Jenseits des Weges - Sonja Yoerg - E-Book

Jenseits des Weges E-Book

Sonja Yoerg

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Beschreibung

Wieder zu sich selbst finden, alte Wunden verheilen lassen und neue Kräfte sammeln. Das erhofft sich Liz von ihrer Wanderung auf dem rauen John Muir Trail in Kalifornien. Als ihr Freund darauf besteht, sie zu begleiten, ahnt sie bereits, dass dies keine gute Idee ist. Diesen Pfad will sie allein beschreiten. Aber um Erlösung zu erlangen, muss Liz ihren Blick auch jenseits des Weges schweifen lassen. Die fesselnde Geschichte einer Selbstfindung

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Seitenzahl: 469

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Sonja Yoerg

Jenseits des Weges

Roman

Aus dem Amerikanischen vonEdith Beleites

HarperCollins®

HarperCollins® Bücher

erscheinen in der HarperCollins Germany GmbH,

Valentinskamp 24, 20354 Hamburg

Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright © 2016 by HarperCollins

in der HarperCollins Germany GmbH

Deutsche Erstveröffentlichung

Titel der amerikanischen Originalausgabe:

The Middle Of Somewhere

Copyright © Sonja Yoerg 2015

erschienen bei: NAL Accent, an imprint of New American Library,

a division of Penguin Group (USA) LLC

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner GmbH, Köln

Umschlaggestaltung: Johannes Wiebel / punchdesign, München

Redaktion: Anna Hoffmann

Titelabbildung: Gordan, PhotoStock 10, Zack Frank, Izf / shutterstock

ISBN eBook 978-3-95967-629-8

www.harpercollins.de

eBook-Herstellung und Auslieferung:readbox publishing, Dortmundwww.readbox.net

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.

Der Preis dieses Bandes versteht sich einschließlich der gesetzlichen Mehrwertsteuer.

Alle handelnden Personen in dieser Ausgabe sind frei erfunden.Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig.

Für Richard

Als ich losging, wollte ich nur einen Spaziergang machen, aber dann blieb ich bis Sonnenuntergang draußen, denn ich merkte, dass ich nicht fortlief, sondern zu mir kam.

John Muir in „John of the Mountains“ herausgegeben von Linnie Marsh Wolfe,Boston 1938

1. KAPITEL

Liz hüpfte von einem Fuß auf den anderen und schlang die Arme um den Körper, weil es so kalt war. Auf der Veranda der Parkverwaltung, die für den wilden, streng geschützten Teil des Yosemite Valleys zuständig war, unterhielt Dante sich lebhaft gestikulierend mit anderen Wanderern. Er stand mit dem Rücken zu ihr, aber die anderen sahen ihn so amüsiert an, da er offenbar gerade etwas Witziges erzählte. Um seine Erfahrungen als Rucksacktourist konnte es sich dabei jedoch nicht handeln, denn er hatte keine. Seinen Bedarf an Naturerlebnissen deckte er, indem er beim Work-out im Fitnessstudio aus dem Fenster schaute. Aber es spielte keine Rolle, worüber er redete. Selbst wenn er über die Bigotterie von Autofahrern sprach, die der Umwelt zuliebe regelmäßige Ölwechsel vornahmen, über das Brotbacken oder die neuesten Katzenvideos auf YouTube, war er charmant und geistreich. Liz kannte ihn jetzt seit zwei Jahren und konnte immer noch nicht fassen, mit welcher Mühelosigkeit er wildfremde Menschen in seinen Bann zog. Er war wie schimmernder Samt, alle anderen grobes Leinen.

Ihre prall gefüllten, aufrecht stehenden Rucksäcke auf der Holzbank neben ihr erinnerten an Menschen, die auf den Bus warteten. Liz widerstand dem Impuls, sich ihren einfach zu schnappen und ohne Dante loszugehen. In dessen Rucksack befanden sich Utensilien, die für eine dreiwöchige Wanderung unverzichtbar waren. Dabei hatte sie immer vorgehabt, sich den John Muir Trail allein zu erobern.

