Mit jedem neuen Tag - Marc Levy - E-Book

Mit jedem neuen Tag E-Book

Marc Levy

4,7
8,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Was wäre, wenn Sie den schlimmsten Fehler Ihres Lebens wiedergutmachen könnten?

Der hochkarätige und erfolgreiche Journalist Andrew Stilman, der bald heiraten wird, lernt eines Abends in einer Bar in Manhattan eine wunderschöne Frau kennen. Als er ein paar Wochen später, am 9. Juli 2012, wie jeden Tag joggen geht, wird er von hinten angegriffen. Das Letzte, was er spürt, bevor er zusammenbricht, ist ein durchdringender Schmerz im Rücken. Als er wieder aufwacht, schreibt man den 9. Mai 2012 – zwei Monate vor seiner Hochzeit, zwei Monate, bevor er seiner Frau das Herz brach. Von nun an hat er sechzig Tage, um seinen Mörder zu finden, sein Schicksal zu verändern – und die Liebe seines Lebens zu retten …

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 405

Bewertungen
4,7 (18 Bewertungen)
15
1
2
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Marc Levy

Mit jedem neuen Tag

Roman

Aus dem Französischen von Eliane Hagedorn und Bettina Runge

Die Originalausgabe erschien 2012 unter dem Titel »Si c’était à refaire« bei Editions Robert Laffont, Paris.

1. Auflage

© der Originalausgabe 2012

by Marc Levy / Susanna Lea Associates, Paris

© der deutschsprachigen Ausgabe 2015

by Blanvalet Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Satz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, MünchenISBN 978-3-641-15832-3www.blanvalet-verlag.de

Für Louis, Georges und Pauline

Man wäre schon glücklich, wenn man sich selbst aufgeben könnte, wie man die anderen aufgibt.

Madame du Deffand

Kapitel 1

Mit der Menge verschmelzen, dieses seltsame Drama zu Ende bringen, ohne dass jemand etwas bemerkt oder sich an das Geringste erinnert.

Jogginganzug, die angemessene Kleidung, um nicht aufzufallen. In einer durchorganisierten Stadt, in der die Nerven aller hart auf die Probe gestellt werden, wird gejoggt. Man läuft, um seinen Körper in Form zu halten, Spuren der Exzesse des Vorabends auszulöschen, dem Stress des kommenden Tages vorzubeugen.

Eine Bank. Den Fuß auf die Sitzfläche stellen, das Schuhband wieder zubinden und darauf warten, dass sich das Zielobjekt nähert. Die Kapuze, die über die Stirn fällt, schränkt zwar das Blickfeld ein, verbirgt jedoch zugleich das Gesicht. Den Augenblick nutzen, um wieder zu Atem zu kommen, um zu verhindern, dass die Hand zittert. Der Schweiß ist unerheblich, er weckt keine Aufmerksamkeit, verrät nichts, hier, wo doch alle schwitzen.

Taucht er dann auf, ihn vorbeilassen, noch einige Augenblicke warten, bevor der Lauf mit kleinen Schritten wieder aufgenommen wird. Im angemessenen Abstand bleiben, bis der richtige Moment gekommen ist.

Die Szene wurde siebenmal geprobt. An jedem Morgen der Woche, zur selben Zeit. Jedes Mal wurde die Versuchung, zur Tat zu schreiten, drängender. Doch der Erfolg hängt von einer guten Vorbereitung ab. Es darf kein Fehler passieren.

Da kommt er, wie immer, durch die Charles Street. Er wartet, bis die Ampel auf Grün umspringt, um die ersten vier Spuren des West Side Highways zu überqueren. Die Autos sausen in den Norden der Stadt, die Menschen begeben sich zu ihrem Arbeitsplatz. Er hat den Mittelstreifen erreicht. Die kleine Leuchtfigur der Verkehrsampel blinkt bereits. Richtung Tribeca und Financial District fahren die Autos Stoßstange an Stoßstange, er läuft trotzdem los. Wie immer antwortet er auf das Hupkonzert mit erhobener Faust und in die Luft gestrecktem Mittelfinger, biegt nach links ab und benutzt den Fußgängerweg, der parallel zum Hudson River verläuft.

Inmitten der anderen Jogger wird er an zwanzig Blocks entlanglaufen, wird seinen Spaß daran haben, diejenigen hinter sich zu lassen, die nicht so gut in Form sind wie er, und diejenigen verfluchen, die ihn abhängen. Das ist nicht ihr Verdienst, sie sind einfach zehn oder zwanzig Jahre jünger. Als er achtzehn war, wurde dieser Stadtteil noch gemieden, er gehörte jedoch zu den Ersten, die hier aus der Puste kamen. Die Docks, die früher auf ihrem Pfahlwerk weit in den Hudson River ragten, verpesteten die Luft mit ihrem Gestank nach Fisch und Rost. Blutgeruch. Seine Stadt hat sich in den letzten zwanzig Jahren verändert, ist jünger geworden und schöner. Bei ihm hingegen haben die Jahre begonnen, Spuren in seinem Gesicht zu hinterlassen.

Es wird Tag. Auf der anderen Flussseite erlöschen nach und nach die Lichter von Hoboken, bald gefolgt von denen in Jersey City.

Ihn nicht aus den Augen verlieren. An der Kreuzung Greenwich Street wird er den Fußgängerweg verlassen. Vorher muss gehandelt werden. Heute Morgen wird er den Starbucks Coffee Shop, wo er sich für gewöhnlich einen Mochaccino gönnt, nicht erreichen.

Am Pier 40 wird ihn der Schatten, der ihm folgt, unbemerkt eingeholt haben.

Noch ein Block. Den Schritt beschleunigen, sich unter die Gruppe mischen, die sich stets an dieser Stelle bildet, weil sich der Weg verengt und die Langsameren die Schnelleren behindern. Die lange Klinge gleitet unter dem Ärmel hervor, die entschlossene Hand hält sie fest.

