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Das DDR-Flüchtlingskind Jochen ist nach der Scheidung der Eltern hilflos der physischen und psychischen Gewalt seiner Familie ausgeliefert. Im Alter von 12 Jahren erkrankt der Junge an Morbus Crohn, einer unheilbaren Darmentzündung. Ein schwerer Krankheitsverlauf, in Kombination mit täglichen Misshandlungen, beherrscht sein Leben, in dem er des Öfteren dem Tod die Hand reicht. Schonungslos offen und stellenweise brutal schildert Jochen M. seinen Leidensweg.
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Seitenzahl: 178
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Dieses Buch ist allen Kranken und Behinderten gewidmet, die täglich gegen ihre Erkrankung und die Inakzeptanz der Gesellschaft kämpfen.
Bleibt stark!
Vorwort
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Nachwort
Es war ein kalter Wintertag des Jahres 1960, als Jochen das Licht der Welt erblickte. Bereits mit dem ersten Atemzug beging der Säugling seinen größten Fehler – er lebte.
»Du warst nie gewollt, geschweige denn geplant. Ein kleiner Fick im Wald, ohne Folgen. So hatte ich mir das vorgestellt. Dann kam Anna plötzlich und ging mit Dir schwanger«, warf ihm sein Vater Lothar sein Leben lang vor.
Auch die Sätze: »Du bist schuld, dass ich heiraten musste, obwohl ich das nie wollte. Aber dann warst Du halt da und das Leben war für mich vorbei«, musste sich der Junge immer wieder anhören.
Während seiner ersten Lebensjahre konnte Jochen natürlich nicht wissen, was sein Vater immer wieder von sich gab. Erst ein paar Jahre später begann der Junge zu begreifen, dass er nicht erwünscht und auf dieser Welt fehl am Platze war. Keine Geborgenheit in einem mütterlichen Schoss war für ihn vorgesehen. So tat sich eine fatale Einbahnstraße des Lebens vor ihm auf. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als diesen steinigen Weg zu gehen – oder zu sterben.
Jochen wird Ihnen in diesem Buch seine Lebensgeschichte erzählen.
Es wird die Geschichte eines kleinen, eingeschüchterten und vielfach misshandelten Jungen sein, der durch die Lebensumstände im Alter von 12 Jahren an Morbus Crohn, einer chronischen Darmentzündung, erkrankte. Diese Krankheit und das Unverständnis seiner Familie haben ihn sein ganzes Leben lang begleitet.
Es wird eine Erzählung über eine unglaublich schmerzhafte und perverse Krankheit und es wird die Geschichte eines Stehaufmännchens sein, welches immer wieder einmal dem Tod die Hand reicht.
Es wird ein Buch sein, das Sie zum Nachdenken über den Umgang mit Kindern und Kranken in unserer Gesellschaft bringen soll.
Es soll Sie in Ihren Bann ziehen und nicht mehr loslassen.
Sie werden vielleicht von dem teilweise rüden, ordinären Ton der Protagonisten und den, für damalige Verhältnisse, brutalen Untersuchungsmethoden schockiert sein.
Daher lesen Sie die Erzählung bitte nicht, wenn Sie etwas zart besaitet sind - sie könnte Ihnen zu sehr auf den Magen schlagen.
Und nun wünsche ich Ihnen gute Unterhaltung mit
»Jochen – Bastardkind«
Frank Huhnhäuser
Erste Erinnerungen
Geboren wurde ich im Jahr 1960 in einem Dorf in der ehemaligen DDR, der Deutschen Demokratischen Republik.
Aus Erzählungen weiß ich, dass es damals eine harte Zeit war. Deutschland befand sich immer noch im Wiederaufbau nach dem 2. Weltkrieg und in der Politik herrschte Eiszeit. Die Wirtschaft in Westdeutschland begann zu boomen und man holte die ersten Gastarbeiter ins Land. Mein Vater Lothar hatte eine gute Arbeit in West-Berlin, alles schien seinen normalen Gang zu nehmen, doch immer mehr Gerüchte gingen um, dass sich Ostdeutschland vom Westen komplett abspalten wollte. Die Besatzungsmächte UdSSR, USA, England und Frankreich waren sich nicht einig in der Aufteilung des Landes und standen sich feindlich gegenüber. Das Zonengebiet der DDR sowie der Ostteil Berlins waren sowjetisch besetzt. Schließlich wurde am 13. August 1961 eine Mauer gebaut, die die DDR und den Osten Europas lange Jahre vom Westen trennte.