Sie stellte den linken Fuß auf die Bank und band den Wanderstiefel fester, stülpte das Bündchen der Socke darüber und machte am Straßenrand ein paar Schritte, um zu prüfen, ob jetzt beide Stiefel gut saßen. Es war kurz vor neun, und das Yosemite Valley erwachte langsam. Zwei Teenager in Jogginghosen, überdimensionalen Sweatshirts und Uggs schlurften über den Asphalt. Übernächtigte Familienväter schoben Kinderkarren. Junge Männer in überteuerter Outdoorkleidung mit kleinen Rucksäcken für höchstens eine Tageswanderung stolzierten zwischen den Gebäuden umher – Restaurants, ein Lebensmittelladen, eine Krankenstation, ein Besucherpavillon, Souvenirshops, eine Feuerwache und sogar ein Viersternehotel. Es war eine Schande, dass der Wanderweg auf so einem Rummelplatz begann. Liz konnte es kaum erwarten, hier wegzukommen.

Sie holte Dantes iPhone aus der Vortasche seines Rucksacks und rief Valerie an. Seit dem ersten Collegejahr vor elf Jahren war sie ihre beste Freundin. Damals war ihr das Leben noch so vielversprechend vorgekommen wie ein Handyvertrag mit jeder Menge Freiminuten.

„Dante?“, meldete sich Valerie.

„Nein, ich bin’s.“

„Hast du dein Handy verloren?“

„Das liegt im Auto. Auf dem Weg hierher gab es meistens keinen Empfang. Sogar hier habe ich nur einen Balken.“

„Wie soll Dante das überstehen? Ohne Handy wird er doch verrückt!“

„Meinst du? Wie geht’s Müsli?“ Valerie hütete Liz’ Kater.

„Sieht er dich auch manchmal an, als hielte er dich für das Letzte?“

„Andauernd.“

„Dann geht es ihm wohl gut.“

„Hast du noch Hausschuhe an?“ Valerie war Webdesignerin und arbeitete meist zu Hause. In ihrem Kleiderschrank hingen zwanzig Pyjamas wie bei anderen berufstätigen Frauen die Businesskostüme.

„Fahre gerade den Computer hoch. Habt ihr die Wandergenehmigungen bekommen?“

„Hmm.“

„Du klingst ja nicht gerade begeistert.“

Worüber sollte Liz begeistert sein? Das hier war nicht, wovon sie so lange geträumt hatte. Sie wollte den John Muir Trail, kurz JMT, allein wandern. Inmitten Tausender Quadratkilometer offener Landschaft hoffte sie, den Weg zu einem richtigeren Leben zu finden. Bis jetzt kannte sie ihn jedenfalls nicht. Alle Entscheidungen, die sie getroffen hatte – inklusive der vor sechs Monaten, als sie zu Dante gezogen war –, schienen zum jeweiligen Zeitpunkt die richtigen gewesen zu sein, bis sich in schöner Regelmäßigkeit herausstellte, dass sie falsch waren. Sie basierten auf Annahmen, Wunschdenken und kleinen Lügen, die zwar gut gemeint waren, aber von einer zur anderen führten. Am Ende dieses Hirngespinsts hing eine Wahrheit, die Liz immer wieder aus den Fingern glitt, kaum dass sie sie zu fassen geglaubt hatte.

Vielleicht, hatte sie gedacht, könnte sie mit Dante zusammen sein und sogar bei ihm wohnen, wenn sie so tat, als spräche nichts dagegen. Sie liebte ihn genug, um sich das fast einreden zu können. Aber kaum hatte sie die Umzugskartons ausgepackt, überwogen die Zweifel. Sie sehnte sich nach einer Auszeit, um der endlosen Invasion von Freunden zu entkommen, die Dante um sich scharte. Dem Gefühl, von einem Strudel mitgerissen zu werden, der letztlich in eine Ehe münden und sie zu einem kaum noch identifizierbaren Teil eines ominösen „Wir“ machen würde. Das konnte sie Dante aber nicht erklären. Damals so wenig wie heute. Das war die Krux. Stattdessen erzählte sie ihm, schon vor Jahren habe sie den JMT wandern wollen und nun sei es höchste Zeit, wenn sie dieses Vorhaben noch vor ihrem dreißigsten Geburtstag im November von ihrer To-do-Liste streichen wollte. Eine solche Liste existierte zwar nicht, aber Dante glaubte ihr, und so blieb der wahre Grund für ihre Wanderpläne unentdeckt.