Zwischen dem Kreuzbein und der letzten Rippe zustoßen. Ein kräftiger Stich, tief hinein und gleich wieder heraus, um die Niere zu durchbohren und bis zur Baucharterie vorzudringen. Beim Zurückziehen wird die Klinge irreparable Risswunden hinterlassen. Bis jemand mitbekommt, was passiert ist, bis die Rettungskräfte eintreffen, bis er ins Krankenhaus, in den Operationssaal gebracht ist, wird es zu spät sein. Selbst mit heulenden Sirenen keine leichte Aufgabe, zur ungünstigsten Morgenstunde das Krankenhaus zu erreichen, wenn der Verkehr so dicht ist, dass der Fahrer eines Krankenwagens nur seine Machtlosigkeit beklagen kann.

Zwei Jahre früher hätte er vielleicht eine kleine Chance gehabt davonzukommen. Seit sie im Interesse der Immobilienhaie das Saint Vincent’s Hospital geschlossen haben, befindet sich die nächste Notaufnahme im Osten, auf der anderen Seite von Manhattan. Die Blutung wird zu stark sein, und bis sie am Krankenhaus angekommen sind, wird er bereits verblutet sein.

Leiden wird er nicht, zumindest nicht sehr. Ihm wird nur kalt sein und immer kälter werden. Er wird vor Kälte schlottern, wird allmählich seine Extremitäten nicht mehr spüren und mit den Zähnen klappern, sodass er nicht mehr sprechen kann. Was sollte er auch sagen? Dass er einen heftigen Stich im Rücken gespürt hat? Ja und? Welchen Schluss könnte die Polizei schon daraus ziehen?

Es gibt perfekte Verbrechen, die besten Polizisten werden Ihnen am Ende ihrer Laufbahn anvertrauen, dass das Paket der ungelösten Fälle schwer auf ihrem Gewissen lastet.

Nun ist er auf der richtigen Höhe angelangt. Der Stich wurde mehrfach an einem Sandsack geübt, der Eindruck ist jedoch ein anderer, wenn die Klinge in menschliches Fleisch dringt. Wichtig ist, nicht auf einen Knochen zu treffen. Gegen einen Lendenwirbel zu stoßen, würde Scheitern bedeuten. Die Klinge muss eindringen und dann sofort wieder im Ärmel verschwinden.

Anschließend im selben Tempo weiterlaufen, der Lust widerstehen, sich umzudrehen, anonym bleiben unter den Joggern, unsichtbar.

So viele Stunden der Vorbereitung für diese wenigen Sekunden des Handelns.

Er wird länger brauchen zum Sterben, wahrscheinlich eine Viertelstunde, aber an diesem Morgen gegen 7.30 Uhr wird er tot sein.

Kapitel 2

Mai 2011

Andrew Stilman ist Journalist der New York Times. Mit dreiundzwanzig Jahren als freier Reporter eingetreten, ist er die Karriereleiter schnell hinaufgeklettert. Einen Presseausweis von einer der angesehensten Tageszeitungen der Welt zu bekommen, war sein Jugendtraum gewesen. Jeden Morgen, bevor er durch die Doppeltüren der Hausnummer 860, 8th Avenue tritt, gönnt sich Andrew die kleine Freude, den Kopf zu heben. Er wirft einen Blick auf die Aufschrift an der Fassade und sagt sich, dass hier sein Büro ist, in diesem allerheiligsten Pressetempel, in den Tausende Schreiberlinge wenigstens einmal gern den Fuß setzen würden, um die Örtlichkeiten zu besichtigen.

Vier Jahre hatte Andrew im Archiv verbracht, bevor er den Posten des Redaktionsassistenten für die Nachrufe in der Rubrik »Familienanzeigen« ergatterte. Seine Vorgängerin war beim Verlassen ihres Arbeitsplatzes unter die Räder eines Busses geraten und fand sich in der Rubrik wieder, die sie zuvor betreut hatte. Sie hatte es zu eilig gehabt, nach Hause zu kommen, um einen UPS-Zusteller zu empfangen, der ihr edle, übers Internet bestellte Dessous liefern sollte. Wie das Leben so spielt!

Es folgten für Andrew Stilman fünf weitere Jahre emsiger Arbeit in größter Anonymität. Nachrufe werden nie namentlich gekennzeichnet, denn dies ist allein der Ehrentag des Verstorbenen. Fünf Jahre, um über Menschen zu schreiben, die nur noch gute oder schlechte Erinnerung sind. Tausendachthundertfünfundzwanzig Tage und kaum weniger als sechstausend Martini Dry, Abend für Abend zwischen halb acht und Viertel nach acht an der Bar des Marriott in der 40th Street.

Drei Oliven pro Glas, und mit jedem Kern, den Andrew in ein Schälchen spuckte, vertrieb er aus seinem Gedächtnis die Chronik eines ausgelöschten Lebens, dessen Ablauf er am selben Tag kurz und prägnant verfasst hatte. Diese Nähe zu den Toten hatte Andrew vielleicht dazu getrieben, etwas zu tief ins Glas zu schauen. In seinem vierten Jahr in der »Nekro« hatte der Barkeeper des Marriott sechsmal tätig werden müssen, um den Durst seines Gastes zu löschen. Häufig kam Andrew mit aschfahlem Gesicht, schweren Augenlidern, offenem Hemdkragen und zerknittertem Sakko ins Büro. Allerdings waren auch Anzug mit Krawatte und gestärktes Hemd im Großraumbüro der Zeitung nicht vorgeschrieben, und noch weniger dort, wo er arbeitete.

Ob es an seinem eleganten und präzisen Schreibstil lag oder eine Folge des besonders heißen Sommers war, die Rubrik, für die er zuständig war, erstreckte sich bald über zwei volle Seiten. Bei der Erstellung der vierteljährlichen Bilanz bemerkte ein statistikverliebter Analytiker der Finanzabteilung, dass die Rechnungsbeträge pro Verstorbenem steil in die Höhe schnellten. Die trauernden Familien gönnten sich mehr Zeilen, um zu bezeugen, wie groß ihr Schmerz war. Gute Zahlen machen in einer großen Firma rasch die Runde. In der Vorstandssitzung, die zu Herbstbeginn tagte, waren diese guten Ergebnisse Thema, und es wurde beschlossen, den fortan hoch angesehenen Autor entsprechend zu befördern. Andrew Stilman wurde zum Redakteur ernannt – weiter im Bereich »Familienanzeigen«, jetzt allerdings in der Sparte »Hochzeiten«, deren Ergebnisse miserabel waren.

