Jochen macht Triathlon - Larsen Sechert - E-Book

Jochen macht Triathlon E-Book

Larsen Sechert

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Beschreibung

Der Roman "Jochen macht Triathlon" handelt von einem Mann, Mitte 40, der nichts Zählbares in seinem Leben erreicht. Schließlich lernt er seine schon erwachsene Tochter kennen. Diese will er beeindrucken. In einer Fernsehsendung über Triathlon sieht er wie die Zuschauer den Finishern zujubeln. So ist sein Entschluss gefasst. Jochen macht Triathlon. Ganz nebenbei krempelt er sein Leben um.

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Seitenzahl: 156

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Larsen S.

JOCHEN MACHT TRIATHLON

Roman

© 2022 Larsen Sechert

Umschlaggestaltung/Satz: Silvana Kuhnert

1.Lektorat und Korrekturlesen: Uli Hornfeck

2.Lektorat und Korrekturlesen: Marlen Brückner

Alle Rechte beim Autor

ISBN Softcover: 978-3-347-80737-2

ISBN Hardcover: 978-3-347-80739-6

ISBN E-Book: 978-3-347-80740-2

Druck und Distribution im Auftrag des Autors:

tredition GmbH, An der Strusbek 10, 22926 Ahrensburg, Germany

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung »Impressumservice«, An der Strusbek 10, 22926 Ahrensburg, Deutschland.

www.knalltheater.de

www.jochen-macht-triathlon.de

Für Finia und Nilson

1.Auflage Dezember 2022 Verlag Tredition

1. JOCHEN FÄLLT

Alles beginnt mit einer angebissenen Bockwurst.

Zugegeben, dieser Anfang hinkt etwas. Daher erstmal eine kleine Vorüberlegung zur Erzählsituation: Der überwältigende Vorteil eines allwissenden Erzählers ist seine Allwissenheit. Er kann, im Gegensatz zur alltäglichen Realität, in die Köpfe der Figuren hineingucken. Er sieht deren Bilder, er riecht, schmeckt und hört wie sie. Alle Abenteuer erlebt er vor seinem inneren Auge mit. Doch eines kann er nicht, zumindest nicht dieser Erzähler, er fühlt nicht eins zu eins wie die von ihm erdachten Figuren. Zumindest nicht immer. So kann es vorkommen, dass der Protagonist aus einer Gefühlsregung heraus eine, selbst für den Erzähler, überraschende Reaktion zeigt. Wollen wir also gespannt sein.

In dieser Geschichte geht es um Jochen. Männlich (klar), Mitte 40, genauer 47, aus der Zeit gefallen, eine in Körper gegossene Verunlebendigung, kraftlos, spannungslos, unsportlich, ungelenk. Ein Mensch ohne Perspektive, ohne Geschmack, ohne Talent. Ein Mensch mit Nichts. Fast nichts.

An diesem Tag, an dem die Geschichte um Jochen beginnt, steht er auf einer Wiese. Er wirkt verwirrt und hält in seiner Hand ein Brötchen. In diesem Brötchen klemmt eine angebissene Bockwurst. Die Lippen haben Senfabstriche.

An diesem Tag, an dem die Geschichte um Jochen beginnt, ist etwas anders als sonst. Der Grund hierfür liegt in der von Jochen angebissenen Bockwurst.

Bitte lieber Leser, halte durch!

Würden wir in seinen Kopf hineinblicken können, dann sähen wir Feuerwehrfahrzeuge, die im Schritttempo auf der Straße rollen.

Wir sähen Ampelmänner, die aus ihren Ampelkästen klettern, dann stolpernd über den Gehweg laufen.

Wir sähen Elefanten, deren Rüssel von den Sonnenstrahlen gekitzelt werden … wir sähen lauter so ein krudes Zeug.

Aber Menschen können nicht in die Köpfe der anderen hineinblicken, erst recht nicht die inneren Bilder eines anderen sehen, höchstens erahnen.

Zurück zu Jochen mit der Bockwurst auf der Wiese … was für ein abstruses Bild.

