sagte ihr, sie sei hinreißend, und alles würde gut gehen. Sie würde sie auf dem Parkplatz erwarten.

May überquerte die Straße und meldete sich am Lieferanteneingang. Dort, wo Zeitungen, Essen, Getränke und Blumen angeliefert wurden, so wie alles, was Mrs. Stanfield oder ihr Sohn in der Stadt kauften. Als gut erzogene junge Frau teilte sie dem Butler mit, sie habe einen Gesprächstermin bei Miss Verdier. Wie es Sally-Anne vorhergesehen hatte, stellte ihr der Hausangestellte, beeindruckt von der natürlichen Autorität, den ihr der britische Akzent verlieh, den sie sich angeeignet hatte, keine weiteren Fragen und bat sie herein. Ihm war klar, dass sie zu früh gekommen war, und da es nicht schicklich gewesen wäre, eine Person im Flur warten zu lassen, führte er sie, wie Sally-Anne es ebenfalls vorhergesehen hatte, in einen kleinen Salon im ersten Stock.

Mit zerknirschter Miene forderte er sie auf, in einem Sessel Platz zu nehmen. Miss Verdier sei ausgegangen, nur kurz, wie er hinzufügte, und sie werde sicherlich gleich zurückkommen. Er bot ihr eine Erfrischung an. May dankte ihm, sie hatte keinen Durst. Der Butler zog sich zurück und ließ sie in dem behaglichen kleinen Raum allein, der direkt an das Büro von Mister Stanfields Sekretärin grenzte.

Der Salon war möbliert mit einem runden kleinen Tisch zwischen zwei Velourssesseln, passend zu den Vorhängen, die die Fenster schmückten. Der Parkettboden aus dunkler Eiche war von einem Aubusson-Teppich bedeckt, die Wände zierten Holzvertäfelungen, und von der Decke hing ein kleiner Kristalllüster.

Beim Butler vorzusprechen, die große Treppe zur ersten Etage des Wohnsitzes hinaufzusteigen, über den langen Gang zu gehen, der über der Eingangshalle entlangführte, um hierherzukommen, hatte zehn Minuten gedauert. Sie musste den Ort unbedingt verlassen haben, bevor die nymphomane Sekretärin wieder zur Arbeit erschien. Die Vorstellung, was diese da gerade in einem zweifelhaften Massagesalon im Stadtzentrum trieb, hätte sie amüsieren müssen – sie und Sally-Anne hatten darüber gelacht, während sie ihren Plan durchspielten. Aber nun, da sie das Büro betreten und einen Einbruch begehen musste, der sie de facto zu einer Gesetzesbrecherin machte, bekam sie es doch mit der Angst zu tun. Wenn man sie erwischen würde, käme die Polizei, und die würde schnell eins und eins zusammenzählen. Dann wäre es nicht nur ein einfaches Eindringen in ein Haus, dessen man sie beschuldigen würde. Bloß nicht daran denken, nicht jetzt. Ihr Mund war trocken, sie hätte das vom Butler angebotene Glas Wasser annehmen sollen, aber damit hätte sie zu viel Zeit verloren. Aufstehen und zu dieser Tür gehen. Die Klinke herunterdrücken und hineingehen.

Genau das tat sie, mit einer Entschlossenheit, die sie selbst verblüffte. Sie handelte wie ein Roboter, der programmiert war, um eine genau definierte Aufgabe auszuführen.

Sobald sie sich im Zimmer befand, schloss sie die Tür leise hinter sich. Die Wahrscheinlichkeit war groß, dass der Hausherr sich im Nebenzimmer befand und wusste, dass seine Assistentin zu dieser Zeit abwesend war.

Sie verschaffte sich einen Überblick, war erstaunt über das moderne Dekor, das im Kontrast zu dem der anderen Räume des Wohnsitzes stand. Die Reproduktion eines Gemäldes von Miró schmückte die Wand gegenüber von einem Schreibtisch aus hellem Holz. Es war vielleicht gar keine Reproduktion, sondern das Original. Keine Zeit, näher zu treten, um das zu überprüfen. Sie schob den Bürostuhl zur Seite, kniete sich vor die Schreibtischschubladen und zog den in ein Papiertaschentuch gehüllten Dietrich aus ihrer Tasche.

