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Mögen die in diesem Buch festgehaltenen Geschichten dazu beitragen, Sie zu berühren, anzuregen und die Sicht auf manches Unverständliche aus Ihrem eigenen Erleben aus einer anderen Perspektive ermöglichen. Ich wünsche mir, dass sie Ihnen in ähnlichen Situationen Weitblick, Halt und Zuversicht geben. "Ich hätte Ihre Geschichten 20 Jahre eher lesen sollen, dann wäre ich vielleicht auch achtsamer mit mir selbst umgegangen. Sie sehen, Ihr zukünftiges Buch wirkt jetzt schon nachhaltig" (Beate M. Kunze)
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Seitenzahl: 459
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Das Cover
Eine goldfarbene Rose als Symbol für Heilung und Vollkommenheit, das höchste Ziel eines Menschen.
Im übertragenen Sinne geschehen alle Geschichten in unserem Leben, an denen wir beteiligt sind, letztendlich aus einem einzigen Grund. Sie lehren uns Lektionen und geben uns dadurch die Chance, zu erkennen, wer wir wirklich sind. Um im besten Fall wieder heil und vollkommen zu werden. So wie wir einst ins Leben gestartet sind.
Eingebettet ist die goldene Rose in ein kräftiges Grün, das für Natur, Zufriedenheit, Hoffnung, Glück, Fruchtbarkeit und Wachstum steht. Alles unverzichtbar, im Leben wie in unseren Geschichten, um uns körperlich, geistig und seelisch gesund zu erhalten.
Grün, die Farbe in der Mitte des Regenbogens, die Farbe des mittleren unserer Energiezentren, des Herz- Chakras, die auf unsere Mitte, auf bedingungslose Liebe, auf Dankbarkeit und auf unser Mitgefühl bei allem Tun, allen Entscheidungen hinweisen möge.
Zur Autorin
Birgit Fernholz wurde in Wismar geboren. Beruflich hat sie sich stets von neuen Chancen inspirieren lassen und dadurch in dreizehn unterschiedlichen Tätigkeiten ihr Arbeitsfeld gefunden. Privat ist sie seit über dreißig Jahren verheiratet, hat zwei erwachsene Kinder, ist Reisende, Naturliebhaberin, vor allem die Kreative und im Herzen Schriftstellerin. Sie glaubt an eine höhere Führung, die vollkommene Liebe und das Gute im Leben.
Vorwort
Wegbegleitung
Danksagung
Weisheit eines Ureinwohners: Die zwei Wölfe
Das Schwarze Brett
Moralisch erlaubt?
Wie wird es sein?
So du glaubst, so dir geschieht
Wenn Liebe so einfach wäre
Es liegt auch in deiner Hand
Großmutters Märchen
Wie die Saat, so die Ernte
E D F C Z P – glasklar
Erinnerungen bleiben
Kein Igel
Julies Wunschzettel
Wünsche
Großeltern zu verschenken
Therapie auf Coronawegen
Hoffnungswege
(
K) ein Land für Kinder?
Besonders
Macht der Gewohnheit
Kein Handy für Christoph
Haushaltsauflösung mal anders
Verabredet
Die Hausordnung
Immer noch DU
Der Mond als Zeuge
Loslassen
Endstation
Zeit ist Geld
Meine Gedanken finden dich
Der Schal
Vertrauen haben
Das Regiebuch ist geschrieben
Ein kleines Stück Weltfrieden
Der Platz neben dir
Die Quelle seiner Kraft
Kleines Glück
Die Kiste Apfelsaft
Vom Fischer und seiner Frau
Wir sind Glücklichmacher
Das Pflänzchen Hoffnung
Wenn die Eicheln fallen
Alles nur eine Frage der Zeit
Widmen möchte ich dieses Buch meinem wunderbaren Vater als Erinnerung an die vielen Abende, wenn er uns nach getaner Arbeit bis nach Mitternacht Geschichten von früher erzählte. Ich liebte es.
»Ein Vater ist jemand,
zu dem man aufblickt,
egal, wie groß man wird.«
Verfasser*in unbekannt
Nachdem ich oft unwillkürlich Zeugin, Zuschauerin, Zuhörerin, manchmal auch selbst Hauptakteurin und unbeabsichtigt Mitwisserin von besonderen Begebenheiten, einprägsamen Ereignissen, außergewöhnlichen Situationen, prekären Momenten und seltsamen Zufällen war, begann ich eines Tages, die Geschichten in Stichpunkten aufzuschreiben. Wesentliche Sätze, markante Details und berührende Emotionen in Worte gefasst lagen auf kleinen Zetteln, Briefumschlägen, Zeitungsrändern notiert in einem Hefter. Das konnte kein Zufall sein. Intuitiv schon zielstrebig hatte ich den Gedanken bereits verfolgt, die Botschaften der Geschichten weiterzugeben, noch bevor ich mir dessen bewusst war.
Und nun ist es so weit, Sie halten mein Buch in Ihren Händen.
Jede der 42 Geschichten beinhaltet ein eigenes Thema. Manche sind aktuell, einige uralt, die meisten jedoch sind zeitlos. Sie können in Ruhe ein paar Tage über jede Geschichte nachsinnen, sich selbst darin wiederfinden, mit jemandem darüber reden, Standpunkte austauschen, streiten, Kompromisse eingehen, Ansichten teilen oder auch nicht. Reflektieren Sie sich.
Vielleicht gelingt es Ihnen nicht nur mit den Augen, sondern auch ein wenig mit dem Herzen zu lesen, um dem, was Sie berührt, Raum und einen Platz in Ihrem Innersten zu geben.
Mögen die Geschichten dazu beitragen, Sie zu inspirieren und zu motivieren sowie die Sicht auf manches Unverständliche in Ihrem eigenen Erleben aus einer anderen Perspektive zu ermöglichen.
Mögen Sie beim Lesen Ihre eigenen Schlussfolgerungen ziehen, vielleicht Entscheidungen treffen, die längst fällig sind, um sich gemäß Ihrem Lebensdrehbuch weiterzuentwickeln.
Ich wünsche mir, dass Ihnen die Geschichten in ähnlichen Situationen Weitblick, Halt und Zuversicht geben.
von Frau Beate M. Kunze
Wenn es gut werden soll.
Wenn es gut werden soll,
gilt das Bestreben,
Bestes zu geben,
mit allen Sinnen
von ganz innen.
Liebe und Gespür
brauchts dafür,
und Zeit. Keine Eile,
was gut werden soll,
braucht Weile.
Wenn es gut werden soll,
macht es Mühe und ist schwer.
Wenn es gut geworden ist,
kommt es leicht daher.
»Dankbarkeit macht das Leben erst reich.«
Dietrich Bonhoeffer
Mein Dank gilt an dieser Stelle allen Hauptakteuren meiner Geschichten, auch wenn sie namentlich nicht genannt und so unerkannt bleiben, da die meisten Episoden aus dem wahren Leben nur die Quintessenz enthalten.
Christa Schmidt Sanetra, die seit Jahren Seminare und Schreibreisen anbietet, gilt mein besonderer Dank. Sie lehrte mich die Grundkenntnisse des Schreibens, ermahnte mich wegen meiner ellenlangen Sätze, unnötigen Hinweise und Erklärungen. Sie weckte in mir das Vertrauen in meine eigene Kreativität und half mir, meinen eigenen Stil zu finden.
Meinem Mann Frank möchte ich für die Zeit danken, die er sich nahm, um sich die Geschichten anzuhören, auch wenn er so manches Mal überfordert damit war, ein treffsicheres Urteil abzugeben.
Mein Sohn Thomas rettete mich aus manch aussichtslos scheinender Situation bei Auseinandersetzungen mit meinem PC, bei denen ich stets den Kürzeren zog. Besonders seinen Rat, das Geschriebene zusätzlich auf einer Festplatte abzuspeichern, beherzige ich seitdem.
Ein ganz besonderes Dankeschön an die beiden Menschen, die den Löwenanteil an Korrekturarbeit übernahmen, und das so unglaublich gerne, als wäre es ihr eigenes Buch. Beate M. Kunze, selbst Autorin, hat mit Leidenschaft, Einfühlungsvermögen, Hartnäckigkeit und Nachsicht verbessert, angemerkt, nachgefragt und neue Gedankengänge in mir angeregt. Immer ehrlich und direkt, da gab es nichts falsch zu verstehen, und das machte den Spaß dabei aus. Von ihrer Kompetenz und Schreibsicherheit konnte ich profitieren und lernen.
Die erste Aufgabe meiner Tochter Jasmin bestand darin, all die Geschichten zu lesen, in denen sie selbst inkognito die Hauptakteurin war. Im zweiten Schritt ergab sich dann ungeplant eine noch viel anspruchsvollere Aufgabe. Sie bombardierte mich mit DIN-5008-Norm-E-Mails, um meine eingerosteten Gestaltungsrichtlinien in Bezug auf Leer- und Satzzeichen, Zahlenschreibung usw. aufzufrischen. Danke dafür.
