John Sinclair 2107 - Marc Freund - E-Book

John Sinclair 2107 E-Book

Marc Freund

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Beschreibung

Das kleine Mädchen war müde. Sein dunkler Lockenschopf verschmolz mit den Schatten, die sich rings um das Kopfkissen ausbreiteten. Die Kleine rieb sich die Augen und zog sich die Decke mit den Sternen darauf bis unter das Kinn. Ihr letzter Gedanke vor dem Einschlafen galt dem Märchen, das ihr ihre Mutter bis eben noch vorgelesen hatte.
Mom oder Dad - an besonderen Tagen sogar beide - saßen oft bei ihr auf der Bettkante, das Märchenbuch in der Hand, und erzählten ihr, dass es keine Geister und Gespenster gäbe.
Doch das stimmte nicht ...

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Seitenzahl: 147

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Inhalt

Cover

Impressum

Das Totentaxi

Briefe aus der Gruft

Vorschau

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige eBook-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

© 2018 by Bastei Lübbe AG, Köln

Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller

Verantwortlich für den Inhalt

Titelbild: PetarPaunchev; DDurrich; D-Keine/iStockphoto

eBook-Produktion: César Satz & Grafik GmbH, Köln

ISBN 978-3-7325-7349-3

„Geisterjäger“, „John Sinclair“ und „Geisterjäger John Sinclair“ sind eingetragene Marken der Bastei Lübbe AG. Die dazugehörigen Logos unterliegen urheberrechtlichem Schutz. Die Figur John Sinclair ist eine Schöpfung von Jason Dark.

www.john-sinclair.de

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

www.bastei.de

Das Totentaxi

von Marc Freund und Lysann Freund

Das kleine Mädchen war müde. Sein dunkler Lockenschopf verschmolz mit den Schatten, die sich rings um das Kopfkissen ausbreiteten. Die Kleine rieb sich die Augen und zog sich die Decke mit den Sternen darauf bis unter das Kinn. Ihr letzter Gedanke vor dem Einschlafen galt dem Märchen, das ihr ihre Mutter bis eben noch vorgelesen hatte.

Mom oder Dad – an besonderen Tagen sogar beide – saßen oft bei ihr auf der Bettkante, das Märchenbuch in der Hand, und erzählten ihr, dass es keine Geister und Gespenster gäbe.

Doch das stimmte nicht …

Annabelle Holden konnte kaum eingeschlafen sein, als sie ihre Augen wieder aufschlug. Etwas hatte sie geweckt. Möglicherweise ein Geräusch. Aber es war nicht die Zeit, an der die ausgeblühten Stockrosen von außen über ihr Fensterglas schrappten. Also musste es etwas anderes gewesen sein. Vielleicht die Stimmen von unten?

Mom hatte ihr gesagt, dass einige Freunde auf einen Sprung vorbeikommen würden. Vermutlich einer von Dads Kollegen oder die in Annabelles Augen leicht verrückte Nachbarin Sally Prokofsky mit ihrem neuen Freund, von dem behauptet wurde, er sei Lehrer.

Das neunjährige Mädchen lauschte in die Stille hinein. Annabelle lauschte und horchte und traute sich nicht, die haselnussbraunen Augen wieder zu schließen, bis sie tatsächlich erneut ein Geräusch vernahm.

Das leise Knacken war aus ihrem Zimmer gekommen, so viel stand schon mal fest.

Annabelle wusste auch, welches Möbelstück diesen Laut verursachte. Das herauszufinden war leicht, denn es gab außer ihrem Bett, dem kleinen Nachtschrank an ihrer Seite und der Kommode an der Wand neben der Tür nur noch ein einziges Ding in ihrem dunklen Zimmer. Den alten Kleiderschrank.