Da es Andrew nie an Ideen fehlte, gab er für einige Zeit die Bar auf, in der er Stammgast war, um besonders schicke Lokale aufzusuchen, die von den verschiedenen Zirkeln Homosexueller der Stadt frequentiert wurden. Zwischen den Dry Martinis, die er schon gar nicht mehr zählte, knüpfte er einen Kontakt nach dem anderen, verteilte dabei seine Visitenkarten und erklärte, die Rubrik, für die er verantwortlich sei, stehe der Veröffentlichung jeglicher Verbindung positiv gegenüber – auch solchen, die andere Zeitungen strikt ablehnten. Die homosexuelle Ehe war im Staat New York noch nicht erlaubt – ja weit davon entfernt –, doch die Presse war berechtigt, jede Art von Gelöbnis, das im privaten Rahmen abgelegt wurde, zu veröffentlichen. Letztendlich zählt nur die Absicht.

Schon nach drei Monaten erstreckten sich die »Familienanzeigen« in der Sonntagsausgabe über vier Seiten, und Andrew Stilmans Gehalt erfuhr eine deutliche Erhöhung.

Er beschloss, seinen Alkoholkonsum zu reduzieren, freilich nicht um seine Leber zu schonen, sondern weil er sich einen Datsun 240Z gekauft hatte, ein Modell, von dem er seit seiner frühesten Jugend träumte. Die Polizei war beim Thema Alkohol am Steuer gnadenlos unnachgiebig geworden. Trinken oder fahren … Andrew, vernarrt in einen Wagen, der in der Oldtimer-Werkstatt seines besten Freundes auf Vordermann gebracht worden war, hatte seine Wahl getroffen, wenn er auch erneut die Bar des Marriott aufsuchte, jedoch nie mehr als zwei Gläser pro Abend trank, außer donnerstags.

Und genau an einem Donnerstag einige Jahre später stieß Andrew beim Verlassen der Bar auf Valery Ramsay. Sie war genauso beschwipst wie er und wurde Opfer eines unkontrollierbaren Lachanfalls, nachdem sie über einen Zeitungsständer gestolpert und mit dem Hinterteil mitten auf dem Bürgersteig gelandet war.

Andrew hatte Valery nicht an ihren Gesichtszügen wiedererkannt – sie hatte nicht die geringste Ähnlichkeit mit derjenigen, die er zwanzig Jahre zuvor gekannt hatte –, sondern einzig und allein an ihrem Lachen. Ein unvergleichliches Lachen, das ihre Brust zum Beben brachte. Und die Brüste von Valery Ramsay hatten die Jugend von Andrew beherrscht.

Sie hatten sich in der Schule kennengelernt. Valery, die nach einer Prügelei in der Mädchenumkleide aus dem Team der Cheerleaders geflogen war – diese Majorette-Tänzerinnen, ausstaffiert mit sexy Uniformen in den Farben der lokalen Fußballmannschaft –, war daraufhin dem Chor beigetreten. Andrew, der an einem Gelenkknorpelschwund in den Knien litt, den er erst Jahre später, nachdem er sich in ein tanzbegeistertes Mädchen verliebt hatte, beheben ließ, wurde von allen sportlichen Aktivitäten freigestellt. Und weil er nichts anderes machen konnte, sang er in demselben Chor.

Bis zum Abitur hatte er mit ihr geflirtet. Kein Sex im eigentlichen Sinne, aber genügend Erkundungsreisen von Händen und Zunge, um sich auf den Schulbänken der Lust zu amüsieren und ausgiebig Valerys üppige Formen zu genießen.

Immerhin hatte er seinen allerersten Orgasmus – von nicht eigener Hand – ihr zu verdanken. Als die beiden Turteltauben während eines abendlichen Fußballmatches auf den verlassenen Bänken der Umkleide mehr gegurrt hatten als gewöhnlich, hatte sich Valery schließlich bereitgefunden, ihre Hand in Andrews Jeans zu schieben. Fünfzehn Sekunden des Taumels, gefolgt von Valerys Lachen, das ihre Brust zum Beben gebracht und das flüchtige Pläsier ein wenig verlängert hatte. Das erste Mal vergisst man nie.

»Valery?«, hatte Stilman gestammelt.

»Ben?«, hatte die ebenso überraschte Valery erwidert.

In der Schule hatten ihn alle Ben genannt, warum, daran konnte sich niemand mehr erinnern. Es war ja auch schon zwanzig Jahre her.

Um ihren kläglichen Zustand zu rechtfertigen, hatte Valery vorgegeben, sie käme von einem Mädchenabend, wie sie ihn seit der Unizeit nicht mehr erlebt hätte. Andrew, dem es kaum besser erging, berief sich auf eine Beförderung, ohne zu präzisieren, dass diese schon zwei Jahre zurücklag. Aber bedarf es strenger Regeln, um gute Nachrichten zu feiern?

»Was machst du in New York?«, erkundigte sich Andrew.

»Ich lebe hier«, erwiderte Valery, während Andrew ihr auf die Beine half.

»Schon lange?«

»Eine Weile, aber frag mich nicht, wie lange. Ich bin gerade nicht in der Lage, exakte Zeitangaben zu machen. Was ist aus dir geworden?«

»Genau das, was ich wollte. Und du?«

»Zwanzig Lebensjahre, das ist eine lange Geschichte, weißt du?«, meinte Valery und klopfte den Staub von ihrem Rock.

»Neun Zeilen …«, Andrew seufzte.

»Neun Zeilen was?«

»Wenn du mir zwanzig Lebensjahre anvertraust, fasse ich sie dir in neun Zeilen zusammen.«

»So ein Quatsch!«

»Sollen wir wetten?«

»Um was?«

»Ein Abendessen.«

»Weißt du, es gibt jemanden in meinem Leben«, schränkte Valery ein.