Ein letzter Dank für die Abschlusskorrektur geht an BoD - Books on Demand, obwohl ich mich letztendlich so manches Mal gegen alle grammatikalisch korrekten Regeln zugunsten der Umgangssprache entschieden habe.
Weisheit eines Ureinwohners: Die zwei Wölfe
Ein alter Ureinwohner sitzt mit seiner Familie und seinem Enkelsohn am
Lagerfeuer. Sie reden über das Leben mit seinen Herausforderungen. Da
erzählt der Alte von einem Kampf.
Ein Kampf, der schon sehr lange in seinem Inneren tobt.
Und er sagt: »Mein Sohn, dieser Kampf fühlt sich an, als würde er von zwei
Wölfen ausgefochten.
Der eine Wolf ist böse:
Er ist der Hass, der Zorn, der Neid, die Anspannung, der Stress, die
Ungeduld, die Eifersucht, Sorgen, Schmerz, Gier, die Arroganz, das Selbstmitleid,
die Schuld, die Vorurteile, die Minderwertigkeitsgefühle, die Lügen,
der falsche Stolz und das Ego.
Der andere Wolf ist gut:
Er verkörpert die Liebe, die Freude, den Frieden, die Gelassenheit, die
Geduld, Hoffnung, Heiterkeit und Demut, die Güte, das Wohlwollen,
Zuneigung, Großzügigkeit, die Aufrichtigkeit, das Mitgefühl und den
Glauben.«
Der Enkel schaut den Großvater daraufhin aufmerksam an und denkt ein
paar Augenblicke über die Worte nach. Und dann fragt er: »Welcher der
beiden Wölfe gewinnt den Kampf?«
Und der alte Cherokee antwortet: »Der, den du fütterst!«
Verfasser*in unbekannt
Cathy geht in die dritte Klasse und ist ein eher zurückhaltendes und ruhiges Mädchen. Heute ist kein guter Tag für sie. Ein Radiergummi aus dem kleinen Kaufladen neben der Schule ist in ihrer Tasche gelandet. Herr Malker, der Inhaber, hat sie auf frischer Tat ertappt. Er hat keine Kinder und mag auch keine, und es ist wieder mal für ihn die Bestätigung gewesen, dass er am liebsten mit den Blagen, wie er sie nennt, nichts zu tun haben will. Er alarmiert sofort die Mutter.
»Doris, ich dachte, ich sage es dir lieber, damit du mit Cathy darüber reden kannst.«
Bedrückt sitzt Cathy zu Hause am Tisch.
»Der ist so schön bunt und ich hatte kein Geld mehr«, versucht Cathy, die Aktion vor der Mutter zu rechtfertigen.
»Du wärest auch wütend, wenn dir jemand etwas klaut.«
Das heftige Wort ›Klauen‹ hat Cathy so erschreckt, dass sie kerzengerade wie bei einem Verhör auf ihrem Stuhl sitzt.
»Ich hab ihn doch nicht geklaut …«
»Du hast unerlaubt und heimlich etwas weggenommen, und das heißt nun mal, du hast geklaut.«
»Außerdem …«
»Schluss jetzt.« Die Mutter wird zusehends ärgerlicher. Wir gehen morgen beide zu Herrn Malker. Du entschuldigst dich und bezahlst den Radiergummi von deinem Taschengeld.«
»Aber … Mutti … eigentlich … eigentlich war ich das gar nicht«, schluchzt Cathy kleinlaut.
»Cathy, ich sagte, Schluss!«
Cathy ist für einen Augenblick still und beginnt dann erneut: »Ich war es aber wirklich nicht allein.«
»Ach nein, wer dann?«
Cathy zuckt mit den Schultern.
»Wer dann, wenn nicht du?«
»Oooooopa …«
»Opa? Nun ist aber genug mit der Flunkerei!«
»Opa hat mir mal erzählt«, beginnt die Zehnjährige mit unsicherer Stimme, »dass in meiner Brust zwei Wölfe wohnen, ein guter und ein böser. Welchen ich von beiden füttere, der wird stärker. Weißt du, und das mit dem Radiergummi war bestimmt der böse von den Wölfen … hm … denke ich mal.«
Cathy erzählt der Mutter, dass der Großvater ihr erklärt hat, dass nicht wirklich ein Wolf wie im Märchen gemeint sei, sondern eher unsere Eigenschaften, und sie könne sich genau anstelle des Wolfes eine Stimme vorstellen, die mit ihr spreche.
Die Mutter ist sprachlos. Mit so einer Erklärung, dazu noch von Großvater entwickelt, hat sie nun nicht gerechnet, nicht von ihrer ansonsten schüchternen Cathy.
Ach ja, ihr Vater. Seine Geschichten sind schon immer eine beliebte Erziehungsmethode von ihm gewesen. Schimpfen? Nein, das hat es bei ihm kaum gegeben. Zu jedem Problem hat er die passende Geschichte parat gehabt, als sie klein war.
»Du wirst dich morgen entschuldigen, den Radiergummi bezahlen, und du tust so etwas nie wieder. Ist das klar?«, fordert die Mutter erneut und sieht ihre Tochter mit ernster Miene an. »Versprich es mir.«
»Ja«, verspricht Cathy kleinlaut, immer noch nicht überzeugt von ihrer alleinigen Schuld.
Am nächsten Tag wartet die Mutter vor der Schule.
Herr Malker schaut Cathy düster an, als sie ihm das Geld reicht und sich entschuldigt.
Die Sache ist noch mal glimpflich ausgegangen und der Ruf der Familie nicht gleich ruiniert. Die Mutter nimmt sich vor, sich intensiver mit Cathy und ihren kleinen Ersparnissen zu beschäftigen. Gemeinsam legen sie ein Büchlein für Ein- und Ausgaben an. Wöchentlich setzen sich die beiden zusammen, tragen das Taschengeld ein und wie in dieser Woche die Ausgaben für Eis und den Radiergummi.
Beim Betreten des kleinen Geschäftes hat Cathy jedoch seitdem ein mulmiges Gefühl.
Was ist, wenn der böse Wolf noch mal wiederkommt?
Am Donnerstag ist Opa-Tag. Großvater ist ein rüstiger, humorvoller Rentner mit schlohweißen Haaren, die in einem langen Zopf zusammengebunden sind. Er ist ziemlich fit. Was ihn jedoch für die ganze Familie zu einem echten Schatz macht, sind seine vielen Erfahrungen. Durch sie hat er stets einen weisen Ratschlag. Er ist gütig und nachsichtig mit allen. Seine Devise: Die Dummheiten im Leben so früh als möglich und dann auch nur einmal machen. Er fährt einen flotten Oldtimer. Nicht nur Cathy, vor allem die Jungen der Klasse finden es total cool, wenn er vorfährt. Seitdem Großvater ein paar Jungen schon mal mitgenommen und zu Hause abgesetzt hat, ist sie sehr gefragt.
Sofort nach dem Einsteigen, noch bevor Großvater seiner Lieblingsenkelin den Begrüßungskuss auf die Stirn geben kann, fängt Cathy an, ihm zu erzählen, was passiert ist.
»Du wirst mich vielleicht bald nicht mehr so gerne von der Schule abholen, ich bin nämlich eine Klauerin.«
Auf der dunkelgrünen Farbe der Sitzbezüge sieht Cathy trotz ihrer pinkfarbenen Strickjacke und der passenden Strumpfhose dazu wie ein trauriges Blümchen mit hängendem Kopf aus.
»So, nun erzähl mal alle Einzelheiten ganz in Ruhe, meine Kleine.«
›Meine Kleine‹ sagt er nur jetzt, wenn sie allein sind, auf keinen Fall, wenn es die Mitschüler hören. Das geht gar nicht, und das weiß Großvater auch mittlerweile.
Cathy erzählt den Vorfall so sehr aufgeregt, als würde sie gerade bei dem Versuch ertappt, den Radiergummi in die Tasche zu stecken, die Worte sprudeln nur so aus ihrem Mund. Wenn Großvater nicht hundertprozentig sicher wäre, es handele sich um seine kleine Cathy, würde er allen Ernstes denken, die Rede sei von einem Schwerverbrecher. So kriminell hört sich die Geschichte an. Er unterbricht ihren Redefluss.
»Kleines, schon gut, schon gut, du glühst ja förmlich.«
Cathy redet weiter, sodass Großvater ihr noch mal ins Wort fallen muss.
»Opa hat auch schon mal geklaut.«
Cathy stockt kurz in ihrem Redefluss.
»Einen wunderschönen Haarreifen.«
Jetzt endlich verstummt sie ganz, schaut mit weit aufgerissenen Augen und ungläubigem Blick zur Seite.