Die Parkverwaltung stellte nur eine limitierte Anzahl Wandergenehmigungen für die verschiedenen Routen im Schutzgebiet aus, und sobald Liz’ Entschluss feststand, hatte sie so eine Genehmigung sofort beantragt. Als die dann per E-Mail eintraf, löste sie die widersprüchlichsten Gefühle aus. Einerseits war sie erleichtert, andererseits fragte sie sich, ob sie diesem Unternehmen gewachsen war. Noch zwei Monate. Dann würde sie die Ruhe genießen, nach der sie sich so sehr sehnte. Es kam ihr vor wie Medizin, wenn auch eine bittere.

Zwei Wochen bevor es losgehen sollte, hatte Dante dann plötzlich verkündet, er würde mitkommen.

„Aber du hattest doch noch nie einen Rucksack auf dem Rücken! Und dann willst du gleich mit einem Marsch von dreihundertfünfzig Kilometern anfangen?“

„Ich würde dich zu sehr vermissen.“ Er öffnete die Hände in einer Unschuldsgeste, als sagte er die reine Wahrheit.

Doch es musste mehr dahinterstecken. Warum sonst sollte er sich auf einen Urlaub einlassen, der für ihn der nackte Horror sein würde? Jedenfalls versuchte sie ihm die Sache auszureden, erinnerte ihn daran, dass er mit Natur nichts anzufangen wusste, dass er die Kälte und Müsliriegel hasste. Dass eine dreiwöchige Wanderung das Letzte war, was er auf sich nehmen wollte. Aber er ließ sich nicht umstimmen und wischte ihre Bedenken vom Tisch, und ihr blieb nichts anderes übrig, als zu kapitulieren.

Jetzt sagte sie zu Valerie: „Natürlich bin ich begeistert. Am liebsten würde ich auf der Stelle loslaufen, aber Dante hält noch vor der Parkverwaltung Hof.“

„Ich kann mir gar nicht vorstellen, drei Wochen lang nichts von dir zu hören. Was soll ich bloß ohne dich anfangen? Wen soll ich vollquatschen?“

„Dich selbst. Steck dir Kopfhörer in die Ohren und trage das Telefon wie einen Geigerzähler vor dir her. Wer dich so sieht, hält dich für einen ganz normalen Telefonjunkie.“

„Darauf läuft es wohl hinaus.“ Valerie senkte die Stimme. „Aber mal im Ernst, Liz: Glaubst du wirklich, dass du das überstehst?“

Reflexartig legte Liz eine Hand auf den Bauch. „Es geht mir gut, wirklich. Es ist doch bloß eine Wanderung.“

„Eine Wanderung ist, wenn ich bei Trader Joe’s einkaufen will und erst an der nächsten Straßenecke einen Parkplatz finde. Dreihundertplus Kilometer sind eine andere Liga. Und deine Fehlgeburt liegt erst drei Wochen zurück.“

Aus Sorge, Dante könnte mithören, entfernte sich Liz ein paar Schritte die Straße hinunter. „Es geht mir gut, Val. Wirklich.“

„Und du wirst es Dante bei der erstbesten Gelegenheit erzählen, statt auf den perfekten Moment zu warten?“

Trotz der Kälte waren Liz’ Handflächen schweißnass. Dante wusste nichts von der Schwangerschaft, aber auch Val kannte nicht die ganze Wahrheit. Bei einem ihrer täglichen Telefonate vor drei Wochen hatte Liz nur gesagt, sie sei krank, ohne zu verraten, was ihr fehlte. Valerie wusste, dass Dante an dem Tag nicht in der Stadt war, und hatte kurzerhand bei Liz vorbeigeschaut. Als sie ankam, lag Liz auf der Couch, eine Wärmflasche auf dem Bauch.