»Ich habe dir keine Nacht im Hotel vorgeschlagen. Sondern ein Dinner mit Soup Dumplings im Joe’s Shanghai … Bist du immer noch so scharf auf Dumplings?«

»Noch immer.«

»Du brauchst deinem Liebsten nur zu sagen, ich sei eine alte Freundin.«

»Aber du musst es erst schaffen, meine letzten zwanzig Jahre in neun Zeilen zusammenzufassen.« Valery musterte Andrew mit einem verschmitzten Lächeln, so wie damals, als er noch Ben hieß und ihr vorgeschlagen hatte, sich im Schuppen hinter dem Wissenschaftsgebäude mit ihr zu treffen. Ein verschmitztes Lächeln, das nicht gealtert war. »Einverstanden«, sagte sie dann, »ein letztes Glas, und ich erzähle dir mein Leben.«

»Nicht in der Bar, dort ist es zu laut.«

»Ben, wenn du vorhast, mich zu dir nach Hause abzuschleppen, dann musst du mich mit einem anderen Mädchen verwechseln.«

»Liebe Valery, der Gedanke liegt mir so fern wie nur was. Ich meine nur, angesichts unserer beider Gemütszustand empfiehlt es sich, dass wir nichts Flüssiges, sondern eher etwas Handfestes zu uns nehmen. Sonst, fürchte ich, wird nichts aus unserer Wette.«

Andrew hatte nicht unrecht. Obwohl ihre Pumps, seit er ihr aufgeholfen hatte, fest auf dem schmutzigen Bürgersteig der 40th Street standen, kam es Valery so vor, als befände sie sich auf einer schwankenden Schiffsbrücke. Die Vorstellung, etwas in den Magen zu bekommen, sagte ihr durchaus zu. Andrew winkte ein Taxi herbei und nannte dem Fahrer die Adresse eines Nachtlokals in SoHo, das er nicht selten aufsuchte. Eine Viertelstunde später nahmen sie einander gegenüber Platz.

Valery hatte ein Stipendium der Universität Indianapolis erhalten. Von allen Fakultäten, an denen sie sich beworben hatte, war dies die erste, die ihre Bewerbung angenommen hatte. Der Mittlere Westen hatte nie zu ihren Jungmädchenträumen gehört, doch sie konnte sich nicht den Luxus erlauben, auf ein erleseneres Angebot zu warten. Ohne diese finanzielle Unterstützung für ihr Studium hätte sich ihre Zukunft auf eine Stelle als Kellnerin in einer Bar von Poughkeepsie beschränkt, diesem Kaff im Norden des Staates New York, in dem die beiden aufgewachsen waren.

Acht Jahre später hatte Valery, ihren Abschluss als Tierärztin in der Tasche, Indiana verlassen, um sich, wie viele ehrgeizige junge Frauen, in Manhattan niederzulassen.

»Du hast ein ganzes Veterinärstudium in Indiana durchgezogen, um hier in New York zu landen?«

»Und warum nicht?«, erwiderte Valery.

»War es dein Traum, den Hintern von Pudeln zu untersuchen?«

»Du bist einfach zu blöd, Andrew!«

»Ich wollte nicht verletzend sein, aber du musst zugeben, dass Manhattan in Sachen Tierwelt nicht eben besonders exotisch ist. Sehen wir mal von den Schoßhündchen der Upper East Side ab – worin besteht deine Klientel?«

»Du wirst dich wundern, aber in einer Stadt mit zwei Millionen Singles spielt ein Haustier eine ungeheuer wichtige Rolle.«

»Ich verstehe, du behandelst auch Hamster, Kater und Goldfische.«

»Ich bin offizielle Veterinärmedizinerin der berittenen Polizei. Ich kümmere mich um ihre Pferde und auch um die Tiere der Hundestaffel, in der es keinen einzigen Pudel gibt. Nur Labradore zum Auffinden von Leichen, ein paar Schäferhunde kurz vor der Pension, Retriever als Drogen- und Beagles als Sprengstoffspürhunde.«

Andrew zog die Brauen eine nach der anderen hoch. Diesen Trick, der den Gesprächspartner zumeist verunsicherte, hatte er im Studium erlernt. Wenn er jemanden interviewte und am Wahrheitsgehalt seiner Aussage zweifelte, begann er seinen Brauen-Tanz und schätzte an der Reaktion seines »Klienten« ab, ob dieser aufrichtig war oder log. Valerys Gesichtsausdruck aber blieb unverändert.

»Ich muss zugeben«, meinte er erstaunt, »damit habe ich nun wirklich nicht gerechnet. Aber bist du jetzt bei der Polizei oder nur Tierärztin? Ich meine, hast du einen Dienstausweis, und trägst du eine Waffe?«

Valery musterte ihn und brach in Lachen aus.

»Du bist wirklich sehr viel reifer geworden, seitdem ich dich das letzte Mal gesehen habe, mein lieber Ben.«

»Machst du dich über mich lustig?«

»Nein, aber eben hast du mich angesehen wie damals als Pennäler.«

»Es wundert mich nicht, dass du Tierärztin geworden bist«, erklärte Andrew. »Du hast immer schon Tiere geliebt. Du hast mich eines Abends zu Hause angerufen und mich angefleht, heimlich zu dir zu kommen, und zwar auf der Stelle. Ich glaubte an ein plötzliches Verlangen deinerseits, aber Fehlanzeige. Du hast mir mehr oder weniger befohlen, einen alten stinkenden Hund mit gebrochener Pfote zu tragen, den du auf dem Heimweg von der Schule am Straßenrand gefunden hattest. Wir mussten den Tierarzt mitten in der Nacht aufwecken.«

»Daran erinnerst du dich noch, Andrew Stilman?«

»Ich erinnere mich an all unsere Geschichten, Valery Ramsay. Und jetzt erzählst du mir ein bisschen mehr, was seit dem Nachmittag, an dem ich vergebens vor dem Kino von Poughkeepsie auf dich gewartet habe, und diesem Abend, an dem du wieder aufgetaucht bist, passiert ist.«

»Ich hatte in der Morgenpost den Bescheid für die Zulassung an der Uni von Indianapolis gefunden und konnte keinen Tag länger warten. Ich habe meine Koffer gepackt, und dank der Ersparnisse durch alle möglichen Jobs wie Babysitting bin ich noch am selben Abend von zu Hause und von Poughkeepsie aufgebrochen. Überglücklich, nicht länger die Streitigkeiten meiner Eltern ertragen zu müssen, die es nicht einmal für nötig befanden, mich zum Busbahnhof zu begleiten – das musst du dir mal vorstellen. Und da du nur neun Zeilen für deine alte Freundin hast, erspare ich dir die Einzelheiten meines Unistudiums. Als ich nach New York kam, übernahm ich kleinere Jobs in verschiedenen Tierarztpraxen. Eines Tages habe ich auf eine Annonce der Polizei geantwortet und einen Stellvertreterposten ergattert. Seit zwei Jahren bin ich verbeamtet.«

Andrew bestellte bei der Kellnerin, die gerade vorbeikam, zwei Kaffee.