»Opa, du?«
»Ja.«
»Warum?«
»Den Haarreifen fand ich so schick und wollte ihn Oma schenken. Ich hätte zwar das Geld gehabt, wollte es aber nicht dafür ausgeben. Oma hatte damals ganz lange schwarze lockige Haare, weswegen sie mir überhaupt aufgefallen ist.« Er schmunzelt.
Großvater berichtet von dem Vorfall.
»Ich bin siebzehn Jahre alt gewesen und hätte es deshalb erst recht wissen müssen, dass es Diebstahl ist. Mich hat sogar ein richtiger Detektiv auf frischer Tat ertappt und mir sechs Monate Hausverbot in dem Markt erteilt. Am Ende musste ich den Haarreifen und noch 50 Mark Strafe dazu bezahlen. Das war damals fast mein ganzes Lehrlingsgeld. Ich war so wütend auf mich!« Großvater atmet einmal tief durch, dann erzählt er weiter.
»Damals wusste ich noch nichts von den beiden Wölfen in mir. Und trotzdem, es fühlte sich so an, als wenn da jemand anders in mir ist und mich ermuntert, es zu tun. So nach dem Motto, einmal geht schon.«
»Ich weiß, der böse von den beiden Wölfen, der war es bei mir auch.« Cathy schaut ihn zutiefst erleichtert an. Endlich jemand, der sie versteht.
»Du kennst die Geschichte, Kleines?«
»Ja, Opa, du hast sie mir erzählt.«
»Oh, da hab ich dann ja wohl schon vorgegriffen.«
Großvater nimmt das kleine Händchen seiner Enkelin in seine linke Hand. Den rechten Arm legt er um sie. So eng beieinander haben sie schon oft im Auto gesessen.
»Weißt du, Kleines, es ist nicht schlimm, wenn der böse Wolf in uns mal die Oberhand übernimmt. Manchmal tut er dies, damit wir etwas lernen sollen.
»Lernen, Opa? Dazu geht man in die Schule.« Ein verblüffter Blick geht in Großvaters Richtung.
»Na ja, Kleines, die Schule bringt dir ganz wichtige Sachen bei. Rechnen, Schreiben, Lesen, eine fremde Sprache, vieles über die Erde und die Welt, aber …«
Großvater macht eine Pause.
»Aber?« Cathy blickt ihn mit großen Augen an.
Es gibt noch eine viel größere Schule. Eine, in die ich auch noch immer gehe.«
»Oh, das hast du noch nie gesagt. Wann denn das? Morgens nach deinem Seniorensport?«
»Nein, nein, jeden Tag, auch jetzt gerade. Ich rede von der Schule des Lebens.«
Jetzt ist Cathy aber gespannt, öffnet noch weiter ihre Augen. Sie weiß genau, sie kennt den Großvater, jetzt kommt etwas Wichtiges, was nicht alle wissen, was er nur ihr erzählt. Dicht kuschelt sie sich an ihn, blickt so von unten zu ihm herauf.
»Erzählst du es mir oder bin ich noch zu klein?«
»Nein, nein, Kleines, du bist gerade richtig.«
»Gott sei Dank, da bin ich froh, dass ich nicht warten muss, bis die Zeit rei…f ist«, prustet sie laut los, den Satz kennt sie von der Mutter, die ihn ständig gebraucht. Großvater lacht mit.
»Schau, wenn du jemandem etwas wegnimmst, musst du damit rechnen, dass man dir irgendwann auch etwas nimmt. Wenn du dann nicht mit dem Finger auf den Dieb zeigst und über ihn schimpfst, sondern daran denkst, dass dir das selbst auch schon einmal passiert ist, dann hast du dich in dem Fall durch ihn besser kennengelernt.
Weiter spricht der Großvater davon, dass man nie wissen kann, warum jemand stiehlt.
»Ich wollte den Haarreifen für Oma, mein Geld jedoch lieber fürs Kino ausgeben.«
Er erwähnt, dass es aber auch Menschen gebe, die stahlen, weil sie nichts zu essen hätten. Deshalb sei man immer gut beraten, wenn man nicht darüber urteile. Kein Mensch komme böse auf die Welt und auch nicht als Dieb. Die Umstände im Leben veränderten die Menschen oft.
»Nicht alle haben es so gut wie du und ich, immer warmes Essen, ein Dach über dem Kopf und …«
»Einen Opa wie dich.«
Großvater schmunzelt.
»Und jeder Opa kann auch nicht eine so wunderbare kleine Cathy von der Schule abholen.«
»Stimmt, oder nur mit einem Opel.«
Cathy hat sich wie immer in Großvaters Nähe entspannt und alles ist nur noch halb so schlimm.
»Was können denn aber die Menschen tun, die nicht klauen wollen, aber Hunger und kein Geld haben?«
»Es gibt Einrichtungen, da können sich die armen Menschen Hilfe holen, bekommen kostenlos Essen und Kleidung.«
»Ah, stimmt, ich weiß, Mutti bringt immer Säcke mit Kleidern weg, die ihr zu klein sind.«
»Genau das …«
»Opa, wenn man nun aber weiß, dass man nicht klauen darf, und es trotzdem tut, weil man Lust dazu hat?«
Oh, oh, denkt sich der Großvater. Die kecke Frage geht aber zu weit und vor allem in die verkehrte Richtung. Da muss er schnell einen Riegel vorschieben. Jetzt gibt es ernsten Handlungsbedarf.
»Dann gibt es einen dicken fetten Strich auf deinem Schwarzen Brett im Himmel.«
»Oh, oh.« Und wieder werden Cathys Augen ganz groß, blicken zum Großvater.
»Ja, oh, oh.« Erwidert dieser mit ernster Miene.
»Hat das jeder?«
»Aber sicher doch!«
»Kann man sehen, ob ich schon einen Strich für den Radiergummi bekommen habe?«, kommt es leise und unsicher hervor.
»Weißt du, Kleines, wenn man seine Tat bereut und einsieht, das es nicht richtig war und man die offene Rechnung begleicht, dann kriegt man auch keinen Strich.«
Erleichtert atmet Cathy auf.
»Da bin ich aber echt froh.«
Großvater zwinkert ihr zu und drückt ihren Kopf an seine Schulter.
»Weißt du, Opa, ich glaub, ich hab eine gute Idee.« Cathy schaut in seine Augen.
»Na, dann schieß mal los. Ich bin ganz Ohr.«
»Was hältst du davon, wenn wir beide von heute an nur immer den guten Wolf füttern, damit der groß und stark wird?«
»Die Idee ist prima.«
»Ich hab mir nämlich überlegt, dass wir vielleicht dann nicht so viele Schulstunden vom Leben bekommen. Und auch keine dicken Striche an dem Brett, weißt du?«
Großvater ist gerührt und stolz auf seine kleine schlaue Enkelin. Sie hat es verstanden. Er drückt Cathys Händchen.
»Ja, Kleines, so machen wir das beide.«
Und jetzt sind die beiden hungrig wie die Wölfe und fahren zur Großmutter nach Hause.
»Eine gute Partnerschaft
ist der Ort, wo wir beides finden:
So viel Geborgenheit, wie wir suchen,
und so viel Freiheit, wie wir brauchen.«
Henriette Wilhelmine Hanke
Die Kellnerin geht an den voll besetzten Tisch zu ihren Stammgästen.
»Seid gegrüßt. So ruhig alle heute, das kenn ich ja gar nicht. Was darf ich euch bringen?«
»Erst mal eine Runde Sekt?«, schlägt Arnold vor und wartet auf Zustimmung aus der Familienrunde. Sybille sitzt ihm gegenüber und nickt, null Reaktion von den Kindern.
»Oder was meint ihr?«, hakt Arnold noch mal nach.
»Wenn das für euch ein Grund zum Anstoßen ist, dann von mir aus«, reagiert Lasse.
Auch Ole und Gundo bestätigen mit einem Augenzwinkern.
»Ich nicht.« Finja schaut ihre drei Geschwister geknickt an.
»Gibt es was zu feiern? Hab ich was verpasst bei euch?«, will die Kellnerin wissen. Schweigen am Tisch.
»Sorry.« Ahnend, dass etwas nicht stimmt, nimmt sie sich schnell zurück.
»Ja, unsere Eltern haben sich vor einer Stunde scheiden lassen«, lässt Lasse die Katze aus dem Sack.
»Oh, tut mir leid, dass ich so indiskret war. Ihr beide, das glaub ich nicht!« Sie fällt aus allen Wolken.
»Ja, wir, nun schaff mal den Sekt an den Tisch, wie wollen auch noch essen.« Arnold hat genug von dem Gerede. »Oder müssen wir uns vor dir rechtfertigen?« Er schaut sie mit ernster Miene an. Spurlos geht die Trennung auch an Arnold nicht vorbei, er wirkt recht grantig.