„Krämpfe?“

„Nein“, hatte Liz mit Blick auf den Teppich gesagt. „Schlimmer.“

Valerie war dann von einer Fehlgeburt ausgegangen, und Liz hatte ihr nicht gestanden, dass es eine Abtreibung war. Gemessen an dem Täuschungsmanöver gegenüber Dante wog das gegenüber Val weniger schwer. Zwar hatte die Freundin versprochen, Dante nichts zu verraten, aber wann immer Liz daran dachte, wurde sie ganz panisch. Sollte Val doch nicht dichthalten, war es besser, wenn sie nicht alles wusste. Dante würde sie mit Sicherheit verlassen, wenn er die ganze brutale Wahrheit erfuhr.

„Ja, ich rede mit ihm. Aber es muss irgendwo sein, wo mir ein Fluchtweg offensteht.“

„Keine Angst. Er wird es verstehen. Schließlich war es nicht deine Schuld.“

Liz’ Brust war wie eingeschnürt. „Hör mal, Val …“

„Verdammt! Ich schaue gerade auf die Uhr. Ich erwarte einen wichtigen Anruf. Also mach’s gut.“

„Du auch.“

„Und verlauf dich nicht.“

„Hier kann man sich nicht verlaufen.“

„Dann fall nicht von irgendeiner Klippe.“

„Ich versuch’s.“

„Und geh den Bären aus dem Weg.“

„Ich liebe Bären. Und sie lieben mich.“

„Natürlich. Wie konnte ich das vergessen? Aber ich liebe dich auch.“

„Und ich dich. Bye.“

„Bye.“

Liz verstaute das Handy, schloss den Reißverschluss der Vortasche und zurrte die Schnüre beider Rucksäcke noch einmal fest. Sie würden so lange unterwegs sein, dass sie es sich nicht leisten konnten, etwas zu verlieren. Außerdem gaben nachlässig geschnürte Rucksäcke knarzige Geräusche von sich, und Liz hasste jede Art von Knarzen.

Dante war immer noch dabei, sein Publikum zu unterhalten. Als er sich einmal zu Liz umdrehte und sie jungenhaft angrinste, zeigte sie demonstrativ auf ihre Armbanduhr. Er machte ein erschrockenes Gesicht, das natürlich reine Show war, beeilte sich aber, seinen neuen Freunden die Hände zu schütteln und zu ihr zu kommen.

„Liiiz!“ Er legte ihr die Hände an die Wangen und strich ihr dann das kurze braune Haar hinter die Ohren. „Ich wusste ja nicht, dass du schon wartest. Tut mir leid.“

Gegen seinen Charme war sie genauso wenig immun wie der Rest der Welt. Es amüsierte sie, wie er ihren Namen aussprach, und sie war sich sicher, dass er seinen Akzent dabei extra dick auftrug. Englisch hatte er an den besten Schulen von Mexico City gelernt, und schon seit sieben Jahren wohnte er in den USA. Es gab also keinen Grund, warum er wie der Chihuahua in den Werbespots von Taco Bell sprechen sollte.

„Schon gut.“ Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn auf die Wange. „Aber wir sollten wirklich losgehen. Hast du den Wetterbericht gehört?“

„Aber ja.“ Er breitete die Arme aus, als wolle er die ganze Welt umarmen. „Es wird ein wunderschöner Tag.“

„Hat der Ranger das gesagt?“

„Más o menos. Schau dich doch um!“ Mit einer ausladenden Geste zeigte er in den strahlend blauen Himmel über den Wipfeln der Kiefern.

Das kann sich schnell ändern, dachte Liz. Vor allem um diese Jahreszeit. Ursprünglich hatte sie am letzten Donnerstag im August starten wollen. In den Sierras konnte es jederzeit hageln oder schneien, mit oder ohne Gewitter. Aber Anfang September war es meist trocken. Als Dante sich dann in den Kopf setzte, unbedingt mitzukommen, hatte er natürlich keine Wandergenehmigung, und alles hatte sich um gut zwei Wochen verzögert. Zwei Wochen in Richtung Wintereinbruch.