»Mir gefällt die Vorstellung, dass du Tierärztin bei der Polizei bist. Ich habe mehr Nachrufe und Heiratsanzeigen verfasst, als du dir vorstellen kannst, aber mit diesem Beruf hatte ich noch nie was zu tun. Ich wusste nicht einmal, dass er existiert.«

»Natürlich gibt es ihn.«

»Ich war ganz schön sauer, weißt du?«

»Sauer weshalb?«

»Weil du verschwunden bist, ohne dich von mir zu verabschieden.«

»Du warst der einzige Mensch, dem ich anvertraut habe, dass ich gehen würde, sobald sich eine Möglichkeit bietet. Und zwar auf der Stelle.«

»Ich hatte das nicht für eine Vorankündigung gehalten. Aber jetzt, wo du’s sagst, ergibt es einen Sinn.«

»Und du bist mir immer noch böse?«, fragte Valery leicht spöttisch.

»Das müsste ich eigentlich, aber ich glaube, das Vergehen ist schon verjährt.«

»Und du bist wirklich Journalist geworden?«

»Woher weißt du das?«

»Ich habe dich vorhin gefragt, was du so im Leben machst, und du hast geantwortet: ›Genau das, was ich wollte.‹ … Und du wolltest ja immer schon Journalist werden.«

»Daran erinnerst du dich, Valery Ramsay?«

»Ich erinnere mich an alles, Andrew Stilman.«

»Und es gibt also jemanden in deinem Leben?«

»Es ist spät …« Valery seufzte. »Ich muss nach Hause. Und wenn ich dir zu viel erzähle, kannst du niemals alles in neun Zeilen zusammenfassen.«

Andrew lächelte verschmitzt.

»Du bist also einverstanden, was dieses Dinner bei Joe’s Shanghai betrifft?«

»Vorausgesetzt, du gewinnst deine Wette. Ich bin eine Frau, die Wort hält.«

Sie liefen schweigend durch die verlassenen Straßen von SoHo bis zur 6th Avenue. Andrew nahm Valery beim Arm, um ihr beim Überqueren des holprigen Pflasters in diesem alten Stadtviertel zu helfen.

Er hielt ein vorbeifahrendes Taxi an und ließ Valery auf der Rückbank Platz nehmen.

»Es war eine schöne Überraschung, dich wiederzusehen, Valery Ramsay.«

»Für mich auch, Ben.«

»Wohin kann ich meine Prosa in neun Zeilen schicken?«

Valery kramte in ihrer Handtasche, zog ihren Eyeliner hervor und bat Andrew, ihr seine Hand zu reichen, auf die sie dann ihre Telefonnummer schrieb.

»Die neun Zeilen kannst du mir auch als SMS schicken. Gute Nacht, Ben.«

Andrew sah dem Taxi nach, das die Straße Richtung Norden fuhr. Als es aus seinem Blickfeld verschwunden war, machte er sich zu Fuß auf den Weg zu seiner Wohnung, die nur fünfzehn Minuten entfernt lag. Er hatte ein starkes Bedürfnis nach frischer Luft. Obwohl er sich die Nummer, die mit Kajal auf die Innenseite seiner Hand geschrieben war, gemerkt hatte, gab Andrew Acht, sie auf dem ganzen Heimweg nicht zu schließen.

Kapitel 3

Es war lange her, seit Andrew das letzte Mal ein Leben in wenigen Zeilen zusammengefasst hatte. Er arbeitete jetzt seit zwei Jahren in der Abteilung »Internationale Nachrichten« und war unglaublich neugierig auf das Leben, auf die Ordnung der Welt und auf alles, was das Ausland betraf.

Heute, da der Computerbildschirm an die Stelle der Linotype-Setzmaschine getreten war, hatte jeder in der Redaktion Einblick in die Artikel, die am nächsten Tag erscheinen würden. Wiederholt waren Andrew bei den ausländischen Nachrichten falsche Analysen oder regelrechte Unwahrheiten aufgefallen. Seine Kommentare bei der wöchentlich abgehaltenen Redaktionskonferenz hatten mehrfach missbilligende Leserbriefe vermeiden können. Seine Kompetenz blieb nicht lange unbemerkt, und die Wahl zwischen einer Jahresprämie oder einem neuen Posten fiel Andrew nicht schwer.

Die Vorstellung, wieder eine »Lebenschronik« zu verfassen, wie er seine alten Artikel gern nannte, war ein enormer Ansporn für ihn. Er verspürte sogar einen Hauch von Nostalgie, als er mit der von Valery begann.

Zwei Stunden und achteinhalb Zeilen später tippte er seine Prosa in sein Handy und schickte sie an die Adressatin.

Er verbrachte den Rest des Tages mit dem vergeblichen Versuch, einen Artikel über die Eventualität eines Aufstands des syrischen Volkes zu schreiben. Eine Eventualität, die seine Kollegen für mehr als unwahrscheinlich, um nicht zu sagen für unmöglich hielten.

Er konnte sich einfach nicht konzentrieren, sein Blick schweifte vom Bildschirm seines Computers zu seinem Handy, das hoffnungslos stumm blieb. Als das Display so gegen 17 Uhr aufleuchtete, stürzte er sich auf den Apparat. Fehlanzeige, die Wäscherei teilte ihm mit, dass er seine Hemden abholen konnte.

Erst am folgenden Tag gegen Mittag erhielt er folgende SMS: »Nächsten Donnerstag 19.30 Uhr. Valery.«

Er antwortete umgehend: »Hast du die Adresse?«

Er bedauerte, so rasch reagiert zu haben, als er wenige Sekunden später ein lakonisches »Ja« auf dem Display las.

Andrew nahm seine Arbeit wieder auf und blieb sieben Tage lang nüchtern. Kein Tropfen Alkohol, das heißt, wenn man, wie er, der Meinung war, dass Bier ein zu wenig alkoholisiertes Getränk war, um als solcher betrachtet zu werden.