»Nein, nein, um Himmels willen, bei mir doch nicht, ich dacht nur so, weil ihr doch immer so … hm … ach nichts, ich hol den Sekt.« Sie geht endlich.
Auch wenn die Kinder alle erwachsen sind, ist es für Arnold und Sybille nicht einfach gewesen, ihnen den bevorstehenden Schritt mitzuteilen. Sie alle gemeinsam an einen Tisch zu bekommen, das war nur vor zwei Monaten an Arnolds Geburtstag möglich. Schon im Vorfeld beschäftigt die Eltern, wann der passende Zeitpunkt auf der Feier ist, und darüber einig werden sie sich nicht wirklich.
»Lass uns abwarten, es wird sich ergeben.« Arnold hat auch keine optimale Lösung.
»Wie du meinst.« Sybille ist erst froh, wenn es gesagt ist, ihr macht die Reaktion der Kinder jetzt schon zu schaffen.
Der Geburtstag soll verlaufen wie immer, jedoch tut er es von Anfang an nicht, die Kinder spüren, dass etwas in der Luft liegt, das gewohnte mütterliche Willkommenslächeln ist verzerrt, die Worte des Vaters klingen anders als sonst. Lasse, der nie ein Blatt vor den Mund nimmt, will den Grund der beklemmenden Stimmung gleich nach dem Kaffeetrinken wissen. Arnold sieht es als die Gelegenheit und beginnt, ohne lange um den heißen Brei zu reden.
»Wenn du schon fragst, eure Mutter und ich möchten euch etwas mitteilen.« Seine Mimik verrät, dass es nicht um eine große Reise oder sonst etwas Erfreuliches geht. Finja kreisen die schlimmsten Dinge durch den Kopf, ob einer von beiden schwer krank sei und sie es bis jetzt verheimlicht hätten, um keinen zu beunruhigen. Gundo vermutet, einer könnte arbeitslos geworden sein. Beides weit gefehlt, alle sitzen stumm am Tisch, Sybille bekommt feuchte Augen, will es mit einem Schnäuzen überspielen, Arnold spricht dann weiter.
»Wir werden uns in ein paar Wochen scheiden lassen.«
»Das fragst du nicht, sondern sagst es einfach, oder?«, will Finja wissen.
»Genau, wir sagen es euch. Fragen müssen wir euch nicht danach.« Arnold stellt gleich einmal wieder mehr die Hierarchie in der Familie klar.
»Warum?«, kommt von Lasse.
»Dürfen wir die Gründe erfahren?«, fragt Ole gleich vorsichtig hinterher.
»Stehen etwa schon unsere Stiefeltern vor der Tür?« Finja kann ihren Missmut nicht verbergen.
»Ihr seid echt abgefahren, das soll einer verstehen.« Gundo schüttelt nur den Kopf.
Wieder ist Ruhe, Arnold hat sich indessen erneut vorbereitet.
»Eines vorweg, wir bleiben immer eure Eltern, daran wird sich nie etwas ändern, und wenn es eine Angelegenheit zu besprechen gibt, die euch betrifft, werden wir es auch gemeinsam tun, auch weiterhin. Alles andere zwischen uns und euch, wie wir es handhaben, wird sich finden, das wissen wir heute auch noch nicht, wie es sich gestaltet.«
»Scheiße.« Ole geht zur Mutter, nimmt sie in den Arm. »Sag du doch auch mal was, Mutti.«
»Was soll ich dazu noch sagen? Papa hat alles Wichtige erzählt.«
»Nein, hat er nicht. Warum trennt ihr euch?«
»Weil es zu Ende ist.« Sybille will nicht ins Detail gehen.
»Das ist doch kein Grund.«
»Doch, deine Mutter hat recht. Alle anderen Dinge gehen nur uns beide etwas an.«
Bedrückte Stimmung, fast eine halbe Stunde lang sitzen alle mehr oder weniger ruhig am Tisch. Finja und Lasse sprechen leise miteinander, Lasse streichelt ihre Wange. Arnold ist mit Ole im Gespräch über eine Autoreparatur, Gundo starrt Löcher in die Luft, Sybille schenkt Kaffee nach, fühlt sich mehr als unwohl in ihrer Haut, würde am liebsten alle Kinder in den Arm nehmen, sie trösten oder die Jahre zurückdrehen und vielleicht einiges anders machen.
»So, ich fahr dann, ich muss das erst sacken lassen.« Lasse steht auf.
»Ich schließ mich an.« Gundo erhebt sich und stößt Ole an, der nickt zustimmend.
»Was soll ich dann noch hier? Ich komm auch mit.« Finja drückt erneut ihren Unmut aus.
»Und das Abendessen?« Sybille schaut zu Arnold. Noch bevor der sich äußern kann, gesteht Lasse: »Das krieg ich nicht mehr runter.« Er schaut seine Geschwister an. »Oder ihr etwa?« Kopfschütteln. Die Kinder gehen gemeinsam in den Flur, ziehen die Jacken an und verabschieden sich. Ole ist der Einzige, der die Eltern noch mal in den Arm nimmt, der Rest winkt zum Abschied. Lasse hakt Finja unter. »Willst du mit zu mir kommen?« Sie lehnt sich an ihren großen Bruder.
Der Nachmittag mit den Kindern ist für die Eltern noch viel bitterer als der Tag, an dem sie die Entscheidung getroffen haben, die ihr Leben in Zukunft bestimmen wird. Bedrückt sitzen sie am Abend zusammen. Sybille bricht es fast das Herz. Sie, die immer allen Kummer von den Kindern fernhalten wollte, mag sich nicht vorstellen, wie es den vieren jetzt gehen mag. Zum Glück ist Finja mit zu Lasse, das beruhigt sie ein wenig.
Neben den Großeltern fällt auch die gesamte Nachbarschaft aus allen Wolken, als sich die Nachricht herumspricht.
»Warum ihr denn nur? Bei der Vorzeigeehe.« Die Entscheidung stößt auf allgemeines Unverständnis.
Was für alle anderen unbegreiflich scheint und jeglicher Grundlage entbehrt, ist für Arnold und Sybille ein viel zu lange aufgeschobener Schritt. Seit Jahren hadern sie damit, sich zu trennen, vermuten anfangs, dass es nur eine Phase ist, die wieder vergeht, bleiben zusammen der Kinder wegen, arrangieren sich. Als das letzte Kind ausgezogen ist, wird ihnen endlich bewusst, wie sehr die vier als Bindeglied gedient haben, all die Jahre.
Nein, es gibt sie nicht, keine Affären, Geldprobleme, keine eheliche Gewalt oder sonstige schwerwiegende Gründe. Arnold und Sybille leben seit geraumer Zeit wie beste Freunde, wie Bruder und Schwester in einer friedlichen Gemeinschaft zusammen. Einen letzten Anker gibt es noch und das ist das gemeinsame Hobby, das sie vor über dreißig Jahren auch zusammengeführt hat. Stundenlang sitzen sie auf ihren Campingstühlen, die Rute in der Hand und warten, dass ein Fisch anbeißt. Ja, das Angeln ist ihrer beider Leidenschaft, das ist neben dem Lesen der letzte kleine Faden, der sie zusammenhält. Das alles geschieht jedoch eher nebeneinander als miteinander. Die sexuelle Anziehung ist gleich null, keiner sucht die Nähe des anderen.
Arnold und Sybille ist es immer wichtig gewesen, den Kindern vorbildliche Eltern zu sein. Ihnen Rechtschaffenheit, Fleiß, Ordnung, die Liebe zum Beruf vorzuleben, und das haben sie auch mit Bravour geschafft. Nur als Paar sind sie dabei auf der Strecke geblieben, haben die eigenen Belange vernachlässigt, Probleme verdrängt und Wünsche zurückgestellt. Dass eine gelingende Beziehung auch ein Leben lang Arbeit an sich selbst ist und zwei Menschen nicht einfach zufällt, haben sie so lange übersehen, bis es keiner von beiden mehr sehen konnte oder wollte.
Das gemeinsame Familienessen im Anschluss an die Scheidung liegt drei Jahre zurück. Die vier Kinder leben ihr eigenes Leben. Die jeweiligen Wohnorte sind verteilt von Mecklenburg bis nach Bayern. Der rege telefonische Kontakt ist geblieben. Es klappt nicht immer mit den Besuchen, aber einmal im Jahr gibt es zumindest ein Geschwistertreffen im Harz, das ist zur Tradition geworden. Diese große Pension, dort, wo sie mit der ganzen Familie jedes Osterfest verbracht haben, ist wie ein Magnet für sie, und so soll es bleiben, das haben sie sich versprochen.
Die eingeschlagenen neuen Lebenswege der Eltern dagegen sehen grundverschieden aus.
Arnold hat zwei Jahre später wieder geheiratet, seine Kollegin Isar.