Kurz vor dem Mauerbau plante mein Onkel Egon, der Bruder meines Vaters, die Flucht in den Westen. Er war so dumm, seine ganzen Sachen an Bekannte und Freunde zu verkaufen. Einer seiner besten Freunde verriet ihn und so wurde Egon verhaftet. Da bei Verdacht auf Republikflucht sämtliche Verwandte des Täters meist ebenfalls festgenommen wurden, war es für meine Eltern zu gefährlich, nicht auf die Festnahme zu reagieren. Sie erfuhren frühzeitig von der Verhaftung meines Onkels und handelten sofort. Nur mit dem Nötigsten im Gepäck machten sie sich auf den Weg. Gerade noch rechtzeitig konnten sie mit mir über die Sektorengrenze in den Westteil Berlins flüchten.
Im Notaufnahmelager für Flüchtlinge in Marienfelde wurde uns nach kurzer Zeit eine Wohnung in einem kleinen Dorf in Baden-Württemberg zugeteilt. Nach kurzer Wartezeit war es soweit.
Meine Eltern mussten mit mir und unserem wenigen Gepäck zum Bahnhof laufen, um den Zug in unsere neue Heimat zu nehmen. Dort kam es zu einem kuriosen Zwischenfall.
Auf dem Bahnsteig herrschte großes Gedränge. Hunderte Flüchtlinge warteten auf ihren Zug. Es wurde viel gelacht und geredet, denn alle waren glücklich, dem diktatorischen Regime der DDR entkommen zu sein. Manche kannten sich auch und begrüßten sich überschwänglich. Auch meine Eltern unterhielten sich angeregt mit anderen Reisenden. Als der Zug in den Bahnhof einfuhr, wollte mein Vater den Kinderwagen, in dem ich lag, bereitstellen. Doch der Wagen war verschwunden. Panik machte sich bei meinen Eltern breit und aufgeregt suchten sie nach mir, was angesichts der Menschenmenge fast unmöglich war. Nach kurzer Zeit sah mein Vater tatsächlich eine Frau, die versuchte, den Kinderwagen vom Bahnhofsgelände zu schieben. Er rannte ihr nach und hielt sie fest. Die offensichtlich verwirrte Frau behauptete, ich wäre ihr Kind. Einige Menschen waren auf die Szene aufmerksam geworden und holten einen Polizisten herbei. Dieser klärte die Situation relativ schnell, da ihm die ortsansässige Frau bekannt war und sie schon des Öfteren mit ähnlichen Taten aufgefallen war. Er nahm die Frau mit und schickte meine Eltern mit mir wieder zum Bahnsteig.
So konnten wir den Zug in unser besseres Leben noch rechtzeitig erreichen.
Das Dorf in Baden-Württemberg, in dem die uns zugewiesene Wohnung war, hatte knapp 2000 Einwohner und lag in der Nähe des Neckars. Das war natürlich ideal für meinen Vater, einen leidenschaftlichen Angler.
Damals waren gute Arbeiter in dieser Region heiß begehrt und mein Vater bekam sofort eine Arbeitsstelle in der Nähe. Dort verdiente er zum ersten Mal richtig gutes Geld. Wenn seine Schicht beendet war, dann ging er sofort zum Angeln oder in die Dorfkneipe. Für ihn war es doch eigentlich das ideale Leben. Aber er schien trotzdem nicht damit zufrieden zu sein. Nach drei Jahren entlud sich diese Unzufriedenheit.
Während mein Vater außer Haus war, kümmerte sich meine Mutter um mich und den Haushalt, wie es damals üblich war. Wenn mein Vater endlich spät am Abend nach Hause kam, gab es meistens Ärger. Wüste, laut geschriene Vorwürfe, Schläge und Beschimpfungen waren an der Tagesordnung.
Es war sicher für beide eine schwere Zeit. Für meinen Vater, der eigentlich nie heiraten und noch weniger ein Kind wollte; und für meine Mutter, die sich verständlicherweise langweilte und so die Gesellschaft anderer Menschen suchte. Leider waren es andere Männer, deren Gesellschaft sie bevorzugte, keine Frauen zum Kaffee trinken und tratschen. In einem kleinen Dorf bleibt nichts geheim. Das Getuschel und die Blicke der Nachbarn kamen meinem Vater zwar seltsam vor, aber erst durch die Ehefrau eines der Männer in seinem Bekanntenkreis erfuhr er von der Untreue meiner Mutter.