Ein furchtbar klobiges, wurmstichiges Monstrum, das Mom schon so oft auf den Müll hatte aussondern wollen, doch Dad hatte stets darauf bestanden, dass der Schrank nicht wegkäme. Er sei ein altes Erbstück von … hier folgte dann für gewöhnlich der Name eines männlichen Vorfahren, den niemand aus der Familie mehr kennengelernt hatte, einschließlich Dad selbst.

Annabelle Holden hatte sich mit dem Möbelstück abgefunden. Viel befand sich sowieso nicht darin, was sie interessierte. Sie befand sich noch nicht in dem Alter, in dem Klamotten für Mädchen einen ungeheuren Stellenwert einnahmen.

Aber sie kannte das Geräusch, wenn sie oder Mom eine der Türen öffnete. Das leise Knacken, gefolgt von einem Knarren, wenn die Tür weiter aufschwang.

Die Kleine lauschte weiter. Wenn sie sich richtig doll konzentrierte, konnte sie tatsächlich aus dem unten gelegenen Wohnzimmer Stimmen hören. Die ihrer Mom war dabei – Annabelle mochte das Lachen ihrer Mutter – und ja, tatsächlich die etwas aufdringliche Stimme von Sally, ihrer Nachbarin.

Es waren nicht die Stimmen selbst, die Annabelle Angst einflößten, sondern die Tatsache, dass ihre Eltern sie möglicherweise nicht hören würden, wenn hier oben etwas passierte.

Etwas.

Was das sein sollte, wusste Annabelle nicht. Aber sie wusste auch, dass sich Schränke nicht von allein öffneten. Für gewöhnlich. Ihrer hatte das jedenfalls bisher noch nie getan.

Und während sie so dalag und nachdachte, hörte sie tatsächlich das Knarren der Schranktür. Sie öffnete sich. Leise, Zentimeter für Zentimeter, bis zum Anschlag.

Dann herrschte Stille. Natürlich, die Stimmen waren noch immer da, erzählten von einer ausgelassenen Partystimmung im Erdgeschoss.

Und das Pochen ihres Herzens, das war natürlich ebenfalls vorhanden. Annabelle hörte den Muskel laut unter ihren Rippen schlagen. Sie traute sich nicht, sich zu bewegen. Nicht einmal einen Zentimeter. Sie hatte Angst davor, ein verräterisches Rascheln mit ihrem Bettzeug zu verursachen.

Stocksteif blieb sie liegen.

Ein platschendes Geräusch war zu hören. So als hätte sich jemand oder etwas aus ihrem Schrank heraus auf den Zimmerfußboden gleiten lassen.

Ein eisiges Gefühl jagte dem kleinen Mädchen über den Rücken. Annabelles Blick suchte verzweifelt den schmalen Lichtschlitz, der für gewöhnlich unter ihrer Zimmertür hindurchdrang. Er war nicht vorhanden. Was bedeutete, dass Mom das Licht im oberen Korridor beim Hinuntergehen ausgeschaltet hatte. Das tat sie manchmal, wenn sie in Gedanken war.

Annabelle überlegte für einen kurzen Augenblick, ihre Bettdecke mit einem Ruck zurückzuschlagen, aus dem Bett zu springen und zur Tür zu rennen. Aber sie verwarf den Gedanken gleich wieder. Sie redete sich ein, dass sie die Tür verfehlen könnte, so ganz ohne einfallendes Licht.

Die Wahrheit hingegen war eine andere: Sie traute sich nicht.

Sie traute sich nicht, weil sie Angst hatte. Und zwar nicht zu knapp.

Jemand war bei ihr. In ihrem Zimmer. Und er kam näher.

Annabelle wusste das. Sie vernahm das leichte Kratzen und Scharren, so als ob sich etwas mit prankenbewehrten Klauen über den Boden bewegte. Auf ihr Bett zu. Und damit auch auf sie!

Die Lippen des Mädchens bebten. Und das, wo sie sie so fest aufeinander gepresst hatte, damit ihre Zähne nicht aufeinander klapperten.