Isar ist sehr temperamentvoll, kontaktfreudig und hat immer etwas zu erzählen, kann mit ihrem Redetalent ihr Umfeld unterhalten, begeistern oder manchmal auch nerven. Mit ihr ist er in ein kleines Reihenhaus gezogen. Liebe, Begehren und Leidenschaft sind mit Isar zurückgekommen, Arnold erlebt seinen zweiten Frühling. Kuschlige Kaminabende, Wellness-Wochenenden, Freunde einladen und tanzen gehen, das alles gehört wieder zum Leben dazu.
Sybille dagegen hat sich aus der Stadt aufs Dorf zurückgezogen. Sie engagiert sich neben ihrer Arbeit als Kindergärtnerin in der Dorfbücherei und frönt so ihrer Leseleidenschaft. Auch sie hat eine neue Beziehung. Till ist Sportlehrer und Fußballtrainer, viel unterwegs, sehr kommunikativ, versucht immer, Sybille aus der Reserve zu locken. Die Idee, mit ihm angeln zu gehen, hat Sybille schnell verworfen. Mit ihm macht sie Fahrradtouren und Wanderungen, das passt. Sie ist glücklich und auch die Gefühlswelt ist wieder ein wenig im Gleichgewicht.
Die Kinder sind mehr oder weniger zufrieden mit den aktuellen Lebenskonzepten und tolerieren die gewählten Partner der Eltern. Was bleibt ihnen übrig? Wenn sie den Kontakt zu Vater und Mutter aufrechterhalten wollen, gehören die Neuen dazu.
Trotzdem ist nichts mehr wie früher. Als die Eltern noch verheiratet waren, ist es selbstverständlich gewesen, dass sich alle Weihnachten zu Hause trafen. Jetzt lässt es sich aufgrund der großen Entfernungen gar nicht immer einrichten oder es ist eher eine Pflichtveranstaltung. Dann fahren sie einen Tag zum Vater und der neuen Besetzung und einen Tag zur Mutter. Till ist bei seiner Tochter und hält sich noch von der neuen Familienrunde fern.
Erst seit sie alle vier selbst in einer eigenen Beziehung leben, fühlt es sich leichter an, und der Wert des ehemaligen Elternhauses ist nicht mehr so vordergründig, das Vermissen besonders für Finja nicht mehr so schmerzlich.
Obwohl die gesamte Trennung einvernehmlich verlaufen ist, haben sich Arnold und Sybille seit dem Auszug nicht mehr gesehen. Telefoniert haben sie schon, denn hin und wieder machen es ehemals gemeinsame Projekte notwendig. Den neuen Partner vom anderen jedoch kennt keiner.
Das soll sich in diesem Jahr ändern. Ole hat zur Hochzeit geladen, alle. Zu sich nach Hause nach Neubrandenburg. Unter den Geschwistern laufen die Telefondrähte heiß. Wer verfasst die Hochzeitszeitung? Wer kümmert sich um die Entführung der Braut? Wer besorgt ein paar Pfund Reis für das Ritual nach der standesamtlichen Trauung?
Ole und Marie sitzen zusammen und besprechen die Sitzordnung und die Auswahl der passenden Dekoration.
»Soll ich deine Eltern nebeneinandersetzen an meine Seite?«, will Marie sich lieber noch mal vergewissern.
»Ja, na klar, da müssen sie durch. Erstens ist es so Sitte. Und zweitens haben sie sich das ja selbst eingebrockt, lass sie mal nebeneinander schmoren.«
»Also neben mir Arnold, dann Sybille. Und dann Isar und Till?
Ole überdenkt die Sache noch einmal auf die Schnelle.
»Ach, was solls. Nein. Setz mal Vater und Isar zusammen und dann Mutti und Till, damit es nicht ganz so angespannt ist. Der Tag soll ja für alle schön sein.«
»Gefällt mir auch besser.«
Der große Tag naht. Helle Aufregung beim Brautpaar und den geladenen Gästen. Die üblichen Fragen. Sehe ich gut aus? Sitzt meine Frisur?
Klappt es mit den Einlagen und Überraschungen für das junge Paar?
Sybille hat sich ein neues gelbes Kleid gekauft, extra die langen dunklen Haare kurz geschnitten, und ist nicht nur wegen der Hochzeit ihres Sohnes aufgeregt. Die Vorstellung, heute zum ersten Mal wieder Arnold und dann gleich mit der neuen Flamme zu begegnen, wühlt ihre Emotionen schon den ganzen Tag auf.
Wie ist die Neue? Und ist Arnold jetzt glücklicher als mit mir?
Auch an Arnold gehen die gedanklichen Vorbereitungen nicht emotionslos vorbei.
»Bist du aufgeregt, deine Ex zu treffen?«, will Isar wissen.
»Wie kommst du darauf?«
»Na ja, du isst die letzten Tage so viel wie eine Katze.«
»Du, nach so langer Zeit bin ich schon gespannt, wie es sein wird.«
»Arnie, gut wird es sein, ich bin bei dir und nur das zählt«, versucht Isar, ihn zu beruhigen.
So treffen dann am Tag der Hochzeit alle nahen Angehörigen bereits am Vormittag beim Standesamt aufeinander. Hände schütteln, umarmen, Tränen trocknen und Freude teilen, das verbindet heute alle.
Anschließend Fototermin, dann die Fahrt zum Hotel. Dort sind bereits die übrigen Gäste eingetroffen. In dem großen Park verläuft sich erst einmal alles bis zum Essen ein wenig. Viele haben sich ewig nicht gesehen und begrüßen die Feierlichkeit gleichsam als Familientreffen.
Sybille und Arnold haben sich beim Standesamt flüchtig umarmt, sich gegenseitig die jeweils neuen Partner vorgestellt und sind jedoch danach im Gewimmel der Gäste unfreiwillig erst mal untergetaucht.
Am späten Nachmittag ist Arnold auf dem Weg ins Hotelzimmer, als Sybille ihm auf dem Flur entgegenkommt. Obwohl beide ihre Schritte kurz anhalten, ist schnell klar, dass sie sich gar nicht ausweichen wollen. Langsam gehen sie aufeinander zu und bleiben dann einen halben Meter voreinander stehen, vertraut treffen sich ihre Blicke. Stockend, aber dennoch, Arnold beginnt.
»Wie gehts dir?«
»Gut, und dir?«
»Ja, danke auch.«
Bisschen zähflüssig die Unterhaltung, doch keiner kann so recht aus seiner Haut, dabei brennt beiden nur eine Frage auf den Lippen.
Arnold beginnt erneut: »Bist du glücklich?«
»Das wollte ich dich auch fragen.«
Wieder nur Blicke. Die Antwort lässt auf sich warten, von beiden Seiten.
»Lass uns doch mal reden«, schlägt Arnold vor.
»Ich weiß nicht, ob das hier der richtige Zeitpunkt ist«, zweifelt Sybille.
»Ist er, wann sonst?«
Nachdem die ersten Sätze gesagt sind, lösen sich allmählich ihre Zungen und das Gespräch kommt in Gang. Im Schnelldurchlauf erzählen sie sich im Stehen das Neueste der vergangenen Zeit. Genauso offen und ehrlich wie zu Beginn ihrer Ehe. Gemeinsam reden und schweigen, das hat damals mühelos zwischen ihnen geklappt. Warum geht es jetzt auf einmal wieder?
Isar kommt den Flur entlanggestürmt. Schon von Weitem winkt sie Arnold zu.
»Arnie, komm das Tanzbein schwingen. Ich such dich schon überall.«
»Wir sehen uns noch«, verspricht Arnold Sybille, dann winkt er Isar zurück.
»Ich fliege schon.«
Wir sehen uns noch, ist immer schnell gesagt. Arnold und Sybille sehen sich an diesem Abend nur noch von Weitem und beim Abschied.
Fast ein Jahr später lässt Isar am Montagmorgen, bevor sie sich von Arnold verabschiedet, verlauten, dass sie über Pfingsten zu einem Yoga-Workshop fahren will.
»Über Pfingsten? Du allein?« Arnold ist überrascht.
»Ja, es hat sich so ergeben. Ich brauche wieder so ein paar intensive Übungseinheiten.« Der Plan ist für Isar selbstverständlich.
»Aber ausgerechnet Pfingsten? Da hab ich doch auch frei«, gibt Arnold enttäuscht zu bedenken.
»Ich weiß. Hast du gedacht, wir machen was gemeinsam?«
»Allerdings.«
»Schau mal, so hast du Zeit nur mal für dich. Wir sehen uns doch jeden Tag.«
»Aber es ist Pfingsten«, will Arnold es noch nicht wahrhaben.
»Arnie, nun sag nicht, dass du ein Problem damit hast, dass ich allein fahre. Das glaub ich nicht wirklich«, tut sie nicht nur erschrocken, sondern ist es auch.