Damit war die Trennung vorprogrammiert und ergab sich dann in jener Nacht, aus der meine erste Erinnerung stammt.
*
Haben Sie jemals darüber nachgedacht, wie weit Sie sich an Ereignisse in Ihrer Jugend zurück erinnern können? An welchen Geburtstag, welchen Urlaub mit den Eltern oder an welches Erlebnis auf dem Spielplatz können Sie sich am weitesten zurück erinnern?
Wie alt waren Sie damals, als Sie zum ersten Mal die Kerzen auf Ihrer Geburtstagstorte ausgeblasen haben, oder können Sie sich vielleicht an den Tag Ihrer Einschulung erinnern?
Sind es positive oder negative Erlebnisse, die sich nun vor Ihrem geistigen Auge abspielen?
Meine erste Erinnerung habe ich an einen Abend meines vierten Lebensjahres. Dieser Abend hat meinem bisherigen Leben in der trügerischen Geborgenheit einer Familie jäh ein Ende gesetzt.
Ich lag verängstigt in einem alten Gitterbettchen aus Holz, das im elterlichen Schlafzimmer stand. Vor dem Zimmer stritten sich meine Eltern wieder einmal laut und heftig. Ich verstand natürlich die Zusammenhänge des Streits nicht, aber es war sehr laut und ich glaubte, meine Mutter zwischendurch weinen zu hören. Auch die Geräusche von Schlägen mischten sich unter den Lärm.
Nach einiger Zeit, inzwischen war eine fast unheimliche Ruhe eingekehrt, öffnete sich langsam die Zimmertür und meine Mutter Anna betrat das Schlafzimmer. Sie kam zu meinem Bett, beugte sich über mich und drückte mir einen zärtlichen Kuss auf die Stirn.
Dann sagte sie: »Tschüss Jochen.«
Ohne zurück zu blicken ging sie aus dem Zimmer in den hellen Flur hinaus und schloss die Tür hinter sich.
Ich blieb alleine im Dunkeln zurück.
*
Kurz danach wurden meine Eltern geschieden. Damals gab es noch ein viel schärferes Scheidungsgesetz, das meinem Vater eine schnelle Scheidung ermöglichte. Meine Mutter bekannte sich des Ehebruchs schuldig und mein Vater bekam so das alleinige Sorgerecht für mich, um das er auch mit Zähnen und Klauen gekämpft hätte, wäre es denn nötig gewesen. Diese Frau sollte mich nicht bekommen, erzählte mir mein Vater in späteren Jahren.
Hier wurde ich wohl zum ersten Mal für die Zwecke eines anderen benutzt. Weitere Male sollten im Laufe meines Lebens folgen.
Mein Vater hatte nun ein Problem mit mir. Da er arbeiten musste, konnte er sich nicht ständig um mich kümmern. So suchte er nach einer Pflegefamilie, die mich aufnehmen und erziehen sollte. Nach kurzer Zeit war auch diese perfekte Familie gefunden. Bis dahin war ich bei einer Nachbarin untergebracht.
Aus meiner Zeit bei dieser neuen Familie stammen auch meine nächsten frühkindlichen Erinnerungen.
Neue Familien
Plötzlich, von einem Tag auf den anderen, hatte ich neue Eltern und sogar eine große Schwester. Ich wurde sofort Teil der Familie und hatte eine gute Zeit. Das Leben in dieser Familie war sehr harmonisch. An den Wochenenden holte mein Vater mich ab und ging mit mir angeln oder auf den Sportplatz zum Fußball schauen. Alles hätte so schön sein können, hätte es diesen einen Vorfall nicht gegeben.
Dieser Grund, warum ich nach einem Jahr wieder gehen musste, der ist mir bis heute im Gedächtnis haften geblieben.
Dazu muss ich erklären, dass ich natürlich, durch mein bisheriges Leben, als sogenanntes Problemkind galt.
Ich war, obwohl nun schon fünf Jahre alt, immer noch Bettnässer. Hinzu kam, dass mein Bett im Schlafzimmer der Pflegeeltern stand. Ich weiß noch, dass meine Pflegemutter mich jede Nacht weckte und zur Sicherheit zur Toilette schickte. Eines Nachts habe ich mich im Halbschlaf vor das Bett meines Pflegevaters gestellt und in dieses hinein uriniert. Ich habe ihn dabei wohl auch getroffen.
Dies war eine der letzten Nächte, die ich bei meiner ersten Pflegefamilie verbringen durfte.