Heute war der fünfzehnte September. Ein Tag wie ein Postkartenmotiv. Und Dante strahlte, als könne er zwanzig weitere Tage dieser Art garantieren.

Als er das Höhenprofil des John Muir Trails zum ersten Mal sah, sagte er, es erinnere ihn an das EKG eines Infarktpatienten. Steigungen von Hunderten Metern, genauso wie die Abstiege, und das jeden Tag, und zwar mehrfach.

„Der erste Tag wird dir besonders gefallen“, hatte Liz gesagt und in ihrer Wanderkarte erst auf ihren Startpunkt in zwölfhundert Metern Höhe gezeigt und dann, nach zwanzig Kilometern Fußmarsch, auf die Stelle, wo sie das erste Mal übernachten würden, in dreitausend Metern Höhe.

Dante hatte den Kopf geschüttelt. „Unmöglich.“

„Schwierig, ja. Aber absolut machbar.“

Daraufhin hatte er dafür plädiert, auf die Kletterpartie der ersten Etappe zu verzichten und stattdessen zu ihrem zweiten Etappenziel, Tuolumne Meadows, zu fahren und die Wanderung dort zu beginnen.

„Das wäre geschummelt“, meinte Liz.

„Es könnte unser schmutziges Geheimnis bleiben.“

„Ich will aber den ganzen John Muir Trail wandern!“

Unwillig hatte er das Gesicht verzogen, aber nicht weiter insistiert.

Jedenfalls nicht bis sie zwei Stunden Anstieg hinter sich hatten. Keuchend löste er den Hüftgurt seines Rucksacks und ließ diesen zu Boden gleiten. Schweißflecken durchtränkten sein grünes T-Shirt. Liz trat zur Seite, um eine Gruppe Tagestouristen vorbeizulassen. Dann stützte sie sich auf ihre Wanderstöcke, nahm den Rucksack aber nicht ab. Schon zweimal hatten sie Rast gemacht und noch nicht mal die Höhe des Nevada Wasserfalls erreicht, der nur knapp vier Kilometer von ihrem Ausgangspunkt entfernt lag.

Dante ließ sich auf einen Felsbrocken fallen, nahm seine Cap ab und wischte sich mit den Ärmeln den Schweiß von der Stirn. „Es ist noch nicht zu spät, um umzukehren und nach Tuolumne zu fahren.“

Liz ließ den Blick über das Tal schweifen. Die Aussicht als atemberaubend zu bezeichnen wäre noch untertrieben. In gut einem Kilometer Entfernung schoss der Wasserfall über eine Granitklippe, als gösse jemand schwungvoll einen Krug Milch aus. Ein Stück tiefer krachten die Wassermassen auf einen Felsvorsprung, der sie bündelte und in den schäumenden Fluss stürzen ließ. Nahe der Abbruchkante zeichneten sich bunte Silhouetten von Menschen ab, die das Spektakel aus der Nähe bestaunten. Dieser erste Vorgeschmack auf die unermessliche vor ihr liegende Weite minderte ein wenig das Gefühl, jemand habe ihr die Brust zugeschnürt. Über dem Wasserfall ragte der Liberty Cap wie ein riesiger Granitzahn in den Himmel, dahinter lag der Half Dome – sechshundert Meter senkrechte Felswand mit abgerundeter Kuppe, als habe eine unvorstellbare Kraft den riesigen Berg in der Mitte durchgesägt und die vordere Hälfte einfach verschwinden lassen. Aber Liz wusste es besser: Ein Gletscher hatte hier ganze Arbeit geleistet, Millimeter für Millimeter.