»Na ja, ich dachte halt, wir sind verheiratet.«
Isar findet die Sache nun schon lächerlich und gibt sich auch keine Mühe, es zu unterdrücken.
»Ja, sind wir auch.«
»Na also.«
»Arnie, ich hab dir nicht die Scheidung angedroht, das hast du schon richtig verstanden, oder?« Sie schaut Arnold etwas skeptisch in die Augen.
»Du findest mich altmodisch?«
»Nein, ich finde dich sexy, nach wie vor.« Sie lächelt.
»Können wir nicht lieber heute Abend noch mal darüber reden?«, bittet er aus Vorsicht vor zu schnellen Äußerungen.
»Nein, warum reden? Ich hab das schon gebucht und bezahlt«, wehrt Isar ab.
»Ohne mit mir darüber zu reden?«
»Stell dir vor, Arnie, ich bin schon über 18 und mir ziemlich sicher, du weißt es.« Isar steht nun mittlerweile auf dem Flur.
»Du fährst also?«
»Na sicher, wie gesagt.«
»Auch, wenn ich dann hier allein bin?«
»Auch dann. Du kannst ja angeln fahren. Ich denke, das war dein großes Hobby«, kommt der Vorschlag. Dann ist Isar aus der Tür.
Arnold steht wie ein begossener Pudel da.
»Du kannst ja angeln fahren«, plappert er ihr ihre Worte noch einmal hämisch hinterher.
Nachdem sich Arnold über Isars Alleingang einigermaßen beruhigt hat und Zähne knirschend hinnimmt, was nicht zu ändern ist, kann der Kopf wieder klar denken.
»Angeln?«, schon bei dem Gedanken bekommt er so ein wohliges Gefühl und geht am Abend dann in den Keller, um zu schauen, ob das Angelzubehör noch intakt ist. Wie erwartet ist es das. Drei Tage später bereits gefällt ihm Isars Vorschlag schon so gut, dass er einen seiner ehemaligen Angelkollegen bittet, mitzukommen.
»Du gerne, aber nicht gerade Pfingsten, da ist Familienzeit angesagt.«
»Das dacht ich auch. Bei uns nur nicht. Schade.«
Zwei weitere Angelfreunde sagen ebenfalls aus denselben Gründen bedauernd ab.
Arnold gibt auf.
»Na, wie sieht deine Pfingstplanung nun aus, Arnie? Hast du dich schon entschieden, ob du hier abgammelst oder angeln gehst?«
Arnold berichtet von all den Familienmenschen unter den Angelfreunden und dass er dann wohl »abgammeln« werde, wie sie es nannte.
»Also, wenn ich an deiner Stelle wäre, ich würde Sybille fragen. Ich dachte, ihr wart das perfekte Angelpaar?«, schlägt Isar völlig unkompliziert vor.
Arnold kann es nicht fassen, dass gerade sie ihm so einen Vorschlag macht.
»Sag, bist du noch zu retten? Sybille? Wenn wir das ganze lange Wochenende beisammen wären, das wäre dir also egal?«
»Arnie, ganz ehrlich, bei eurer Vorgeschichte, was sollte mir denn da Angst einflößen?« Wo Isar recht hat, da hat sie recht. Mehr als Angeln hatten sie die letzten Jahre nicht gemacht. Also was sollte dagegen sprechen?
»Soll ich sie anrufen, oder traust du dich noch vor Pfingsten?«, erkundigt sich Isar nach einer Woche mal so nebenbei.
»Ich bin noch nicht dazu gekommen. Außerdem überleg ich noch, ob die Idee wirklich so gut ist.«
»So wie ihr zehn Jahre überlegt habt, ob ihr noch zusammenpasst?«
»Ja, haben wir. Manchen Dingen kann man keine Frist setzen und auf Termin abarbeiten, die brauchen Zeit.«
»Mir soll es egal sein. Dann feiert ihr Pfingsten eben im Oktober, wenn du endlich so weit bist.« Isar belässt es dabei.
Zwei Wochen vor Pfingsten fasst sich Arnold dann ein Herz und ruft Sybille an.
Kurz erkundigt es sich nach ihrem Befinden, sie tauschen Neuigkeiten der Kinder aus, bis er zum eigentlichen Anliegen kommt. In aller Kürze schildert er die näheren Umstände, erzählt von Isars Idee, hebt hervor, dass er diese aber auch hervorragend finde und deshalb anrufe. Die Absagen der Angelfreunde erwähnt er nicht.
»Was sagst du dazu?«
Sybille will eine Nacht darüber schlafen und sich am nächsten Tag melden.
Till, der am Abend vorbeischaut, kann leider kein Verständnis dafür aufbringen, worauf sich Sybille einlassen will.
»Du, ich klink mich wegen uns aus der Motorradtour aus, damit wir zusammen sind, und was machst du hinter meinem Rücken?« Er ist entrüstet, dass sie es überhaupt in Erwägung zieht. Sybille schaut Till enttäuscht an, nimmt ihn in den Arm und streichelt über seine Haare.
»Schade, ich hätte mir gewünscht, du denkst daran, dass ich dir im letzten Jahr zu deiner Tour geraten habe und du auch alleine gefahren bist.« Das nun wieder ist für Till etwas anderes, er macht in der Hinsicht schon so seine Unterschiede, was Mann oder Frau in seinen Augen darf. Und für ihn ist solche Männertour, na ja zwei, drei Frauen sind auch dabei, schon vertretbarer als mit dem Ex angeln zu gehen.
Beide reden noch eine Weile hin und her. Till engt Sybille immer weiter ein.
»Ich ruf morgen noch mal durch, ich gehe jetzt.« Sybille bekommt einen flüchtigen Kuss und weg ist er. Nach dem aufreibenden Wortwechsel schmeckt nicht mal mehr der.
Enttäuscht über sich selbst, dass sie keine Courage bewiesen hat, ihren Wünschen zu folgen, kann Sybille am Abend nicht zur Ruhe kommen, liest noch lange in ihrem Buch. Aus Wut über Tills übergriffige Worte trifft sie dann doch die fällige Entscheidung, noch bevor sie nach Mitternacht endlich einschläft. Diese wird sofort am nächsten Tag nach dem Frühstück in die Tat umgesetzt. Sybille fasst sich ein Herz, um das zu tun, was sie auch hätte gleich erledigen können. Ja sagen zu Arnold und seinem Vorschlag. Sie ruft ihn an und teilt ihm auffallend sachlich ihre Entscheidung mit.
»Auch wenn ich mir nicht ganz sicher bin, ob es richtig ist, ist es mir die Lust am Angeln wert, mitzukommen.«
Arnold macht aus Vorsicht, er könne falsch verstanden werden und in Anbetracht der prekären Situation lieber ebenfalls keine großen Freudensprünge, sondern äußert ganz korrekt, wie sehr er die Antwort begrüße. Nachdem alle Einzelheiten besprochen sind, verabschieden sie sich bis Pfingsten.
»Ich freu mich.«
»Ja, ich mich auch.«
Um die Sache zum Abschluss zu bringen, bekommt Till anschließend eine SMS.
»Ich denke, du solltest die Motorradtour machen. Ich habe Arnold für das Pfingstwochenende zugesagt und liebe dich. Kuss, Sybille«
Es ist schon eine merkwürdige Situation, als Arnold mit dem Wohnanhänger am See vorfährt. Sybille, die bereits vor Ort ist, ist etwas befangen, was der ungewöhnlichen Situation geschuldet ist.
Beide umarmen sich, und dann läuft es ab wie all die Jahre, in denen sie Mann und Frau waren. Jeder weiß, was zu tun ist, alle Handgriffe sitzen, und eine Stunde später ist das Vorzelt aufgebaut, fest und sicher verankert und kann allen Winden trotzen.
Die Kommunikation jedoch kommt schleppend in Gang, vorwiegend wird über das Thema Kinder gesprochen. Erst als Arnold in der Abenddämmerung den Rotwein auspackt, wird der gegenseitige Umgang lockerer. Sie freuen sich, dass jeder ohne Absprache all die Leckereien eingepackt hat, von denen er wusste, dass der andere sie gerne aß und trank. Sie lächeln sich immer öfter zaghaft zu.
Nach dem Abendessen steht Sybille am Tisch und sieht Arnold fragend an.
»Wollen wir es so handhaben wie früher? Ich weiß nicht genau, wie du es jetzt mit Isar machst, wenn ihr verreist.«
»Ich wäre dafür, wir machen es so wie früher. Mit Isar läuft es ganz anders ab als mit uns, das ist ja auch ein anderes Kapitel.«
Damit ist alles Weitere gesagt. Beide holen sich ihre Bücher, setzen sich in den Liegestuhl und lesen bis zum Schlafengehen.
»Ich hab schon ewig kein Buch mehr gelesen«, gesteht Arnold zufrieden mit dem ersten Abend.