Ein Windhauch in ihrem Zimmer. Ganz kurz nur. Ein leises Huschen. Jemand stand vor ihrem Bett. Jemand, der kaum größer als sie selbst sein konnte. Selbst gegen die Dunkelheit zeichnete sich sein schattenhafter Umriss ab.

Stoff raschelte bei der Bewegung der Gestalt. Jetzt hatte sie sich auf die Bettkante gesetzt. Annabelle hatte die Bewegung wahrgenommen.

Ihr Herz krampfte sich zusammen. Schweiß trat auf ihre Stirn, während ihr Atem schneller ging.

»Hab keine Angst.«

Annabelle riss ihre rechte Faust vor den Mund und biss hinein, um nicht laut aufzuschreien.

Sie wusste, dass sie nicht träumte. Sie wusste, dass diese Stimme real war.

»Ich will dir nichts tun«, fuhr der fremde Besucher fort.

Du lügst, dachte Annabelle. Wer so sprach, so lauernd, so falsch, der log immer.

Sie spürte, dass sie etwas tun musste. Die Ungewissheit begann zusehends unerträglich zu werden. Annabelle löste ihre Hand von ihrem Mund und ließ den Arm langsam nach rechts wandern. Dorthin, wo sich der Nachttisch mit der kleinen Stehlampe darauf befand. Aber sie durfte sich nichts anmerken lassen. Nicht das kleinste Rascheln durfte sie verraten.

Dann legte sich plötzlich eine Hand auf ihren Kopf. Jedenfalls nahm sie an, dass es eine Hand war. Sie fühlte sich kalt und schwer an.

»Schrei nicht«, mahnte die Stimme, die sich so anhörte, als ob jemand mit einem trockenen Schwamm über eine Hauswand scheuerte.

Annabelle schüttelte aus einem Reflex heraus den Kopf, was ihr kaum gelang, da die Hand – oder was auch immer – darauf Tonnen zu wiegen schien. Dann jedoch wich der Druck von ihr.

»So ist es gut«, sagte die Stimme, die nun einen Teil ihres lauernden Untertons verloren zu haben schien.

Die freie rechte Hand des Mädchens tastete sich weiter vor. Die feingliedrigen Finger krochen über den Rand ihrer Matratze, bis sie den Nachttisch erreicht hatten. Da war das Kabel der Lampe. Annabelle wusste, dass sie nur mit ihren Fingern daran entlangfahren musste, um den Schalter zu erreichen. Eine Bewegung, die sie inzwischen im Schlaf beherrschte.

Die Hand des Unheimlichen strich ihr sanft über das Haar. Plötzlich spürte Annabelle einen kurzen, scharfen Schmerz dicht hinter ihrem linken Ohr. Sie gab einen seufzenden Laut von sich, dann war der Schreck vorüber. Sie spürte nichts mehr, außer vielleicht ein wenig Kälte, so als ob ihr jemand einen Eiswürfel gegen die Haut gedrückt hätte.

»Du bist ein tapferes Mädchen«, sagte die Stimme. Es folgte ein Laut, der sich wie ein heiseres Lachen anhörte. Ein Kichern vielleicht. Aber es klang nicht nett. Es hörte sich irgendwie höhnisch an.

Annabelle hatte kurz in ihrer Bewegung innegehalten. Jetzt krochen ihre Finger weiter am Lampenkabel entlang.

Die schuppige Hand löste sich nun vom Kopf des Mädchens, wanderte an seiner Wange hinunter und klatschte schlaff und schwer auf die Bettdecke.

»Eines Tages wirst du …«

Annabelle hielt es nicht mehr aus. Sie presste ihren Daumen auf den Schalter. Ein helles Klicken war zu hören. Licht durchflutete den Raum und erfasste ohne Gnade das, was in dieser Nacht zu ihr gekommen war.

Die Augen des Mädchens weiteten sich vor Entsetzen.

Annabelle öffnete ihren Mund zu einem gellenden Schrei!