Kurz danach wurde ich von meinem Vater bei einem älteren, kinderlosen Ehepaar untergebracht. Die beiden waren sehr freundlich, aber auch streng. Sie hatten immer ein Auge auf mich und ich konnte mich nicht mehr so frei bewegen, wie das bei meiner vorherigen Pflegefamilie der Fall war.
Nach einiger Zeit hatten sie mich aber dermaßen in ihr Herz geschlossen, dass sie mich sogar adoptieren wollten. Das wurde mir von ihnen so gesagt, hatte allerdings einen anderen Grund, den ich erst viel später erfahren sollte.
*
Es kam die Zeit, in der für mich der Ernst des Lebens begann.
Damals konnte man ohne Taufe nicht eingeschult werden. Als im Osten Deutschlands geborener Junge hatte ich keine Religionszugehörigkeit. Ich erinnere mich, dass ich 1966 in der evangelischen Kirche des Ortes am Taufbecken stand. Der Pfarrer fragte mich: »Wie möchtest Du denn heißen?«
Mir war die Antwort vorgegeben worden und so antwortete ich: »Jochen«.
Ich glaube, nicht vielen ist es vergönnt, ihren Namen bei der Taufe selbst zu nennen. Ich war damals richtig stolz darauf.
Ein bisschen Wasser über mein Haupt und schon war ich Mitglied einer Institution, über die ich in dieser Erzählung immer wieder ein paar Worte verlieren werde.
Im selben Sommer wurde ich eingeschult, woran ich aber fast keine Erinnerung mehr habe. Ich kann mich nur noch an einen bestimmten Klassenkameraden erinnern, mit dem ich viel Zeit in den Wäldern und auf den Äckern rings um das Dorf verbrachte.
*
An einem Wochenende im Winter musste ich meine besten Hosen und eine Jacke anziehen. Meine Pflegeeltern nahmen mich in ein nahegelegenes Gasthaus mit. Dort waren auch mein Vater und einige mir fremde Personen anwesend. Erst viel später wurde mir bewusst, dass es die Hochzeit meines Vaters war. Seine neue Ehefrau hieß Hilde, war sehr groß gewachsen und hatte Augen, so schwarz wie Kohlen. Ihre Haare waren zu einem strengen Dutt gebunden. Ständig beobachtete sie mich mit ihren stechenden Blicken. Ich hatte von Anfang an Angst vor ihr.
Mein Vater holte mich im Laufe des Tages zu ihnen an den Tisch, zeigte auf die Frau und sagte: »Jochen, das ist jetzt Deine Mama. Du wirst ihr von nun an gehorchen. Ich will keine Beschwerden hören.«
Ich kann mich nicht erinnern, die Frau jemals vorher gesehen zu haben, aber sie war ab diesem Zeitpunkt meine Mama, ob ich wollte oder nicht. Sie sah mich nur weiterhin an und sagte kein Wort.
Am selben Tag musste ich bei meiner Pflegefamilie ausziehen und durfte keinerlei Kontakt mehr mit den beiden haben. Mein Vater hatte erfahren, dass meine leibliche Mutter zu dem Ehepaar ein gutes Verhältnis pflegte und das Ehepaar auch animierte, mich zu adoptieren. Das war für meinen Vater natürlich ein unverzeihlicher Vertrauensbruch.
Damit begann ein Ehekrieg, der schon lange beendet schien, aufs Neue.
Mein neues Zuhause war in einer größeren Stadt. Unsere kleine Familie zog in das Haus meiner neuen Großeltern, meinem Opa Gerhard und meiner Oma Liesel. Diese empfingen mich mit offener Verachtung. Kein liebes Wort, keine Umarmung kam von ihnen. Nur böse Blicke taxierten mich, allerdings hatten sie sofort eine Aufgabe für mich. Auf dem Grundstück mit dem neu gebauten Haus gab es einen Hühnerstall und freilaufende Hasen. Vom ersten Tag an durfte ich mich um die Tiere kümmern. Das bedeutete, ich musste den Stall sauber halten und das Futter für die etwa fünfzig Hasen vom Feld holen. Eine billige Arbeitskraft war gefunden. Mein Tagesablauf hatte sich komplett geändert. Nach der Schule musste ich Hausaufgaben machen und mich dann um die Tiere kümmern.
Freizeit blieb mir selten.
Kurze Zeit nach der Hochzeit wurde mein Halbbruder Hannes geboren.