»Was macht ihr denn am Abend?« Sybille ist selbst über ihre neugierige Frage erschreckt.
»Wir erzählen, haben Besuch, gehen in die Stadt, ins Kino, oder was Isar so auf dem Schirm hat. Es ist immer irgendetwas los«, zählt Arnold auf.
Die Betten sind verteilt. Jeder bezieht seine Seite der getrennten Schlafplätze. Sybille schläft schnell ein und ist am Morgen schon im See baden, als Arnold erwacht. Gut gefrühstückt, die Angeln und Köder präpariert, sitzen dann beide bis zum Mittag an der Rute.
Wenn Isar mit wäre, kein Fisch würde sich an die Angel trauen. Sie könnte nicht einen Moment den Mund halten, reflektiert Arnold im Stillen die markanten Unterschiede.
Sybille ist derweil wieder in ihr Buch vertieft. Arnold schaut sie an und stellt fest, dass sie immer noch das hat, was ihn früher schon fasziniert hat. Dieses zarte, ruhige Wesen, das jeden Tag zu einem geborgenen Tag macht. Wenn Sybille früher heimgekommen ist, hat sie durch ihre Anwesenheit im Nu jegliche Hektik im Hause in Ruhe und Harmonie verwandelt. Als lege sich jeder Sturm ihr zu Füßen. Sie hatte immer Frieden mit sich selbst. Das mochte ich an ihr, weiß Arnold jetzt erst, als er sie anschaut. So fühlt er sich auch an ihrer Seite ganz anders als bei Isar. Isar, das pure Leben, der lebendige Tag, Sybille, die Ruhe, die Entspannung der erholsamen Nacht. Ein bisschen was von beiden, das wärs. Er lächelt auf den See hinaus schauend über seine verrückte Idee.
Der Abend bringt einige Bekannte mit ans Feuer, wie früher immer. Da traf man sich Pfingsten nach der Winterpause hier wieder. Die Runde ist locker, fröhlich und vertraut. Von der Trennung wissen alle. Ins Gespräch jedoch kommt sie nicht. Das ist Privatsache, da mischt sich hier niemand ein. An Tag zwei steht ein kleines Wettangeln auf dem Programm. Im letzten gemeinsamen Jahr sind Arnold und Sybille die Sieger gewesen.
»Weißt du noch den großen Fisch, der sich wieder von Ulfs Angel riss und wir dadurch den ersten Platz …«
»Ja, das war ein Spaß …«, schwelgt auch Sybille in Erinnerungen.
Am Nachmittag geht Arnold baden. Mitzugehen wie einst, traut sich Sybille nicht. Sie beobachtet den guten Schwimmer durch die Sonnenbrille und denkt an die Toberei, die beide im Wasser liebten.
An diesem Abend gehen die Paare ins Dorf zum Tanz. Sybille und Arnold bleiben auf dem Campingplatz, gemütlich bei Rotwein und Chips in Ruhe wieder lesen.
Zu später Stunde macht Platzwart Rudi seine Runde und gesellt sich zu ihnen.
»Ich stör euch ma, wenns recht ist.« Schon sitzt er neben ihnen auf einem Baumstamm.
Rudi ist ein Hans in allen Gassen, tanzt gerne auf drei Hochzeiten gleichzeitig und ist eine richtige Stimmungskanone noch dazu. Seit vierzig Jahren hier der Chef, kann er Geschichten erzählen ohne Punkt und Komma. Die einen finden ihn ungehobelt, die anderen direkt und geradeaus, jedenfalls sagt er immer, was er denkt.
»Hier wird Klartext geredet«, so hatte er sie das erste Mal auf dem Campingplatz begrüßt. Da Rudi die beiden inklusive Kinderschar kennt, interessiert ihn der Werdegang der Jugend immer sehr.
»Wo stecken denn Lasse, Finja, Ole und Gundo eigentlich?
Voller Stolz, welch unterschiedliche Wege sie eingeschlagen haben, berichten die Eltern von ihnen.
»Na, da scheint ihr doch einiges richtig gemacht zu haben.«
Die Luft ist kühl geworden und Sybille hat sich in eine dicke Decke gehüllt. Der Himmel hängt voller Sterne. Arnold will Rudi ein Glas Wein anbieten, als ihm noch im rechten Moment einfällt, dass dieser nur Bier trinkt.
»Ein Bierchen, Rudi?«
»Ehe ich mich schlagen lass«, scherzt dieser.
»Du noch ein Glas Wein?«, schaut er Sybille an.
»Gerne.«
Sybille nimmt einen Schluck, dann legt sie ihren Kopf in den Nacken und schaut sich das herrliche Firmament an.
»Seid ihr denn nu mit euren neuen Liebessternen mehr zufrieden?« Ohne jegliche Gewissensbisse erlaubt Rudi sich die Nachfrage.
»Sieht es nicht so aus für dich?« Sybille ist leicht beschwipst und mutiger als sonst.
Arnold gesteht Rudi, dass man nie alles haben könne, was man wolle, Abstriche gehörten immer dazu. Dabei kommt ihm die geniale Kombiidee der beiden Frauen vom Vormittag in den Sinn.
»Mein Guter, da beschränkst du dich selbst.« Klare Worte von Rudi, dann nimmt er einen ordentlichen Schluck Bier.
»Warum kommt ihr eigentlich nich mehr zum Angeln?«, will er wissen.
»Wir sind seit Jahren geschieden, Rudi«, rechtfertigt sich Arnold.
»Dat weiß ich auch. Dat hat doch mit dem Angeln nix zu tun. Warum seid ihr denn nu hier?«
Arnold erzählt von seiner Isar und dem geplatzten gemeinsamen Pfingstfest.
Rudi lacht so laut los, dass er rückwärts vom Stamm kippt. Mit dem Rücken auf der Erde liegend kriegt er sich gar nicht wieder ein. Die Lachsalven schütteln seinen wabbeligen Wohlstandsbauch richtig durch.
Arnold steht auf und hilft ihm wieder auf die Beine.
»Wo genau ist da jetzt die Stelle zum Lachen?«, will er wissen.
»Die Isar, die mag ich jetzt schon, die passt in die Welt, nimmt sich, wat sie will.«
»Sie liebt halt ihr Yoga …«, fühlt Arnold sich wieder zu der Rechtfertigung verpflichtet.
»Und ihr beide?«, schaut Rudi die beiden mit seinen runden grünen Augen fordernd an.
»Gebt alles auf, wat ihr liebt?«, verleiht er dem Gesagten noch mal Nachdruck.
Sybille blickt wieder gen Himmel, ist mit ihren Gedanken kurzzeitig ganz woanders, denkt an Till, an das Gespräch mit Arnold auf der Hochzeit, zerpflückt dann jedoch Rudis Gedankenanstoß.
»Du alter erfahrener Ehebrecher hast eine Ahnung?« Sybille hat sich Mut angetrunken, spricht aus, was ihr gerade in den Sinn gekommen ist.
Immer schon kursieren auf dem Campingplatz Gerüchte, dass Rudi jedes Wochenende abends mit anderen Frauen unterwegs ist. Derweil schmeißt seine Vertretung dann das Campinggeschäft hier und seine eigene Frau zu Hause denkt …
»Sybille, nenn mich ruhig Ehebrecher. Aber wenn ich ma da oben bei Petrus steh und der mich fragt, ob es mir hier unten gefallen hat, weißt du, wenn er mich dat fragt, dann kann ich ihm mit einem breiten Grinsen versichern, dat ich richtig Spaß hatte. Und wat wirst du ihm antworten?«
Rudi hat nicht nur den Mut, Dinge auszusprechen, trotz seiner ruppig erscheinenden Art hat er das richtige Taktgefühl, zu wissen, wann es Zeit ist, zu gehen. Das ist jetzt so ein Punkt. Ohne eine Antwort von Sybille abzuwarten, steht er auf und verabschiedet sich schlicht und einfach mit einem:
»Nacht, ihr beiden.«
Die im Dunkeln stehen gelassene Frage birgt mehr Zündstoff zum Nachdenken als manch Silvesterrakete. Arnold und Sybille gehen schweigend ins Waschhaus und anschließend ins Bett.
»Kannst du schlafen?«, erkundigt sich Arnold, nachdem sich Sybille mehrmals umgedreht und einen tiefen Stoßseufzer abgegeben hat.
»Wie soll ich bei der Frage schlafen können?«
»Mir hat sie auch zu denken gegeben.«
Eine Weile philosophieren beide noch über den Sinn der Frage, dann schlafen sie ein.
Rudi, der am Morgen wie gewohnt seine Bäckerrunde macht, bleibt am Frühstückstisch stehen.
»Und wie ist die Antwort?« Er reicht Sybille die duftenden warmen Brötchen.
»Keine gefunden.« Sie zieht die Mundwinkel auseinander.