Hundertmal hatte sie an einem Schubladenelement desselben Typs geübt, das Schloss zu knacken, ohne es zu beschädigen. Es war ein Modell mit Plättchenzylinder der Marke Yale, für das ein Bekannter von Sally-Anne ihr einen Halbdiamant-Picklock empfohlen und verkauft hatte. Die Spitze hatte einen weiten Winkel, und er war insgesamt schmal, leicht einzuführen und auch wieder herauszuziehen. Sie vergegenwärtigte sich die Einweisung: Innen nicht herumkratzen, um keine metallischen Feilspäne zu hinterlassen, die den Mechanismus blockieren und die Straftat verraten könnten, den Griff waagerecht zum Schloss halten, den Dietrich langsam in den Zylinder einführen, die Plättchen ertasten, auf jedes einzelne vorsichtigen Druck ausüben, um es anzuheben, ohne es zu beschädigen. Sie spürte, wie sich das erste Plättchen anhob, schob den Dietrich weiter, bis sich auch das zweite Plättchen hob, dann kam das dritte an die Reihe. May hielt den Atem an und drehte langsam den Zylinder auf, sodass sie die Schublade öffnen konnte.

Ein ebenso heikler Teil der Arbeit blieb noch zu erledigen, wenn sie das Schloss wieder verschließen und das Werkzeug entfernen musste. May achtete darauf, es nicht zu bewegen, während sie die Schublade herauszog.

Eine Brille, eine Puderdose, eine Haarbürste, ein Lippenstift, ein Döschen mit Handcreme … wo waren diese verdammten Unterlagen? Sie nahm einen Stapel Papiere heraus, legte sie auf den Schreibtisch und begann, sie systematisch durchzusehen. Endlich tauchte die Gästeliste auf, und May spürte, wie sich ihr Herzschlag beschleunigte, als sie daran dachte, welche Risiken sie auf sich nahm, nur um zwei Namen einzufügen.

»Bleib ruhig, May«, murmelte sie, »du hast es fast geschafft.«

Ein Blick auf die Wanduhr, ihr blieben noch fünfzehn Minuten, um innerhalb der sicheren Zeitspanne zu bleiben. Und wenn Miss Verdier heute früher zum Orgasmus kam?

Denk nicht daran, sie nimmt diesen Weg nicht auf sich, um auf das Vorspiel zu verzichten, wenn sie es eilig hätte, würde sie sich selbst befriedigen.

May betrachtete die Schreibmaschine, die auf dem Schreibtisch thronte, eine klassische Underwood. Sie legte das Papier ein, hob den Papierhalter an und betätigte den Walzendrehknopf. Das Blatt wurde um die Walze eingezogen und tauchte vorne wieder auf.

May schickte sich an, die Decknamen zu tippen, die sie einfügen wollte, einen für sich, einen für Sally-Anne, gefolgt von der Adresse des Postfachs, das sie letzte Woche auf der Hauptpost eröffnet hatten. Zweifellos würde die Polizei eines Tages diese Liste genauer studieren, um nach den Schuldigen des Verbrechens zu suchen. Aber diese falschen Namen ohne echten Wohnsitz würden keinerlei Hinweis liefern. Sie tippte den ersten Namen ein, wobei sie darauf achtete, die Tasten vorsichtig anzuschlagen, um das Klappern der Typenhebel auf dem Farbband möglichst leise zu halten. Dann bewegte sie mit äußerster Vorsicht den Schlitten und versuchte, das Klingeln bei der Zeilenschaltung zu verhindern. Das Klingeln ertönte dennoch.

»Miss Verdier? Sind Sie schon zurück?«

Die Stimme war aus dem Nebenzimmer gekommen. May erstarrte, war wie gelähmt. Sie kniete sich hin und kauerte sich unter den Schreibtisch. Schritte näherten sich, die Tür wurde halb geöffnet, und Mister Stanfield streckte, die Hand auf dem Türgriff, den Kopf herein.

»Miss Verdier?«

Das Büro war wie immer aufgeräumt, seine Sekretärin war die Ordnung in Person, und er achtete nicht weiter auf die Schreibmaschine. Zum Glück, denn Miss Verdier wäre niemals fortgegangen und hätte ein Blatt in der Schreibmaschine gelassen.

Er zuckte mit den Schultern und schloss die Tür wieder, wobei er brummelte, er habe wohl geträumt.

Es dauerte mehrere Minuten, bis Mays Hände nicht mehr zitterten. Tatsächlich zitterte sie am ganzen Körper, sie hatte noch nie in ihrem Leben solche Angst gehabt.