Nein, ihm fiel nicht das Glas aus der Hand, das er gerade bis zum Rand mit Sekt gefüllt hatte. Thomas Holden hatte sogar noch Zeit, es auf dem Couchtisch vor sich abzustellen. Er verschüttete nicht einmal etwas, als er losrannte, die Stimmen hinter sich missachtend.

Holden hatte eine starke Bindung zu seiner Tochter. Und die war es, die ihm sagte, ihm förmlich zuschrie, dass dort oben etwas ganz und gar nicht in Ordnung war.

Zwei Sekunden später war er bei der Treppe, flog geradezu die Stufen hinauf und erreichte das obere Ende in Rekordgeschwindigkeit.

Das Zimmer seiner Tochter lag direkt vor ihm. Mit einer energischen Bewegung drückte er die Klinke runter und öffnete die Tür.

Holdens Blick erfasste ein Bild, das genau genommen nicht existieren durfte. Seine Tochter Annabelle saß kerzengerade in ihrem Bett, die Augen weit aufgerissen und die Bettdecke mit beiden Händen so fest umklammernd, dass ihre Fingerknöchel beinahe schneeweiß waren.

Sie starrte auf eine Gestalt, die in der Mitte des Zimmers stand, kaum anderthalb Meter groß und in einen blutroten Kapuzenmantel gehüllt. Daraus lugte ein Gesicht hervor, dessen grüne Haut mit Schuppen und Pusteln übersät war.

Zwei eiskalte, hellblaue Augen fixierten Holden, der noch immer die Türklinke in der Hand hielt, hasserfüllt.

Annabelle schrie weiter. So hoch und schrill, dass es in den Ohren schmerzen musste, doch Holden hatte nur Augen für die grässliche Gestalt, die in das Zimmer seiner Tochter eingedrungen war.

»Wer, zum Teufel, sind Sie?«, schnappte der Familienvater. Seine Worte gingen im Lärm des schreienden Mädchens unter. Allerdings war sich Holden ziemlich sicher, dass der Fremde ihn sehr wohl verstanden hatte.

Das Ding in dem roten Mantel zog seine schuppigen Lippen leicht zurück und entblößte zwei Reihen von Zähnen, die allesamt gleich aussahen und wie spitz gefeilt wirkten.

Aus seiner Kehle drang ein schnarrender, unangenehmer Laut. Eine Warnung.

»Was haben Sie mit meiner Tochter gemacht?«

Holden trat näher, einen Fuß vor den anderen setzend. Er wusste, dass von der Gestalt eine Bedrohung, eine Gefahr ausging, aber er würde niemals zulassen, dass sie sich Annabelle näherte.

Das Wesen stieß einen weiteren Laut aus: »Zurück!«

Holden kam noch näher. Er schüttelte den Kopf.

»Ich denke ja gar nicht daran.«

Mit einem Satz warf er sich nach vorne. Der Fremde hingegen machte keine Anstalten, auszuweichen. Der Aufprall war unvermeidlich.

Holden hatte seine Hände zu Fäusten geballt, wollte auf seinen Gegner einschlagen. Doch schon in der nächsten Sekunde fühlte er sich von zwei unermesslich starken Armen gepackt und durch das Zimmer geschleudert.

Thomas Holden schrie auf, als er mit dem Rücken hart gegen die Kommode schlug. Spielzeuge, Puppen, darunter ein Schminkkopf, prasselten auf ihn herab, als er zu Boden ging.

Er ächzte. Für einen Augenblick tanzten bunte Lichter über seine Netzhäute. Holden blinzelte sie weg und rappelte sich auf. Noch in derselben Bewegung zog er eine der massiven Schubladen aus der Kommode und packte sie mit beiden Händen.

Mit einem infernalischen Schrei rannte er auf die kleine Gestalt zu.

Gleichzeitig wurden Stimmen im Treppenhaus laut. Jemand kam die Stufen hinaufgehastet.

Holden achtete nicht darauf. Er schlug mit seiner improvisierten Waffe erbarmungslos zu. Und er traf!