Was er sieht oder was er sich einbildet zu sehen, kann nicht wirklich sein. Benebelt lässt er den bisherigen Tag Revue passieren. Der begann wie sonst auch. Er saß frühmorgens nach dem Schlafen auf dem Sessel, guckte vor sich hin und wartete, bis der Hunger kam. Schließlich lief er zum Wurststand, kaufte eine Bockwurst, die er normalerweise auf dem Weg zurück nach Hause isst.

Doch nun, warum auch immer, steht er auf einer Wiese.

Neue Bilder schießen durch seinen Kopf. Farben verschwimmen zu einem Regenbogen, der ihn blendet, Elefanten fliegen umher und verwandeln sich in Nashörner, aus den Hörnern strömen Seifenblasen.

Was passiert hier gerade?

Vielleicht bekommt ihm das ewige Nichtstun nicht gut. Vielleicht spielen dadurch seine Nerven verrückt.

Seit mehreren Jahren ist Jochen arbeitslos. Bei der Bahn lernte er Maschinist, arbeitete aber dann in einer Förderschule als Hausmeister. Seit diese aus kommunalpolitischen Gründen geschlossen wurde, ist Jochen ohne Arbeit.

Die Nashörner beginnen sich im Kreis zu drehen, umtänzeln das Gesicht einer hübschen, jungen Frau. Die junge Frau grinst Jochen liebevoll an.

Jochen sieht ungläubig auf seine Bockwurst.

Dann fällt er um.

Der Rasen ist weich. Zum Glück.

Es mag phänomenal, absurd, ja unglaubwürdig klingen, würden wir behaupten, dass dies der Anfang einer großen-kleinen Heldengeschichte wäre. Und doch, Jochens Heldengeschichte beginnt genau hier.

2. JOCHEN LIEGT

Jochen liegt, Jochen blinzelt. Die Stimme, die er hört, klingt als käme sie aus der Ferne.

»Hey! Na, geht’s wieder? Ich bin Hanna. Ich hab´ dir was ´Nettes´ an deine Bockwurst gemacht.«

»Warum?«, stammelt Jochen, »Wo bin ich?«

Die Frau neigt sich verschämt, aber kichernd, weg.

»Hier bei mir!«

»Wie bin ich hierhergekommen?«

»Ich hab´ gesagt, du gehörst zu mir und da haben dich ein paar Leute, die ich kenne, zu mir gefahren. Ausschlafen solltest du dich, haben sie gesagt und ich musste ein wenig lachen, aber … mmh, klingt vielleicht komisch, ich wollte dich einfach kennenlernen. Ich wusste nicht, wie ich dich ansprechen sollte. Du holst dir immer deine Bockwurst bei uns. Aber du hast mich nie bemerkt«

»Verstehe ich nicht!«, murmelt Jochen.

Leise sagt Hanna: »Naja, ich bin deine Tochter!«

Es bleibt lange still. Jochen ist überfordert.

Hanna steht auf und holt etwas aus einem anderen Zimmer.

Träumt er oder erlaubt sich diese Frau einen bösen Scherz mit ihm?

Sicher ist das ungewöhnliche Manöver von Hanna keine Liebeswerbung.

Jochen ist, und da macht er sich auch nichts vor, wirklich nicht der Typ, den junge

Frauen ansprechen würden. Jochen ist ein blasser, hagerer Mann mit dünnen, langen Beinen, wenig Haaren, Augenringen und unrasiertem Gesicht. Seine Lippen sind schmal, seine Nase sogar noch schmaler. Kurzum, mit etwas Wohlwollen betrachtet, ist Jochen rein äußerlich maximal durchschnittlich.

Hanna kommt mit einem Fotoalbum in der Hand zurück.

»Hier sind einige Bilder von dir, die du vielleicht noch gar nicht kennst.«

Sein Herz schlägt schneller. Tatsächlich gab es ein Leben in Jochens Leben, das er schon längst verdrängt hat. Wieder rauscht es wie ein Wirbelsturm in seinem Kopf.

3. JOCHEN SCHWELGT

Als 16-Jähriger fuhr Jochen mit dem Fahrrad durch einen Park. In einiger Entfernung war ein Teich. Auf der Wiese saß ein Mädchen mit einem Buch in den Händen. Jochen kannte das Mädchen aus der Schule. Sie hieß Lena und war zwei Klassen unter ihm.