Mit dem Rücken zu Dante sagte sie: „Lass uns wenigstens bis zum Wasserfall weitergehen. Dann machen wir Mittagspause und sehen weiter. Okay?“

Hinter dem Wasserfall wurde das Gelände ebener, oder zumindest hatten sie nicht mehr das Gefühl, eine ebenso endlose wie steile Treppe vor sich zu haben. Nach etlichen Kurven passierten sie die Abzweigung zum Half Dome, wo die meisten Tagestouristen die Hauptroute verließen. Es war früher Nachmittag, und die Sonne erhitzte ihre Rücken wie eine Infrarotlampe. Schon um kurz nach zwei hatten sie die drei Liter Wasser ausgetrunken, die sie aus dem Tal mitgeschleppt hatten. Als der Weg zum ersten Mal den Sunrise Creek kreuzte, packte Liz den Trinkwasserfilter aus. Zu Hause hatte sie Dante sicherheitshalber gezeigt, wie er funktionierte, aber Technik war nicht gerade sein Fachgebiet. Wahrscheinlich konnte er Bakterien, Viren und Parasiten mit einem Augenzwinkern und seinem unwiderstehlichen Lächeln aus verunreinigtem Wasser locken, aber sie war Gerätetechnikerin. Sie und Dante arbeiteten für dieselbe Firma; Liz konstruierte myoelektrische Arm- und Beinprothesen, die mit noch vorhandenen Muskeln interagierten, Dante war im Vertrieb tätig.

Am Ufer des Creeks hockte sie sich ins Gras, stöpselte die Schläuche an die Handpumpe und ließ den Auffangbehälter zu Wasser. In nur fünf Minuten hatte sie drei Liter gefiltert. Eine der Flaschen reichte sie Dante mit den Worten: „Kalt und köstlich!“ Gierig trank er davon.

Sie baute das Gerät wieder auseinander und steckte den Ansaugschlauch in eine Plastiktüte, die sie bereits vor der Wanderung mit SCHMUTZIG! beschriftet hatte.

„Komischerweise schmeckt jedes Gewässer anders“, sagte sie. „Manche nach Flusskieseln, andere süßlich und wieder andere einfach nur … rein.“

Sie verstaute den Wasserfilter in der dafür vorgesehenen Seitentasche ihres Rucksacks und zog den Reißverschluss zu. Dann sah sie zu Dante auf. Er schaute mit dem besonderen Blick auf sie herab, der exklusiv für sie reserviert war. Seine dunkelbraunen Augen waren ganz sanft, und in seinen Mundwinkeln zuckte ein Lächeln. Es war der Blick von jemandem, der wusste, er würde gleich ein lang ersehntes Geschenk erhalten. Einen Moment lang ließ sie sich von der Liebe durchströmen, die in diesem Blick lag, dann stand sie auf, um die Hinterlassenschaften ihres Imbisses einzupacken und den Rucksack zu verzurren.

Sie hatte die Wanderkarte studiert, als sie sich zur Rast niederließen, und wusste, bis zum heutigen Etappenziel lagen noch achteinhalb Kilometer und fast fünfhundert Höhenmeter vor ihnen. Ihre Füße taten weh, und ihre Waden protestierten, als sie sich und ihren dreißig Pfund schweren Rucksack – fast ein Viertel ihres Körpergewichts – bergan schleppte. Sie war genauso fit wie Dante, aber dieser erste Tag verlangte ihrem Körper deutlich mehr ab als gewohnt. Sie wusste, dass ihr das Wandern leichter fallen würde, wenn ihre Muskeln mit der fortgesetzten Beanspruchung stärker wurden, aber Fakt war: Dieser erste Tag war eine Zumutung.