Holz splitterte, Kleidungsstücke wirbelten durch den Raum und segelten nacheinander zu Boden.

»Oh, mein Gott!«, schrie jemand. Die Stimme gehörte zu Philipp Bench, der seit zwei Wochen mit Sally Prokofsky liiert war. Im nächsten Augenblick war er neben Holden. Er hielt etwas in der Hand, das der Hausherr erst auf den zweiten Blick als einen Schürhaken erkannte.

Und Bench fackelte nicht lange. Er hatte gesehen, wer oder was das Zimmer betreten hatte. Er sprang vor und hieb mit dem Eisenstab auf ihren Gegner ein.

Aus dem Rachen der Zwergengestalt drang ein wütendes Fauchen.

Holden streckte seine Hände aus und bekam den Saum des Mantels zu fassen. Beinahe hätte er aufgeschrien. Das Kleidungsstück fühlte sich wie zentimeterdicke, eiskalte Haut an.

Der Gnom fauchte ein weiteres Mal und trat Holden ins Gesicht.

Der Mann spürte, wie sein Nasenbein brach, kurz bevor er nach hinten und gegen das Bettgestell seiner Tochter katapultiert wurde.

Jetzt standen die beiden Frauen auf der Schwelle zu Annabelles Zimmer. Sie schrien wie aus einer Kehle. Auch Annabelle hatte wieder zu schreien begonnen, während Philipp Bench noch immer versuchte, ihren Gegner mit dem Schürhaken zu attackieren.

Die Gestalt wirbelte herum und biss blindlings zu. Die Zähne trafen auf den Haken und rissen ihn Bench mit einem Ruck aus der Hand. Wütend spie der Gnom das Werkzeug aus und schleuderte es Holden vor die Füße.

Der wollte instinktiv danach greifen, verfehlte den Schürhaken allerdings, da sein Gesichtsfeld von einem Schleier aus Blut und Tränen eingetrübt war.

Die Gestalt in dem roten Mantel machte einen gewaltigen Satz durch das Zimmer und war in der nächsten Sekunde beim Schrank.

»Haltet ihn auf!«, brüllte Holden. Dann erkannte er, dass es dazu bereits zu spät war.

Der Gnom huschte in den Schrank. Krachend fiel die Tür hinter ihm zu.

Im Zimmer überschlugen sich die Ereignisse. Mathilda Holden rannte auf das Bett zu und zog ihre Tochter an sich. Mit dem weinenden Mädchen auf dem Arm rannte sie zur Tür, wo sie von ihrer Nachbarin Sally gestützt wurde.

Beide redeten unaufhörlich auf das Mädchen ein.

Thomas Holden spürte eine Bewegung an seinem rechten Arm. Er wurde daran in die Höhe gezogen.

»Verflucht noch mal, was war das gerade?«, stieß Philipp Bench aus. Er packte Holden fester und blickte ihm ernst in die Augen.

Der Hausherr wischte sich Blut aus dem Gesicht, das nun nass und in demselben Rot wie der Mantel des Fremden an seiner Hand klebte.

»Ich weiß es nicht«, antwortete Holden leise. Im Aufstehen bekam er den Schürhaken zu fassen und wankte damit auf den Schrank zu.

»Was haben Sie vor?«, platzte es aus Bench heraus. »Um Himmels willen, tun Sie das nicht!«

Holden hörte nicht mehr hin. Er hatte den alten Wäscheschrank erreicht und streckte seine rechte Hand nach dem Tür Knauf aus.

Er hielt kurz inne, sammelte sich. Dann hob er den linken Arm, den Schürhaken in der Hand zum Schlag bereit.

Er zog die Tür mit einem Ruck auf, so sehr, dass sie beinahe aus den alten Scharnieren brach.

Die Blicke der beiden Männer starrten in das Innere des Schranks.

Er war leer!