Dieses Bild von Lena, wie sie ganz allein am frühen Morgen im Park sitzend ein Buch las, brannte sich in Jochens Kopf.

In der Schule fiel sie ihm anfangs nicht weiter auf, doch fortan erschien Lena in seinen Träumen. Das behielt er für sich, denn es war einfach uncool von einem jüngeren Mädchen zu träumen. Cool war, wer sich für die älteren Mädchen mit großen Brüsten interessierte.

Lenas Brüste waren eher unauffällig. Wer sie jedoch genauer beobachtete, konnte eine seltene Anmut in ihren Bewegungen entdecken. Ihre schmalen Finger bewegten sich wie fünf kleine Tänzerinnen, ihr Gang war aufrecht und hatte den Stolz einer Spanierin.

Jochen, der Lena nun oft heimlich beobachtete, verliebte sich.

Auf dem Schulhof erhaschte er einmal zufällig ihren Blick. Es fühlte sich an wie eine Ewigkeit. Lena zog einen Mundwinkel leicht nach oben. Vielleicht einen Viertel Millimeter. Es könnte auch nur ein Drittel Millimeter gewesen sein. Jedenfalls verzog sich ihr Mundwinkel kaum wahrnehmbar, doch Jochen sah es genau. Das war ein Lächeln! Eindeutig! Und es galt ihm! Ganz eindeutig! Also fand Lena ihn vielleicht auch interessant?

Vergeblich versuchte Jochen in den nächsten Tagen einen weiteren Blick von Lena zu erhaschen.

Irgendwann nahm er all seinen Mut zusammen und sprach sie an.

»Hallo, ich bin Jochen!«

»Hey! Gehst du auch auf die Abiparty von den Abschlussklassen?«, fragte Lena unvermittelt.

»Nöö, ich glaub nicht. Ich find´ das immer so albern.«

»Schade. Also ich werd´ wohl mal hingucken.«

Damit war das Gespräch auch schon beendet.

Sein letztes Schuljahr verging ohne eine weitere wirkliche Begegnung mit Lena. Jochen versaute sein Abi. Mathe und Russisch brachten ihn zu Fall. Doch wenigstens bekam er einen ordentlichen Realschulabschluss, begann eine Lehre zum Mechaniker, zog in seine erste eigene Wohnung, traf nach der Arbeit seine Kumpels, dachte und sehnte sich nach Lena, schwieg sich hierüber jedoch aus. Wie in all den Jahren zuvor.

Am Wochenende war er meist in der Dorfdisco. Er lernte einige Mädchen kennen. Es blieben nur flüchtige Bekanntschaften. Die längste davon hielt drei Wochen. Immer hatten die Mädchen einen Hauch von Lena. Wenn Jochen angetrunken war, reichte ihm schon die gleiche Haarfarbe. Wenn er nicht angetrunken war, war es die Art zu gucken, die ihn an Lena erinnerte. Oft war es einfach nur eine entfernte Ähnlichkeit, die ihn für Momente glauben ließ, in seinen Armen läge nicht Monika, Jessica, Nicole oder Sandra (so oder so ähnlich hießen seine losen Bekanntschaften), sondern Lena.

Es machte ihn nicht glücklich, half ihm jedoch dabei, sich selbst eine Weile auszuhalten.

Schließlich meldete sein Betrieb, bei dem er nach der Lehre arbeitete, Insolvenz an. Jochen verlor zum ersten Mal seinen Job. Ein Schicksal, das er mit zwanzig weiteren Mitarbeitern teilte. Die meisten seiner Kollegen gingen in den Westen. Jochen blieb.

Hier kannte er die Gegend. Hier irgendwo lebte Lena.

Schon lange hatte er sie nicht mehr gesehen.

Als er sie dann zufällig traf, tat es ihm weh. Lena schlenderte quietschvergnügt, glücklich und verliebt auf der anderen Straßenseite mit einem jungen Mann im Arm. Jochens Herz pochte wild. Seine Atemzüge wurden tiefer. Jochen hatte das Gefühl, als hätte ihm jemand in die Magengrube geboxt.

Er bemühte sich von Lena nicht bemerkt zu werden, aber das glückte ihm nicht.