Wieder änderte sich mein Leben und von diesem Zeitpunkt an lernte ich, was Gewalt bedeutet.
Gewalt – die Lösung für alles
Mit der Geburt von Hannes kam es so, wie es eigentlich nur in schlechten Klischees und Romanen bedient wird. Meine Stiefmutter hatte nun ein eigenes Kind und ich war genau das, was man sich allgemein unter einem Stiefkind vorstellt.
Ungeliebt und zur Seite gestellt, mit einem Vater, der so gut wie nie zu Hause war, einer Stiefmutter, die sich nur um ihr eigenes Kind kümmerte und Großeltern, die keine Gelegenheit ausließen, das fremde Bastardkind, wie sie mich nannten, zu schikanieren.
Mit dem Wohnortwechsel war natürlich auch ein Schulwechsel verbunden. Ich hatte an unserem früheren Wohnort kein halbes Jahr lang die erste Klasse besucht, wurde nach meinem Umzug aber sofort in die zweite Klasse gesteckt. Der Direktor sagte, dass meine Leistungen bis dahin so gut waren, dass ich ein Jahr überspringen konnte.
Das hätte mich ja freuen können, aber nun saß ich in einer Klasse, in der fast alle Mitschüler ein Jahr älter waren. Mein zweites Handicap war, dass ich ein Fremder, ein Zugezogener war. Während die anderen schon eine Gemeinschaft gebildet hatten, kam ich nun dazwischen. Das Resultat war, dass ich vorerst keine Freunde fand und jeden Tag von meinen älteren Mitschülern auf dem Heimweg gejagt und verprügelt wurde. Sie hatten ihren Spaß und ich täglich Angst vor der Schulglocke. Jeden Tag blaue Flecken, Kratzer und zerrissene Kleidung, die mir zu Hause noch weiteren Ärger und Schläge einbrachten. Es nutzte nichts, zu erzählen, was die anderen mir angetan hatten, ich wurde trotzdem von meiner Stiefmutter geschlagen. Abends, wenn mein Vater nach Hause kam, erzählte sie ihm, wie böse ich gewesen war. Dann durfte ich diese Tortur noch einmal über mich ergehen lassen. Dieses Verhalten hatte sich nach kurzer Zeit so eingependelt, dass ich täglich verprügelt wurde, egal ob ich etwas angestellt hatte oder nicht. Es wurde zur Gewohnheit meiner Eltern.
In der Familie war ich nur noch das ungewollte Anhängsel, von meinen Mitschülern wurde ich gejagt und dann sollte ich auch noch am Tod eines Menschen schuld sein, wie mir eine Nachbarin eines Tages vorhielt.
Ich kam gerade mit dem Nachbarsjungen vom Spielen zurück, da empfing mich dessen Mutter mit den Sätzen: »Schaff Dich fort. Wenn Du und Dein Vater nicht wären, dann würde Heinrich noch leben. Ihr seid schuld, dass er nicht mehr lebt.« Vollkommen verwirrt ging ich nach Hause und fragte meine Stiefmutter, was die Nachbarin damit meinte. Als Antwort bekam ich Schläge und den Satz: »Wehe, Du redest jemals darüber. Wenn Du das tust, schlage ich Dich tot.«
»Dann schlage ich Dich tot« – oder – »Dann bringe ich Dich um«. Immer wieder musste ich mir von ihr solche Drohungen anhören. Natürlich war ich dadurch dermaßen eingeschüchtert, dass ich niemandem etwas davon erzählte.
Was damals wirklich vorgefallen war sollte ich erst viele Jahre später erfahren.
Die Schule war hart. Unser Klassenlehrer kam jeden Morgen in den Unterrichtsraum, packte seine Geige aus und fiedelte uns eine halbe Stunde lang etwas vor, das er Musik nannte. Diese Meinung hatte er für sich alleine. Danach wurden die Hausaufgaben kontrolliert. Für gefundene Fehler gab es von diesem Lehrer regelmäßig Prügel mit dem Rohrstock auf die Handflächen. Schon damals fiel mir auf, dass bestimmte Mitschüler verschont wurden. Diese waren nicht besonders schlau oder konnten die Schönschrift überragend gut, nein, sie waren die Söhne von Geschäftsleuten oder Vereinsvorständen im Ort. Diese Bevorzugung konnte ich mit der Zeit auch in anderen Lebenssituationen erkennen.