Schweigend setzten sie ihren Weg fort, während ihre Füße kleine Staubwolken aufwirbelten. Der Creek blieb eine Weile in ihrer Nähe. Bis er verschwand und nur noch Kiefern, Felsen und der Weg zu sehen waren. Nach etwa einer Stunde erreichten sie eine Anhöhe. Der Weg führte ein Stück auf dem Kamm entlang, dann senkte er sich wieder zum Creek ab, der sich plätschernd zwischen den Steilhängen ins Tal ergoss. Wo das Ufer etwas flacher war, machten zwei Wanderer Rast – die ersten, denen sie seit der Abzweigung zum Half Dome begegneten. Es waren zwei Männer, beide angelehnt an einem Kiefernstamm. Einer von ihnen war sogar im Sitzen von imposanter Größe. Er hatte sich Stiefel und Socken ausgezogen und saß mit gekreuzten Füßen da. Den Kopf hatte er in den Nacken gelegt, die Augen geschlossen. Als sich der andere, kleinere, zu ihnen umdrehte und winkte, erkannte Liz die Ähnlichkeit sofort. Das gleiche sandfarbene Haar, das gleiche kantige Kinn, die gleichen fleischigen Lippen. Brüder. Sogar ihre Rucksäcke waren gleich. Kobaltblau.

„Hey“, sagte sie.

Der Große schlug die Augen auf und massierte sich das Kinn. „Hallo.“

Im Näherkommen schätzte Liz die beiden auf Mitte zwanzig. Der Große war offensichtlich der Ältere – nicht nur wegen seiner äußeren Erscheinung, er benahm sich auch so.

„Hallo“, sagte Dante und stellte sich neben Liz. „Alles im Lot?“

„Alles bestens. Wir machen nur eine kurze Verschnaufpause.“

„Verstehe. Ich bin auch total erledigt. Bis zu Petrus’ Himmelstor kann es nicht mehr weit sein.“

Der Große grinste und griff zu einer Zwei-Liter-Limoflasche, die inzwischen aber mit Wasser aus dem Bach gefüllt war. „Ist das euer Ziel?“

Liz sah Dante von der Seite an, neugierig auf seine Reaktion. Er grinste gutmütig und sagte: „Irgendwann schon, wenn wir Glück haben. Aber heute geht’s erst mal nur zum … Wie heißt das noch mal, Liz?“

„Sunrise Camp.“

„Genau. Zum Sunrise Camp“, sagte Dante.

Der Mann nickte. „Seid ihr nur übers Wochenende unterwegs, oder macht ihr die ganze JMT Enchilada?“ Er zog eine Grimasse, als er „Enchilada“ sagte, und sprach das Wort mit spanischem Akzent aus.

Liz zuckte zusammen, weil sie fürchtete, dass es ein Seitenhieb auf Dantes südländisches Erscheinungsbild sein sollte. Aber eigentlich machte der Große einen freundlichen Eindruck, und so sagte sie nur: „Den ganzen JMT. Jedenfalls ist das der Plan.“

„Dann nehmt ihr euch ja ’ne Menge Zeit für eure Beziehung.“

Liz wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte.

Dante übernahm, indem er fragte: „Und was ist euer Plan?“

Die Brüder tauschten einen Blick. Dann sagte der Jüngere: „Kommt drauf an, wie wir drauf sind. Vielleicht wird’s eine längere Wanderung, vielleicht ein Kurztrip.“

Dante nickte, als wünschte er, selbst so viel Entscheidungsfreiheit zu besitzen.

„Okay dann“, sagte Liz und wollte das Ganze so schnell wie möglich beenden. „Viel Spaß bei … was auch immer.“

„Den haben wir immer“, sagte der Jüngere.

Liz setzte sich in Bewegung, und Dante folgte ihr. Nach wenigen Metern gabelte sich der Weg, und sie blieb stehen. Ein Weg führte quer durch den Creek und dann bergauf, der andere folgte dem Wasserlauf ein Stück bergab, bevor er vom Wald verschluckt wurde.

Sie drehte sich zu den Männern um, zeigte mit den Wanderstöcken auf die beiden Wege und rief: „Wisst ihr, welchen wir nehmen müssen?“

Der Ältere zeigte bergauf.

„Danke.“

Mit den Blicken der beiden im Rücken überquerte Liz den Creek besonders vorsichtig und benutzte ihre Wanderstöcke zum Balancieren, wenn sie auf die teils überspülten Steine trat. Ihr Rucksack war so schwer, dass schon ein kleiner Ausrutscher zum Sturz führen konnte. Aber sie erreichte das andere Ufer unbeschadet, wartete auf Dante und schlug dann den Weg ein, der nach links bergan führte.