»Hey, Jochen! Wie geht’s dir?«, rief sie fröhlich über die Straße.

»Gut, super!«, log Jochen über die Straße zurück und lief schnell weiter. Als er um die Ecke bog, krümmte er sich. Innerlich schrie er, äußerlich wimmerte er.

Über ihm flog ein Rabe.

»Tee? Oder lieber Bier?«, hört er Hanna fragen.

»Tee wäre schön.«, sagt Jochen.

Nach einer Weile, die Teetassen sind inzwischen leer getrunken, fragt Jochen: »Warum hat mir nie jemand was gesagt?«

»Naja, ich habe es ja selbst nicht gewusst. Mama hat mir jemand anderen als Papa verkauft.«

»Können wir uns wiedersehen?«

»Klar doch. Schließlich bist du ja mein Papa.«

‚Mein Papa‘ hallt es in Jochens Kopf. Unsicher und verlegen fragt er: »Soll ich mich um was kümmern, also mich um dich kümmern?«

»Nee. Das brauchst du nicht. Ich bin schon groß.«, sagt sie schmunzelnd. Dann kramt sie in ihrer Tasche und zeigt ihm ein Bild.

»Hier. Das bin ich als Dreijährige.«

Es ist ein Schwarzweißfoto. Jochen sieht Hanna als kleines Mädchen am Strand mit einer Schippe in der Hand. Ihre Augen leuchten. Sie war, so schien es, ein glückliches Kind.

»Du kannst das Bild behalten. Ich muss jetzt los. Bleib hier, solange du willst. Ruh dich aus, oder so.«

Hanna umarmt Jochen kurz, während er nicht weiß, wie er sich von seiner Tochter (seiner Tochter!) verabschieden soll, drückt ihm mit der Spitze ihrer Lippen ein Küsschen auf die Wange und verschwindet.

Da sitzt er nun, der Jochen, in der Wohnung einer jungen, hübschen Frau und diese junge, hübsche Frau ist ein Teil von ihm.

Jochen erinnert sich wieder an eine Erinnerung.

Ja, viel blöder kann man es nicht ausdrücken, sorry.

In dieser erinnerten Erinnerung hockte ein junger Jochen in sich zusammengesunken vor einer Disco. Wie aus dem Nichts kam Lena dazu. Ihr Atem roch nach Alkohol. Jochen blickte sie herzergreifend an. Lena beugte sich zu ihm und legte ihren Kopf auf seine Schulter. Da schluchzte Jochen los, als wäre ein Unwetter über ihm eingebrochen. Sein gesamter Gefühlsstau schien sich auf einmal zu entladen, hemmungslos weinte er alles heraus: seine verzweifelte Liebe zu Lena, sein Versagen in der Schule, seine Enttäuschungen vom Leben… alles.

Es war für ihn eine innere Reinigung. Wohltuend, angenehm.

Aufgeräumt sagte er mit klarer, fester Stimme: »Danke! Danke, Lena!«, stand auf, streifte mit seiner Hand durch ihr Haar und ging wortlos nach Hause. Sie lief ihm nach, folgte ihm in seine Wohnung, in sein Zimmer. Da liebten sie sich. Wortlos. An der Tür gab Lena Jochen einen Kuss. Er wusste, das war ein endgültiger Abschied.

Zu diesem Zeitpunkt wusste Lena noch nicht, dass in ihr nun eine kleine Hanna wuchs.

Später sah er sie wieder Arm in Arm mit irgendeinem anderen Kerl.

Die damaligen Ereignisse hat Jochen noch längst nicht verdaut. Doch geht es nun nicht mehr seine Vergangenheit, sondern um Hanna und eine mögliche Zukunft. Er muss etwas an sich ändern oder sich töten.

Wie bereits erwähnt, kann der Erzähler nicht fühlen wie Jochen - zumindest nicht in jedem Falle - und ist daher über dieses spontan eintretende Extrem mindestens genau so überrascht wie möglicherweise Sie.

Was kann er tun, um seinem Leben eine Wendung zu geben?

Jochen braucht ein Ziel.

Hanna soll stolz auf ihn sein.

Wenigstens ein bisschen.