Das Ticken der Wanduhr brachte sie zur Vernunft. Bestenfalls blieben ihr noch knapp zehn Minuten. Zehn Minütchen, um den zweiten Namen und die dazugehörige Adresse zu tippen, das Blatt Papier zurückzulegen, den Unterschrank abzusperren, den Dietrich herauszuziehen und das Haus zu verlassen, bevor die Sekretärin zurückkam. May war in Verzug, sie hätte bereits wieder bei Sally-Anne sein sollen, die vor Unruhe sterben musste.

»Konzentrier dich, ruhig Blut, du hast keine Sekunde zu verlieren.«

Eine Taste, eine zweite, eine dritte … Wenn der alte Knacker das Klappern der Schreibmaschine hörte, würde er sich nicht wieder mit einem flüchtigen Blick begnügen.

Fertig, die Walze drehen, das Papier herausnehmen. Es genau wieder dahin legen, wo sie es in dem Stapel gefunden hatte, die Unterlagen zu einem perfekten Stapel zusammenfügen, auf dem Teppich, um kein Geräusch zu verursachen. Den Stapel in die Schublade schieben und diese schließen, den Atem anhalten beim Drehen des Dietrichs, das Schnappen der Plättchen hören, gar nicht so einfach, wenn das Herz bis in die Schläfen schlägt und der Schweiß über die Stirn rinnt … noch einen Millimeter.

Bleib ruhig, May, wenn der Dietrich klemmt, ist alles im Eimer.

Und er hatte sich beim Üben häufig verklemmt.

Endlich hielt sie ihn in ihrer feuchten Hand, steckte ihn ein, schnappte sich im Vorbeigehen das Papiertaschentuch, trocknete sich damit die Handfläche, dann die Stirn. Wenn der Butler sie in Schweiß gebadet weggehen sähe, würde ihm das verdächtig erscheinen.

Sie erreichte den kleinen Salon, zog ihren Mantel zurecht und verließ das Zimmer. Sie lief den langen Gang zurück und betete, niemandem zu begegnen. Die große Treppe tauchte vor ihr auf, sie lief ohne Eile hinunter. Sie musste dem Butler noch mit ruhiger Stimme sagen, sie könne nicht länger warten und käme ein anderes Mal wieder.

Das Glück war ihr gnädig, das Vestibül verlassen. Sie legte die Hand auf die Klinke der Tür des Lieferanteneingangs und öffnete sie. Sally-Anne saß auf ihrem Motorrad und blickte ihr vom Parkplatz aus entgegen. May hatte den Eindruck, ihre Beine würden sie nicht mehr tragen, aber sie ging weiter auf sie zu. Sally-Anne reichte ihr den Helm und bedeutete ihr mit einer Kopfbewegung, auf die Triumph zu steigen. Ein Tritt auf den Kickstarter, und der Motor brummte.

In der ersten Spitzkehre begegneten sie dem schwarzen Ford, der zu dem Anwesen hinauffuhr. Sally-Anne sah das Gesicht von Miss Verdier, sie strahlte und hatte ein befriedigtes Lächeln auf den Lippen. Sally-Anne stellte dasselbe Lächeln zur Schau, aber nicht aus denselben Gründen.

Kapitel 6

Eleanor-Rigby

Oktober 2016, Beckenham

Wir saßen schon seit einer halben Stunde bei Tisch, und noch immer hatte Maggie uns nicht ihre Hochzeit mit Fred, diesem sehr sympathischen hochgewachsenen Kerl, angekündigt, der in Primrose Hill einen Gastro-Pub1führte. Michel freute sich gleich doppelt darüber. Erstens, weil er sich sehr über unseren Vater amüsierte, den es kaum auf seinem Platz hielt, der unruhig auf seinem Stuhl hin und her rutschte und seine Pizza praktisch noch nicht angerührt hatte. Wenn Dad nichts aß, musste er gedanklich stark mit etwas beschäftigt sein, und Michel wusste ganz genau, womit. Wenn er aber genau darüber nachdachte – und seit ihrem Gespräch im Auto hatte er eigentlich nichts anderes getan –, dann freute er sich umso mehr über die Nichtankündigung, weil er Fred gar nicht so sympathisch fand. Seine Art, ihn zu behandeln, sein geheucheltes Wohlwollen war ihm unangenehm. Alles deutete an, dass er sich ihm überlegen fühlte. Die Küche seines Pubs war gut, aber weit davon entfernt, ihm so viel Genuss zu bereiten wie die Bücher, die er in der Bibliothek verschlang. Michel kannte praktisch alle Titel und wusste, wo sie hingehörten. Das war insofern nicht außergewöhnlich, als er sie in die Regale einräumte. Michel liebte seine Arbeit. Im Lesesaal herrschte Stille, eine solche Ruhe konnten nur wenige Berufe bieten. Die Leser waren größtenteils recht freundlich, und für sie schnellstmöglich zu finden, was sie suchten, gab ihm das Gefühl, nützlich zu sein. Das Einzige, was ihn ärgerte, war, am Ende des Tages auf den Tischen die zurückgelassenen Bücher zu sehen. Andererseits, wenn die Leser ordentlicher wären, hätte er weniger Arbeit. Logisch.