Eine Zeit lang verlief der Weg parallel zum Creek, dann stieg er steil an, und ihr Rucksack schien mit jedem Schritt schwerer zu werden. Das Gelände wurde immer unebener, und sie musste ganz genau schauen, wo sie hintrat. Hinter sich hörte sie Dante schnaufen. Zwanzig Minuten nach der Creeküberquerung blieb sie keuchend stehen.

„Meinst du, wir sind hier richtig?“

Dante war die Anstrengung anzusehen. „Woher soll ich das wissen?“

„Irgendwie kommt es mir hier verkehrt vor. Der Weg war doch sonst nicht so schlecht.“

„Vielleicht ist es nur eine unwegsame Stelle.“

Sie kämpften sich weiter bergan, aber der Weg wurde immer unebener. Nach einer Viertelstunde verlor er sich ganz.

„Verdammt!“, sagte Liz und rammte einen Stock in den Boden.

Sie gingen zu der Abzweigung zurück. Die Brüder saßen immer noch da und blickten Liz und Dante vom anderen Ufer des Creeks entgegen.

Liz versuchte sich nicht anmerken zu lassen, wie wütend sie war, als sie auf den Weg zeigte, der bergab führte. „Da geht’s lang.“

„Wirklich?“, sagte der ältere Bruder. „Ich war mir ganz sicher, dass es bergauf geht.“

Der Jüngere sagte: „Da habt ihr uns was erspart. Danke.“

„Kein Problem“, sagte Dante.

Dann setzten sie sich wieder in Bewegung. Bevor der Weg nach links abbog, schaute Liz sich noch einmal um. Der ältere Bruder sah ihnen nach. Auf diese Entfernung konnte sie sich nicht sicher sein, aber sie hatte den Eindruck, dass er schadenfroh grinste.

2. KAPITEL

Um halb sieben berührte die Sonne den Horizont, und sie erreichten ihr Ziel. Das Camp lag oberhalb von Long Meadow, einer weiten Lichtung zwischen den Kiefern. In der Ferne ragten die Echo Peaks und Matthes Crest wie Wächter in die Höhe. Das gelbliche Gras sehnte sich nach dem ersten Regen seit Anfang Mai. Sogar der Schnee auf den Berggipfeln war geschmolzen.

Ächzend schnallte Dante sich den Rucksack ab und stellte ihn auf den Boden, dann setzte er sich auf einen umgestürzten Baum und zog die Stiefel aus. Liz packte das Zelt aus und begann, den Lagerplatz von Tannenzapfen und Steinchen zu säubern.

„Wie geht es deinen Füßen?“

Dante legte einen Knöchel aufs Knie und begutachtete seine Blessuren. Genau wie der Rest seiner Ausrüstung waren seine Stiefel neu, aber im Gegensatz zu den anderen Sachen hatte er sie gekauft, ohne auf Liz’ Rat zu hören. Zugegebenermaßen waren italienische Zamberlans eine gute Wahl, aber sie mussten extra geliefert werden, und Liz hatte bezweifelt, ob ihm genug Zeit bleiben würde, um sie einzulaufen. Deswegen hielt sie es für klüger, in ein Geschäft zu gehen und leichtere und modernere Stiefel zu kaufen, die er zudem noch anprobieren könnte. Aber Dante hatte die Zamberlans bestellt, woraufhin sie vorsorglich reichlich Verbandwatte einpackte.

„Ein paar Zehen sind wund, aber längst nicht alle.“ Er zeigte auf die geröteten Stellen, dann bewegte er den Fuß nach oben. „Und das da auf der Hacke sieht wie eine Blase aus.“

Liz breitete die Bodenplane für das Zelt aus. Blasen am ersten Tag. Kein guter Start. „Morgen packst du deine Füße in Watte. Und das meine ich wörtlich.“

„Okay, Mama.“ Dante schnüffelte an seinen Achseln. „Ich stinke wie ein Otter.“

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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