Am Mittwoch suchte er seine Reinigung auf, um den Anzug abzuholen, den er am Vortag dort abgegeben hatte, und kaufte sich ein weißes Hemd. Er nutzte die Gelegenheit, um sich Nacken und Gesicht bei einem Barbier rasieren zu lassen. Und, wie jeden Mittwochabend, traf er sich um 21 Uhr mit seinem besten Freund Simon in einem kleinen Lokal, das nach nichts aussah, wo man aber den besten Fisch vom ganzen West Village serviert bekam. Andrew wohnte gleich um die Ecke, und Mary’s Fish diente ihm gleichsam als Kantine, wenn er spät aus der Redaktion kam, was häufig der Fall war. Während Simon, wie bei jedem ihrer abendlichen Treffen, gegen die Republikaner wetterte, die den Präsidenten daran hinderten, die Reformen umzusetzen, deretwegen man ihn gewählt hatte, sah Andrew gedankenverloren den Passanten nach, die durch die Straßen seines Viertels flanierten.

»Und das ist zugegebenermaßen eine wirkliche Überraschung, aber ich weiß aus sicherer Quelle, dass Barack Obama regelrecht verrückt nach Angela Merkel ist.«

»Sie ist ja auch ziemlich hübsch«, erwiderte Andrew zerstreut.

»Entweder arbeitest du gerade an einem richtigen Knüller, und ich verzeihe dir, oder du hast jemanden kennengelernt, und dann möchte ich auf der Stelle eingeweiht werden!«, polterte Simon.

»Weder das eine noch das andere«, erwiderte Andrew. »Tut mir leid, bin einfach nur müde.«

»Mir kannst du nichts vormachen! Ich habe dich nicht so sorgfältig rasiert gesehen, seit du diese Brünette an Land gezogen hattest, die einen Kopf größer war als du. Sally, wenn ich mich recht erinnere.«

»Sophie, aber das macht nichts, sondern zeigt nur, wie aufmerksam du mir zuhörst. Wie könnte ich dir auch böse sein, ihren Namen vergessen zu haben, wo ich doch nur anderthalb Jahre mit ihr zusammen war!«

»Sie war sterbenslangweilig, und ich habe sie nicht ein einziges Mal lachen hören«, konterte Simon.

»Vielleicht weil sie über deine ach so witzigen Bemerkungen nicht lachen konnte. Jetzt iss deinen Teller leer. Ich möchte schlafen gehen«, sagte Andrew und seufzte.

»Wenn du mir nicht sagst, was dich beunruhigt, bestelle ich ein Dessert nach dem anderen, bis ich tot umfalle.«

Andrew sah seinem Freund jetzt fest in die Augen. »Gibt es ein Mädchen, das deine Kindheit und Jugend geprägt hat?«, fragte er und winkte die Bedienung herbei, um sich die Rechnung bringen zu lassen.

»Ich wusste, es war nicht die Arbeit, die dich in diesen Zustand versetzt.«

»Das glaub mal ja nicht – ich arbeite gerade an einem empörenden Thema, bei dem es einem den Magen umdreht.«

»Und worum geht es da?«

»Berufsgeheimnis!«

Simon beglich die Rechnung und erhob sich. »Komm«, sagte er, »lass uns ein Stück zusammen gehen, ich muss frische Luft schnappen.«

Andrew holte seinen Regenmantel aus der Garderobe und gesellte sich zu seinem Freund, der bereits auf dem Bürgersteig wartete.

»Kathy Steinbeck«, murmelte Simon.

»Kathy Steinbeck?«

»Das Mädchen, das meine Kindheit und Jugend geprägt hat. Du hast mir vor ein paar Minuten die Frage gestellt, hast du es schon vergessen?«

»Du hast mir nie von ihr erzählt.«

»Du hast mich nie darauf angesprochen«, erwiderte Simon.

»Valery Ramsay«, verkündete Andrew.

»Und es interessiert dich nicht die Bohne, inwiefern Kathy Steinbeck mein Leben als junger Mann beeinflusst hat. Du hast mich nur gefragt, um mir von Valery zu erzählen.«

Andrew nahm Simon bei der Schulter und zog ihn ein Stück weiter. Mehrere Stufen führten hinab in das Untergeschoss eines kleinen Ziegelgebäudes. Er öffnete die Tür des Fedora, einer Bar, in der einst Count Basie, Nat King Cole, John Coltrane, Miles Davis, Billie Holiday oder Sarah Vaughan als junge Künstler aufgetreten waren.

»Findest du mich zu egozentrisch?«, erkundigte sich Andrew.

Simon antwortete nicht.

»Du musst recht haben. Nachdem ich so viele Jahre unbekannte Leben zusammengefasst habe, dachte ich schließlich, der einzige Tag, an dem man sich für mich interessieren würde, sei derjenige, an dem ich selbst in diesen verdammten Todesanzeigen erscheine.«

Indem er sein Glas hob, verkündete Andrew mit lauter Stimme: »Andrew Stilman, geboren 1975, arbeitete einen Großteil seines Lebens in der Redaktion der berühmten New York Times … Siehst du, Simon, das ist der Grund, weshalb Ärzte sich nicht selbst heilen können, die Hand zittert, wenn man sich selbst operieren muss. Es ist trotzdem das Einmaleins des Berufs: Würdigung wird nur den Verstorbenen zuteil. Noch mal von vorn … geboren 1975, hat Andrew Stilman viele Jahre in der Redaktion der New York Times gearbeitet. Sein rasanter Aufstieg führte ihn Anfang 2020 auf den Posten des Chefredakteurs. Dank seines Engagements verbuchte das Blatt einen neuen Aufschwung und wurde wieder zu einer der meist beachteten Zeitungen der Welt … Ich übertreibe vielleicht ein wenig, oder?«

»Du wirst doch deinen Nachruf nicht noch mal ganz von vorn anfangen!«

»Geduld, mein Bester, lass mich die Sache abschließen. Ich mache deinen dann auch. Du wirst sehen, das wird spaßig.«

»In welchem Alter gedenkst du zu sterben, damit ich weiß, wie lang dieser Albtraum noch andauert?«