Doch wie um alles in der Welt kann er das schaffen?

Jochen schreibt seine Adresse auf einen Zettel, dann verlässt er Hannas Wohnung. Auf einem Baum gurren zwei Tauben. Eine davon ist weiß. Es ist eine Weißgurrtaube.

(Ihre Ahnen, die Friedenstauben, wurden von den Etappensiegern der früheren Friedensfahrt für den Sozialismus in die Luft geworfen. Wir wissen nicht genau, ob sie sich das ausgesucht haben. Wir ahnen nur, dass die Ahnen es womöglich nicht wollten.)

4. JOCHEN GUCKT

Zuhause fühlt sich Jochen noch immer wie in einem Traum. Plötzlich hat er eine Tochter und lag sogar schon auf ihrer Couch.

Jochen schaltet seinen Fernseher ein. Für ihn das wirkungsvollste Mittel, die Gedanken auszuschalten, sozusagen die Gehirnaktivität auf Sparmodus zu schalten. Darin war Jochen ein Meister.

Auf dem Zweiten läuft eine Sportsendung. Ironman auf Hawaii. Athleten, die schwimmen, Rad fahren und laufen. Beim Gucken kommt Jochen ins Grübeln. Jochen hatte mit Sport sein ganzes Leben lang nicht viel am Hut.

Die Schulwettbewerbe waren ihm immer ein Graus, nicht zuletzt, weil er nie etwas gewann. Nur einmal, in der 4. Klasse, da wurde er Dritter beim 400-Meter-Lauf. Normalerweise bekam man dafür eine Medaille. Doch ausgerechnet in jenem Schuljahr wurden nur die Erstplatzierten geehrt. So blieb Jochens erster und einziger sportlicher Erfolg unbemerkt und bestärkte in ihm die Überzeugung, dass sich sportliche Anstrengungen einfach nicht lohnen.

Im Fernseher läuft eine Zusammenfassung aller Rennen auf Hawaii. Jochen beeindrucken die Bilder. Eine Athletin bricht kurz vor dem Ziel zusammen. Ihre Beine sind weich wie Gummi. Ein anderer Athlet sprintet die letzten hundert Meter über die Ziellinie. Ein Vater rennt mit seinem gelähmten Sohn, den er im Rollstuhl schiebt. Dann finisht ein steinalter Mann. Die Zuschauer am Zielbereich jubeln allen Ironmännern und -frauen zu.

Alle sind sie Helden. Alle werden gefeiert. Alle sind sie knapp 4 Kilometer geschwommen, anschließend 180 Kilometer Rad gefahren und dann noch einen Marathon (42,195 Km) gelaufen, teils bei glühender Hitze und mörderischen Winden. Einer der Altersathleten wird im Ziel von einer jungen Frau umarmt.

Die junge Frau, sicherlich die Tochter, ist stolz auf ihren Vater. Jochens Grübeln formt sich zu einer Idee. Triathlon für Hanna?!?

Wie absurd!

Das wäre nix für ihn. Er schaltet den Fernseher aus, geht ins Bett und schläft sofort ein.

Im Traum fährt er auf einem Rennrad mit Laufschuhen und Schwimmbrille. Dabei hört er begeisterte Jubelschreie.

Am nächsten Morgen setzt ein Reigen geballter Zufälle ein.

Im Briefkasten findet er einen Werbeflyer für Fahrräder. Er liest auf der Rückseite:

Sei dabei! Beim 1. Cossiman! - Triathlon für Jedermann! Du brauchst nur eine Badehose, ein Fahrrad und Laufschuhe. Teilnahme kostenlos! Melde dich noch heute an!

Und da klopft sie wieder an, die Idee vom Vortag.

Jochen, der Antisportler, macht Triathlon - schwimmt, radelt und läuft. Alles ohne Hilfe, ganz allein. Das würde, ja, das müsste seine Tochter stolz machen. Vielleicht ist der Cossiman das Ziel?

Danach kann ja immer noch der Ironman auf Hawaii kommen.

Beim Laufen war Jochen als Kind oft im vorderen Mittelfeld. Das Schwimmen lernte er von einem Mädchen im Urlaub. Da war er sieben Jahre alt. Radfahren lernte er erst mit neun.