Bevor man Michel diese Stelle anvertraute, hatte er in einem Labor gearbeitet. Den Job hatte er seinen guten Abschlussnoten an der Universität zu verdanken. Er hatte eine Begabung für Chemie, das Periodensystem der Elemente war für ihn eine selbstverständliche Sprache. Doch sein Ehrgeiz, alle Möglichkeiten auszutesten, setzte aus Sicherheitsgründen seiner kurzen und doch so vielversprechenden Karriere ein Ende. Dad hatte dies als Ungerechtigkeit bezeichnet und die Engstirnigkeit seiner Arbeitgeber kritisiert, aber das hatte nichts genützt. Nachdem Michel sich eine Zeit lang zurückgezogen hatte, fand er seine Lebensfreude durch den Kontakt zu Véra Morton, der Leiterin der Stadtbücherei, wieder. Sie gab ihm eine Chance, und er machte es sich zur Pflicht, sie niemals zu enttäuschen. Die Leichtigkeit, mit der man heutzutage im Internet recherchieren konnte, hatte die Besucherzahlen der Bibliothek sinken lassen, und manchmal verging ein ganzer Tag, ohne dass ein einziger Besucher kam. Michel nutzte diese Zeit, um zu lesen, hauptsächlich chemische Abhandlungen oder Biografien, die eine weitere Leidenschaft waren.

Seit Beginn der Mahlzeit beobachtete ich meinen Vater schweigend. Maggie hingegen hörte nicht auf zu reden, übrigens inhaltsleeres Geplapper, oder zumindest erzählte sie nichts, was es gerechtfertigt hätte, das Rederecht für sich allein zu beanspruchen. Ihre Geschwätzigkeit machte Michel zu schaffen. Ihre Hektik ließ vielleicht eine Ankündigung vermuten, die er gar nicht hören wollte. Als Maggie Dad gegenüber Platz und seine Hand nahm, musste Michel denken, sie tue das, um ihn zu besänftigen. Maggie mochte eigentlich keine Berührungen. Jedes Mal, wenn er sie zur Begrüßung oder zum Abschied in den Arm nahm, beklagte sie sich und beteuerte, sie bekäme keine Luft mehr. Dabei achtete Michel darauf, sie nie zu fest zu drücken. Er hatte daraus geschlossen, dass es eine Strategie war, um ihre Umarmungen zu verkürzen, und wenn sie ihren eigenen Bruder nicht umarmen wollte, bewies das die Stichhaltigkeit seiner Theorie.

Dad, der von dieser zärtlichen Anwandlung ebenfalls überrascht war, hielt den Atem an in der Hoffnung, die große Neuigkeit würde nun nicht länger auf sich warten lassen. Dass Maggie heiraten würde, lag in der Natur der Dinge, aber was er wissen wollte, war, wann.

»Gut, Liebes, genug geplaudert, du bringst mich damit noch um. Wann ist es so weit? In drei Monaten wäre ideal, eines pro Monat ist akzeptabel. Du weißt schon, in meinem Alter verliert man sie nicht mehr so schnell.«

»Wie bitte«, antwortete Maggie, »wovon redest du?«

»Von den Kilos, die ich abnehmen muss, um in meinen Smoking zu passen!«

Ich schaute meine Schwester an, wir waren beide perplex. Michel seufzte und kam allen zu Hilfe.

»Für die Hochzeit. Der Smoking ist für die Hochzeit«, erklärte er.

»Deswegen hast du uns doch hier versammelt«, fügte Dad hinzu. »Und wo ist er überhaupt?«

»Wer?«

»Der sympathische Fred«, antwortete Michel lakonisch.