»Schwer zu sagen bei den Fortschritten der Medizin … Wo war ich stehen geblieben? Ach ja, dank seines Engagements kehrte die Zeitung zu ihrem ursprünglichen Glanz zurück. 2021 erhält Andrew Stilman den Pulitzerpreis für seine vorausschauenden Artikel zu dem Thema … gut, das weiß ich jetzt nicht, aber das werde ich dir später genauer erläutern. Ein Thema, das übrigens Stoff für sein erstes, ebenfalls hochgelobtes, Buch liefert und heute in allen großen Universitäten diskutiert wird.«

»Abhandlung über die Bescheidenheit des Journalisten, lautet der Titel dieses Meisterwerks«, spottete Simon. »Und wie alt warst du, als du den Nobelpreis gewonnen hast?«

»Zweiundsiebzig Jahre, ich komme noch darauf zurück … Nachdem er seinen Posten nach einer bemerkenswerten Karriere im Alter von zweiundsiebzig geräumt hat, wurde ein Jahr später …«

»… Haftbefehl gegen ihn erlassen wegen vorsätzlicher Tötung, denn er hat seinen treusten Freund an Langeweile sterben lassen.«

»Du bist nicht sehr mitfühlend.«

»Und an was sollte ich, bitte schön, Anteil nehmen?«

»Ich durchlebe schwere Zeiten, mein lieber Simon; die Einsamkeit macht mir zu schaffen, was nicht normal ist, denn ich genieße das Leben niemals mehr, als wenn ich Junggeselle bin.«

»Du gehst auf die vierzig zu!«

»Tausend Dank, aber es bleiben mir noch ein paar Jahre, bis es so weit ist. Die Stimmung in der Zeitung ist nicht gut«, fuhr Andrew fort, »das Damoklesschwert schwebt über uns. Ich brauchte nur ein wenig Balsam für die Seele … Wer war deine Kathy Steinbeck?«

»Meine Philosophielehrerin.«

»Ach, ich hätte nicht gedacht, dass das Mädchen, das deine Jugend bestimmt hat … gar kein Mädchen mehr war.«

»Das Leben ist ungerecht: Mit zwanzig haben mich Frauen, die fünfzehn Jahre älter waren, zum Träumen gebracht, mit siebenunddreißig verdrehen mir fünfzehn Jahre jüngere den Kopf.«

»In deinem Kopf ist ’ne Schraube locker, mein Lieber.«

»Kannst du mir ein bisschen mehr über deine Valery Ramsay erzählen?«

»Ich bin ihr letzte Woche, als ich aus der Bar des Marriott kam, über den Weg gelaufen.«

»Ich verstehe.«

»Nein, du verstehst gar nichts. Ich war in der Highschool verrückt nach ihr. Als sie sich aus meinem Kaff davongestohlen hat wie ein Dieb, brauchte ich Jahre, um sie zu vergessen. Ehrlich gesagt, frage ich mich, ob ich sie jemals wirklich vergessen habe.«

»Und, große Enttäuschung, als du sie wiedergesehen hast?«

»Ganz im Gegenteil, sie hat sich irgendwie verändert, was sie heute noch verführerischer macht.«

»Sie ist zur Frau gereift, das erkläre ich dir eines Tages! Bist du gerade dabei, mir zu sagen, dass du dich erneut verliebt hast? Andrew Stilman, mitten auf der 40th Street von Amors Pfeil getroffen – was für eine Schlagzeile!«

»Ich wollte nur sagen, dass ich verwirrt bin und dass mir so was schon ewig nicht mehr passiert ist.«

»Weißt du, wie du sie erreichen kannst?«

»Wir sind morgen Abend zum Essen verabredet, und ich habe dasselbe Lampenfieber wie als Pennäler.«

»Ganz im Vertrauen, ich glaube, dieses Lampenfieber verlässt uns nie. Zehn Jahre nach dem Tod von Mom hat mein Vater in einem Supermarkt eine Frau kennengelernt. Er war damals achtundsechzig, und am Vorabend seines ersten Dinners mit ihr musste ich ihn in die Stadt fahren. Er wollte sich unbedingt einen neuen Anzug kaufen. In der Anprobekabine hat er mir vorgetragen, was er ihr bei Tisch sagen wollte, und hat mich um meine Meinung gefragt. Es war erbärmlich. Ein Beispiel dafür, dass wir, egal wie alt wir sind, vor einer Frau, die uns beeindruckt, aus der Fassung geraten.«

»Vielen Dank, jetzt bin ich beruhigt, was den morgigen Abend betrifft.«

»Ich sage dir das nur, um dich vorzuwarnen, dass du einen Bock nach dem anderen schießen und den Eindruck haben wirst, völlig uninteressantes Zeug zu reden, was sicher auch der Fall sein wird. Und wenn du nach Hause kommst, wirst du dich verfluchen, den ganzen Abend ein erbärmliches Bild abgegeben zu haben.«

»Nur weiter so, Simon! Es tut wirklich gut, wahre Freunde zu haben.«

»Hör auf zu meckern. Ich will dir bloß helfen, nicht nur an diese Sache zu denken. Und morgen Abend genießt du einfach diesen Augenblick, den du dir nicht mal erhofft hattest. Sei du selbst, und entweder du gefällst ihr, oder du gefällst ihr nicht.«

»Dominiert uns das weibliche Geschlecht tatsächlich so sehr?«

»Du brauchst dich nur umzusehen hier in dieser Bar. Gut, ich erzähl dir ein andermal von meiner Philosophielehrerin. Wir treffen uns Freitag zum Mittagessen. Dann möchte ich einen detaillierten Bericht über dieses große Wiedersehen. Vielleicht nicht ganz so detailliert wie dein Nachruf, wenn ich es mir genau überlege.«

Nächtliche Kälte schlug den beiden entgegen, als sie das Fedora verließen. Simon sprang in ein Taxi und ließ Andrew zu Fuß nach Hause gehen.

Am Freitag vertraute Andrew seinem Freund Simon an, dass sein Abend so verlaufen sei, wie er vorhergesagt habe, vielleicht sogar noch schlimmer. Er schloss daraus, dass er sich wohl erneut in Valery Ramsay verliebt hätte, was ihm gar nicht zupasskäme, denn sie hätte mehrmals wiederholt – ohne ins Detail zu gehen –, in ihrem Leben gäbe es einen Mann. Sie rief ihn weder am nächsten Tag noch in der folgenden Woche an. Und Andrew verfiel in unendlichen Trübsinn. Er verbrachte den Samstag in der Redaktion und traf Simon am Sonntag auf dem Basketball-Feld, wo statt Wortwechsel Passwechsel stattfanden.