Im Kindergarten bewunderte er all jene, die Rad fahren konnten. Sein erstes Fahrrad war ein Mifa-Klapprad. Das fand Jochen auf dem Heimweg von der Schule. Es lehnte unabgeschlossen an einem Zaun. Er wartete ein paar Tage, dann nahm er es mit. Ein Freund half ihm dabei, den Platten zu flicken, den Lenker wieder gerade zu biegen und die rostigen Speichen zu ölen.

Jede freie Minute übte er. Jeden Tag verbesserte er sich ein Stück. Die Strecken, auf denen er das Rad, ohne zu wackeln, fahren konnte, wurden immer länger. Bald konnte Jochen sogar ein paar Meter freihändig fahren.

Doch auch schmerzliche Erinnerungen kommen hoch.

Auf dem Nachhauseweg vom Kindergarten wollte er mit dem Roller einen hohen Grasberg hinabfahren, ohne dabei zu bremsen. Bis zur Hälfte der Strecke ging alles gut, dann wurde er immer schneller und wackeliger. Schließlich stürzte er. Leise wimmernd, mit Schmerzen, humpelte er nach Hause. Als ihn seine Mutter vor der Haustür empfing, brach es aus ihm heraus und er weinte lauthals.

»Ich hatte einen Unfall. Kommt da jetzt die Polizei?«

Die Mutter lachte.

Das irritierte den kleinen Jochen. Er fühlte sich ausgelacht.

Der Unfall hielt ihn dennoch nicht davon ab, täglich weiter zu rollern. Er liebte es bergab und hasste es bergauf. So ging es ihm mit allen Rädern. Anfangs mit dem Dreirad, dann mit dem Roller und später mit dem Fahrrad.

5. JOCHEN BESCHLIESST

Nun heißt es also, einen Beschluss zu fassen. Jochen macht Triathlon!

Obgleich der Beschluss zu diesem Zeitpunkt noch nicht zementiert, scheint der Indikativ an dieser Stelle ein geeignetes Stilmittel zu sein, da Jochens Leben bisher ein einziger Konjunktiv war.

(Bei diesem Satz fühlt sich der Autor ein wenig originell.)

Kurzerhand meldet er sich beim Cossiman an. Im Juli soll es so weit sein. In drei Monaten. Das müsste doch zu machen sein.

Schwimmen kann er, immerhin hatte er die 3. Stufe erreicht, wenn auch noch zu DDR-Zeiten, aber beim Schwimmen gilt: einmal gekonnt heißt niemals verlernt. Auch Fahrradfahren und Laufen kann er, wie so ziemlich jeder, der gesunde Beine hat.

Fürs Erste würden seine alten Sportschuhe genügen; seine Badehose ist vielleicht etwas aus der Mode gekommen, erfüllt aber durchaus ihren Zweck und sein Klapprad steht auch noch im Keller.

Motiviert und voller Tatendrang macht Jochen sein altes Rad wieder fahrbereit. Er hat Zeit. Er hat frei. Schon seit langem. Es war bisher ein bedrückendes Frei. Während sich Leute im Arbeitsalltag häufig nach Urlaub, nach Freihaben sehnen, war Jochens »Frei« wie ein Gefängnis. Es erzeugte Schwarze Löcher im Kopf. Er fühlte sich nutzlos, hilflos, faul, asozial und wertlos. Er war in einem Kreislauf gefangen, je länger sein Frei dauerte, desto weniger Ausbruchsmöglichkeiten sah er. So blieb ihm als Selbstschutz nur noch das innere Abschotten und seelische Einigeln.

Nur noch den Rahmen und den Sitz etwas putzen, Bremsen nachziehen, Reifen aufpumpen und, wenn die Reifen halten, also der Schlauch nicht irgendwo ein dickes oder fieses, kleines Loch hat, kann es auch schon losgehen.

Jetzt noch ein paar Pumpstöße und… die Reifen halten. Juhu! Jochen freut sich. Mal wieder, seit langem.

Bis dato war Jochen auf dem besten Wege emotional abzustumpfen; um den Schmerz eines gesellschaftlich Abgehängten nicht fühlen zu müssen, fügte er sich in die Rolle des Versagers.