Ein Loch in der Rückwand. Gerade einmal so groß, dass eine menschliche Faust hindurchgepasst hätte. Die Öffnung ging über in die Wand dahinter und verlor sich schließlich im Mauerwerk.

Niemand bemerkte das struppige Rattenvieh, wie es vom Haus in den Vorgarten huschte. Es hatte zu regnen begonnen, was das Tier mit den spitzen Zähnen allerdings nicht zu stören schien. Es stellte sich auf die kräftigen Hinterpfoten. Die Tasthaare und die kleine Nase zitterten um die Wette, so als würde das Wesen etwas wittern.

In diesem Augenblick bog ein schwarzer Wagen in die Straße. Seine Scheinwerfer schnitten eine Schneise in die Dunkelheit, in die der Regen unablässig wie lange, glitzernde Bindfäden fiel.

Das Taxi, das Black Cab, kam näher und hielt mit laufendem Motor vor dem Haus von Thomas und Mathilda Holden. Keiner der Hausbewohner hatte dieses Fahrzeug bestellt, und doch befand es sich hier genau an der richtigen Adresse.

Im Innern des altmodisch wirkenden Wagens saß der Fahrer, von dem kaum mehr als schattenhafte Umrisse zu erkennen waren. Eine Taxifahrer-Kopfbedeckung trug er, das hätte ein zufällig vorbeikommender Passant bemerken können. Aber die Straße war um diese Zeit menschenleer. Und in dem Haus selbst? Nun, da hatte man gerade ganz andere Sorgen …

Schwere Regentropfen prasselten auf das Dach des Wagens. Der Fahrer hatte die Scheibenwischer eingeschaltet.

Flapp, flapp, wischten sie über das verschwommene Glas, hinter dem das Gesicht des Mannes bleich wie Pfannkuchenteig wirkte.

Wie von Geisterhand öffnete sich die linke hintere Tür.

Vor der hüfthohen Mauer des Gartens tauchte ein Schemen auf. Kurz war ein Stück blutroter Stoff zu sehen, dann hatte das Taxi seinen Fahrgast aufgenommen. Leise klappte die Tür zu.

Im Innern: Carl, der Fahrer. Sein seltsam gebrochener Blick verlor sich im Rückspiegel. Sein Fahrgast war angekommen, sie waren wieder vereint.

Der schwarze Wagen fuhr langsam an und rollte die Straße hinunter. Im nächsten Augenblick war er verschwunden.

Die beiden Wesen im Innern sprachen nicht viel miteinander. Und ganz besonders heute war dem Fahrgast auf der Rückbank auch nicht danach zumute.

Seine krallenbewehrten Hände öffneten sich und schlossen sich gleich darauf wieder zu Fäusten. Zwei kalte Augen starrten aus der roten Kapuze heraus. In ihnen loderte eine grenzenlose Wut.

Carl schien die Stimmung seines Meisters bemerkt zu haben. Und obwohl er zu keiner menschenähnlichen Regung mehr fähig war und etwas wie Angst nicht kannte, wusste er doch insgeheim, dass es besser war, das Wesen auf der Rückbank nicht anzusprechen. Es war auch nicht notwendig, denn Carl wusste, wohin er zu fahren hatte.

Sie verließen die große, pulsierende Stadt, bis sie ihr Ziel erreicht hatten.

Sie hielten vor einem windschiefen Haus, dessen Dachschindeln faustgroße Löcher aufwiesen. Eine Folge von schweren Hageleinschlägen, die bereits mehrere Jahre zurücklagen. Kaum ein Fenster, das an diesem Gemäuer noch intakt war. Die Tür ließ sich nicht mehr verschließen, da sie schief in den Angeln hing. Es gab jedoch schon lange niemanden mehr, der das gewollt hätte, denn das Haus am Rande der Stadt stand schon seit elf Jahren leer.

Das schwarze Taxi hielt vor dem Haus. Die Hintertür öffnete sich, und die Gestalt im roten Mantel schlüpfte hinaus.