Sein Sonntagabend war so trist, wie nur ein Sonntagabend sein konnte. Ein chinesisches Essen, von einem Partyservice per Telefon bestellt, die Wiederholung eines Fernsehfilms, von dem er immer wieder umschaltete zu einem Hockeyspiel und der x-ten Serie, in der die Kriminaltechniker die gemeinsten Verbrechen aufdeckten. Ein trostloser Abend, bis gegen 21 Uhr das Display seines Handys aufleuchtete. Es war keine Nachricht von Simon, sondern von Valery, die ihn so bald wie möglich sehen wollte, sie müsse mit ihm sprechen.

Andrew antwortete umgehend, dass er hocherfreut sei, und fragte, wann sie ihn zu sehen wünsche.

»Jetzt.«

Die nächste SMS gab ihm den Treffpunkt Ecke 9th Street und Avenue A gegenüber dem Tompkins Square im East Village an.

Andrew warf einen Blick in den Wohnzimmerspiegel. Wie lange würde er brauchen, um halbwegs präsentabel zu sein? Die Shorts und das alte Polohemd, das er seit der Basketball-Partie nicht abgelegt hatte, waren nicht eben geeignet, und eine ausgiebige Dusche würde auch nicht schaden. Doch er hatte in Valerys SMS etwas Dringliches ausgemacht, das ihn beunruhigte. Er schlüpfte in eine Jeans, ein sauberes Hemd, nahm seinen Schlüssel aus der Schale im Eingang und eilte die drei Etagen hinab zur Haustür.

Das Viertel war wie ausgestorben, keine Menschenseele zu sehen und noch weniger irgendwo ein Taxi. Er rannte bis zur 7th Avenue, entdeckte eines an der Ecke Charles Street vor einer roten Ampel und erreichte es, kurz bevor es losfuhr. Er versprach dem Fahrer ein üppiges Trinkgeld, wenn er ihn in weniger als zehn Minuten an sein Ziel bringen würde.

Andrew, der auf der Rückbank hin und her rutschte, bereute sein Versprechen bald, doch er erreichte sein Ziel früher als angenommen, und der Chauffeur erhielt dafür eine nicht unerhebliche Summe.

Valery erwartete ihn vor der Tür eines geschlossenen Cafés, dem Pick Me Up, was ihn für einen kurzen Augenblick zu einem Lächeln verleitete. Ein kurzer Augenblick nur, denn Valery war völlig aufgelöst.

Er trat näher, und Valery verpasste ihm eine gewaltige Ohrfeige.

»Du hast mich die halbe Stadt durchqueren lassen, um mich zu ohrfeigen?«, fragte er und rieb sich die Wange. »Was hab ich getan, um solche Aufmerksamkeit zu verdienen?«

»Mein Leben war fast perfekt, bis ich dir am Ausgang dieser verdammten Bar begegnet bin. Jetzt weiß ich überhaupt nicht mehr, woran ich bin.«

Andrew spürte eine sonderbare Hitzewelle in sich aufsteigen und sagte sich, dass er soeben die herrlichste Ohrfeige seines Lebens bekommen hätte.

»Ich erwidere deine Geste nicht, das gehört sich nicht für einen Gentleman, aber ich teile deine Meinung«, fügte er flüsternd hinzu, ohne sie aus den Augen zu lassen, »ich habe zwei trostlose Wochen verbracht.«

»Seit vierzehn Tagen denke ich pausenlos an dich, Andrew Stilman.«

»Als du Poughkeepsie Hals über Kopf verlassen hast, Valery Ramsay, hab ich Tag und Nacht an dich gedacht, und das drei Jahre lang … vier, vielleicht sogar mehr.«

»Das war eine andere Zeit, ich spreche nicht von unserer Jugend, sondern von jetzt.«

»Es ist auch jetzt noch so, Valery. Nichts hat sich verändert – du nicht und auch nicht das, was ich empfinde, seit ich dich wiedergesehen habe.«

»Du sagst das zwar, aber wer weiß, vielleicht willst du dich ja nur für das rächen, was ich dir damals angetan habe.«

»Ich weiß nicht, wie du auf einen derart blöden Gedanken kommst. So glücklich kannst du in deinem fast perfekten Leben nicht sein, wenn du so einen Unsinn denkst.«

Und bevor Andrew verstand, wie ihm geschah, legte ihm Valery die Arme um den Hals und küsste ihn. Es war zunächst ein scheuer, auf die Lippen gedrückter Kuss, doch dann wurde Valery abenteuerlustiger. Sie unterbrach ihre Umarmung, musterte ihn, und ihre Augen wurden feucht.

»Ich bin verloren«, sagte sie.

»Valery, ich verstehe beim besten Willen nicht, was das bedeuten soll.«

»Es ist aus.«

»Hör auf, so was zu sagen, verdammt!«

»Das Einzige, was mich noch hätte retten können, wäre gewesen, dass dieser Kuss …«

»Dass dieser Kuss was?«, fragte Andrew, und sein Herz schlug so schnell wie damals, wenn er sie von der Schule abholte …

»Andrew Stilman, ich habe wahnsinnige Lust auf dich.«

»Tut mir leid, nicht am ersten Abend, das ist eine Frage des Prinzips«, erwiderte er und lächelte.

Valery tippte ihm auf die Schulter, und während Andrew weiter glückselig strahlte, nahm sie seine Hände in ihre.

»Was machen wir jetzt, Ben?«

»Wir gehen ein Stück des Weges zusammen, Valery, ein Stück des Weges und noch mehr … wenn du mich nicht mehr Ben nennst.«

Kapitel 4

Um diesen Weg gehen zu können, musste Valery nur noch ihren Lebensgefährten verlassen, doch zwei Jahre des gemeinsamen Lebens ließen sich nicht mit einem abendlichen Gespräch beenden. Andrew wartete sehnsüchtig auf sie, wobei ihm klar war, dass sie nicht bleiben würde, wenn er sie drängte.