»Lasst euch bloß nich immer die moralische Glocke überstülpen, wat sich gehört. Ich hab immer meine Ehekonstellationen so gestaltet, dat es mir dabei gut geht. Glaubt mir, es kommt keiner und sorgt für euch, dat müsst ihr selbst tun. Hut ab vor deiner Isar, von der könnt ihr beide lernen. Mehr sag ich nich. Schönen Tach.«
Rudi dreht sich um, geht ein paar Schritte und hängt die Brötchen an den nächsten Wohnwagen, dann kommt er noch einmal zurück.
»Meine liebe Sybille, ein Wort noch zu dem Ehebrecher.«
Sybille wird ganz rot im Gesicht. Gestern, na, da war sie doch auch angeschwipst. Ehebrecher hätte sie bei Tag und nüchtern nie gewagt, auszusprechen.
»Weißt du, diese Ausdrücke, dat sagen nur missgünstige Menschen, die sich ihre Träume abschmatzen und dann neidisch sind. Da steh ich drüber.«
»Rudi, ich habs nicht so gemeint.« Sybille ist selbst bestürzt über ihre gestrige Ausdrucksweise.
»Gesagt hast dit aber.«
»Ich weiß.«
»Oder is ein Mann, der mit seinen Kegelfreunden am Wochenende unterwegs ist, gleich ein Ehebrecher?«
»Die Geschichten, was sich abgespielt haben könnte, entstehen ja meist in den anderen Köpfen«, will Arnold diplomatisch sein.
Rudi geht, und Sybille ärgert sich noch den ganzen Tag über ihre Beschuldigung. Am Abend sucht sie Rudi auf und entschuldigt sich in aller Form.
»Weißt du, Sybille, du hast doch och stille Wünsche in Kopf. Erfüll sie dir lieber beizeiten. Kommt wieder beide angeln.«
Pfingsten ist vorbei, das Vorzelt abgebaut und verstaut, die Sachen eingepackt, Sybille und Arnold stehen sich zum Verabschieden gegenüber.
Rudis letzter Satz wirkt bei Sybille nach und zum ersten Mal ist sie es, die die Initiative ergreift.
»Hättest du Lust, dass wir uns öfter mal zum Angeln treffen?«, fragt sie vorsichtig. Arnold ist sichtlich überrascht von ihr. Auch ihm sind Rudis Anmerkungen noch im Gedächtnis, jedoch dass Sybille es ist, die den Anstoß von ihm aufgreift, freut ihn zusehends.
»Ich denk auch, das sollten wir machen.« Beide lächeln sich an.
Nach einer Umarmung steigt jeder in sein Auto und fährt wieder in sein eigenes Leben. Mit der Gewissheit, dass es nicht das letzte Mal war.
Wie nun die Kinder ihr Geschwistertreffen alljährlich zelebrieren, treffen sich Arnold und Sybille zu Pfingsten jedes Jahr zum Angeln mit all den alten Freunden am See. Ohne ein schlechtes Gewissen, ohne die moralische Glocke ihrer Mitmenschen über sich zu fürchten. Isar ist begeistert, findet es klasse und beschließt auf der Stelle, dass sie dann endlich, ohne ihren Arni unterbringen zu müssen, zum Yoga fahren kann. Till, der am meisten an diesen neuartigen Alleingängen zu knabbern hat, muss sich fügen. Nachdem aber in seinem Repertoire die Gegenargumente aufgebraucht sind, beginnt er mit Sybilles feinfühliger Unterstützung, den Vorzug zu genießen, ein Wochenende seine Freiheit auf der Straße zu leben.
»Wenn du an mich denkst,
dann erinnere dich an die Stunde,
in der du mich am liebsten hattest.«
Rainer Maria Rilke
»Weißt du, Mutti, dass ich Angst habe?«
»Wovor hast du Angst, Robin?«
»Dass du einmal tot bist und ich dann hier ganz ohne dich bin.«
»Du wirst nie ohne mich sein«, beruhigt Mutti.
»Aber doch, du bist dann doch weg und kannst mich nicht mehr abends in den Arm nehmen.«
Mutti rückt ganz nah an den kleinen Robin heran, legt liebevoll ihren Arm um seine zarten Schultern und beugt ihr Gesicht zu seinem hinunter.
»Schau, du weißt doch, wie es ist, wenn du in den Ferien bei Oma bist und wir immer freitags telefonieren?«
»Ja, das weiß ich.«
»Siehst du mich dann?«
»Nein.«
»Fühlst du mich dann?«
»Nein.«
»Kann ich dich in den Arm nehmen?«
»Auch das nicht.«
»Aber du kannst mich hören, so, als wenn ich dicht neben dir stehe?«
»Oh ja.«
»Und wie geht es dir dabei?«
»Ich bin dann immer so glücklich und ich hab das Gefühl, du bist bei mir.«
»Siehst du, mein Liebling, und so wird es sein. Wenn ich einmal nicht mehr bin und du suchst dir einen stillen Platz und denkst ganz fest an mich. Dann kannst du mich hören.«
»Kann ich dich dann auch etwas fragen?«
»Ja, aber sicher, was immer du willst.«
»Und antwortest du mir auch?«
»So gut ich kann. Wie jetzt auch.«
»Dann sind wir also trotzdem zusammen?«
»Ja, das sind wir.«
»Haben wir noch viel Zeit, Mutti?«
»Ja, ich denke schon, dass wir sie haben.«
Robin krabbelt auf den Schoß der Mutter und blickt kurz in ihr Gesicht, bevor er beide Arme um ihren Hals legt. Nach ein paar Minuten Wange an Wange schmusen, flüstert er ihr leise ins Ohr:
»Dann können wir ja noch das Wichtigste in der vielen Zeit bereden, falls ich dich nachher doch nicht so gut verstehe.«
Die Mutter drückt ihn fest an sich. »Die Idee gefällt mir.«
»Das Leben der Eltern ist das Buch,
in dem die Kinder lesen.«
Augustinus Aurelius
Geschafft! William und seine Tochter Natascha sitzen auf der alten maroden Bank auf dem Friedhof, sodass sie die Grabstelle der Mutter im Blick haben. Zufrieden schauen sie auf das Blumenmeer. Am Vormittag sind sie in der Gärtnerei gewesen, haben eingekauft, um alles schön zu machen, der Geburtstag jährt sich. William ist bibelfest, faltet die Hände und spricht ein Gebet. Natascha lässt ihre Hände auf ihrem Schoß liegen, hört ihm nur zu.
Natascha ist krankgeschrieben, die Schulter schmerzt schon seit Wochen. Mit den verordneten Tabletten kommt sie nicht zurecht, der Magen rebelliert, ständig muss sie sich übergeben, die Spritzen helfen nur bedingt. Sie wartet auf den Termin beim Neurologen.
»Ich glaube nicht, dass es sich noch mal bessert.«
»Nun hab doch mal Geduld«, besänftigt der Vater.
Sie klagt: »Das ist nach einem Vierteljahr einfach gesagt.«
»Ja ist es.« Er kann sie einerseits verstehen, andererseits jedoch hat Mitleid noch nie wirklich geholfen. Und so macht er sie darauf aufmerksam, dass es bisher kein Todesurteil sei.
»Bei meinem Kollegen blieb am Ende auch nur die OP.«
»Resignieren hilft dir nicht.«
Natascha beruft sich im Gespräch immer wieder auf den letzten Arzttermin und die Aussicht, mit den momentanen Schmerzen leben zu müssen.
»Schon in der Bibel steht es geschrieben, der Glaube kann Berge versetzen«, versucht William, Hoffnung zu machen.
»Ach, Vater, du mit deiner Bibel. Du weißt, dass du mich da nicht abholst.«
»Ja, leider.«
»Ihr habt mir damals die Wahl gelassen, und ich bin nach wie vor froh über meinen Entschluss.«
William und seine Frau haben es Natascha in der achten Klasse freigestellt, ob sie Konfirmation oder Jugendweihe erhalten wollte, und ihr damit gleichzeitig die freie Entscheidung für ihren eigenen Weg überlassen. Natascha hat nicht einmal eine Nacht darüber schlafen müssen. Für sie war das JA zur Jugendweihe wie eine Befreiung, sich endlich aus den religiösen Zwängen der Familie offiziell lösen zu können. Hoch angerechnet hat sie ihren Eltern, dass sie nie irgendwelche Forderungen, geschweige denn Ansprüche erhoben haben, obwohl es ihnen sicher nicht leicht gefallen ist, sie ziehen zu lassen. Ab und an jedoch ein Wink, es gebe auch ein Zurück, solche Bemerkungen haben sie immer mal wieder eingeworfen.
William und Natascha erheben sich langsam von der Bank, um die leeren Blumentöpfe und Pflanzschalen in den Wertstoffbehälter zu bringen und sich für den Heimweg zu rüsten.