Der Direktor der Schule war ebenfalls für seine Brutalität bekannt. Da gab es auch mal Backpfeifen im Vorbeilaufen, ohne irgendeinen erkennbaren Grund. Zu diesen Schlägen pfiff er immer dieselbe Melodie. Ich wollte diese Zeit eigentlich nur irgendwie hinter mich bringen, aber auch mir fremde Leute waren mir nicht wohl gesonnen.
Eines Nachmittags standen zwei Polizisten vor der Haustür. Eine Frau hatte gemeldet, dass ich versucht hätte, einen Schulkameraden vor einen durch die Hauptstraße fahrenden Lastkraftwagen zu stoßen. Da selbst der angeblich Betroffene sich nicht an einen solchen Vorfall erinnern konnte, wurde die Sache von den Beamten als erledigt angesehen. Schläge und Hausarrest bekam ich trotzdem von meinen Eltern. Heute noch frage ich mich, was das Motiv für diese Beschuldigung war. Waren wir wirklich dermaßen unbeliebt in dieser Stadt?
Meine Stiefmutter setzte mir daraufhin ein Zeitlimit für den Heimweg. Ich hatte von da ab 12 Minuten Zeit vom Läuten der Schulglocke bis zur Haustür. Zwölf Minuten für einen zwei Kilometer langen Weg, den schweren Schulranzen geschultert und von Mitschülern gejagt. Wenn der Unterricht später endete und ich nicht pünktlich nach Hause kam, setzte es Schläge. An diesen Tagen bekam ich kein Mittagessen. Frühstück hatte ich mir damals auch schon selbst zu machen, denn meine Stiefmutter musste sich ja um ihr eigenes Kind kümmern. Also hungerte ich so manchen Tag bis zum Abend. Oftmals wurde ich aber von meinem Vater auch noch bestraft. Neben den üblichen Schlägen ins Gesicht musste ich ohne Abendbrot ins Bett.
So ging das drei Jahre lang.
Jedes Jahr zu Fasching durften wir Kinder uns verkleiden und miteinander spielen. Da wurden meine Nachbarskinder zu Cowboys, Indianern, Piraten und anderen Fantasiefiguren. Auch ich hatte mir in diesem einen Jahr erlaubt, nach einem Faschingskostüm zu fragen. Erstaunlicherweise sagte meine Stiefmutter, dass sie eine Überraschung für mich hätte. Am Rosenmontag kleidete sie mich dann mit meinem Kostüm ein. Ich musste eine dünne, lange Strumpfhose anziehen und darüber ein kurzes Tüllröckchen tragen. Als Oberteil diente ein T-Shirt, eine alte, stinkende Perücke, die noch von der mittlerweile gestorbenen Oma stammte, zierte mein Haupt. Ich wurde geschminkt und dann wollte mich meine Stiefmutter zum Spielen auf die Straße schicken. Ich war neun oder zehn Jahre alt, draußen herrschten Minusgrade und ich schämte mich in Grund und Boden. Als ich mich weigerte, das Haus zu verlassen, bekam ich umgehend ein paar schallende Ohrfeigen verpasst. Ich weinte und stellte mich stur, was meine Stiefmutter erst richtig in Rage brachte. Sie schrie mich an, dass ich jetzt verschwinden solle und stieß mich in den Hof. Dann schloss sie die Tür und ließ mich die nächsten drei Stunden in der eisigen Kälte verharren. Diese drei Stunden versteckte ich mich im Hof hinter einer Mülltonne, damit mich niemand in diesem Aufzug sehen konnte. Als mich meine Stiefmutter wieder ins Haus ließ, schrie sie mich an: »Du elender Feigling. Dir werde ich nie mehr einen Gefallen tun.«
Ich glaube, damit ist ausreichend erklärt, warum ich auch heute noch kein Fan der 5. Jahreszeit bin.
Freud und Leid
Eines Tages wurde mir von meinem Vater gesagt, dass meine leibliche Mutter mich abholen würde. Ich dürfte für ein paar Tage bei ihr bleiben. Das freute mich riesig und bald darauf war es soweit.
Meine Stiefmutter hatte mir ein paar Sachen in eine Tasche gepackt und als es an der Tür klingelte stand meine Mama da. Sie lächelte mich an und nahm mich fest in ihre Arme. Dann gingen wir. Ihr neuer Mann Eberhard fuhr mit uns in ihren damaligen Wohnort, etwa 50 Kilometer von unserem entfernt. Zu meiner Überraschung wartete dort ein kleines Schwesterchen auf mich. Das Mädchen war ungefähr so alt wie mein Halbbruder und hieß Paula.